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Demi-Monde: 90. Tag im Winter des Jahres 1004: Vorabend des Frühlings

Ich habe die große Freude, Ihnen mitzuteilen, dass es meiner Forschungsgruppe am Reinhard-Heydrich-Institut in mühseliger Kleinarbeit gelungen ist, das Geheimnis der GalvanischenEnergie zu lüften, dem wir schon so lange auf der Spur waren. Obwohl unsere Versuche mit dieser bemerkenswerten neuen Energiequelle noch in den Anfängen stecken, würden wir uns freuen, Ihnen unseren GalvanischenEnergie-Generator vorzuführen – die Faradayische Strahlungsthermosäule –, sobald es Ihre Zeit erlaubt. Die Thermosäule verwandelt Hitze in GalvanischeEnergie, sie ist voll einsatzbereit und wurde auf Sicherheit und Zuverlässigkeit überprüft. Ich bin überzeugt, dass Sie nach dieser Vorführung geneigt sein werden, die seit langem fälligen Gelder zu bewilligen, die dem Institut zustehen, damit ich meinen loyalen Mitarbeitern endlich ihre Gehälter auszahlen kann.

– Brief des Professors Michael Faraday an Kamerad Stellvertretender Führer Beria vom 17. Tag im Herbst des Jahres 1004

Heute würde er seinen alten Titel tragen. Er würde nicht mehr Kamerad Kommissar Dashwood sein. Ab heute Abend wäre er wieder Baron Dashwood, königstreuer Adliger und Offizier. Das Warten hatte ein Ende.

Heute Abend würde er die Eisenbahnlinie, die er selbst gebaut hatte, zerstören und damit das Unternehmen Barbarossa sabotieren. Und dann würde er Trixie und ihren eingeschlossenen Kämpfern der FAW Hilfe bringen – mein Gott, was war das Mädchen für eine Offenbarung!

»Haben die Männer ihre Stellungen bezogen, Hauptmann?«, fragte der Baron.

»Jawohl, Sir«, antwortete Crockett mit strahlendem Lächeln, stolz wie Oskar auf seinen neuen Rang. »Feldwebel Cassidy hat sieben unserer Männer – allesamt Veteranen aus den Unruhen – auf der Odessa-Seite der Reinhard-Heydrich-Brücke platziert. Er hat den Befehl, die Eisenbahn zum Entgleisen zu bringen, bevor sie nach dem Überqueren der Brücke wieder Geschwindigkeit aufnimmt.«

»Wie viele Männer haben wir, um das Internierungslager anzugreifen?«

»Zwanzig, Sir. Auch einige polnische Offiziere sind darunter, die nach den Säuberungen wegen des Debakels mit Dabrowski aus der Armee entlassen wurden.«

»Gute Idee, Crockett.« Das war es tatsächlich. Der Baron machte sich nicht wenige Sorgen darüber, wie die polnischen Zwangsarbeiter sie empfangen würden, wenn er plötzlich auftauchte, um sie zu befreien. Einige Polen an seiner Seite zu haben wäre nicht das Schlechteste. Er holte tief Luft. »Dann wollen wir aufbrechen. ABBA sei mit Ihnen … und mit uns allen.«

Nach einer ereignislosen Fahrt durch die Rookeries – da es Vorabend des Frühlings war, nahmen sogar die pflichtbewusstesten Soldaten des ForthRight die Kontrollen nicht ganz so ernst wie sonst – brachte Jenkins den Baron und seine kleine Truppe in dem gestohlenen Dampfwagen um kurz nach sieben Uhr abends zur Reinhard-Heydrich-Brücke.

Vorabend des Frühlings. Zeit der Brüderlichkeit und Nächstenliebe, doch für die armen betrunkenen Teufel, die auf der Eisenbahnbrücke Wache schoben, hatten Feldwebel Bob Cassidy und seine Männer nichts von beidem übrig. Noch während die Soldaten ihre Gläser erhoben, um ihnen zuzuprosten, wurden sie mit einem Kugelhagel aus dem Verkehr gezogen.

Sobald die Brücke gesichert war, machte sich Cassidy an die Arbeit. Auf einen Wink hin kam sein Schlägertrupp aus der Dunkelheit und bezog Stellung, um auf den Militärtransport zu warten, der in einer Stunde die Brücke überqueren sollte.

Die Operation war so reibungslos verlaufen, dass dem Baron nur noch übrig blieb, Cassidy die Hand zu schütteln, ihm viel Glück zu wünschen und ihn – mindestens zum fünften Mal – daran zu erinnern, dass er nicht mehr als zweihundert Pfund Sprengstoff einsetzen solle, um den Zug zum Entgleisen zu bringen. Ob Cassidy seine Anweisungen ernst nahm, hätte der Baron beim besten Willen nicht sagen können, da der Kerl die ganze Zeit damit beschäftigt war, die Hosentaschen eines getöteten Soldaten zu durchwühlen.

Baron Dashwood zuckte die Achseln und führte seine bunt gemischte Truppe auf das Internierungslager zu. In einer Viertelstunde waren sie am Lager, genauso wie er es vorausgesagt hatte. Und dort erwartete sie bereits Crocketts kleine Armee.

Der Baron fand es bezeichnend, dass ein totalitäres Regime wie das ForthRight jede noch so kleine Eigeninitiative rücksichtslos im Keim erstickte; als er auf das Wachhaus zuging und verlangte, den Lagerkommandanten zu sprechen, stellte niemand Fragen. Dass uniformierte Männer zu den unmöglichsten Zeiten auftauchten und sinnlose Befehle erteilten, war im ForthRight gang und gäbe. Es war auf alle Fälle besser, Befehlen zu gehorchen, als sie in Frage zu stellen.

Fünf Minuten später empfing der Kommandant den Baron. Offensichtlich hatte er eine ordentliche Portion Lösung und feiertägliche Nächstenliebe intus, seine Augen waren schwer, und das Hemd hing ihm aus der Hose. »Kamerad Kommissar?«, begann der Mann verdutzt. »Ich hatte gehört …«

Dann verstummte der Kommandant mitten im Satz. Soweit der Baron sehen konnte, war er so voll mit Alkohol und Blut, dass er sich wahrscheinlich gar nicht mehr daran erinnern konnte, was er gehört hatte, und ein ranghohes Mitglied der Partei zu beleidigen, indem er das ehrenrührige Gerücht wiederholte, Kommissar Dashwood sei zum nonNix und Volksfeind erklärt worden, war das Letzte, was er sich leisten wollte.

»Alles ein Missverständnis«, erklärte der Baron und tat den Verdacht des Kommandanten mit einer Handbewegung ab. »Ich bin vom Führer rehabilitiert worden und soll mich um die Sicherung der Eisenbahnlinien kümmern. An einem der Eisenbahndämme hat es einen Erdrutsch gegeben. Ich brauche dringend Männer, um ihn abzutragen, bevor die ersten Militärzüge anrollen.«

»Wie viele Männer brauchen Sie, Kamerad Kommissar?«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie alle polnischen Häftlinge antreten lassen könnten«, befahl der Baron.

»Alle?« Die Stimme des Lagerkommandanten klang sichtlich besorgt. »Wir haben ungefähr fünftausend von diesen Hundesöhnen hier, und wegen des Festes sind nur zwanzig Mann im Dienst. Diese Polen sind ziemlich verzweifelt, mit zwanzig Männern kann ich sie nicht in Schach halten. Besser, wir legen ihnen Ketten an.«

»Das wird nicht nötig sein.« Der Baron warf dem Kommandanten ein beruhigendes Lächeln zu. »Machen Sie sich darum keine Sorgen, Kamerad Kommandant. Ich habe zwanzig meiner eigenen Männer zur Verstärkung mitgebracht.«

Der Baron deutete auf Crockett, der schneidig salutierte, als der Kommandant ihn prüfend musterte. »Kamerad Hauptmann Crockett, zu Diensten, früher bei den Wellington Wranglers. Es sind fähige Männer, Sir. Sie werden Sie nicht enttäuschen.«

Zwanzig Minuten später waren die schlechtgelaunten und mürrischen Polen vor ihnen angetreten. Der Baron warf einen Blick auf die unruhigen, murrenden Häftlinge und fand, dass der Kommandant allen Grund zur Sorge hatte. Die Kerle sahen wirklich aus wie ein gefährlicher Mob. Die Miliz beäugte sie nervös und hielt ihre M4-Gewehre auf sie gerichtet.

»Ich will mich kurz an die Arbeiter wenden«, erklärte der Baron.

Der Lagerkommandant warf ihm einen überraschten Blick zu. Niemand wandte sich an die Polen, man schrie sie an, man versetzte ihnen Tritte, aber man wandte sich nicht an sie.

Noch während der Kommandant sich diese Ungereimtheit durch den vom Alkohol benebelten Kopf gehen ließ, trat der Baron vor die verwahrlosten, entschieden unglücklich wirkenden Arbeiter. »Polen«, rief er so laut er konnte, »während ich zu euch spreche, sind die Streitkräfte des ForthRight dabei, den letzten Widerstand der Freien Armee Warschaus zu brechen.«

Ein wütendes Raunen flog durch die Menschenmenge. Der Lagerkommandant zog seine Mauser und entsicherte sie. Man sah ihm an, was er dachte: Je schneller die Polen ins Gras beißen, desto besser.

»Nur ein paar tausend tapfere Soldaten der Freien Armee Warschaus stehen den Schergen der SS und diesem Schurken Reinhard Heydrich gegenüber«, fuhr der Baron fort. »Ich habe beschlossen, Warschau zu Hilfe zu kommen.«

Totenstille breitete sich auf dem Platz aus, während alle verdutzt darüber nachdachten, was der Baron gerade gesagt hatte. Der Kommandant zerbrach sich den schweren Kopf darüber, wie der Baron dazu kam, Worte wie »Schergen« und »Schurke« zu benutzen, um die SS und den Großen Führer zu beschreiben.

»Es ist Zeit, die Ketten der Sklaverei ein für alle Male zu sprengen!«, rief der Baron.

Der Lagerkommandant sah ihn mit einem Ausdruck der Verwirrung an. Endlich hatte er in seinem benebelten Hirn eins und eins zusammengezählt. Doch die Lösung der mathematischen Gleichung rettete ihn nicht. Der Baron lächelte ihm zu und jagte ihm eine Kugel durch den Kopf, woraufhin Crocketts Männer seinem Beispiel folgten und kurzen Prozess mit den restlichen Wachen machten. Die polnischen Häftlinge standen reglos auf dem Platz und konnten die plötzliche Wende nicht fassen.

»Polnische Soldaten«, rief der Baron mit lauter Stimme, »während ich zu euch spreche, überfallen Kämpfer des königlichen Verteidigungsbundes einen Militärzug mit genug Waffen und Munition für euch alle.« Der Blick des Barons schweifte über die schmutzigen, verwirrten Männer. »Ich appelliere an euch, schließt euch unseren tapferen Soldaten der FAW in Warschau an und kämpft mit ihnen gegen die Tyrannei der SS

Und zum Erstaunen des Barons brach die Menge in Jubel aus.

Der Zug war zu früh dran. Cassidy hatte gerade den Sprengstoff angebracht – er konnte sich nicht mehr erinnern, ob der Baron zwei- oder vierhundert Kilo gesagt hatte, am Ende hatte er sich für Letzteres entschieden, um ganz sicherzugehen – und war mit der Zündschnur hinter dem Schuppen verschwunden, wo sie vor der Explosion in Deckung gehen wollten, als er den Zug pfeifen hörte. Der Baron war auch nicht eindeutig gewesen, was die Richtung anging, aus der der Zug kommen sollte. Zum Glück war ihm gerade noch rechtzeitig aufgefallen, dass er von der Rodina-Seite der Brücke kam, sodass er raussprinten und die Bombe in letzter Minute auf dem anderen Gleis hatte platzieren können. Als er kurz darauf die Scheinwerfer des Zuges sah, zündete er die Lunte hinter dem Schuppen und hoffte, dass er sie nicht zu lang gelegt hatte. Der Baron würde mächtig toben, wenn die Bombe erst explodierte, nachdem der Zug vorbeigefahren war.

Doch sie explodierte genau, wie Cassidy es beabsichtigt hatte: direkt unter dem Schlepptender der Lokomotive. Dummerweise, so dachte er später, hätte er nur zweihundert Kilo Sprengstoff benutzen sollen – oder waren es vielleicht bloß Pfund gewesen? Mit vierhundert Kilo wurde der Zug nicht nur zum Entgleisen gebracht, sondern in die Luft gehoben und schnöde zur Seite geworfen. Man hörte ein ohrenbetäubendes Kreischen, als Stahl auf Stahl traf, der Zug schien ganz kurz zu verschnaufen, als wollte er Luft holen, dann sprang er aus den Schienen, stürzte den Bahndamm hinab und riss die Waggons mit großem Getöse in die Tiefe.

Mist!

Einen Augenblick lang lag der Zug wie ein verwundetes Tier schnaufend und keuchend auf der Seite. Dann brach die Hölle los. Der Dampfkessel explodierte, und wenn Cassidys Bombe schon ohrenbetäubend gewesen war, so bebte nun auch noch die Erde. Stahlsplitter flogen wie Schrapnell durch die Luft und zerfetzten den Holzschuppen, hinter dem Cassidy mit seinen Leuten Deckung gesucht hatte. Um Haaresbreite hätte ihm ein vorbeifliegender Bolzen den Kopf weggepustet. Au Mann, dachte er, das ist jedenfalls verdammt viel aufregender – und gefährlicher –, als den Garten von Dashwood Manor zu pflegen.

Er wartete noch ein paar Minuten, bis er sicher war, dass es keine weitere Explosion geben würde, und streckte den Kopf hinter dem verkohlten Schuppen hervor. Die Detonation hatte den Heizkessel der Lokomotive zerrissen, der jetzt glühende Kohlestücke in alle Richtungen spie. Im Licht der Feuer, die sie entfacht hatten, sah Cassidy, dass die gesamte Ladung entlang der Schienen verstreut lag. Er lief hin, um sich die Kriegsbeute anzusehen. Am Anfang war er enttäuscht, überall nur kistenweise Fleischkonserven, doch am dritten Waggon hatte er Glück und wäre beinahe über die vielen langen Kisten mit automatischen Gewehren gestolpert.

Mit einem Jubelschrei gab er dem Jungen mit der Leuchtrakete ein Zeichen, und eine Sekunde später zerriss ein roter Strahl den schwarzen Nachthimmel.

Cassidy lächelte zufrieden. Soeben hatte er seinen ersten Zug in der Demi-Monde überfallen. Bald wäre er berühmt. Vielleicht war es sogar der erste Schritt in eine überaus einträgliche Karriere gewesen. Jetzt brauchte er nur noch mehr Züge.

Der Baron hatte nicht damit gerechnet, wie schwierig es sein würde, aus den polnischen Zwangsarbeitern eine schlagkräftige Truppe zu machen. Kaum hatten sie das Lager verlassen, waren sie zu dem entgleisten Zug geeilt und hatten sich bewaffnet, da war es mit der Disziplin auch schon vorbei. Jetzt wollten sie nur noch Rache, Menschen umbringen … egal wen. Doch der Baron wusste, dass sie dafür keine Zeit hatten. Sobald es Tag wurde, würden sie sich nicht mehr vor der SS verstecken können, und man würde sie jagen wie tollwütige Hunde. Nach seiner Schätzung hatten sie höchstens zehn Stunden. Zehn Stunden, die über das Schicksal der FAW und auch über das von Trixie entscheiden würden.

Schließlich gelang es Crockett und seinen Leuten mit Beschimpfungen, Drohungen und gutem Zureden, etwa die Hälfte der Polen halbwegs in Reih und Glied aufzustellen. Dann marschierte der bunt gewürfelte Haufen los, um Warschau zu befreien. Und schrammte haarscharf an einer Katastrophe vorbei.

Wäre der Kommandant der in Odessa stationierten Truppen des ForthRight nur ein bisschen resoluter und entschiedener vorgegangen, hätte er den Vormarsch der improvisierten Armee des Barons zum Stehen gebracht. Doch er war ein furchtsamer Mensch mit wenig Eigeninitiative. Und als er die seltsamen Nachrichten über die ausgebrochenen polnischen Zwangsarbeiter erhielt, hielt er es für besser, seine Männer vorsichtshalber in den Kasernen zu belassen, sodass die Armee des Barons unbehelligt an Odessa vorbeimarschieren konnte.

Wären unter den polnischen Häftlingen nicht so viele alte Veteranen aus den Unruhen gewesen – disziplinierte Männer, die es gewohnt waren, Befehlen zu gehorchen –, hätte Crockett es nie geschafft, den Haufen anzuführen, und alles wäre im Chaos versunken.

Hätte ihr Überfall tagsüber stattgefunden, hätte sich die Armee des Barons bald im Labyrinth von Odessas schmalen Gassen verirrt. Doch während der Nacht hatten sie den Schein der Feuer vor Augen, die in Warschau wüteten, und konnten den Spuren der Artilleriegranaten am Himmel folgen, die wie Lichtbündel auf die Industriezone Warschaus herabregneten.

Aber vor allem waren sie heilfroh über den Vorabend des Frühlings und dass so viele Soldaten des ForthRight sternhagelvoll waren.

Sie überfielen den Southgate-Eingang des Ghettos. Es war weder ein koordinierter noch ein gut geplanter Angriff, aber er war wirkungsvoll. Die SS hatte mit einem Angriff von außerhalb des Ghettos nicht gerechnet, erst recht nicht durch tausende bewaffnete und rachsüchtige polnische Zwangsarbeiter. Der Widerstand brach schnell zusammen, und innerhalb von Minuten waren die Polen im Ghetto, doch sie hatten keine Zeit, um sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Dashwood und Crockett trieben sie unermüdlich voran, stauchten alle zusammen, die stehen blieben, um Wagen zu plündern oder um sich auf vereinzelte Scharmützel einzulassen, und erinnerten sie daran, dass eine noch viel größere Beute winkte.

Merkwürdigerweise stießen sie kaum auf Widerstand, als sie durch die zerbombte Stadt marschierten. Der Baron schloss daraus, dass Clement von ihrem bevorstehenden Angriff Wind bekommen und es offenbar vorgezogen hatte, seine Verteidigungslinie im Osten des Ghettos aufzubauen, um nicht in die Zange genommen zu werden. Die Leichtigkeit, mit der die Armee des Barons die Verteidigungslinien der SS durchbrach und bis zu den Barrikaden gelangte, die von der FAW gehalten wurden, war beunruhigend.

Baron Dashwood hätte seine Tochter fast nicht wiedererkannt. Er musste sich selbst einreden, dass diese schmutzige, zerlumpte Frau mit dem kurz geschnittenen Haar tatsächlich seine Trixiebell war. Nicht nur ihr Äußeres bereitete dem Baron Sorge. In wenigen Wochen war aus dem launischen, weltfremden jungen Ding, das er gekannt und geliebt hatte, ein völlig anderer Mensch geworden. Sie war härter und kälter. Sogar ihre Umarmung war verlegen gewesen … beinahe widerwillig.

Trotzdem musste er zugeben, dass er von der entschiedenen Art, wie sie mit ihren Offizieren umging, sehr beeindruckt war. Sie wurde von allen respektiert; selbst die kampferprobten FAW-Offiziere des Oberkommandos erkannten ihre uneingeschränkte Autorität an.

Vielleicht, dachte der Baron, würde er seine Trixiebell wiederbekommen, wenn der Krieg und das Chaos zu Ende waren. Doch als er den großen Hauptmann sah, der schützend hinter seiner Tochter stand, hatte Dashwood – wie alle Väter irgendwann im Leben – das Gefühl, dass seine Trixie nicht mehr ihm gehörte. Der brutale Wysochi hatte ihn abgelöst.

Auch jetzt wandte sie sich an ihn. »Teilen Sie die Kämpfer, die mit meinem Vater gekommen sind, unter unseren vier Regimentern auf, Hauptmann. Die Neuankömmlinge werden in die FAW integriert.«

»Es wäre besser, meinen Männern eine kurze Verschnaufpause zu gönnen, außerdem brauchen sie etwas zu essen. Sie haben sich bislang von Resten ernähren müssen …«

Trixie starrte ihren Vater fassungslos an. Offensichtlich war sie es nicht mehr gewohnt, dass man ihr widersprach.

»Vater«, sagte sie so leise, dass nur der Baron und Wysochi sie hören konnten. »Hier befehle ich. Und wenn ich einen Befehl erteile, wird er befolgt. Wir sind hier nicht im Parlament, in einer Armee kann es keine Demokratie geben. Hast du verstanden?«

Der Baron war wie vom Blitz getroffen. »Aber, Trixie, ich habe nur vorgeschlagen, dass …«

»Vater, bitte! In der Öffentlichkeit will ich ausschließlich mit Major oder Sir angesprochen werden.« Dann wandte sie sich wieder Wysochi zu. »Teilen Sie die Männer unter den vier Regimentern auf. Jetzt ist es elf Uhr. Um Mitternacht ist die Armee bereit, aus dem Ghetto auszubrechen. Ich werde die SS angreifen, bevor sie sich neu formieren kann.«

»Wir haben ein Problem, Major«, bemerkte Wysochi. »Einige der Neuankömmlinge sind – waren – Offiziere in der Armee des ForthRight und weigern sich, Befehle von den Kommandeuren der FAW entgegenzunehmen.«

»Haben die Kerle einen Anführer?«, fragte Trixie ruhig.

»Ja, einen Mann namens Wozniak. Er war selber Major, ehe er aus dem Armeedienst entfernt wurde.«

»Dann bringen Sie diesen ehemaligen Major Wozniak zu mir.«

Der Mann, der vor Trixie trat, war groß, schmutzig und vom Lagerleben gezeichnet. Sein linkes Auge zuckte, und er hinkte stark. Die Strapazen der Zwangsarbeit hatten ihn körperlich gebrochen, seiner Arroganz jedoch keinen Abbruch getan.

»Wo steckt dieser Major Dashwood, der mich sehen will?«, fragte er.

»Ich bin Major Dashwood«, sagte Trixie ruhig, »und ich erwarte von meinen Soldaten, dass sie salutieren, wenn sie vor mir stehen.«

Wozniak starrte sie mit offenem Mund an. »Sie wollen der Oberkommandierende der FAW sein? Nein … das ist wohl ein Witz. Sie sind doch noch ein Kind. Das ist lächerlich. Ich nehme von einem Mädchen keine Befehle an!«

Wenn Wozniaks Verachtung Trixie gekränkt hatte, so ließ sie sich nichts anmerken. »Ich habe viertausend Mann, Wozniak, und Sie können sich selbst davon überzeugen, dass sie meine Befehle befolgen, weil sie meinen militärischen Fähigkeiten vertrauen. Nicht mein Geschlecht ist ausschlaggebend, sondern meine Fähigkeiten, Soldaten zu führen und SS-Leute zu töten.«

Angesichts der unerbittlichen Schärfe ihrer Worte verstummte sogar der aufgeblasene Wozniak. Er musterte sie etwas sorgfältiger. »Tut mir leid, junge Dame, aber der Krieg ist nun einmal nur etwas für kampferprobte Männer. Junge Dinger wie Sie sollten sich lieber um die Verwundeten kümmern und um den Hausputz.«

»Sie wollen sich also meinen Befehlen widersetzen?«

»Richtig, und ich werde meinen Männern dasselbe nahelegen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, dass eine Frau eine Armee befehligt, ist völlig ausgeschlossen.«

Trixie schwieg einen Augenblick. Wozniak wertete dies als Zeichen ihrer Unentschlossenheit, doch ihr Vater wusste es besser. Trixie verfiel immer in Schweigen, wenn sie versuchte, einen Wutanfall zu unterdrücken.

Niemand sagte ein Wort. Tödliche Stille legte sich über den Raum. Trixie nahm bewusst langsam die Pistole aus dem Halfter und legte sie vor sich auf den Tisch. Anschließend fuhr sie gelassen fort, als hätte Wozniak nichts gesagt.

»Wenn ich während meines Kampfes gegen die SS etwas gelernt habe, dann, dass in der Armee kein Platz ist für Debatten oder Diskussionen. Ich frage Sie also zum letzten Mal, Wozniak. Sind Sie den Polen zuliebe willens, meine Befehle zu befolgen?«

Wozniak blickte sich um und versuchte herauszufinden, was die anderen anwesenden Männer dachten. Dann fiel sein Blick auf die Pistole auf dem Tisch, und er kam offensichtlich zu dem Schluss, dass Trixie sich bloß aufspielen wollte. Schließlich war sie nichts weiter als ein Mädchen.

»Nein«, sagte er unbeirrt.

Daraufhin griff Trixie nach der Waffe und schoss ihm eine Kugel zwischen die Augen.

Dem Baron verschlug die Grausamkeit seiner Tochter die Sprache. Niemals hätte er geglaubt, dass Trixie – oder sonst eine Frau – zu einem solchen Akt der Rohheit fähig wäre. Es war unglaublich … unfassbar …

Doch Trixie fuhr einfach fort, Befehle zu erteilen, als wäre nichts geschehen, als würde sie ihre Offiziere routinemäßig erschießen. Und da lief es dem Baron eiskalt den Rücken hinunter. Vielleicht tat sie es tatsächlich.