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Die Reale Welt: 12. Juni 2018

Das Gedächtnis der Dupes: Jeder Dupe wurde mit einem passenden und voll funktionsfähigen Gedächtnis seines oder ihres Lebens als Bewohner oder Bewohnerin der Demi-Monde vor Beginn derselben sowie einer realistisch lückenhaften Erinnerung an die jeweiligen Vorfahren ausgestattet.

– Demi-Monde® Produktbeschreibung
14. Juni 2013

Ella befand sich wieder im Büro des Generals. Captain Sanderson, Professor Bole und natürlich der General waren anwesend. Und sie war heilfroh darüber. Die Begegnung mit Heydrich hatte sie aufgewühlt, ihr Angst gemacht. Mehr noch … sie hatte sich vor lauter Panik fast in die Hose gemacht. Dieser Heydrich war vielleicht nur ein virtuell produzierter Dupe, aber er hatte etwas beunruhigend Echtes. Kein Wesen, das von einem Computer programmiert worden war, konnte einen Raum betreten und alles dominieren. Da stimmte etwas nicht. Sie zitterte. Die Vorstellung, sich auf etwas einzulassen, bei dem sie noch einmal mit diesem Irren zu tun hätte, war alles andere als verlockend. Nicht einmal für eine Million Dollar …

»Haben Sie Heydrich getroffen?«, fragte der General.

Ella nickte unkonzentriert. Sie hatte keine Lust, sich zu unterhalten. Dem reinen unverwässerten Bösen Auge in Auge gegenüberzustehen hatte ihr den Wind aus den Segeln genommen. Sie fühlte sich leer … schwach … verletzlich.

»Reini hat sich wieder einmal selbst übertroffen, was seinen verabscheuungswürdigen Rassismus angeht«, bemerkte der Professor. Er saß so weit wie möglich vom General entfernt. Die Spannung ihrer gegenseitigen Abneigung vergiftete das Klima im Raum.

»Ist dieser Heydrich typisch für die Dupes, mit denen Sie Demi-Monde bevölkert haben?«, fragte Ella leise. Bei dem Gedanken, dass es noch mehr von Heydrichs Sorte gab, lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Der General schüttelte heftig den Kopf. »Nein, zum Glück nicht. Heydrich ist das, was wir als Singularität bezeichnen. Dieser erstrangige Typ eines hochgradigen Psychopathen ist selten. In einem Jahrhundert treten von dieser Sorte vielleicht ein Dutzend Exemplare auf. Daher haben wir nur zwanzig davon in der Demi-Monde angesiedelt, in jedem Sektor vier. Leider – oder zum Glück, je nachdem, wie man es betrachtet – sind zwei davon bereits tot. Heinrich Tudor und Iwan der Schreckliche wurden von Heydrich ermordet, der mit einem Handstreich in zwei Sektoren der Demi-Monde die Macht übernommen hat. Wirklich eine Schande, ich hielt Heinrich für eine der interessantesten VorGelebten-Schöpfungen des Professors. Jedenfalls war er der Einzige, der so etwas wie einen Sinn für Humor hatte.«

Ella griff mit zitternder Hand nach der Kaffeetasse und nahm einen Schluck, in der Hoffnung, das Koffein würde ihre Panik vertreiben. Was für ein Bekloppter denkt sich bloß solche Spiele aus?, fragte sie sich. Dann stellte sie die Tasse energisch wieder auf dem Unterteller ab. »Okay, ja, ich habe diesen Heydrich also getroffen. Na und? Was hat das Ganze mit mir zu tun? Kommen wir zur Sache, General.« Jetzt wollte sie nur noch so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die verrückte Demi-Monde bringen.

Scheiß auf die Million Dollar.

Keine noch so große Geldsumme würde sie dazu bringen, noch einmal auch nur in Heydrichs Nähe zu kommen.

Der General warf Ella einen nervösen Blick zu. Ihr Unbehagen machte ihm sichtlich zu schaffen. »Wie bereits gesagt, Miss Thomas, die Demi-Monde ist keine vorausberechenbare Simulation … Es handelt sich um ein heuristisches Programm, das sich die Dinge selbst beibringt. Seitdem es vor vier Jahren in Betrieb genommen wurde, agiert es selbstständig. Seine Schöpfer hatten keinen Einfluss mehr darauf, es konnte seine eigene Anarchie entwickeln. Es erübrigt sich zu sagen, dass wir über diese Verselbstständigung nach Inbetriebnahme des Programms – dem Post-OutSet, wie es in Fachkreisen genannt wird – gelinde gesagt überrascht waren. Wir hatten die Demi-Monde als ein extrem aggressives Ambiente entwickelt, um unsere neoFights auszubilden, das Programm sollte die perfekte Nachbildung einer asymmetrischen Kriegssituation sein. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Demi-Monde zu einer lebensbedrohlichen Angelegenheit werden würde.«

Das allerdings war ein Satz, bei dem sich Ellas Augen weiteten. »Hören Sie, ich habe keine Ahnung von diesem lebensbedrohlichen Hokuspokus. Ich dachte, Sie hätten mir erklärt, dass die Demi-Monde nichts weiter als ein Computerspiel sei … eine Computersimulation. Aber wenn in einem Computerspiel plötzlich die Kacke am Dampfen ist, hat man immer noch das letzte Wort: Man kann den Stecker ziehen.«

»Nun, wir hatten das letzte Wort, Miss Thomas«, antwortete der General ruhig. Dann wandte er sich dem Captain zu. »Ich glaube, es wäre ganz sinnvoll, wenn ich Miss Thomas etwas mehr Hintergrundwissen vermittle.«

Der Captain schaltete einen Monitor an der Wand ein. Darauf erschien ein Bild, das wie eine rudimentär gezeichnete Zielscheibe aussah. »Das hier ist eine Karte der Demi-Monde. Wie Sie sehen können, handelt es sich um eine runde Welt mit einem Durchmesser von dreißig Meilen, in denen an die dreißig Millionen JetztLebende Dupes wohnen. Jedes dieser Duplikate ist dank der kolossalen Rechnungsleistung des ABBA-Computers ein eigenständiges, einmaliges und unabhängiges Individuum, das wie sein Doppelgänger in der Realen Welt denkt, handelt und kommuniziert, wenn dieser sich in einem ähnlichen Ambiente befände.«

»Ich habe ein Problem mit dem Begriff denken, General. Soll das heißen, das Ihre Dupes über eine Form von Intelligenz verfügen?«

Der Captain lächelte auf eine herablassende Weise, die Ella höchst irritierend fand. »Es handelt sich hierbei nur um eine Art Ersatzintelligenz, aber den neoFights, die in der Demi-Monde operieren, kommt es vor, als könnten sie selbstständig denken. Die Bewohner der Demi-Monde interagieren nicht nur mit den neoFights, sondern auch untereinander.« Er holte tief Luft und fuhr anschließend mit seinem Vortrag fort. »Die Demi-Monde wurde von Anfang an als ein äußerst instabiles und widersprüchliches Ambiente konzipiert. Nur so konnten wir die Kriegssituationen schaffen, die wir zur Ausbildung unserer Männer brauchten. Zu diesem Zweck haben wir eine Reihe von sogenannten ›Spannungsfeldern‹ geschaffen. Die relevantesten sind Rasse, Religion und Bevölkerungsdichte.«

Ella fand das alles ziemlich deprimierend. Die Vereinigten Staaten hatten die beiden letzten Jahrhunderte damit verbracht, Probleme zu bewältigen, die dadurch entstanden, dass ihre Bürger unterschiedlichen Rassen und Religionen angehörten, und jetzt untersuchte das US-Militär, wie es diese Gegensätze noch verschärfen könnte, um einen Krieg zu provozieren.

Der Captain nahm einen Laserstift zu Hilfe, um auf die fünf Segmente der Karte zu zeigen, die von der Mitte der runden Welt wie Kuchenstücke abgingen. »Es gibt fünf gleich große Sektoren in der Demi-Monde: die Rookeries, Coven, Rodina und die beiden Quartiers Chaud und NoirVille. Alle Sektoren unterscheiden sich in puncto Rasse und Religion. Im Norden haben wir die Rookeries. Dieser Sektor wird von Menschen angelsächsischer Herkunft bewohnt, genauer: einer paritätischen Mischung aus Amerikanern, Engländern und Deutschen, die Englisch sprechen und einer asketischen Religion folgen …«

»Asketisch?«, fragte Ella.

»Das ist eine Religion, die die Freuden des Lebens verdammt und sich UnFunDaMentalismus nennt. Diesen Glauben hat sich Ihr Freund Heydrich zu eigen gemacht. Allerdings haben wir Aleister Crowley, den Schwarzmagier, der in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so berühmt war, als religiösen Führer in die Rookeries platziert. Kein Wunder also, dass der UnFunDaMentalismus mit gewissen Aspekten des Okkultismus durchmischt ist.« Er warf Ella einen Blick von der Seite zu, um sich zu vergewissern, dass sie seinen Ausführungen aufmerksam folgte. »Im Westen der Rookeries liegt Rodina. Dieses Gebiet wird vorwiegend von einer slawischen Ethnie bevölkert, einer Mischung aus Russen, Polen und Ukrainern. In Rodina wird Russisch gesprochen, und die Bewohner folgen – folgten – einem eingestandenermaßen atheistischen Glauben, den sie RaTionalismus nennen. Wie der Name vermuten lässt, sucht er nach rationalen Erklärungen für die Schöpfung, den Zweck und die Eigenarten der Demi-Monde und lehnt übernatürliche Interpretationen ab. Seit Heydrichs Machtergreifung ist der RaTionalismus so etwas wie eine Untergrundreligion. Im ForthRight gilt nun der UnFunDaMantalismus als einzige offizielle Religion.«

»ForthRight?«

»Ja, diesen Namen gab Heydrich nach seinem Staatsstreich dem Staat, in dem heute die Rookeries und Rodina vereint sind. Den Staat, den er jetzt kontrolliert.«

»Das war aber ziemlich tollkühn von Heydrich.«

Der Captain nickte zustimmend. »Er ist nun mal ein toller Hecht. Obendrein erhielt er tatkräftige Unterstützung von einer russischen ß-Singularität namens Laurentii Beria.«

»Im wirklichen Leben war er Chef des NKWD, Stalins Geheimdienst«, fügte der Professor behilflicherweise hinzu. »Ein relativ widerlicher Job.«

»Vielen Dank, Professor«, sagte der Captain sichtlich gereizt. »Heydrich und Beria zettelten eine Revolution an, brachten die Führer der beiden Sektoren um – die von Rodina und den Rookeries …«

»Heinrich Tudor und Iwan der Schreckliche«, murmelte der Professor.

»… beseitigten ihre politischen Rivalen und rissen die Macht an sich. Die gesamte Revolution wird auch als Zeit der Unruhen bezeichnet.«

Der Captain fuhr mit seinem Laserstift um den Rand der Demi-Monde. »Im Uhrzeigersinn gelangen wir von den Rookeries zum Quartier Chaud. Hier sind die Bewohner mediterranen Ursprungs – in der Mehrzahl Franzosen, Italiener, Spanier –, und man spricht Französisch. Die Chaudianer, wie die Menschen in diesem Sektor heißen, hegen unerschütterlich hedonistische Auffassungen, sie glauben, dass das Streben nach Lust des Menschen erste Pflicht sei. Ihre Religion nennt sich ImPuritanismus.«

»Und wer hat dort das Sagen?«, fragte Ella.

»Maximilien Robbespierre, der Mann, der einst die Französische Revolution anführte, tatkräftig unterstützt von einer Singularität namens Tomás de Torquemada. Er war in seiner Zeit der Großinquisitor und folterte im Namen der Katholischen Kirche. Doch die wahre Macht in diesem Viertel liegt in den Händen der Dogaressa von Venedig, Catherine Sophia, die unseren Singularitäten das Leben ganz schön schwer macht. In letzter Zeit ist es im Quartier Chaud offenbar zu einer Spaltung gekommen. Aus irgendeinem Grund liegen Venedig und der Rest des Quartiers im Clinch.«

»Also nicht gerade ein Ort, um Urlaub zu machen«, bemerkte Ella trocken.

»Nun, eigenartigerweise doch. Für diejenigen, die einen lockeren Lebenswandel haben, schon. Die ImPuritaner haben eine ziemlich freizügige Auffassung von Sex, und da im Quartier fast alles erlaubt ist … nun ja, war, bis …«

Der General hustete. Offensichtlich war er der Meinung, dass der Captain nicht unbedingt ins Detail gehen sollte. »Wenn wir weitergehen, kommen wir zum Sektor NoirVille. Die hier ansässige Bevölkerung ist eine Mischung aus Arabern und Afrikanern. Die Religion, der die Menschen in diesem Gebiet angehören, heißt HimPerialismus. In diesem Sektor wird Arabisch gesprochen.«

»HimPerialismus?«

»Ja. Dieser Glaube basiert auf der Überlegenheit des Mannes und der Unterjochung der Frau … grässlich frauenverachtend, fürchte ich.« Er ignorierte die Empörung in Ellas Blick. »Wir glauben, dass diese Entwicklung der Tatsache geschuldet ist, dass in NoirVille der Anteil der Männer den der Frauen übertrifft. In NoirVille kommt eine Frau auf zwei Männer. In diesem Sektor finden wir eine ganze Reihe von sehr starken Persönlichkeiten. Shaka Zulu zum Beispiel …« Er hielt inne. »Haben Sie jemals von ihm gehört, Miss Thomas?«

Ella schüttelte den Kopf.

»Er war derjenige, der Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Nation der Zulu gründete. Ein bemerkenswerter Mann. Seine HimPis – seine Regimenter – kontrollieren den schwarzen Blutmarkt.«

»Blut?«

»Wir kommen gleich darauf zurück, Miss Thomas. NoirVille ist auch die Heimstätte für den religiösen Kult des WhoDoo. Die Soziologen, die die Demi-Monde studieren, sind begeistert. Sie haben …«

Erneut hustete der General. Wahrscheinlich litt der Mann an Schwindsucht.

»Der letzte Sektor …«, sagte der Captain hastig.

»Lassen Sie mich raten«, unterbrach Ella ihn. »Treffen wir jetzt etwa auf Benny the Bouncy Bunny?«

»Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Der fünfte Sektor ist Coven. Hier leben Sino-Japaner, und hier ist das weibliche Geschlecht leicht in der Überzahl. Die Religion in Coven nennt sich HerEtikalismus. Sie lehrt, dass es in der Demi-Monde nur dann Friede und Fortschritt geben wird, wenn die Männer eine untergeordnete Rolle in der Gesellschaft spielen.«

»Klingt ganz vernünftig.«

Der Captain ging nicht auf Ellas Bemerkung ein. »Leider ist dieses weibliche Zerrbild übers Ziel hinausgeschossen. Coven ist im wahrsten Sinne des Wortes ein männerfeindlicher Sektor und erklärtermaßen prolesbisch. Sie werden erkennen, dass der HerEtikalismus der Gegenpol zum HimPerialismus ist. Beide Systeme hassen sich bis aufs Blut. Die HerEtikalistinnen haben eine besonders radikale feministische Terrorbewegung hervorgebracht, den Suff-Ra-Gettismus. Er propagiert den Gebrauch von Gewalt, um die Überlegenheit der Frauen in der Demi-Monde zu sichern. Komischerweise, und trotz dieser geschlechtsspezifischen Ausrichtung, ist Coven unter der Herrschaft der Kaiserin Wu – eine überaus willensstarke Person und die einzige Frau, die jemals Kaiserin von China wurde – zu einer Brutstätte für radikales Gedankengut geworden. Die Mehrzahl der eher unorthodoxen Denker in der Demi-Monde haben Coven zu ihrer Heimat gemacht. Darunter auch Karl Marx.« Der Captain schaltete seinen Laserstift aus. »Und damit, Miss Thomas, ist meine 10-Cent-Tour durch die Demi-Monde beendet.«

»Sie haben die nuJus vergessen, Captain«, bemerkte der Professor. »Wir haben unseren Schmelztiegel unterschiedlicher Völker, die der Captain Ihnen beschrieben hat, eine Prise nuJus hinzugefügt.«

»Ja stimmt, wie konnte ich das bloß vergessen? Der Professor hat völlig recht, es gibt in der Demi-Monde ein quasi jüdisches Element – die nuJus. Sie stellen ein Sechstel der Gesamtbevölkerung dar und sind über die fünf Sektoren verteilt.«

Ich frage mich nur, was der Captain sonst noch alles vergessen hat.

»Aber warum haben Sie die Demi-Monde so konzipiert?«, wollte Ella wissen. »Damit ist doch das Chaos vorprogrammiert.«

»Nun, genau das war unsere Absicht, Miss Thomas«, erklärte der Captain. »Die Demi-Monde wurde als Spiegelbild der unterschiedlichen Demografien und Religionen der Bevölkerungen und der Feinde entworfen, mit denen es unsere Streitkräfte in asymmetrischen Kriegssituationen zu tun hätten. Ich will gern einräumen, dass wir bei der Entwicklung der Demi-Monde zuweilen übers Ziel hinausgeschossen sind, was diese, sagen wir, Disharmonien angeht, aber bedenken Sie bitte, dass wir sie als unstabiles und gewalttätiges Ambiente konzipieren wollten. Und genau aus diesem Grund haben wir auch in jeden der fünf Sektoren unsere Singularitäten platziert. Das sind Individuen mit einem ausreichend starken Potenzial an anomalen Führungsqualitäten. Sie sollten dafür sorgen, dass sich die Sektoren unablässig bekämpfen. Das Letzte, was wir uns wünschten, war, dass in der Demi-Monde der Frieden ausbricht. Kurz gesagt, Miss Thomas, unsere Demi-Monde ist die bösartigste und mörderischste Dystopie, die man sich nur wünschen kann.«

»Die Hölle auf Erden«, bemerkte Ella, als der Captain seinen Platz wieder einnahm.

»Sehr richtig«, stimmte ihr der General zu, »und da sollen Sie sich hineinbegeben, Miss Thomas. Wir wollen Sie zur Hölle schicken.«