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Demi-Monde:
40. Tag im Winter des Jahres 1004

NuJuism ist die Religion, die von der sektorenlosen nuJu-Gemeinde in der Demi-Monde praktiziert wird. Der nuJuismus ist ein unerbittlich pessimistischer Glaube, der lehrt, dass Leid und Not lebensbejahend und notwendig sind, um die nuJus auf die Härten vorzubereiten, die sie während der Zeit der großen Trübsal werden ertragen müssen (auch bekannt als Ende aller Tage). Ein zentraler Grundsatz des nuJuismus geht davon aus, dass ein Messias kommen und das Volk der nuJus sicher durch die große Trübsal ins Gelobte Land führen wird. Wie alles, was mit den nuJus zu tun hat, ist natürlich auch das horrender Unsinn.

– Otto Weininger,
Religionen der Demi-Monde.
Veröffentlichungen der Universität zu Berlin

Vanka hob den Blick. Es war schwer, die Frau zu sehen, die mit Burlesque sprach, da sie das Licht im Rücken hatte und einen Schleier trug. Er konnte nur ihre Silhouette erkennen. Eine ungewöhnlich schöne Silhouette, das musste er zugeben. Ohne die üblichen Dellen und Beulen, die unerlässlich waren für Frauen, die das Pig frequentierten. Nach allem, was er sehen konnte, war die Frau – besser gesagt, das Mädchen – ein Traum von einer Assistentin. Zugegeben, sie war ein bisschen dürr, aber …

Er rückte seinen Stuhl ein Stück herum, um sie besser betrachten zu können, und hoffte, sie hätte keinen Bart. Als sie den Schleier, der ihr Gesicht verhüllte, etwas zur Seite zog, blieb ihm die Sprache weg. Sie hatte keinen Bart. Sie war verdammt hübsch. Jung, schlank und hübsch. Perfekt.

Nur dass sie schwarz war. Nun ja, nicht ganz schwarz. Sie hatte wunderschöne karamellfarbene Haut. Doch es war nicht daran zu rütteln, sie war eine Shade, und sie befanden sich in den Rookeries.

Wenn einer von Archie Clements SS-Schergen sie entdeckte, würde er sie zur Hölle schicken. Shades waren bei der SS alles andere als wohlgelitten und wurden ziemlich übel behandelt. Ihrer Meinung nach war das ForthRight eine shadefreie Zone, und so sollte es auch bleiben. Aber als PsyChick wäre die Kleine perfekt. Sogar ihre Hautfarbe wäre von Nutzen. Sie würde dem Ganzen einen Hauch von Exotik verleihen. Er könnte sie als WhoDoo Mambo ankündigen. Obendrein würde ihre Hautfarbe die blauen Flecken verbergen, falls sie der SS jemals in die Hände fiel.

Burlesque dagegen schien die Hautfarbe des Mädchens gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, und da erinnerte sich Vanka, dass der Kerl eigens nach einer Shade-Sängerin gesucht hatte. Die Freier standen auf Shade-Miezen. Sie waren aufregender als die fülligen Anglo-Mädchen, die sonst für Burlesque arbeiteten. Und diese Kleine war so sexy, dass sogar Burlesque sich bemüßigt fühlte, nett zu sein. »Einen wunderschönen guten Abend, Süße«, sülzte er, während sein Blick professionell über ihren Körper glitt. »Genau, ich bin Burlesque Bandstand, Lieferant alkoholischer Getränke und feiner Viktualien, sowie ’n ausgewiesener Theaterdirektor. Mit wem hab ich die Ehre, wenn ich fragen darf?« Mit dem Stiefel schob er einen Stuhl unter dem Tisch hervor und bedeutete Ella, Platz zu nehmen. Als sie sich setzte, konnte Vanka ihr Gesicht im Schein der flackernden Kerze auf dem Tisch besser erkennen.

Sie war nicht hübsch.

Sie war viel mehr. Sie war schön und sehr sehr sauber. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal jemanden gesehen hatte, der so sauber gewesen war und auch so … wunderbar duftete. Der Blumenstrauß aus Veilchen und Erdbeeren, der das Mädchen schmückte, erinnerte ihn an Tage im Park und an Spaziergänge im Wald; eigenartig, weil er, soweit er sich erinnern konnte, niemals in einem Park gewesen oder in einem Wald spazieren gegangen war. So rein war sie, dass er um ein Haar die Hand ausgestreckt und ihr schimmerndes Haar berührt hätte. Das Mädchen lächelte – es hatte die weißesten Zähne, die er je gesehen hatte – und streckte Burlesque eine schmale Hand entgegen. Jeder Finger war mit einem sorgfältig lackierten und gepflegten Nagel geschmückt.

Burlesque warf einen irritierten Blick auf die Hand, nahm zögernd die Fingerspitzen des Mädchens in seine Pfote und schüttelte sie vorsichtig. Vanka konnte Burlesques Angst sehr gut verstehen. Wenn man in den Rookeries jemandem die Hand entgegenstreckte, steckte üblicherweise ein Messer darin.

»Ella Thomas«, sagte die junge Frau leise.

»Sporting Chance«, sagte Burlesques Freundin, streckte ihr die Hand entgegen und warf ihrem Beau einen bösen Blick zu. Sporting hatte für Konkurrenz offensichtlich nichts übrig, vor allem nicht, wenn sie so hübsch war wie Ella.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Miss Chance.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Miss Thomas«, unterbrach Burlesque die beiden. »Und das hier is mein Freund Wanker.«

»Oberst Vanka Iwanowitsch Maykow, staatlich anerkannter Okkultist«, berichtigte ihn Vanka, während er die Hand der jungen Frau schüttelte. Doch schon während er das tat, verfluchte er sich. Er war von ihrer Schönheit derart bezirzt gewesen, dass er ganz vergessen hatte, einen Künstlernamen zu benutzen. Was, wenn sie eine von Skobelews Agentinnen war? Doch dann blickte er in ihre wunderbar klaren Augen und verwarf die Idee. Wer so gewinnend schaute, konnte nicht korrupt sein. Während er ihre Hand hielt, kehrten seine seherischen Fähigkeiten zurück. Die Haut war so weich, dass sie nie im Leben hart gearbeitet haben konnte. Sie war entweder eine vornehme Dame, der das Leben hart mitgespielt hatte, oder eine Edelnutte. Leider sagten ihm seine Instinkte, dass er auf Ersteres setzen sollte.

Eine Schande.

»Was kann ich für Sie tun, Miss Thomas?«, schleimte sich Burlesque ein.

»Ich bin zum Vorsingen als Jad-Sängerin gekommen.« Die Stimme der jungen Frau hallte wie ein Glöckchen durch den Raum.

»Jad-Sängerin?« Um ein Haar hätte Burlesque sich verschluckt.

Das Mädchen runzelte die perfekte Stirn. »Ja, Sie haben doch ein Schild an der Tür Ihrer Kneipe. Darauf steht, dass Sie ein Chirp … eine Jad-Sängerin suchen. Wenn ich richtig verstanden habe, findet heute ein Vorsingen statt.«

»Oh, Sie müssen entschuldign, aber Sie sehn gar nich so aus wie ’ne Jad-Sängerin. Die meisten sind was üppiger.«

Die junge Frau schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. »Tja, wahrscheinlich bin ich eine aus der neuen Generation von weniger üppigen Jad-Sängerinnen.« Sie hielt einen Moment inne. »Die Leute sagen, dass ich eine gute Stimme habe, Mr. Bandstand. Ich kann so gut wie alles singen. Warum versuchen Sie es nicht mit mir?«

Burlesque sah sich das Mädchen von der Seite an. Wahrscheinlich versucht er rauszukriegen, ob der Vorschlag, es mit ihr zu versuchen, nicht vielleicht zweideutig gemeint war, dachte Vanka. Dann flackerte Enttäuschung im Gesicht des Theaterdirektors auf. Offensichtlich nicht.

»Tanzen’se auch?«, fragte Burlesque misstrauisch.

»Klar kann ich tanzen.«

Klar?

Seit dem Augenblick, als sie den Mund aufgemacht hatte, wusste Vanka, dass es zu schön war, um wahr zu sein. Sie hatte zweifellos etwas von einem Yank, und jeder wusste, dass Yanks zu eigensinnig waren, als dass man sich auf sie verlassen konnte. Zudem waren die meisten der Mistkerle auch noch Royalisten.

Wenn er recht hatte, war das auf jeden Fall ein Problem. Burlesque mochte keine Yanks. Andererseits hatte Vanka noch nie von einer Shade gehört, die Yank war. Und Burlesque mochte niemanden, weder Anglos noch Slawen, nuJus, Shades, Polacken, Krauts, Russkis, Franzmänner, Itaker, Kanaken oder Japsen. Burlesque war ein fairer Rassist. Vermutlich fragte er sich gerade, ob die Kleine als Krypto für Shaka arbeitete … oder, noch schlimmer, eine Attentäterin der Suff-Ra-Getten war.

Burlesque fuhr mit seiner Befragung fort. »Erzählen’Se auch Witze?«

Kurze Denkpause. »Ja, warum nicht?«

»Na schön, dann lassen’Se mal sehn, wasse zu bieten ham«, sagte Burlesque und zeigte mit dem Kinn auf den Pelzmantel des Mädchens.

Ella zögerte, dann stand sie mit einem Schulterzucken auf und schälte sich aus ihrem Mantel. Unsicher trat sie von einem Bein aufs andere, während Burlesque ihren Körper der üblichen forensischen Examination unterzog.

Als Vanka sie ohne den Mantel sah, wusste er, dass er mit seiner Vermutung richtiggelegen hatte; sie war eine vom Pech verfolgte, vornehme junge Dame. Sehr schlicht gekleidet, so wie ein junges Ding aus gutem Haus. Das Kleid war der Inbegriff von Anstand, sowohl in puncto Farbe – dunkelgrau – als auch Länge – es reichte fast bis zum Boden. Blöderweise war das noch nicht anständig genug: ihre Brust war von einem Mieder verhüllt – für die Frauen, die normalerweise im Pig verkehrten, ungewöhnlich. Sogar der Reifrock war unauffällig. Alles in allem eine Kluft, in der sich selbst ihre biedersten und konservativsten Geschlechtsgenossinnen höchstens tot zeigen würden. In dieser Art von Kleidung wurden Frauen normalerweise bestattet.

Doch so anständig und konservativ ihr Kleid auch war, es konnte nicht verbergen, dass die Kleine eine sehr aufregende Figur hatte.

Burlesque war weniger beeindruckt. »Hmm, das Kleid is’n bisschen trostlos, und Sie ’n bisschen zu dürr, um singen zu könn’. Die Leute, die herkommen, um ’ne Sängerin zu sehn, wolln was mit Fleisch dran. Andererseits haben Sie durchaus pralle Möpse.«

»Möpse?«, fragte Ella verdutzt.

»Titten«, erklärte Burlesque lobenswert schnell. »Ja, Sie ham ’nen orntlichen Vorbau. Meine Kunden sehn es übrigens gern, wenn die Sängerinnen ein bisschen damit rumwackeln, wenn Sie wissen, was ich mein.« Er zwinkerte ihr zu, doch wie durch ein Wunder ging sie nicht darauf ein. »Sie müssen beim Singen zeigen, was Sie ham.« Plötzlich verstummte er und warf dem Mädchen einen misstrauischen Blick zu. »Sie sind doch nich etwa ’ne Suff-Ra-Gette, oder? Von denen krieg ich in letzter Zeit nämlich ganz komische Briefe.«

»Ich bin ganz bestimmt keine, Mr. Bandstand. Und was meine … Möpse angeht, so bin ich hergekommen, um vorzusingen, nicht um zu strippen.«

Feuer unterm Arsch, das gefiel Vanka. Er beschloss, ihr zu Hilfe zu kommen. »Sagten Sie nicht, Sie würden ein vornehmes Lokal aus dem Pig machen wollen, Burlesque? Das Image des Bumslokals abschütteln? Miss Thomas macht gewiss einen sehr vornehmen Eindruck.«

»Na schön«, erwiderte Burlesque mit einem resignierten Seufzer. »Mal sehn, wasse können. Sprechen’Se mit Arthur.« Er zeigte mit dem Kinn auf die Bühne. »Der Kerl da am Klavier. Ham’Se Ihr Büchlein dabei?«

Hatte sie. Mit einem Selbstvertrauen, das ihre Jugend Lügen strafte, nickte sie Burlesque entschlossen zu und ging auf die Bühne zu.

Vanka kannte den Song nicht, ein kurzes freches Stück mit dem Titel »Falling in Love Again«. Allem Anschein nach hatte auch die Band das Stück noch nie gehört, denn am Anfang waren die Musiker von dem eigenartigen Walzerrhythmus überrascht. Doch schließlich fanden sie in das hinein, was die Kleine als Groove bezeichnete. Für Vankas ungeschulte Ohren war ihr Auftritt bemerkenswert. Bemerkenswert und höchst ungewöhnlich.

Sie hatte keine schwere Schlampenstimme wie die meisten Sängerinnen, die in Burlesques Kaschemme auftraten: Ihre war subtiler und viel nuancierter. Plötzlich war es im ganzen Raum mucksmäuschenstill, selbst die geschwätzigen Tratschtanten an ihrem Tisch verstummten. Ella war eine verblüffend andere Art von Sängerin. Das Problem bestand darin, dass Burlesque nicht wusste, was er von diesem »anders« halten sollte.

Als die Schlussnoten des Songs verhallt waren, saß er reglos und unentschlossen da. »Ich weiß nich«, sagte er schließlich. »Die Leute, die ins Pig komm’, mögen die Sängerinnen ’n bisschen praller. Was mein’Se, Wanker? Soll ich ihr ’ne Chance geben?«

Vanka schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie ist die erstaunlichste Sängerin, die ich je gehört habe, Burlesque. Natürlich müssen Sie ihr eine Chance geben. Warten Sie ein paar Wochen ab, und das Pig ist rappelvoll.«

Burlesque war nicht überzeugt. »Ich weiß nich …«, murmelte er, doch dann hatte er offenbar eine Eingebung. Sein Gesicht erhellte sich; er grinste. »Ich sag Ihnen was, Süße«, rief er Ella zu, die immer noch ziemlich verlegen auf der Bühne stand, »schließlich treten Sie hier in einer Varieté-Vorstellung auf, wie wär’s, wenn Sie die Möpse ’n bisschen mehr raushängen ließen? Ich könnt Sie als Naked Nightingale oder so ähnlich ankündigen.«

Vanka vergrub das Gesicht in den Händen. Offensichtlich verstand Burlesque etwas ganz anderes unter einem vornehmen Lokal als er.

»Kommt nicht in Frage.« Ihre Stimme klang eisig.

Burlesques Gesicht verfinsterte sich. »Wieso nich? Der Laden wär gerammelt voll.«

»Das ist mir egal. Es ist erniedrigend. Das ist kein Jad, sondern Pornografie.«

Burlesque war es nicht gewohnt, von einer Frau einen Korb zu bekommen. Wie die meisten Männer in den Rookeries erwartete er, dass Frauen taten, was man ihnen sagte, verdammt, vor allem, wenn sie einen Job bei ihm haben wollten.

»Jetzt machen’Se mal bloß nich auf Zicke. Es is nich Puh-Nografie, sondern Show-Business. Und alles, was ich von Ihn’ will, is, dasse Ihre Titten zeigen.«

»Nein«, sagte Ella noch bestimmter als vorher.

Ihre Unnachgiebigkeit verdutzte Burlesque. »Sind’Se sicher, dasse keine Suff-Ra-Gette sind?« Vanka wusste, warum Burlesque so verwirrt war. Die meisten Mädchen, die in seiner Spelunke auftreten durften, hätten sonst was angestellt, um sich auszuziehen … und mehr.

»Ja, das versichere ich Ihnen, Mr. Bandstand …«

Die Sturheit der Kleinen schien Burlesque von der Richtigkeit seines Verdachts überzeugt zu haben. »Wetten, dasse doch eine sind, die bloß hergekommen is, um mich alle zu machen?«

»Ich bitte Sie, Mr. Bandstand.«

»Wetten, dass Sie es warn, die mir die giftigen Briefe geschickt hat?«

Vanka spürte, wie Burlesques Aggression rapide zunahm. Wahrscheinlich hatte er den ganzen Tag getrunken, um die Angst vor seiner Ermordung abzuschütteln, und jetzt kam sie mit einem Mal wieder hoch. Ein gefährlicher Augenblick. Burlesques plumpe, leicht komische äußere Erscheinung ließ seine Umgebung manchmal vergessen, wie brutal und hinterhältig er sein konnte. Im Kneipengeschäft des East End hätte keiner eine so mächtige Stellung wie er, wenn er ein Weichei wäre.

»Jetzt hörn’Se mal gut zu, Miss Etepetete. Wenn’Se keine Lust ham, Ihre Klamotten auszuziehn, oder ’ne Suff-Ra-Gette sind, dann solln’Se wissen, mit wem Sie’s hier zu tun ham, ich bin nich irgendwer. Wenn Sie und ihre Kumpaninnen herkommen, um Burlesque Bandstand kaltzumachen, wern’Se schon sehn, was fürn heißen Empfang wir Ihnen machen.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zog er jetzt auch noch einen überdimensionalen Webley-Revolver unter dem Mantel hervor und legte ihn entschieden auf den Tisch.

Überall ringsum scharrten Stühle, während die Kunden eilig versuchten, sich aus der Schusslinie zu entfernen, denn sie wussten nur allzu gut, was das bedeutete: Sie würden eine andere Kneipe aufsuchen müssen, die mindestens eine halbe Meile entfernt lag – so mies schoss Burlesque, wenn er blau war.

»Tut mir leid«, stotterte die junge Frau auf der Bühne und starrte entsetzt auf die Waffe. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

Was Vanka am meisten erstaunte, war ihre aufrichtige Verwirrung. Diese junge Frau war das naivste Geschöpf, das ihm je über den Weg gelaufen war.

Mit einem Wort, sie war perfekt.