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Demi-Monde:
47. bis 50. Tag im Winter des Jahres 1004
Unternehmen Barbarossa: Fall Rot
Fall Rot wird von der Armee des ForthRight unter dem Kommando von Kamerad General Mikhail Dmitriewitsch Skobelew ausgeführt. Das Unternehmen beginnt am ersten Frühlingstag des Jahres 1005 und dauert neununddreißig Tage. Fall Rot umfasst die Eroberung Covens, die Zerschlagung seiner Armee und die Übernahme der vollständigen politischen, ökonomischen und militärischen Kontrolle dieses Sektors. Sobald dieses Ziel erreicht ist, wird die gesamte Intelligenzia von Coven eliminiert. Dies betrifft unter anderem folgende Gruppen: der gesamte Hofstaat von Kaiserin Wu, sämtliche kaiserliche NoNs, Armeeoffiziere, Politiker, Regierungsbeamte, herEtikalistsche Priesterinnen, Suff-Ra-Getten, RaTionalisten, Schüler, Lehrer, GeschäftsFemmes, Journalisten, Künstler, Bühnenautoren, Schriftsteller und alle sonstigen Leistungsträger der Gesellschaft.
– Protokoll des Politbüro-Treffens unter dem Vorsitz des Großen Führers am 39. Tag des Winters im Jahre 1004
Vanka war vielleicht ein Zyniker, wenn es um die übernatürlichen Aspekte des Spiritualismus ging, aber ein professioneller Zyniker. Wenn Ella seine Assistentin werden sollte, so musste sie die gleichen professionellen Standards einhalten wie er selbst. In den nächsten Tagen ließ er Ella so lange üben, bis sie ihre Einsätze, Texte und Tricks aus dem Effeff kannte. Sie begriff, dass ihre Rolle als PsyChick die eines Handlangers war, der Vanka mit gewissen Tricks zur Seite stand, damit seine Vorstellung als Seher den nötigen Pep bekam. Sie würde als Kundin getarnt an seinen Séancen teilnehmen, bei bestimmten Höhepunkten der Vorstellung lautstark nach Luft schnappen, mit ihrer Stiefelspitze den Tisch genau in dem Augenblick zum Wackeln bringen, in dem Vankas »spiritueller Führer« in ihn eindrang, und am allerwichtigsten, das Ektoplasma aus Kattun unter ihrem Reifrock hervorziehen und es in dem dunklen Saal, wo die Séance stattfand, hin und her schwenken.
Den Umgang mit Ektoplasma zu lernen war nicht leicht gewesen, aber es hatte ihr gezeigt, warum derartige Sitzungen im Dunkeln stattfanden. Das leuchtende Kattun aus dem hinteren Teil ihres Reifrockes zu ziehen, die dünne Metallstange unter dem Rock hervorzuholen, das Tuch daran zu knüpfen und damit herumzuwedeln, ohne dass irgendwer es mitbekam, war der reinste Albtraum. Im Übrigen erforderte es, dass sie beide Hände frei hatte, deshalb brachte Vanka ihr bei, das Paar, zwischen dem sie saß, so auzustricksen, dass es glaubte, ihre Hand zu halten, obwohl in Wahrheit sie beide Händchen hielten.
Doch auch das schaffte sie.
Während der Arbeit verstand Ella allmählich, warum Vanka ein so erfolgreicher Seher war. Er sah nicht nur blendend aus und war äußerst zuvorkommend, sondern er war auch ein geborener Charmeur und sehr guter Zuhörer. Kein Wunder, dass die Kunden, die zu seinen Séancen kamen – vor allem die Frauen –, überzeugt waren, es mit jemandem zu tun zu haben, der wahrhaftig Verbindung mit der Spirituellen Welt aufnehmen konnte.
Schließlich befand Vanka, dass sie so weit war. Zwei Tage später wartete sie im Hinterzimmer des Prancing Pig, während die Anwärter für die erste Séance eintrudelten. Soweit sie sehen konnte, waren alle gut betucht, aber das ging auch nicht anders, wenn sie die Guinee, die Burlesque für den Eintritt verlangte, berappen konnten. Da es noch früh war, hatten sich erst etwa fünfzehn Personen eingefunden. Sie gingen hin und her, beäugten verlegen lächelnd den Séance-Tisch und warteten auf den Beginn der Vorstellung.
Für ihren ersten Auftritt hatte Vanka Ella die Rolle einer trauernden Witwe zugeteilt, die erst vor kurzem ihren Mann verloren hatte. Folglich trug Ella ein schwarzes Kleid, das sie von Kopf bis Fuß verhüllte, dunkle Handschuhe und einen dichten Schleier – all das war wie geschaffen, um ihre Hautfarbe zu verbergen. Sie saß zwischen den Zuschauern und wartete mit ihnen auf den Meister. Aber auch das wenig schmeichelhafte schwarze Kleid konnte nicht verbergen, dass sie schlank und jung war. Infolgedessen war es kein Wunder, dass einer der männlichen Gäste auf Ella zutrat, den Hut zog und sich vorstellte. »Schönen guten Abend, Madam, wie ich sehe, werden wir diese Reise in die Spirituelle Welt gemeinsam unternehmen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Gestatten, Nathaniel Warrington.«
Sie schüttelten sich die Hand, und im selben Augenblick wusste Ella alles, was es über diesen Nathaniel Warrington zu wissen gab.
Wusste, dass er ein Lügner war.
Wusste, dass er in Wahrheit Samuel Morris hieß.
Wusste, dass Morris sich den falschen Namen zugelegt hatte, weil er als leitender Gutachter im Ministerium für Übersinnliche Angelegenheiten arbeitete und nicht zu der Seánce gekommen war, um die Spirituelle Welt zu bereisen, sondern um Mephisto – Vankas neuer Künstlername – als Scharlatan zu entlarven und ihm das Handwerk zu legen.
Wusste auch, dass Morris zusammen mit seinem Vorgesetzten, einem ebenso widerlichen Kerl namens Tomlinson gekommen war, der am anderen Ende des Raums herumlungerte und so tat, als kannte er seinen Kollegen nicht.
PINC brauchte Ella nicht darauf aufmerksam zu machen, dass sie Vanka warnen musste. Ein Blick in Morris’ Bewusstsein reichte, um ihr klarzumachen, welches Schicksal Scharlatane erwartete, und das war nicht gerade angenehm.
Sie musste sich zusammennehmen, um ein paar Minuten ruhig sitzen zu bleiben und über Belanglosigkeiten zu plaudern, ehe sie aufstand. »Entschuldigen Sie mich, Mr. Warrington, aber ich bin furchtbar aufgeregt … immerhin werde ich gleich mit meinem kürzlich verstorbenen Mann sprechen. Ach, du liebe Güte, jetzt wird mir auch noch übel.« Damit eilte sie davon, um Vanka zu suchen.
Die Nachricht verblüffte sogar den sonst so unerschütterlichen Vanka Maykow.
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Ich habe seine Hand berührt. Wenn ich das tue, kann ich in einem Menschen lesen wie in einem Buch.«
»Dann kann ich ja gleich einpacken. Ich habe von diesem Morris gehört. Angeblich entgeht ihm nichts. Er wird meine Tricks durchschauen, und dann bin ich dran.« Nervös stapfte er im Raum auf und ab. »Wenn ich mich drücke, geht Burlesque in die Luft. Auf alle Fälle würde sich dieser Morris dann erst recht bemüßigt fühlen herauszufinden, wer ich bin. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Sollte er herausfinden, dass Mephisto niemand anderes ist als Vanka Maykow, werde ich ganz schön tief in die Tasche greifen müssen. Künstlernamen müssen im Ministerium registriert werden.«
»Es gäbe da einen Ausweg«, sagte Ella leise.
»Unter keinen Umständen!«
»Bringen Sie mich ins Spiel, Vanka. Keine Tricks, ich schaffe das schon. Sie wissen doch, was ich alles kann.«
»Das geht nicht, er hat Sie bereits gesehen.«
»Da trug ich meinen Schleier. Er würde mich niemals wiedererkennen. Und Sie stellen mich als Mambo Marie Laveau vor, eine WhoDoo Mambo.«
Marie Laveau? WhoDoo? Wo zum Teufel hatte PINC das nun wieder her?
Ella konnte die kleinen Rädchen, die in Vankas Kopf surrten, beinahe hören. »Sind Sie sicher, dass Sie das packen?«
»Keine Sorge, Vanka. Überlassen Sie alles mir.«
»Sehr verehrte Damen und Herren«, erklärte Vanka, als er vor die Anwesenden trat, die in Erwartung der bevorstehenden Séance am Tisch Platz genommen hatten, »mein Name ist Mephisto.«
Es folgte verhalten höflicher Beifall, an dem sich Morris nicht beteiligte, wie Ella aus den Kulissen beobachten konnte.
»Als Seher bin ich stets bestrebt, immer tiefer in die Spirituelle Welt einzudringen, und nehme daher die Hilfe von Menschen in Anspruch, die meine Fähigkeiten ergänzen. Unbestreitbar können sich zwei Seher, die eine spirituelle Einheit eingehen, klarer in die seltsame Welt vertiefen, die sich hinter der Realität unserer Demi-Monde verbirgt. Leider kommt eine solche spirituelle Einheit nur selten vor, aber während meiner Reisen durch die Demi-Monde bin ich auf eine Frau gestoßen, die über solche Kräfte und Gaben verfügt, meine Damen und Herren, und nun können wir zusammen Dinge vollbringen, die Medien nie zuvor gelungen sind. Man mag die magischen Kräfte der WhoDoo Mambos aus NoirVille belächeln, heute Abend aber werden Sie die erstaunlichsten Leistungen übersinnlicher Wahrsagerei miterleben, die je vollbracht wurden. Ich sage dies, um Sie zu warnen. Sollten Sie die verborgenen Geheimnisse der Zukunft, die Sie erwartet, lieber nicht erfahren wollen, so darf ich Sie bitten, den Saal zu verlassen, bevor es zu spät ist.«
Niemand rührte sich, doch die Atmosphäre im Raum wurde merklich ernster. Bewundernd beobachtete Ella, wie Vanka das Publikum bearbeitete. Wenn es darum ging, den anderen Schwachsinn aufzutischen, war Vanka Maykow unschlagbar.
»Na schön«, fuhr er fort, und sein Tonfall wurde noch eine Spur düsterer. »Darf ich darum bitten, alle Lichter im Raum zu löschen, mit Ausnahme der Lampe über der Bühne?« Einer von Burlesques Lakaien befolgte die Anweisung. »Und jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, habe ich die große Ehre, Ihnen die erstaunliche, unübertroffene, phänomenale Hohepriesterin der WhoDoo-Magie vorzustellen, die Große Mambo persönlich … Miss Marie Laveau!«
Auf dieses Stichwort hin rauschte Ella auf die Bühne und trat neben Vanka in den Lichtkegel der einzigen brennenden Gaslampe über ihren Köpfen. Es war ziemlich überwältigend, auf der Bühne zu stehen und vor einem Publikum von zwanzig Leuten, die jede ihrer Gesten beobachteten, die Hellseherin zu spielen.
Ella war sich bewusst, dass sie ihrer Rolle perfekt entsprach.
Sie hatte nur zehn Minuten Zeit gehabt, um sich ein passendes Kostüm zusammenzuschneidern, doch das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Einer von Burlesques neuen blau-goldenen Brokatvorhängen hatte dran glauben müssen. Sie hatte ihn einmal gefaltet und mit dem Messer einen Schlitz in die Falte geschnitten. Dann hatte sie den Kopf durch den Schlitz gesteckt, sodass der Vorhang ihr wie ein großes Gewand bis auf die Füße fiel. Das verlieh ihr ein leicht orientalisches Flair, vor allem, weil sie dazu ihren schwarzen Schleier trug, der ihr Gesicht vollständig verhüllte.
Das Publikum schnappte nach Luft, während sie mit ausgestreckten Armen auf der Bühne stand; es war nicht zu übersehen, dass alle Zuschauer am Tisch beeindruckt waren.
Vanka stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Bitte reichen Sie sich jetzt die Hände«, sagte Vanka zu den Anwesenden, »dann können wir beginnen.«
Als alle Hand in Hand dasaßen, rezitierte er eine lange ausschweifende Zauberformel und bat die Geister, das Große Jenseits zu verlassen und ihre Reise in die Demi-Monde anzutreten. Der Singsang hatte etwas Hypnotisierendes, und sogar Ella, die Vanka diesen Hokuspokus ein Dutzend Mal hatte üben hören, merkte plötzlich, wie sie wegdriftete. Sie war dermaßen in ihren Tagträumen versunken, dass sie einen Schreck bekam, als die Gaslampe über ihrem Kopf zu flackern begann.
»Die Geister sind da«, verkündete Vanka.
Oder anders ausgedrückt, einer von Burlesques Handlangern fummelte an dem Gasventil herum.
Vanka verstärkte den Druck auf ihre Schultern, das war das Signal für ihren Auftritt. »Ooooooh!«, stöhnte Ella und stellte zufrieden fest, dass einigen Zuschauern vor Staunen und Erregung die Kinnlade herunterfiel. »Wer ist da?« Sie gab sich Mühe, so zu klingen wie in den Horrorfilmen, die sie in der Spätvorstellung gesehen hatte. »Wer ruft mich aus der Schattenwelt?« Plötzlich wurde es merklich kühler im Raum, als hätte die Anwesenheit des Geistes ihm alle Wärme entzogen.
Das musste Burlesque sein, der das Fenster hinter der Bühne geöffnet hatte.
»Ich bin es, Mephisto«, rief Vanka etwa eine Oktave tiefer als sonst. »Ich bin Adept des Fünften Zirkels, Magus der Esoterischen Künste. Als Ipsissimus des Tempels von Odin rufe ich dich an und befehle dir. Wie lautet dein Name, Geist?«
»So höre meine Worte. Ich bin Lilith, Göttin der Natur und der Wahren Magie.«
Die Worte sprudelten unaufgefordert aus Ella heraus. Es war, als zapfte sie das urzeitliche Gedächtnis eines Lebens an, das vor unendlich langer Zeit erloschen war.
Komisch.
Sie hielt inne, schüttelte sacht den Kopf und die Glieder und streckte dann mit einem kleinen Aufschrei die Arme aus, als wollte sie einen unsichtbaren Geist umarmen. Besessenheit macht Spaß, dachte Ella. »Warum, o Magus, hast du mich aus der Zuflucht der Spirituellen Welt gerufen?«
»Es sind Menschen hier versammelt, die in die Zukunft blicken wollen.«
»Ooooooh! Es gibt viele Arten von Zukunft, die Zukunft, die eintreffen kann, und die, die eintreffen wird …«
»Wirst du unsere Fragen beantworten?«
»Das will ich tun.«
Daraufhin wandte sich Vanka an das Publikum. »Wer von Ihnen hat den Mut, die erste Frage zu stellen?«
Wie nicht anders zu erwarten meldete sich Samuel Morris als Erster. »Ich habe eine.«
»Wie heißen Sie?«, fragte Vanka.
»Nathaniel Warrington.«
»Ooooooh. Du lügst«, rief Ella dazwischen. »Du bist Samuel Morris.«
Morris riss die Augen vor Staunen auf. »Wie zum Teufel …«, platzte er heraus und nahm sich dann hastig wieder zusammen. »Diese Frau hat keine Ahnung, was sie sagt. Mein Name ist Nathaniel Warrington.«
»Du lügst schon wieder«, rief Ella. »Du müsstest wissen, dass man vor Geistern nichts verbergen kann! Du lebst von der Täuschung.« Ella hob die Hand und zeigte mit einem schwarz lackierten Fingernagel auf den Gutachter. »Wehe denen, die sich der Täuschung verschrieben haben, denn sie leben im Bann der Finsternis.« Trotz der Dunkelheit konnte sie sehen, dass Morris kreidebleich geworden war. »Die Täuschung hat deine Seele vergiftet, Samuel. Und jetzt kannst du nicht einmal dir selbst gegenüber ehrlich sein. Ich sehe deine Zukunft, und sie ist durchdrungen von den Folgen deiner Doppelzüngigkeit. Ich sehe Elend und Verzweiflung.«
»Das ist alles Blödsinn. Sie haben mich ausspioniert!«
»Du hast falsches Zeugnis abgelegt wider jene, die dir vertrauten. Und jene betrogen, die an dich glaubten. Du hast die Gier vor die Ehre gestellt und jene enttäuscht, die dich liebten. Bereue oder du bist verflucht: Elend und Erniedrigung werden über dich kommen, wenn deine Seele diesen Saal der Tränen verlässt.«
Morris verstummte kurz, während er mit den Ausdrücken falsches Zeugnis ablegen und betrügen rang.
»Was meinen Sie? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.« Die Tatsache, dass er seinem Chef quer durch den Raum einen nervösen Blick zuwarf, strafte seine Worte Lügen. »Ich verstehe gar nichts mehr.« In seiner Stimme schwang echte Panik mit. Verzweifelt sah er sich im Publikum nach Unterstützung um, doch die Menschen rückten nur von ihm ab.
»Jene über dir kennen die Verbrechen, die du begangen hast. Sie wissen, dass du Lizenzen an Leute vergeben hast, die nicht über die wahren Kräfte verfügen.«
»Das ist eine verdammte Lüge.«
»Sie wissen, dass die Gier deine Seele vergiftet hat. Nimm dich in Acht, Samuel Morris, nimm dich in Acht. Sie wissen von den Bankauszügen in der verschlossenen Schublade deines Schreibtischs. Sie wissen von dem Gold, das du im Hause deines Bruders versteckt hast.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Sie wissen von den Bestechungen mit Blut in der Bank von Odessa.«
Samuel Morris stand mit einem Satz auf. »Ich werde mir diesen Unsinn nicht länger anhören.«
»Nimm dich in Acht … Die Strafe folgt auf dem Fuße. Der Tod ist dir auf den Fersen.«
»Halt endlich die Klappe, du verdammte WhoDoo-Hexe. Das hast du dir doch alles nur ausgedacht.«
»Ich weiß von dem Kind, das nicht deinen Namen trägt. Du warst deiner Ehefrau untreu und auch den Lehren des UnFunDaMentalismus, obwohl du geschworen hast, sie zu schützen und zu verteidigen.« Diese Offenbarung saß. Morris fuhr zurück, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. »Ich kann tief, ganz tief in deine schwarze Seele blicken. Und da sehe ich, was dich erwartet.«
»Humbug.«
»Dir bleibt nur noch wenig Zeit, Samuel. Versöhne dich mit ABBA.«
»Halt den Mund!«, schrie Samuel Morris und riss sich von den beiden Frauen los, die aus Angst vor dem Zorn der Geister stur seine Hände umklammert hatten, während Ella ihn anklagte. Plötzlich war der Kreis unterbrochen. Im gleichen Augenblick sackte Ella zusammen und sank offensichtlich ohnmächtig auf die Bühne.
Als Morris die Flucht ergreifen wollte, erklang eine Stimme, und seinem Gesichtsausdruck zufolge war sie für ihn wie die des Jüngsten Gerichts. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Morris«, schrie ihn sein Chef Tomlinson an.
Samuel Morris dachte offensichtlich nicht daran, dem Befehl Folge zu leisten. Blitzschnell zog er eine Pistole aus dem Gürtel und spannte den Hahn. »Bleiben Sie stehen oder bei allen Geistern, ich …«
Weiter war er nicht gekommen, als Burlesque ihn mit einem gezielten Knüppelschlag auf den Kopf aus dem Verkehr zog.
»Wirklich jammerschade, Wanker«, brummte Burlesque, während er eine halbe Stunde später, als der letzte Gast das Pig verlassen hatte, einen ausgab. »Die meisten Stammkunden ham schon Karten für die Vorstellung von morgen gekauft.« Dann warf er Ella einen nervösen Blick zu. »Sie warn auch nich übel«, räumte er ein. »Das Geheul und Tralala, große Klasse.« Er nahm einen Schluck von seiner Lösung. »Na los, Wanker, jetzt verraten’Se Burlesque mal, wie’Se das angestellt ham. Das mit diesem Morris, das hatten’Se doch von ’nem Spitzel, oder?«
Vanka lächelte zurückhaltend. »Berufsgeheimnis, Burlesque, aber Ihnen kann ich es ja ruhig sagen: Weder Miss Thomas noch ich selbst hatten Samuel Morris vor dieser Séance jemals getroffen.«
»Dann müssen’Se ihn irgendwie beschattet ham. Ham’Se die aus Pinkerton benutzt, um ihn anzuschwärzen? War es das?«
»Nein.«
»Wie zum Teufel dann?« Burlesque runzelte die Stirn. »Als Nächstes erzähln’Se mir noch, Miss Thomas hätte wirklich hellsehrische Fähigkeiten, was?« Er gluckste, verstummte aber rasch wieder, als keiner seiner Gäste sich ihm anschloss. »Na komm’Se schon, Wanker, verraten’Se doch Ihrm alten Kumpel Burlesque, wie’Se das angestellt ham.«
Langsam und verführerisch beugte sich Ella über den Tisch und nahm Burlesques Hand. »Ich bin tatsächlich eine Seherin«, säuselte sie wie eine echte femme fatale. »Ich kann in Ihre Seele blicken, Mr. Bandstand. Ich kenne all Ihre dunklen Geheimnisse.«
Burlesque zog hastig die Hand zurück. Er war etwas blasser geworden als sonst. »Nein … das kann niemand. Sie wolln mich bloß verschaukeln.« Er sah Ella misstrauisch an. »Mein’Se das ernst?«
Ella nickte.
»Na schön, dann flüstern’Se mir was, was nur’n Hellseher wissen könnte.«
»Ich könnte Ihnen sagen, wo Kurt Vanglers Leiche vergraben ist.«
Diese kleine Äußerung erwies sich als Volltreffer. Burlesques Gesicht wurde noch blasser. Er war so fassungslos, dass er seine Lösung verschüttete. »Scheiße! Wie zum Teufel ham’Se das gemacht? Mich laust der Affe, Sie könn’ wohl wirklich hellsehn, was?« Er schüttelte verwirrt den Kopf und stürzte den Rest der Flüssigkeit in einem Zug hinunter. Dann sah er sich nervös im Raum um und vergewisserte sich, dass ihnen niemand zuhörte. Schließlich warf er Ella einen finsteren und extrem gefährlichen Blick zu. »Nich so laut, okay? Ich will Ihn was sagen, Miss Thomas, sein’Se vorsichtig. Über so was Bescheid zu wissen kann ei’m ’n Haufen Probleme machen.«
Vanka stellte sich schützend neben Ella. »Und Sie, Burlesque, sollten nicht vergessen, dass alles, was wir über Sie wissen, Sie an den Galgen bringen kann. Stellen Sie sich nur mal vor, welche interessante Neuigkeiten wir als Gegenleistung für eine Strafmilderung hätten, wenn Miss Thomas oder ich Besuch von der Checkya bekämen.«
Seinem Gesichtsausdruck nach war das das Letzte, was Burlesque sich vorstellen wollte.
»Dasselbe gilt für den Fall, dass Sie mit Ihrem Kumpel, dem Hexenjäger, über Dinge reden, die ihn nichts angehen«, warnte Ella.
Burlesque sah immer finsterer drein.
»Deshalb ist es wirklich ein Glück, dass wir so gute Freunde sind«, fügte Vanka lächelnd hinzu. »Wo ist übrigens das Geld, das Sie uns schulden?«
»Was für’n Geld?«
»Na, das für die Séance und unsere Spesen.«
»Was für Spesen, verdammt?«
»Ich muss doch sehr bitten. Jedenfalls kämen Sie so billiger davon, als wenn ich Kurt Vanglers Vater erzähle, wo er die Leiche seines Sohnes ausbuddeln kann.«
»Verdammte Kacke! Wie viel?«
»Für die Vorstellung heute Abend? Zehn Guineen plus weitere zehn für unsere Ausgaben.«
Burlesque hasste es, sich von seinem sauer verdienten Geld zu trennen, doch das entschiedene Funkeln in Vankas Blick war Grund genug, klein beizugeben und seine Schulden zu bezahlen. Langsam und widerstrebend zählte er neunzehn Guineen ab.
»Es waren zwanzig abgemacht«, bemerkte Vanka.
»Eine musste ich abziehen für den Vorhang, den Ihre verehrte Freundin als Kostüm missbraucht hat.«
»Ich weiß übrigens auch, wohin Sie sonntagnachmittags verschwinden, wenn Ihre Frau glaubt, Sie würden die Bestände im Lager zählen«, erklärte Ella leise.
Rasch warf Burlesque noch eine Goldguinee auf den Haufen, der vor Vanka lag. »Wissen’se was, Wanker«, sinnierte er träge, »sobald sich herumgesprochen hat, wie talentiert die junge Dame is, wern’Se – wern wir – ’n Vermögen für ’ne Eintrittskarte zu Ihren Sorrys verlangen können. Wissen’Se, was Sie brauchen?«
»Eine bessere Bezahlung, um in diesem Loch aufzutreten?«, sinnierte Vanka.
»Nee, was Sie brauchen, is’n Manager.«
Ella schwante mit Grauen, wen Burlesque als idealen Kandidaten für den Job empfehlen würde.