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Demi-Monde:
85. Tag im Winter des Jahres 1004

Ich sehe mich genötigt, den beunruhigend langsamen Fortschritt anzuprangern, den die SS bei der Unterwerfung des Warschauer Ghettos macht. Wie Sie wissen, muss Fall Weiß im Unternehmen Barbarossa abgeschlossen, Warschau befriedet und das Hinterland gesichert sein, ehe wir mit Fall Rot fortfahren können. Und da Fall Rot vorsieht, dass die Armee des ForthRight den Hub durchquert, darf der Angriff keinesfalls später als am ersten Tag des Frühlings beginnen, wenn der Vormarsch der Armee vor dem TauTag, dem sechzigsten Tag des Frühlings abgeschlossen sein soll. Nach dem TauTag erwachen die nanoBites aus dem Winterschlaf, und alles, was tiefer als fünfzehn Zentimeter in den Boden des Hub eindringt, wird augenblicklich verschlungen. Das macht es für Menschen und Material unmöglich, den Hub zu passieren. Vergessen Sie nicht, Kamerad Standartenführer: Falls es Ihrer SS nicht gelingt, das Ghetto einzunehmen, könnte ein Scheitern des ganzen Unternehmens Barbarossa die Folge sein.

– Schreiben des Generals Mikhail Dmitriewitsch Skobelew an SS-Standartenführer Archie Clement vom 80. Tag des Winters im Jahre 1004

Bei Sonnenuntergang stiegen sie aus dem Kanaldeckel am Rande des Platzes. Sobald Trixie sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, brachte sie ihre Männer in Stellung. Die Truppe kauerte hinter der Wand eines ausgebrannten Gebäudes, während Trixie durch ihr ramponiertes Fernrohr die Blutbank beobachtete.

Ella blieb so weit wie möglich von ihr entfernt. Nachdem sie den hasserfüllten Blick in den Augen des Mädchens gesehen hatte, hielt sie es für besser, auf Abstand zu gehen, bis Trixie sich wieder beruhigt hatte. Je schneller Ella das Ghetto verließ, desto besser.

Vanka stieß sie in die Rippen und reichte ihr sein Fernglas. »Sag mir, was du meinst, Ella.«

Sie warf einen Blick hindurch. Die Warschauer Blutbank war genauso groß und imposant wie die in Berlin und bestand aus demselben unzerstörbaren Material, ManteLit. Mitten in einem Meer aus Verwüstung und Zerstörung stand die Bank völlig unbeschädigt in der Mitte des Platzes und schimmerte grünlich im untergehenden Sonnenlicht. Soweit sie erkennen konnte, war der einzige Unterschied zwischen dieser Bank und der in Berlin, dass die Warschauer, aus welchen Gründen auch immer, einen Anbau errichtet hatten, in dem nun eine SS-Garnison untergebracht war.

Vanka erklärte es ihr. »Die Bank hat so viele Kunden, dass einige Bezirke ganze Einkaufszentren angebaut haben. Darin sind Büroräume für Firmen, Kanzleien oder Steuerberater untergebracht, und es gibt auch Restaurants und sanitäre Einrichtungen, also alles, was die Bank nicht hat.«

»Ist das der Grund, weshalb sich die SS da eingenistet hat?«

»Genau. Und da der einzige Weg, um in die Bank hinein- und wieder herauszukommen, durch das Einkaufszentrum führt, ist es ein idealer Bunker, um sie zu verteidigen. Lass mich mal sehen, wie viele von diesen Schweinehunden uns dort erwarten.«

Vanka nahm ihr das Fernglas wieder ab und brauchte etwa fünf Minuten, um die Soldaten zu zählen.

»Ich komme auf fünfzig«, sagte er schließlich. »Mit denen, die sich jetzt im Gebäude befinden, um sich ausruhen oder etwas zu essen, müssten es circa fünfundsiebzig sein. Aber Artillerie habe ich keine gesehen, das zumindest ist ein Segen.«

»Nur fünfundsiebzig?«, fragte Ella.

»Überrascht mich nicht. Für seinen letzten Angriff hat Clement seine Truppen entlang der Grenze zur Industriezone konzentriert. Aber das Problem ist nicht die Anzahl der Soldaten, sondern dieses hundert Meter weite offene Gelände zwischen dem Bankeingang und uns. Eine richtige Todeszone. Wir können nur hoffen, dass die SS gerade ein Nickerchen hält, wenn wir losrennen.«

Ella war nicht so sicher. »Soll das ein Witz sein? Die werden jeden umnieten, der das versucht.«

»Dann können wir nur noch beten, dass unserem verrückten Hauptmann etwas Besseres einfällt.«

Zum Glück war das tatsächlich der Fall. Noch während Vanka sprach, rief Trixie ihrem Stellvertreter Leutnant Michalski zu: »Lassen Sie die Männer ausschwärmen und nach einem fahrtüchtigen Dampfwagen suchen. Wenn sie einen gefunden haben, sollen sie mit Bolzen und Ketten dicke Stahlplatten, die dem Beschuss der M4-Gewehre standhalten, an den Seiten festmachen. Wir bauen uns jetzt unseren eigenen Panzerwagen.«

Es war das erste Mal, dass Ella aktiv an einer Schlacht teilnahm, und die Erfahrung ließ sich mit dem Wort »grauenerregend« am besten beschreiben. Kaum hatten sie ihre Deckung hinter der Mauer verlassen, da steckten sie bereits mitten in einem Hexenkessel aus Kugelhagel, Explosionen und den Schreien der Verwundeten.

Auf den ersten dreißig Metern ihres Vormarsches leistete ihnen der improvisierte Panzerwagen gute Dienste. Im Schutz der dicken Stahlplatten, die sie vor die Motorhaube gekettet hatten, überquerten die Kämpfer der FAW langsam aber unaufhaltsam den Platz vor der Bank, während die SS vergebens eine Salve nach der anderen auf sie abfeuerte. Der Lärm der in die Stahlplatten einschlagenden Kugeln war ohrenbetäubend, doch Ella tröstete sich mit dem Gedanken, dass es besser war, taub zu sein als tot.

Als sie etwa vierzig Meter hinter sich gebracht hatten, kam derjenige, der die SS befehligte, allmählich zu der Erkenntnis, dass man seine Zeit verschwendete und ein schwereres Kaliber auffahren müsste, um den Dampfwagen aufzuhalten. Dabei stellte sich heraus, dass Vanka ganz schön schiefgelegen hatte. Die Verteidiger verfügten sehr wohl über Artillerie. Zum Glück pfiff die sechs Pfund schwere Haubitze etwa ein oder anderthalb Meter über den Wagen hinweg, woraufhin sich der Fahrer genötigt sah, das Allerletzte aus seinem Wagen herauszuholen. Trotzdem war er nicht schnell genug. Als sie nur noch vier Meter vom Bankeingang entfernt waren, bekam der Wagen einen Volltreffer ab.

Der Kessel flog in einem Schwall brühend heißen Wassers in die Luft, und die Kämpfer der FAW stürmten verzweifelt auf die Bank zu. Es war ein Chaos, ein Blutbad, ein einziges Gemetzel. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde der Angriff scheitern. Die SS-Leute wussten, dass sie so gut wie tot waren, wenn die Freiheitskämpfer in die Bank gelangten, und kämpften mit dem Mut der Verzweiflung. Beide Seiten standen sich nur wenige Meter entfernt gegenüber und schossen aufeinander.

Dann preschte Feldwebel Wysochi vor und zerfetzte mit einem Schrotgewehr das Schloss an der Tür des Einkaufzentrums. Jetzt konnten auch die anderen Kämpfer in die Bank stürmen, und das gegenseitige Abschlachten begann erst richtig.

Ein wilder mörderischer Nahkampf entbrannte. Nicht dass Ella viel mitbekommen hätte, Vanka hatte sie hinter den schwelenden Überresten des Dampfwagens auf den Boden gezerrt und geschrien, sie sei zu wichtig, um ihr Leben zu riskieren. Dann sagte ihnen die allmählich offensichtlich werdende Überzahl der Angreifer und ihre schiere Sturheit, dass sie drin waren.

»Verbarrikadiert Türen und Fenster!«, schrie Trixie, während sie über die Leichen und Trümmer am Bankeingang kletterte. »Die kommen gleich nach!«

Ella spürte Vankas Hand auf ihrem Kopf. »Halt dein hübsches Köpfchen unten, Ella, die SS würde alles tun, um es dir abzuschießen.«

Der Rat kam gerade noch rechtzeitig. Kaum hatte sie im Innern des Einkaufszentrums den Kopf eingezogen, schlugen Maschinengewehrkugeln durch die Fenster in die hintere Wand und in die Decke ein. Mauerputz und Glassplitter flogen durch die Luft.

»Schießt zurück, ihr Idioten!«, hörte sie Trixie schreien. »Haltet sie auf Abstand!« Dann zeigte sie auf Ella. »Und Sie, Dämonin, fangen Sie endlich mit Ihrem Hokuspokus an!«

»Wo ist der Banksaal?«, rief Ella Vanka zu. Der nickte, führte sie in den hinteren Teil des Einkaufszentrums und durch eine große Doppeltür in eine riesige Halle. Sie hatte dieselben Ausmaße wie die in Berlin, nur dass es hier ganz still war. Das Rattern der Bildschirme war verstummt. Als sie den großen Saal betrat, hörte sie nur das Klacken ihrer beschlagenen Schuhe auf dem ManteLit-Boden und das Rattern und Belfern von Gewehrfeuer, das aus der Richtung des Einkaufzentrums kam. Es war ein gruseliger, trostloser Ort. Der ManteLit schien hier noch grünlicher zu leuchten als in Berlin.

Sie betrat die nächstbeste Transfusionskabine und legte die Hand auf das Gerät links neben der Tastatur. Sofort flackerte der Bildschirm auf, und die Buchstaben drehten sich ratternd.

DIE WARSCHAUER BLUTBANK

BEGRÜSST ELLA THOMAS

BITTE GEBEN SIE IHR PASSWORT EIN

Es folgte eine gewaltige Explosion. Die Schockwelle, die durch die Halle schwappte, warf Ella fast um. »Beeil dich!«, drängte Vanka. »Scheint so, als wäre die SS nicht gerade erfreut, dass wir die Blutbank zurückerobert haben. Jetzt fahren sie schweres Geschütz auf. Und Trixies Desperados werden dem nicht viel entgegenzusetzen haben.«

So schnell sie konnte tippte Ella ihr Passwort ein und verschaffte sich Zugang zum IM-Manual. Sie wühlte sich durch CYBERMILIEU ÄNDERN, EIGENSCHAFTEN und drückte auf ENTER.

WELCHE EIGENSCHAFTEN DES CYBERSYSTEMS MÖCHTEN SIE VERÄNDERN?

Ella gab »OPTIONEN?« ein.

MÖGLICHE ÄNDERUNGEN VON EIGENSCHAFTEN DES CYBERSYSTEMS

PARAMETER, DIE SICH VERÄNDERN LASSEN:

1 BLUTANGEBOT

2 KLIMA

3 NAHRUNGSMITTELANGEBOT

4 DEMOGRAFIE

5 UMWELT- UND PHYSIKALISCHE RAHMENBEDINGUNGEN

6 FLORA UND FAUNA

7 GEOGRAFIE

8 HUB

9 INDUSTRIEZONE

10 BEWÄSSERUNG

11 PORTALE

12 FLUSSEIGENSCHAFTEN

13 RUNEN

14 SKALARE EIGENSCHAFTEN

15 TERROR INCOGNITA

16 TOPOGRAFIE

17 URBANER RING

18 ABFALLBESEITIGUNG UND KANALISATIONSSYSTEM

Ella starrte wie betäubt auf den Bildschirm. Nirgendwo tauchte die Grenzschicht auf. Sie spürte, wie sie in Panik geriet. Was, wenn sie nicht Wort halten konnte? Wenn all die tapferen Kämpfer umsonst starben?

Denk nach, Ella, denk nach.

Was war die Grenzschicht?

Das Ding, mit dem die Programmierer von ParaDigm die Bevölkerung der Demi-Monde eingegrenzt hatten. Also eine Rahmenbedingung. Sie drückte auf »5«. Augenblicklich drehten sich die kleinen Plättchen, aus denen der Bildschirm bestand.

UMWELT- UND PHYSIKALISCHE RAHMENBEDINGUNGEN

PARAMETER, DIE VERÄNDERT WERDEN KÖNNEN:

1 GRENZSCHICHT

2 DICKE DER ERDSCHICHT

3 VERTEILUNG UND GEFRÄSSIGKEIT DER NANOBITES

4 MANTEL

Den Geistern sei Dank!

Sie drückte auf die »1«.

GRENZSCHICHT

PARAMETER, DIE VERÄNDERT WERDEN KÖNNEN:

1 ENTFERNUNG ZUR MITTE DER DEMI-MONDE®

2 HÖHE

3 DURCHLÄSSIGKEIT

4 FÜHLBARKEIT

5 TRANSPARENZ

Sie kämpfte gegen das Zittern in ihren Händen an und drückte auf die »3«.

GRENZSCHICHT

SIE MÖCHTEN DIE DURCHLÄSSIGKEIT ÄNDERN

SOLL DAS EINE LOKALE VERÄNDERUNG SEIN? J/N

Ja, um Gottes willen, ja!

BITTE BENUTZEN SIE DEN MUTOSKOPBETRACHTER

Ella tat wie ihr geheißen und sah eine Karte der Demi-Monde. Am äußersten Rand jedes Distrikts war die Grenzschicht mit einem Code versehen. Der für die des Warschauer Distrikts lautete WBL-1. Ella gab den Referenzcode ein.

SOLL DIE GRENZSCHICHT WBL-1 DURCHLÄSSIG WERDEN? J/N

Ja, ja, ja …

ZEITRAHMEN (NACH DEMI-MONDE-ZEITRECHNUNG), IN DEM DIE ÄNDERUNG ERFOLGEN SOLL?

Ella tippte krampfhaft »SOFORT« ein.

GLÜCKWUNSCH ELLA THOMAS GEMÄß PROTOKOLL 57 HABEN SIE EINE EINSTÜNDIGE NOTFALLVERÄNDERUNG DER DURCHLÄSSIGKEIT DER GRENZSCHICHT BEI WBL-1 DURCHGEFÜHRT. DIE ÄNDERUNG MUSS VOM FÜHRUNGSKOMITEE DER DEMI-MONDE® BESTÄTIGT WERDEN. SOLLTEN SIE KEINE BESTÄTIGUNG ERHALTEN, WIRD DIE ANWENDUNG NACH ABLAUF DER EINSTÜNDIGEN NOTFALLPHASE BEENDET.

MÖCHTEN SIE WEITERE DIENSTE IN ANSPRUCH NEHMEN? J/N

Ella drückte auf »JA«. Es war die einzige Chance herauszufinden, wohin die SS Norma von Wewelsburg aus bringen würde, und zu erfahren, wo Crowley seinen Übertragungsritus abhalten würde.

DEMI-MONDE® IM MANUAL

OPTIONEN:

1 LOKALISIEREN VON DUPES

2 HINZUFÜGEN VON DUPES

3 LÖSCHEN VON DUPES

4 ÄNDERN DER EIGENSCHAFTEN VON DUPES

5 ÄNDERN DER EMPFINDUNGEN VON DUPES

6 ÄNDERN DER EIGENSCHAFTEN DES CYBER-MILIEUS

Sie drückte auf »1« und wurde prompt gefragt:

NAME DES ZU LOKALISIERENDEN DUPES?

Und da erinnerte sie sich daran, dass ABBA gar nicht in der Lage war, Norma Williams zu suchen, weil sie ein entführter Dupe war.

Denk nach.

Dann hatte sie einen Geistesblitz.

»AALIZ HEYDRICH«, gab sie ein.

Die Quadrate drehten sich.

DUPE AALIZ HEYDRICH BEFINDET SICH IN EXTERSTEINE. DEMI-MONDE-KOORDINATEN-SEKTOR 1/N5°W/6.5 MEILEN

Ella fragte PINC nach ExterSteine, doch er ließ sie erneut im Stich. PINC hatte keine Ahnung.

Noch während sie sich verzweifelt die Koordinaten zu merken versuchte, gab es am Bankeingang eine weitere gewaltige Explosion, und dann taumelten Trixie und ihre bedrängten Kämpfer in die Bankhalle. Trixie warf Ella einen Blick zu und brüllte: »Haben Sie es geschafft?«

»Gleich, nur noch eine Minute«, rief Ella zurück.

Trixie schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Minute mehr. Wir können nirgendwohin, und die SS rückt immer weiter vor. Wir sitzen in der Falle. Gleich ist Schluss.«

»Vielleicht nicht«, sagte Ella und drehte sich wieder zu der Maschine um.

»Scheint so, als hätten die Aufständischen das Feuer eingestellt, Kamerad Standartenführer.«

Archie Clement runzelte die Stirn. Das passte nicht zu den Aufständischen. In den letzten Wochen hatte er sich von dem Todesmut dieser Kerle überzeugen können; sie verschanzten sich in den Ruinen, in den Kellern, gruben sich in jedes Loch und kämpften bis zum letzten Mann. Sogar seine SS war von ihrem Fanatismus und ihrer Bereitschaft beeindruckt, für ihre lächerliche Sache ihr Leben zu opfern. Und daran war nur die verdammte Trixie Dashwood schuld.

Wer hätte gedacht, dass ein siebzehnjähriges Mädchen Dabrowski zur Seite stehen würde? Nicht einmal Beria hatte das geahnt. Wäre sie nicht gewesen, hätten die Polen im Handumdrehen den Schwanz eingezogen, so wie sie es erwartet hatten. Dieses Flittchen würde sich für so manches verantworten müssen.

»Wie lange schon?«, fragte er.

»Seit zehn Minuten haben sie keinen Schuss mehr abgegeben.«

»Sind die Panzer bereits vor Ort?«

»Nur einer, Kamerad Standartenführer, der andere geriet in Leshno in einen Hinterhalt. Ein paar Kinder mit Brandbomben …«

Clement nickte verdrießlich und spie einen Tabakklumpen aus. Sie hatten diesen Aufständischen richtig eingeheizt, und trotzdem gaben sie nicht auf. Verdammte Selbstmordattentäter. Es gab keinen Schutz vor Aufständischen, die sich willig opferten, um einen Panzer in die Luft zu jagen. Die Ausfallquote war erschreckend: Mehr als die Hälfte der im Ghetto eingesetzten Panzer war durch Sprengfallen oder Brandbomben zerstört worden. Gewaltige Kosten waren entstanden, Horatio Bottomley bombardierte inzwischen sogar Crowley mit Beschwerden. Wenn Bottomley jetzt auch noch erfuhr, dass die Aufständischen die Blutbank wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatten, würde er toben.

Clement fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar. Warum die Aufständischen die Bank angegriffen hatten, war ihm ein Rätsel. Sie mussten wissen, dass man ihnen nie erlauben würde, die Bank mit Blut wieder zu verlassen, sie mussten wissen, dass es zwecklos war. Das Einzige, was sie erreichten, war, ihn zum Narren zu machen.

Er trat gegen eine leere Munitionskiste, die über die Pflastersteine schrammte. Dieser Hundesohn von Bottomley sollte seinen fetten Arsch hierherbewegen und sich am Kampf gegen diese Wahnsinnigen beteiligen, dann würde er aufhören, über das Loch zu jammern, das der Krieg ihm in den Beutel riss.

Er konnte nur hoffen, dass Berias Trick klappte.

»Nehmen Sie sich einen Sturmtrupp und rücken Sie im Schutz des Panzers vor.«

»Sollen wir Flammenwerfer einsetzen, Kamerad Standartenführer? Wäre vielleicht das Beste, wenn wir diese Hundesöhne ausräuchern. Wahrscheinlich liegen sie nur auf der Lauer und warten auf eine Möglichkeit, uns erneut anzugreifen. Sie wissen ja, wie heimtückisch diese Polacken sind. Feige Bestien.«

Die Argumentation des Hauptsturmführers war nicht von der Hand zu weisen. Es war gängige Praxis, ein eingenommenes Gebäude im Ghetto mit Stroh zu füllen, Kerosin darüber zu kippen und es anzuzünden. Man steckte das Gebäude in Brand und mit ihm die Aufständischen, die sich darin verstecken mochten. Aber nicht die Blutbank. Wenn sie eine Blutbank abfackelten, würde Bottomley erst recht in die Luft gehen.

»Nein, Kamerad Hauptsturmführer, keine Flammenwerfer. Wir müssen behutsam vorgehen. Wenn Sie mir die Transfusionskabinen beschädigen, werden Sie zum Küchendienst degradiert, bevor Sie piep sagen können.«

Der Hauptsturmführer brüllte seine Befehle, und zehn Minuten später rumpelte der Wagen vorwärts. Nach wochenlangem Kampfeinsatz waren die Panzer nicht mehr die imposanten glänzenden Maschinen von vor dem Feldzug. An den verwundbaren Kesseln hatte man weitere Stahlplatten angebracht, die Fahrerkabine war mit einem Gitter gegen Brandbomben verstärkt und die Karosserie mit Maschendraht verkleidet worden, um Selbstmordattentäter davon abzuhalten aufzuspringen. Jetzt sahen sie genau wie das aus, was sie waren: hässliche, brutale Tötungsmaschinen.

»Sturmtrupp Nummer fünf! Bereit machen zum Angriff!«, rief der Hauptsturmführer.

»Haltet euch links vom Wagen. Außerhalb der Schusslinie dieser elenden Hundesöhne, die versuchen werden, euch die Köpfe wegzupusten.« Er gab dem Fahrer ein Zeichen, woraufhin der Panzer sich mit einem Ruck in Bewegung setzte und mit lautem Knirschen langsam auf die Bank zurollte.

Clement schnippte mit den Fingern, und sein Adjutant reichte ihm ein Teleskop. Er sah sich die Bank genau an, aber abgesehen von den zerfetzten Vorhängen, die sich träge im Wind blähten, und einer gesprengten Tür, die auf und zu klappte, konnte er nichts sehen, am allerwenigsten Aufständische, die gleich das Feuer eröffnen würden. Ein mulmiges Gefühl packte ihn. Waren die Schweinehunde etwa ausgebüxt? Clement verscheuchte die Vorstellung. Bis zur Dunkelheit waren es noch zwei Stunden, unter der Bank gab es keine Kloaken, und seine Truppen hatten die ganze Umgebung des Gebäudes im Auge. Die Aufständischen konnten nicht unerkannt entkommen, das war unmöglich.

Vielleicht hatten sie die Nase voll und kollektiv Selbstmord begangen. Lieber den Tod als Knechtschaft und so weiter.

Der Panzer hatte bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt, ohne dass ein einziger Schuss gefallen war.

Wo steckten die Kerle? Hatten sie sich im Banksaal verschanzt? Sie wussten, dass die SS nur widerwillig in die Bank hineinschießen würde.

Der Dampfwagen stieß gegen die Fassade des Einkaufzentrums und bohrte sich hinein, während die Spikes tiefe Furchen in den Granitboden zogen. Etwa eine Minuten bockte und schob sich der Wagen in einer vergeblichen Demonstration brutaler Ignoranz vorwärts, dann gab die Antriebswelle ihren Geist auf. Das Ungetüm blieb stehen und schnaufte in ohnmächtiger Wut.

Clement richtete sein Fernglas auf die zusammengekauerte Gestalt des Hauptsturmführers. Er sah, wie der Mann seinen SS-Sturmtruppen ein Zeichen gab, woraufhin diese wild um sich schießend um den liegengebliebenen Wagen herum in die Bank rannten. Das Feuer wurde nicht erwidert, und nach wenigen Sekunden verstummten die Schüsse wieder. Peinlich.

Stille.

Sie konnten doch nicht alle tot sein, oder? Vielleicht hatten sie Sprengfallen versteckt. Darin waren die Aufständischen echte Experten. Jede verdammte Tür, jede Treppe, jede SS-Leiche war über einen Draht mit einer Handgranate verbunden. Auf die Art hatte er Hunderte von Männern verloren. Und diejenigen, die überlebt hatten, waren jetzt vorsichtig. Er konnte nur hoffen, dass der Hauptsturmführer zu Letzteren gehörte.

Offensichtlich war das der Fall. Der Hauptsturmführer trat aus der Bank und signalisierte, dass die Luft rein war.

Clement runzelte skeptisch die Stirn. Das war zu leicht gegangen. Er machte seinen Leibwächtern ein Zeichen, und als sie sich um ihn geschart hatten, gingen sie über den Platz. Normalerweise riskierte er sein Leben nicht an vorderster Front, doch da es sich um eine Blutbank handelte, würde er eine Ausnahme machen. Der Eingang war ein einziges Chaos, sechs Aufständische lagen tot auf dem Boden mitten im Schutt. Der Hauptsturmführer stand in einer Ecke des Einkaufzentrums und schaute betreten drein. »Wie viele Leichen, Kamerad Hauptsturmführer?«

»Nur sechs, Kamerad Standartenführer.«

»Sechs? Wie viele Aufständische haben Ihrer Meinung nach diesen Ort gehalten?«

»Ich bin mir nicht sicher, Kamerad Standartenführer. Im Verlauf des Überfalls haben sie an die hundert Mann verloren.«

Clement versetzte einem der toten Aufständischen einen Tritt in den Arm. Auf dem weißen Armband stand mit roter Schrift: FAW-D. FAW bedeutete »Freie Armee Warschaus«, also bedeutete das »D« wahrscheinlich Dashwood – diese kleine Trixie Dashwood machte sich.

»Die FAW-D ist das beste Regiment, das die Polacken haben, Kamerad Standartenführer. Wir glauben, dass diese Einheit für die Entführung der Kähne verantwortlich war, kurz vor dem vorverlegten Angriff auf das Ghetto.«

Clement nickte. »Liegen Leichen im Innern?«

Der Hauptsturmführer geleitete Clement in die große Halle, die abgesehen von einigen zerbrochenen Kandelabern und dem Rauch aus dem Einkaufszentrum völlig unbeschädigt war. Und obendrein leer, es war keine Seele zu sehen, weder tot noch lebendig. »Und? Wo sind die Aufständischen, Kamerad Hauptsturmführer?«

»Sie sind nicht da, Kamerad Standartenführer.«

»Verdammt nochmal, das sehe ich auch!«, herrschte Clement ihn an. »Wollen Sie mir weismachen, dass sechs Aufständische fünfhundert SS-Männer mehr als eine halbe Stunde aufhalten konnten?«

»Äh … jawohl, Kamerad Standartenführer.«

»Das ist ein starkes Stück, Kamerad Hauptsturmführer. Wenn Sie herumlaufen und behaupten, einer dieser Rebellen sei genauso viel wert wie neunzig von unseren SS-Sturmtruppen, werden Sie den Löffel bald abgeben. Das ist Ketzerei.«

Das Bedauerliche war nur, dass es die einzig logische Erklärung war, es sei denn, die Aufständischen hatten sich mit der Unterstützung einer Zauberin in Luft aufgelöst.

Sogar Ella war erstaunt, als es ihr gelang, tatsächlich ein Einstiegsloch in den Boden des Banksaals zu zaubern. Dabei wusste doch jeder in der Demi-Monde, dass ManteLit undurchdringlich war.

»Wie?«, fragte Vanka, während er mit offenem Mund auf den Kanaldeckel starrte.

»Ich habe die Konfiguration der Kanalisation in der Demi-Monde verändert und einen Tunnel direkt unter die Bank umgeleitet. Los, wir müssen uns beeilen. Ich habe die Änderung auf zwanzig Minuten programmiert. Das verschafft uns genügend Zeit, um zu fliehen, und ist hoffentlich nicht so lang, dass die SS herausfindet, wie wir entkommen sind.« Dann wandte sich Ella an die Überlebenden des FAW-D-Regiments.

»Wenn wir jetzt gehen, haben wir eine Chance, mit dem Leben davonzukommen.«

Das musste man Trixie Dashwoods Männern nicht zwei Mal sagen. Augenblicklich schoben sie den Kanaldeckel beiseite, und dann folgten ihr um die hundertneunzig Überlebende durch die Kanalisation zurück in die Industriezone. Zwanzig Minuten lang wateten sie knietief durch eine Brühe aus Fäkalien und Schlamm, bis Ella stehen blieb und darauf bestand, als Erste die Sprossen hinaufzusteigen und den Kanaldeckel aufzuschieben. Als sie den Kopf herausstreckte, atmete sie erleichtert auf. Dieses Mal hatte PINC sie nicht im Stich gelassen. Sie tauchten mitten in der Warschauer Industriezone auf, umringt von einer lärmenden Menschenmenge. Die Leute hießen sie jubelnd willkommen, und im Nu war der Delegierte Trotzki zur Stelle, um die heimkehrenden Truppen in Empfang zu nehmen.

»Ah, die große Wundertäterin höchstpersönlich«, gluckste er, während er Ella aus der Kanalöffnung half. »Sie haben ein bemerkenswertes Zauberstück fertiggebracht, junge Dame.«

»Ist die Grenzschicht auf?«, fragte Ella und wischte sich den gröbsten Dreck von der Latzhose.

»Ja, genau wie Sie gesagt hatten.«

»Wann?«

»Vor zwanzig … dreißig Minuten.«

»Und haben Sie alle durchgebracht? Die Öffnung in der Grenzschicht schließt sich nach einer Stunde wieder.«

»Alle Pilger …«

Pilger?

»… die mitwollten, sind nun auf der anderen Seite der Grenzschicht. Aber bitte kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst. Die Menschen wollen sich bei ihrer Retterin bedanken, ehe die Grenzschicht sich wieder schließt.«

Obwohl Ella völlig erschöpft war, ließ sie sich durch die Straßen der Industriezone an die Stelle bringen, wo sich die Grenzschicht geöffnet hatte. Dort erwartete sie ein einzigartiges Schauspiel. Es war, als hätte man einen fünf Meilen langen Vorhang aus feinstem blauem Chiffon zurückgeschlagen, um im Großen Jenseits dahinter eine riesige, scheinbar endlose Ebene zu enthüllen. Und dort in dieser unendlichen Weite von Gras und Wald standen schweigend und unsicher die Bewohner Warschaus. Es waren Unzählige: Männer und Frauen trugen Bündel und Koffer, Kinder saßen auf Karren und hielten Puppen und andere Spielzeuge in den Händen, Familien mit Pferden und Körben voller gackernder Hühner. Sie wirkten verängstigt – viele zu Tode erschrocken –, aber sie strahlten auch eine Entschiedenheit aus, die Ella mit einem seltsam erhebenden Gefühl erfüllte. Sie betrachtete den gewaltigen Exodus. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass Menschen einen so unzähmbaren Willen aufbringen könnten, um trotz des geballten Hasses und der Wut, mit denen das ForthRight sie bekämpfte, immer noch die Kraft zu finden, sich auf ein neues Abenteuer einzulassen.

Unter den Auswanderern war auch Major Dabrowski, er lehnte an der Schulter einer jungen Frau. Als Ella an ihm vorbeiging, salutierte er. Er sah erschöpft, aber glücklich aus. Ella dachte, dass es vielleicht das war, was Dabrowski brauchte, ein neuer Anfang weit weg von Gewalt und Tod.

Während sie auf die offene Grenzschicht zuging, teilte sich die Menschenmenge. Die Männer und Frauen der FAW folgten Dabrowskis Beispiel und salutierten ebenfalls. Es war ein surrealer Augenblick, den sie nicht unbedingt genoss. Dazu war ihr das alles viel zu peinlich.

Am Rand der Grenzschicht blieb Trotzki stehen und wandte sich mit kräftiger Stimme an das Warschauer Volk. »Lady IMmanual …«

Lady IMmanual? Wo hatte er denn das her?

»… Sie sind unser Ersehnter Messias, den ABBA geschickt hat, um uns aus den Klauen des Todes zu befreien und in das Gelobte Land zu führen. Dafür danken wir Ihnen und geloben, Sie niemals zu vergessen.« Dann kniete er vor Ella nieder und küsste ihr die Hand. Auch die Menschenmenge kniete nieder.

Ella stand nur da und trat verlegen von einem Bein auf das andere.

»Wollen Sie noch etwas sagen, bevor wir diese Welt der Zwietracht für immer verlassen?«, fragte Trotzki.

Jetzt soll ich auch noch eine Rede halten. Aber was sagt man Menschen, die einer ungewissen Zukunft entgegengehen?

Ella wandte sich der Unzahl kniender Menschen zu. Und mit einem Mal erinnerte sie sich an eine weit zurückliegende Zeit, als sie an derselben Stelle gestanden und die Huldigungen ihres Volks entgegengenommen hatte. Doch damals war sie nicht Ella Thomas gewesen, sondern …

Wer?

Damals hatte sie nackt, mit kahl geschorenem Schädel vor ihren knienden Untertanen gestanden. Ihre Haut war dunkelrot gefärbt und ihr ganzer Körper mit schwarzen Schlangen tätowiert. Sie konnte sich sehen. Die Offenbarung war so echt, dass es wie ein déjà vu war. So echt, dass sie ein déjà vécu war. Das Gefühl, dass sie ein früheres Leben gehabt hatte … als heidnische Göttin.

Lilith …

Dann verschwand die Vision so schnell wie sie gekommen war, doch dieser Flashback hatte etwas in ihrem Innern verändert. Mit einem Mal fielen ihr die Worte wie von selbst ein. »Wir sind anders«, rief sie, so laut sie konnte. »Die Demi-Monde ist nicht meine Heimat, ich kam ungern hierher. Trotzdem habe ich von den Menschen Warschaus in der Demi-Monde eine Menge gelernt. Und das Wichtigste ist, dass jeder Mensch, Mann, Frau oder Kind unabhängig von seiner Herkunft, seinem Aussehen und seinen Überzeugungen die Möglichkeit verdient, frei zu leben, ohne verfolgt zu werden. Mein Mitgefühl gilt all jenen, die ihre Liebsten verloren haben …« Als sie an die vielen armen Männer, Frauen und Kinder dachte, die die SS ermordet hatte, hielt sie kurz inne. »Aber jetzt, dank ABBA und dem IM Manual, habt ihr die Chance auf einen Neubeginn erhalten, ohne Hass und ohne Feindschaft. Baut eine Welt der Toleranz und des Verständnisses auf, eine Welt, in der die Unterschiede Männer und Frauen verbinden, statt sie zu trennen, in der jeder, unabhängig von seiner Hautfarbe oder seiner Herkunft, gleich behandelt wird. Ihr habt jetzt die Möglichkeit, eine neue Welt zu schaffen, und ich appelliere an euch, schafft nicht nur eine neue Welt, sondern eine, in der es gerecht und friedlich zugeht. ABBA sei mit euch.«

Trotzki stand auf und verneigte sich. »Wir werden uns dem Gott ABBA und seiner Heiligen Tochter, die er zu uns sandte, um uns ins Gelobte Land zu führen, stets verbunden fühlen. Unser Messias: Lady IMmanual. Von heute an wird dieser Tag für uns heilig sein. Der Passah, der Tag, an dem unser Volk mit dem Segen Lady IMmanuals von der Demi-Monde ins Gelobte Land auswanderte.«

Nachdem die Reden beendet waren, standen die Menschen auf und trafen die letzten Vorbereitungen für das, was sie als Große Pilgerfahrt bezeichneten. Ella rückte dichter an Trotzki heran.

»Delegierter Trotzki«, sagte sie leise, »bevor Sie gehen, würde ich Sie gern etwas fragen.«

»Ja, Mylady?«

»Sie sind ein weiser Mann, können Sie mir erklären, warum man jemanden, der so wichtig ist wie Aaliz Heydrich, zu einem Ort bringen sollte, der ExterSteine heißt?«

»ExterSteine ist ein Ort von großer okkulter Bedeutung, Mylady. Der heiligste Ort des UnFunDaMentalismus. Wenn man Aaliz Heydrich dorthin gebracht hat, heißt es, dass sie an einem von Crowleys verabscheuungswürdigen Riten teilnehmen soll, und da es kurz vor dem Vorabend des Frühlings ist …«

»Vorabend des Frühlings?«

»Freyas Nacht. Die letzte Nacht des Winters. Nach der Walpurgisnacht die magischste im UnFunDaMentalistischen Kalender. In dieser Nacht übt Crowley seine stärkste Magie aus. Wahrscheinlich wird Aaliz am Freyas-Nacht-Ritus teilnehmen. Der findet immer in ExterSteine statt und muss vor Sonnenaufgang beendet sein. Beantwortet das Ihre Frage, Mylady?«

»Ja … danke. Ich wünsche Ihnen und Ihrem Volk alles Gute für die Zukunft im Großen Jenseits.« Sie sah auf und nickte. »Ich glaube, hier sagen wir uns Lebewohl, Delegierter Trotzki. Wenn ich mich nicht irre, fängt die Grenzschicht gerade an, sich wieder zu schließen.«

Trixie beobachtete, wie die Menschenmassen immer tiefer in die Weite des Großen Jenseits vordrangen. Sie hatte gehört, dass Trotzki die erste Siedlung in der Nähe der Blutbank errichten wollte, etwa fünf Meilen von der Grenzschicht entfernt. Doch es gab auch Abenteurer, die beschlossen hatten, erst sesshaft zu werden, wenn sie das ganze Große Jenseits erkundet hatten. Diese tapferen Seelen waren schon fast am Horizont verschwunden. Die Kolonisation des Großen Jenseits hatte begonnen.

Sie spürte Wysochis massige Präsenz neben sich und warf ihm ein schräges Lächeln zu. »Ich hätte gedacht, dass Sie sich den Pilgern anschließen würden, Hauptmann. Ich hielt Sie immer für einen Pionier, für jemanden, der gewillt wäre, die Wildnis zu erobern.«

Wysochi blickte finster drein und schüttelte den Kopf. »Nein, Major, das konnte ich nicht.«

Trixie brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, wer der Major war, den Wysochi ansprach. Erst vor einer halben Stunde hatte man ihr den Oberbefehl über die FAW erteilt. »Tja, Hauptmann, das überrascht mich allerdings. Es wird doch nicht irgendein junges Ding hier in Warschau dem tapferen und resoluten Felix Wysochi den Kopf verdreht haben?«

»Nein … natürlich nicht.« Er trat nervös von einem Bein aufs andere. »Und was ist mit Ihnen, Major? Waren Sie nicht in Versuchung?«

Das war eine beunruhigende Frage, und als sie überlegte, wurde ihr bewusst, dass sie keinen Gedanken an diese Möglichkeit verschwendet hatte. Das war wirklich seltsam, denn nur wenige Wochen zuvor wäre die RaTionalistin Trixie Dashwood vor Freude in die Luft gesprungen, hätte sie die Gelegenheit bekommen, das Große Jenseits zu erforschen. Wie sich die Dinge – sie selbst – geändert hatten! »Nein, mein Platz ist in der Demi-Monde. Ich habe hier noch einiges zu erledigen.«

»Was denn?«

»Meinen Vater rächen zum Beispiel«, sagte sie wie aus der Pistole geschossen, ehe ihr bewusst wurde, dass sie seit Tagen … seit Wochen nicht mehr an ihren Vater gedacht hatte. Offensichtlich konnte sie nur noch daran denken, wie man SS-Leute tötete. »Ich muss Heydrich und sein ForthRight besiegen. Ich muss den UnFunDaMentalismus vernichten. Ich habe die Nase voll von Religionen.«

»Gut«, antwortete Wysochi und stieß abwesend mit der Stiefelspitze gegen den Boden.

»Was halten Sie eigentlich von Ella Thomas?«, fragte er beiläufig.

Trixie rückte etwas näher an Wysochi, um sicher zu sein, dass niemand sie hörte. »Ich habe meine Zweifel, was diese religiösen Fanatiker angeht, vor allem, wenn sie auch noch Wunder bewirken. So was verwirrt meine Männer. Und dann wissen sie nicht, ob sie ihren Offizieren oder ihrem Gott gehorchen sollen.«

»Trotzdem tut es den Männern gut, daran zu glauben, dass ABBA auf ihrer Seite steht.«

»ABBA ist eine Sache, lebendige Heilige sind was anderes, vor allem lebendige Heilige, die herumlaufen und Demokratie predigen. Außerdem habe ich immer noch das mulmige Gefühl, dass die Demi-Monde das Nachsehen haben wird, wenn Ella in ihre Welt zurückkehrt – falls sie je zurückkehrt. Von dieser Shade-Dämonin ist nichts Gutes zu erwarten.«

Wysochi runzelte die Stirn und dachte darüber nach, was Trixie gesagt hatte. »Ich verstehe, was Sie meinen. Was also sollten wir tun? Sie ist äußerst beliebt in der Armee. Sie nennen sie den Messias.«

»Gerade das macht sie ja so gefährlich. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie die Männer mit ihren dämonischen Ideen ansteckt. Dieses ganze Gerede von Demokratie …« Trixie lachte höhnisch. »Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, dass die Männer anfangen zu glauben, ABBA hätte ihnen das Recht verliehen, sich ihre Anführer selbst zu wählen. Das Ganze ist einfach albern und würde geradewegs in Chaos und Anarchie führen. Wenn die FAW überleben und das ForthRight besiegen will, müssen wir uns alle hinter einen starken Führer scharen.« Und wie sie es sagte, ließ keinen Zweifel daran, wen sie mit einem starken Führer meinte.

»Dann wäre es also besser, wenn man Ella …« Wysochi ließ die Andeutung offen.

Trixie lächelte. »Der Tod löst alle Probleme, Hauptmann. Kein Messias, kein Problem. Und auf dem Schlachtfeld kann aus einem lebenden Heiligen ganz leicht ein toter Märtyrer werden.«

Wysochi nickte. »Ja, das geht schnell.«

»Wie viele Männer haben wir noch in der WFA?«, wollte Trixie wissen.

»Ungefähr viertausend, mehr oder weniger. Tausend haben wir bei der Verteidigung der Industriezone verloren, weitere tausend haben entschieden, mit Trotzki und den anderen Pilgern ins Große Jenseits zu ziehen.«

»Aus Eicheln werden große Eichen, Hauptmann. Eines Tages werden die Menschen sagen, dass aus diesen viertausend Kämpfern die Armee erwuchs, die das ForthRight besiegte und den UnFunDaMentalismus vernichtete. Doch jetzt müssen wir harte Entscheidungen treffen. Wir sind zu wenige, um die Industriezone zu verteidigen, bleibt also nur ein Ausweg. Wir müssen aus dem Ghetto ausbrechen. Und das wirft die Frage auf, wohin?«

»Coven«, antwortete Wysochi. »Der Delegierte Trotzki hat per Brieftaube eine Nachricht von Kaiserin Wu erhalten. Coven ist bereit, den Mitgliedern der FAW Asyl zu gewähren. Offensichtlich ist Kaiserin Wu zu der Einsicht gelangt, dass sie Heydrich nicht über den Weg trauen kann. Coven rüstet zum Krieg.«

Trixie nickte. »Dann ist Coven unser Ziel. Ich vermute, dass Clement einige Tage brauchen wird, um seine Reserven zu mobilisieren, ehe er uns angreift. Er wird versuchen, in fünf Tagen, am ersten Frühlingstag, das Ghetto einzunehmen. Und dann werden wir ausbrechen, am Abend zuvor. Damit wird Clement nicht rechnen, und wenn wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben …«

Nebeneinander gingen sie auf das Gebäude zu, in dem die restlichen Offiziere der FAW auf sie warteten. Trixie blieb etwa zehn Meter vor dem Eingang stehen, wandte sich zu Wysochi um und reichte ihm die Hand. »Vielleicht haben wir später keine Zeit mehr dazu, Hauptmann. Ich wollte Ihnen für alles danken. Ohne Sie …«

»Sie brauchen mir nicht zu danken, Major.«

»Trixie.«

»Trixie.« Wysochi schüttelte ihre Hand. »Ich würde es jederzeit wieder so machen, Trixie. Mit größtem Vergnügen.«

»Du hättest mit ihnen ins Große Jenseits gehen sollen, Felix.«

»Nicht ohne dich«, antwortete Wysochi, »nicht ohne dich, Trixie.«

Und als er sich abwandte, war Trixie sicher, dass er errötete.

Vanka schnippte seinen Zigarettenstummel auf den Boden, zertrat ihn mit dem Absatz und kam hinter dem Stapel Kisten hervor, wo er sich die letzten fünf Minuten versteckt hatte. Er beobachtete, wie Trixie Dashwood und Wysochi im Gebäude verschwanden, und schüttelte nachdenklich den Kopf. Warum mussten die Menschen ihn ständig enttäuschen?