31

Demi-Monde:
82. Tag im Winter des Jahres 1004

Kamerad Führer, ich bedaure zutiefst, Ihnen mitteilen zu müssen, dass mein Ministerium ein Schreiben der Dogaressa Catherine-Sophia aus Venedig erhalten hat, wonach jeglicher Handel an der Börse von Rialto mit dem ForthRight ausgesetzt wird, bis das ForthRight alle Truppen aus dem Warschauer Ghetto abgezogen hat. Wir müssen bedenken, dass neunzig Prozent des Handels innerhalb der Demi-Monde an dieser Börse abgewickelt und fast siebzig Prozent der Blutanleihen und der Darlehen des ForthRight von venezianischen Geldinstituten gehalten werden. Ohne die an der Börse gehandelten Anleihen wird es für mein Ministerium schwierig werden, die langfristigen Ambitionen des Unternehmens Barbarossa zu finanzieren. Die Guinee des ForthRight wäre somit praktisch von den Blutreserven abgekoppelt, was größere – negative – Auswirkungen auf ihren Wechselkurs gegenüber anderen Währungen der Demi-Monde zur Folge haben dürfte.

– Schreiben des Kameraden Kommissar Horatio Bottomley, ForthRight, Finanzminister, an Kamerad Führer Heydrich am 82. Tag im Winter des Jahres 1004

Rivets hatte darauf bestanden, sie zu begleiten, um auf Vanka und die zehntausend Guineen aufzupassen, die sie ihm versprochen hatten. Schließlich kamen die drei unter dem Kanaldeckel am Zapiecek-Platz mitten in Warschaus Altstadt an, und Ella schwor sich, dass dies ihre letzte Reise durch die Kanalisation gewesen war.

Als sie den Kopf aus dem Loch steckte und in den Gewehrlauf eines zerlumpten Knaben blickte, verstärkte sich ihr Entschluss. Der Kleine trug am Ärmel seiner schäbigen Jacke ein weißes Armband mit der Bezeichnung »Leutnant der FAW«; dies bestätigte die verzweifelte Notlage, in der sich die Warschauer Bevölkerung befand.

»Wer da?«, piepste der Kleine.

»Ich bin es, Ella Thomas, und wenn du mich noch einmal mit deinem Gewehr anrempelst, kannst du was erleben.« Angesichts der kalten Wut in Ellas Augen wich der Junge einen Schritt zurück.

»O Gott … tut mir leid, Miss Ella. Ich habe Sie nicht wiedererkannt unter all dem Dreck.« Er hielt inne, als würde er darauf warten, dass Ella etwas sagte. »Erinnern Sie sich nicht mehr an mich, Miss Ella? Ich bin es, Leutnant Michalski.« Er trat so nah an Ella heran, wie es der Gestank gerade noch zuließ. »Sie waren doch nicht etwa vier Tage lang da unten drin, oder? Kein Wunder, dass sie schlimmer stinken als eine faule Tomate.«

Ohne ihn zu beachten, kletterte Ella aus dem Kanal heraus und massierte ein paar Minuten lang Hände und Hintern, um warm zu werden. Als sie sich halbwegs wieder wie ein Mensch fühlte, rang sie sich ein Lächeln ab. »Nett, Sie wiederzusehen, Leutnant. Meinen Glückwunsch zu Ihrer Beförderung. Und jetzt wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns ins Hauptquartier zu Major Dabrowski bringen könnten. Wir müssen ihn sofort sprechen, es geht um Leben und Tod.«

Als die drei den Raum betraten, sah Dabrowski auf und lächelte müde. Seit sie ihn vor ein paar Tagen das letzte Mal gesehen hatte, schien er um Jahrzehnte gealtert zu sein. Sein Gesicht war eingefallen, und seine Haut hatte die Farbe von altem Pergament. Die Stimme zitterte. »Sieh mal einer an. Ich habe nicht mehr damit gerechnet, Sie, Oberst Maykow, oder Ihre Freundin Miss Thomas wiederzusehen.« Er spähte durch die Dunkelheit auf Rivets. »Und wer ist das … Verstärkung etwa?« Er lachte über seinen eigenen billigen Scherz. »Sie haben es also geschafft, wie? Als ich hörte, dass Sie in der Kanalisation in einen Hinterhalt geraten waren, habe ich Sie abgeschrieben. Nehmen Sie doch Platz.« Er zeigte mit dem Kinn auf drei leere Ölfässer. »Wollen Sie unsere Gäste nicht willkommen heißen, Hauptmann Dashwood?«

Trixie musterte Ella und verzog angewidert das Gesicht. »Haben Sie das Blut besorgt?«

Es hatte wenig Zweck, die bittere Pille versüßen zu wollen. »Wir haben das Blut organisiert, und ich habe es auch bezahlt«, erklärte Ella, »doch dann hat Beria unseren Lieferanten hops genommen. Im Moment sehe ich wenig Chancen für eine Lieferung.«

Trixie trat heftig gegen die Tür. Ein Schauer von Staub und Schutt rieselte von der Decke herab. »Ich wusste doch, dass wir einer Shade nie hätten vertrauen dürfen.«

Ella spürte, wie Vanka dichter an sie heranrückte. Offensichtlich war er wegen Trixie genauso nervös wie sie. Das Mädchen sah so aus, als könnte es jeden Moment ausrasten.

»Ich bitte Sie, Hauptmann …«, flehte Major Dabrowski. Dann sah er Ella an und lächelte fahl. »Sie müssen Hauptmann Dashwood entschuldigen. Es waren sehr anstrengende Tage. Sie haben es versucht, und ich danke Ihnen dafür. Jetzt ist es vorbei. Heute Morgen haben wir die Blutbank an die SS verloren.«

»Wie schlimm ist die Lage wirklich?«

»Wir können noch zwei Wochen durchhalten … vielleicht nicht einmal das. Etwa drei Millionen Menschen sind in der Industriezone zusammengedrängt. Ohne Blut sind wir am Ende.«

»Ich hätte eine andere Idee«, begann Ella, »vielleicht könnten wir die Warschauer Bevölkerung auf andere Weise retten.«

»Junge, Junge, Miss Thomas, Dämonen wie Sie schütteln Ideen wohl nur so aus dem Ärmel, was?« Trixies Sarkasmus war nicht zu überhören. »Und was ist es dieses Mal? Wollen Sie Ihr Wissen über die Demi-Monde dazu benutzen, uns alle auf einem geflügelten Pferd aus dem Ghetto zu schmuggeln?«

Niemand sagte etwas, doch die Stille war beinahe greifbar. Ella spürte, dass Trixie am Rand eines Nervenzusammenbruchs stand. Die Grausamkeit des Krieges forderte ihren Tribut.

»Sie haben völlig recht mit Ihrem Misstrauen, Hauptmann Dashwood«, erklärte Ella, »und auch mit Ihrer Ahnung, dass ich als Dämonin Dinge über die Funktionsweise der Demi-Monde wissen könnte, von denen Sie keine Ahnung haben.« Sie holte tief Luft. »Es ist vielleicht möglich, die Demi-Monde zu verändern, damit Ihre Leute aus dem Ghetto fliehen können.«

»Wie?«, fragte Trixie ruhig.

»Eigentlich ist es nicht meine Idee, sondern die von Major Dabrowski. Vielleicht ist es möglich, die Grenzschicht zu öffnen.«

»So ein Blödsinn!«, schnaubte Trixie verächtlich. »Das schafft keiner.«

»Ich traue es mir zu«, entgegnete Ella. »Nicht für immer, aber wenigstens so lange, bis Ihre Leute entkommen sind.«

Verblüfftes Schweigen breitete sich aus. Sogar Vanka schien von ihren Worten schockiert.

Dann fragte Dabrowski: »Für wie lange könnten Sie die Grenzschicht öffnen?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Ella, »aber wahrscheinlich nicht länger als eine Stunde. Die Demi-Monde wird von Menschen kontrolliert, wenn Sie wünschen, von Geistern, die mir die Macht verliehen haben, Ihre Welt zu verändern, allerdings sind solche Veränderungen auf eine Stunde begrenzt. Es könnte reichen, um Ihre Leute aus Warschau in Sicherheit zu bringen.«

»Wohin?«, wollte Trixie wissen.

»Ins Große Jenseits.«

»Ich bitte Sie, das ist doch lächerlich«, entgegnete Trixie grob. »Wir wissen nicht einmal, was das Große Jenseits ist. Vielleicht können wir dort überhaupt nicht überleben.«

»Ich glaube schon, dass es möglich ist«, erwiderte Ella vorsichtig, sie wollte nicht alles noch komplizierter machen und auch noch PINC aufs Tapet bringen. »Ich gehe davon aus, dass die atmosphärischen und klimatischen Bedingungen überall in der Demi-Monde gleich sind. Das heißt, dass man die Luft im Großen Jenseits atmen kann, dass man das Holz benutzen, den Boden bearbeiten und das Wasser trinken kann. Sie sehen ja selbst, wie üppig die Bäume im Großen Jenseits wachsen und dass es Heimat für zahllose Tiere ist. Büffel, Steinböcke, Wildschweine …«

»Und was ist mit Blut?«, konterte Trixie verächtlich. »Ohne Blut können die Bewohner der Demi-Monde nicht überleben.«

»Im Jenseits gibt es auch Blutbanken«, mischte sich Vanka ein. »Nachdem Speke mit seinem Ballon aufgestiegen war, hat er berichtet, er hätte sie gesehen.«

»Hören Sie, Hauptmann Dashwood«, fügte Ella hinzu. »Ich behaupte nicht, dass diese Lösung perfekt ist. Im Jenseits werden Ihre Leute nicht die Annehmlichkeiten haben wie hier in der Industriezone. Das Leben dort ist ziemlich primitiv.«

»Aber es ist ein Leben«, unterbrach sie der Delegierte Trotzki gefasst. »Hier ist meinem Volk nur der Tod gewiss.« Der alte nuJu rutschte auf seinem Ölfass hin und her. »Mein Volk träumt seit langem davon, ins Gelobte Land zu ziehen, an einen Ort, in dem die nuJus eine Heimat finden und nicht länger verfolgt werden. Wir nuJus haben einen Bund mit ABBA geschlossen, wonach er uns ins Gelobte Land führen wird, wenn wir seine Gesetze achten. Und dieser Bund hat uns die Kraft gegeben, allen Widrigkeiten und Entbehrungen zu trotzen. Vielleicht ist das Gelobte Land, von dem die Propheten sprachen, das Große Jenseits. Viele unserer Theologen haben dies vermutet.«

Trixie versetzte der Tür einen erneuten Tritt. »Bei allem gebührenden Respekt, Delegierter Trotzki, jetzt ist nicht die Zeit für religiöse Offenbarungen oder mystische Prophezeiungen. Was wir brauchen ist ein kühler Kopf. Rund drei Millionen Menschen sitzen hier im Ghetto fest, und wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht in den sicheren Tod im Jenseits gehen, um dem sicheren Tod hier auf der Demi-Monde zu entkommen.«

Ella nickte mitfühlend. »Ich kann Ihren Frust verstehen, Hauptmann Dashwood, aber es hat keinen Zweck, Ihnen etwas zu versprechen, was ich nicht halten kann. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es mir gelingt, die Grenzschicht zu öffnen. Trotzdem ist es eine Chance und daher allemal besser, als nur herumzusitzen und zuzuschauen, wie die SS-Artillerie Ihr Volk zusammenschießt. Obendrein haben Sie nur noch für zwei Wochen Blut, wie uns der Major gerade bestätigt hat.«

»Wie wollen Sie dieses Wunder vollbringen?«, fragte Trotzki.

»Als ich in Berlin war, hatte ich Zugang zu einem gewissen IM-Manual …«

»Das IM-Manual«, murmelte Trotzki. »Was für ein seltsamer Zufall. Immanual ist der Name des nuJu-Propheten, der mein Volk in das Gelobte Land führen wird. So steht es in unseren Heiligen Schriften.«

»Nun, mit Hilfe des IM-Manuals kann ich die Demi-Monde ändern, aber dazu müsste ich in die Warschauer Blutbank. Ich brauche Zugang zu einer Bluttransfusionskabine.«

Trixie lachte erneut höhnisch. »Tja, und dazu bräuchten Sie ein weiteres Wunder, Miss Thomas. Die Warschauer Blutbank befindet sich in der Hand der SS

»Könnten Sie sie zurückerobern?«

Trixie fuhr sich mit der verrußten Hand über das kurz geschorene Haar. »Vielleicht, für kurze Zeit. Ich bräuchte zweihundert Mann, um die Bank zurückzuerobern und eine Weile zu halten. Wie lange benötigen Sie für Ihre Zaubertricks?«

»Eine halbe Stunde.«

»Dann sagen wir lieber dreihundert Mann. Das Problem ist nicht, wie wir in die Bank hineinkommen, sondern heil wieder raus. Das ist ein Himmelfahrtskommando.«

»Es gibt keine andere Möglichkeit«, bemerkte Vanka leise. »Um den drei Millionen Menschen die Chance zu geben, aus dem Ghetto zu entkommen, müssen sich dreihundert Kämpfer opfern.«

»Sie gehen sehr großzügig mit meinen Männern um, Oberst.«

»Oh, ich werde mit ihnen gehen, Miss Dashwood, um auf Miss Ella aufzupassen.«

Dabrowski kippte sein Glas Lösung hinunter. »Sie haben natürlich recht, Maykow, trotzdem ist es ein großes Risiko, ins Jenseits vorzustoßen. Ungeachtet dessen, was uns Miss Ella erzählt, weiß niemand, welche Gefahren uns dort erwarten. Es könnte genauso menschenfeindlich sein wie Terror Incognita. Außerdem bedarf es einer genauen Planung. Die Warschauer müssten Aussaat und Tiere mitnehmen, sie müssten Handwerkzeug und genügend Nahrung dabeihaben, um zu überleben, bis sie die erste Ernte eingebracht haben. Es gibt tausend Dinge, die bedacht werden wollen.« Dabrowskis Stimme verebbte, als fürchtete er sich vor der Größe der Entscheidung, die er treffen musste. Schließlich schüttelte er bekümmert den Kopf. »Nein … darüber will nicht ich entscheiden müssen.«

»Dann lassen Sie die Bevölkerung entscheiden«, schlug Ella vor. »Soll das Volk selbst bestimmen, ob es gehen oder hierbleiben will. So funktioniert Demokratie.«

»Demokratie, was?«, gluckste Trixie. »Ihre Busenfreundin, Miss Norma Williams, hat auch ständig davon gefaselt. Alles Humbug. Hier in der Demi-Monde ist kein Platz für so etwas.«

»Was ist diese Demokratie, von der Sie reden, Miss Thomas?«, wollte der Delegierte Trotzki wissen.

»Ein Herrschaftssystem, bei dem alle Erwachsenen einer Gesellschaft ihre eigene Regierung wählen … oder wie in diesem Fall über etwas abstimmen, was ihr Leben radikal verändern würde.«

»Lächerlich«, spottete Trixie Dashwood. »Demokratie ist eine beschönigende Umschreibung für die Herrschaft des Pöbels. Woher soll der Mann auf der Straße wissen, wer der beste Führer ist? Woher soll der Mann auf der Straße wissen, wie man ein Land regiert? Man muss den Menschen sagen, was sie zu tun haben. Ihre Demokratie ist das Rezept für Unentschlossenheit, für Chaos und Anarchie.«

Dabrowski teilte diese Zweifel nicht. »Nein, Miss Thomas hat recht. Wir müssen die Menschen über die Risiken und Gefahren aufklären, die bestehen, wenn sie ins Jenseits aufbrechen oder wenn sie im Ghetto bleiben. Und dann müssen die Menschen selber entscheiden. Sie sollen darüber abstimmen, ob sie bleiben oder gehen wollen. Jawohl, die Warschauer Bevölkerung soll entscheiden, nicht ich.«

Trixie sah ihn erstaunt und zugleich verächtlich an. »Ich flehe Sie an, Major, tun Sie das nicht. Sie können doch nicht die Menschen entscheiden lassen, Sie müssen ihnen befehlen. Ein starker Führer debattiert nicht, er befiehlt.«

»Genug«, verkündete Dabrowski. »Wir werden die Fakten auf den Tisch legen, und dann soll das Volk entscheiden. Sollte es dafür stimmen, ins Große Jenseits aufzubrechen, wird es sein Entschluss sein und nicht meiner.« Er lächelte schief. »Aber als Allererstes muss ich jetzt einen Kommandanten finden, der verrückt genug ist, um die Blutbank einzunehmen und zu halten.«

»Diese Ehre beanspruche ich für mich, Major«, erklärte Trixie. »Aber eines sollten Sie wissen, Miss Shade. Wenn Sie diesmal wieder versagen und dreihundert meiner Kämpfer unnötig in den Tod führen, schwöre ich Ihnen bei allen Geistern, dass ich Ihnen mit bloßen Händen den Hals umdrehe, und wenn es das Letzte ist, was ich auf dieser Welt tun muss.«

Ella sah sie an und wusste, dass sie jedes Wort ernst meinte.

Obwohl Ella den Eindruck hatte, dass Dabrowski allmählich der Sinn für die Realität abhandenkam, musste sie zugeben, dass sie die anderthalb Millionen Erwachsenen in Warschau unmöglich zusammentrommeln konnten, um ihnen zu sagen, was gesagt werden musste. Also befolgten sie den Vorschlag des Delegierten Trotzki und ließen im Ghetto verkünden, dass jeweils tausend Bürger, die älter als sechzehn waren, einen Vertreter wählen sollten. Diese Vertreter sollten dann an einer Versammlung teilnehmen, in der man sie über Ellas Vorschlag unterrichten und ihnen Gelegenheit geben würde, darüber zu diskutieren. Danach würden sie zu ihren Wählern gehen und ihnen Bericht erstatten. Mit diesen Kenntnissen, so hoffte Trotzki, könnten die Bürger Warschaus anschließend entscheiden, ob sie lieber gehen oder bleiben wollten.

Da sie fünfzehnhundert Delegierte unterbringen mussten, beschlossen sie, die Versammlung in der Industriezone abzuhalten, in einem der Warenlager, die jetzt leer standen. Am Nachmittag des folgenden Tages trat Dabrowski vor die versammelten Vertreter. »Freunde und Mitbürger«, begann er. Seine Stimme war so schwach und leise, dass man ihn in den hinteren Reihen kaum verstand. »Ich habe euch hierher berufen, um mit euch über unser weiteres Schicksal zu entscheiden. Ich will ganz ehrlich sein: Wir haben die Kontrolle über die Blutbank verloren, und unsere Versuche, das Ghetto mit Blut von außen zu versorgen, sind gescheitert. Unsere Blutreserven reichen noch für höchstens zwei Wochen aus.«

Diese schockierende Äußerung brachte alle zum Schweigen. Es war, als blickten sie dem Tod ins Gesicht.

»Noch gestern dachte ich, ich müsste vor euch treten und euch sagen, dass es Zeit ist, die Waffen niederzulegen und sich Heydrichs Gnade auszuliefern. Jetzt aber gibt es neue Hoffnung, die uns eine ungewisse – ja vielleicht auch gefährliche – Zukunft verspricht. Und da sie so gefährlich ist, soll jeder Einzelne von euch darüber entscheiden, ob er gewillt ist, dieses Risiko auf sich zu nehmen oder nicht. Wir glauben, dass wir die Grenzschicht durchbrechen könnten.«

Einen Augenblick herrschte Totenstille, dann brach ein Sturm von Fragen los. Dabrowski musste mit einem Holzhammer auf den Tisch schlagen, den er als Rednerpult benutzte, um die Ruhe wiederherzustellen.

»Ich wiederhole: Wir haben die Vermutung – und ich betone, dass es nur eine Vermutung ist, keine Gewissheit –, dass wir die Grenzschicht öffnen und ins Große Jenseits fliehen könnten.«

»Ist es im Jenseits denn sicher?«, schrie jemand.

»Wir gehen davon aus, dass das Jenseits bewohnbar ist. Wir sehen dort Tiere und Bäume, das Gras wächst, und am allerwichtigsten, es gibt sogar Blutbanken. Unsere eigenen Legenden sprechen davon, dass unsere Vorfahren einst im Großen Jenseits lebten. Also lautet die Antwort, soweit wir das beurteilen können, ja, das Große Jenseits ist sicher. Wir können aber die Grenzschicht nur eine Stunde lang öffnen, danach schließt sie sich für immer. Wenn wir einmal da sind, gibt es kein Zurück.« Dabrowski verstummte einen Augenblick. »Andererseits wärt ihr Heydrich und seine kranke Vorstellung, unser Volk zu vernichten, ein für alle Male los. Es wäre ein neuer Anfang.«

»Wann müssen wir diese Entscheidung treffen?« Die Frage kam aus dem hinteren Teil der Halle.

»Wir haben vor, die Grenzschicht in zwei Tagen zu öffnen. Vergesst nicht, es gibt kein Zurück in die Demi-Monde. Ihr müsst alles mitnehmen, was ihr braucht, um dort ein neues Leben zu beginnen. Wenn ihr die Grenzschicht einmal passiert habt, könnt ihr nicht mehr in die Industriezone zurück. Und das Leben im Jenseits wird hart sein.« Dabrowski stützte sich auf den Tisch, als wäre er am Ende seiner Kraft, und Ella, die in der hintersten Reihe stand, dachte eine Sekunde lang, er würde zusammenbrechen. Doch dann rappelte er sich wieder auf. »Ich bitte die Volksvertreter, mir innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden eine Liste mit den Namen derjenigen zu geben, die ins Große Jenseits wollen.«

Vom anderen Ende der Halle kam eine weitere Frage. »Was geschieht mit denen, die bleiben wollen?«

»Die Armee wird weiterkämpfen. Die Bürger Warschaus werden weiterkämpfen.«

»Hoch lebe Trixie!«, rief jemand, und es brach kurz Jubel aus. Die meisten aber schwiegen. Sie hatten beschlossen, dass diese Art zu sterben nichts für sie war.