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Demi-Monde:
40. Tag im Winter des Jahres 1004

Der UnFunDaMentalismus ist ein System von politischen, rassischen, metaphysischen, sexuellen und gesellschaftlichen Ideen und Philosophien, um die Menschenrasse der Demi-Monde zu läutern und den Siegeszug des arischen Volkes sowie die Rehabilitierung des halbmythologischen UrVolkes zu ermöglichen. Als Staatsreligion des ForthRight hat der UnFunDaMentalismus die Aufgabe, mittels eines Prozesses von Erziehung und maßvoller Selektion die Verseuchung arischen Blutes durch die minderwertigen Rassen (UnterWesen) der Demi-Monde zu verhindern (als Arier werden im Allgemeinen die angelslawischen Rassen bezeichnet) und dadurch das arische Volk wieder zu der Vollkommenheit zurückzuführen, die es besaß, bevor seine Vorfahren– das UrVolk – bei ABBA in Ungnade fielen.

– Otto Weininger,
Religionen der Demi-Monde.
Veröffentlichungen der Universität zu Berlin

Kamerad Kommissar Dashwood legte größten Wert darauf, vor sieben Uhr morgens in seinem Ministerium zu erscheinen. Er wusste, dass er den Termin für die Fertigstellung der neuen Eisenbahnlinie nur dann einhalten konnte, wenn er mindestens vierzehn Stunden am Tag arbeitete. Und da Führer Heydrich erklärt hatte, die Eisenbahn sei für den Erfolg der bevorstehenden Invasion Covens durch das ForthRight von größter Bedeutung, hätte es vermutlich sein Todesurteil bedeutet, wenn er den Termin nicht einhielt. Reinhard Heydrich bestrafte jedes Versagen äußerst kompromisslos.

Doch noch während sein Fahrer den keuchenden Dampfwagen vor dem Gebäude des Transportministeriums zum Stehen gebracht hatte, wusste Dashwood, dass etwas im Busch war und es kein normaler Tag sein würde. Er hatte das untrügliche Gefühl, sich heute besonders in Acht nehmen zu müssen.

Möglich, dass die Milizionäre, die oben auf den Stufen vor dem großen, doppelflügeligen Portal des Ministeriums patrouillierten, zu dieser frühen Morgenstunde deutlich weniger schläfrig waren als sonst. Möglich, dass ihr Gruß dieses Mal ein kleines bisschen strammer und inbrünstiger ausfiel, als er es gewohnt war. Kleinigkeiten, aber bedeutsam genug, um ihnen Beachtung zu schenken, wenn man in diesem mörderischen Tollhaus am Leben bleiben wollte.

O bitte, bloß nicht schon wieder eine Säuberungsaktion! Es hat doch schon genug von uns erwischt.

Während Dashwood gebieterisch über den Marmorboden des Ministeriums marschierte, versuchte er, diese beunruhigenden Gedanken zu vertreiben, indem er an all jene dachte, die den Säuberungsaktionen bereits zum Opfer gefallen waren.

Waren es hunderttausend gewesen? Oder gar zweihunderttausend?

Nein … nach den Aufständen hatte die Partei fast eine Viertelmillion Personen – Individuen – verhaften und hinrichten lassen. Man hatte ihnen vorgeworfen, Royalisten, Konterrevolutionäre und Volksfeinde zu sein, und sie ins Warschauer Ghetto oder in die Todeslager verfrachtet, die sich im sumpfigen Hub befanden. Dashwood dachte mit Schaudern daran, dass ausgerechnet er aus schierer Feigheit die Transportpapiere unterschrieben hatte. In den Nächten – die Verhaftungen hatten stets nachts stattgefunden oder wenn die Rookeries in dichten Smog gehüllt gewesen waren – hatte er mitansehen müssen, wie viele seiner Freunde, Verwandten und Angehörige des Richterstands auf Nimmerwiedersehen in den schwarz lackierten Dampfwagen der Checkya verschwunden waren.

Und er war an ihrer Vernichtung beteiligt gewesen.

Das war der Preis, den die Partei von ihm verlangt hatte, damit seine Familie und er überlebten: Beteiligung an einem Massenmord. Würde man nun auch ihn beseitigen? Während er durch die Gänge des Ministeriums ging, zerbrach er sich den Kopf, welchen Fehler er womöglich begangen hatte, um Beria – den Kopf der gefürchteten Geheimpolizei Checkya – zu veranlassen, sein Todesurteil zu unterschreiben. Er war doch so vorsichtig gewesen.

Einen Augenblick blieb er stehen.

Trixiebell etwa …

O bitte, nicht Trixiebell. Nicht seine heißgeliebte kleine Trixie.

Einen Augenblick lang war er versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen, nach Hause zu fahren, um Trixie abzuholen, auf den nächstbesten Lastkahn zu springen, der zum Hub unterwegs war, und ins Exil zu gehen … nur wohin? Die traurige Wahrheit war, dass es in der Demi-Monde keinerlei Zuflucht gab.

Die Checkya hatte einen langen Arm, und nach dem, was er gestern in der Versammlung des Politbüros mitbekommen hatte, würde die Armee des ForthRight im Sommer Coven erobert haben und mit großer Wahrscheinlichkeit gierig nach dem Quartier Chaud greifen. Vielleicht sollten Trixie und er versuchen, nach NoirVille zu gelangen? Doch irgendwie glaubte er nicht, dass Trixie für ein Leben hinter einem Schleier geschaffen war. Der HimPerialismus war ein strenges Regime und Frauen gegenüber äußerst feindselig eingestellt, vor allem selbstständig denkenden Frauen wie Trixie. Nein, es gab keinen Ort, wohin sie hätten flüchten können. Und außerdem hatte er zu tun, er musste sich um andere Dinge kümmern.

Vor der großen Eichenholztür seines Büros blieb Dashwood stehen und nahm sich die Zeit, um einige Aschestäubchen wegzuklopfen, die der Dampfwagen auf seinem makellosen Anzug hinterlassen hatte. Dann nahm er den Zylinder ab, drückte beherzt die Klinke herunter und trat ein. Als er den Mann entdeckte, der mit einer Zigarette im Mund an seinem Schreibtisch saß und systematisch seine Korrespondenz durchsuchte, sah Dashwood seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

»Ah, Kamerad Kommissar Dashwood … endlich. Welch ein königliches Vergnügen.«

Dashwood zuckte unter Berias prüfendem Blick nervös zusammen. Den eher platten Witz, den er gemacht hatte – eine Anspielung auf Dashwoods aristokratische Herkunft als Baron Dashwood –, durfte er keineswegs auf die leichte Schulter nehmen. Nach den Aufständen waren die meisten Adligen, die wie Dashwood eine Ahnentafel aufzuweisen hatten, Berias Säuberungsaktionen zum Opfer gefallen und eines schrecklichen Todes gestorben.

Verzweifelt versuchte er, sich zusammenreißen. Er hob automatisch den Arm zum Parteigruß. »Aus zwei macht einen«, rief er.

Beria hob lässig den Arm, um den Gruß zu erwidern, und tat dann so, als werfe er einen Blick auf seine Uhr. »Ihre Sekretärin hatte mir versichert, dass ich Sie um Punkt sieben Uhr in Ihrem Büro antreffen könne. Jetzt ist es bereits drei Minuten nach. Ich will doch sehr hoffen, Kamerad Dashwood, dass dies kein Beispiel für die Laschheit ist, mit der Sie Ihr Ministerium leiten.«

»Nein, Stellvertretender Führer, Kamerad Beria.«

Stellvertretender Führer. Hatte es jemals einen passenderen Titel gegeben?

Mit einem kalten Lächeln deutete Beria auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch. Während Dashwood Platz nahm, entdeckte er den Mann hinter sich. Er wandte sich um und erkannte die große finstere Gestalt eines Offiziers, der in einer Ecke des Zimmers wartete.

»Hauptmann Jan Dabrowski, Mitglied der Checkya«, erklärte Beria träge.

Der Hauptmann machte keine Anstalten, ihn zu grüßen. Er blieb reglos stehen und starrte eiskalt und unerbittlich auf Dashwoods Nacken. Dabrowski sah aus wie der Inbegriff eines Geheimpolizisten, und Dashwood hatte keinerlei Zweifel, dass dieser polnische Hundesohn – die Abzeichen an seiner Uniform identifizierten ihn als solchen – alles tun würde, was ihm sein Herr befahl, und dabei nicht einmal vor einem Mord zurückschrecken würde.

»Mir war nicht klar, dass Sie derart laxe Arbeitszeiten haben«, begann Kamerad Beria, während er die Gegenstände auf Dashwoods Schreibtisch zurechtrückte. »Erst um sieben Uhr anzutreten – selbst an einem Sonntag – ist äußerst fahrlässig. Wie Sie wissen, stehen wir vor einem von Gott befohlenen Kreuzzug, um die Demi-Monde von den UnterWesen, den nuJus und dem Abschaum der Shades zu säubern, die unsere Welt verseuchen. Um Erfolg zu haben, verlangt das Unternehmen Barbarossa jedem Parteimitglied Schweiß und Opfer ab. Die Partei fordert von uns allen Opfer, und wir in den oberen Rängen müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Ich selbst komme nie später als fünf Uhr morgens ins Büro. Ich schlage vor, dass Sie meinem Beispiel folgen.«

»Jawohl, Kamerad Stellvertretender Führer.«

Na los, spuck’s schon aus, du Dreckskerl.

»Schließlich sind Sie, Kamerad Kommissar, einer der wenigen Überlebenden des Gerichtshofs von Henry Tudor, diesem Erzimperialisten und Unterdrücker des Volkes. Alles, was weniger als vollkommene Hingabe an die Partei und an Kamerad Führer Heydrich wäre, könnte man als Neigung zur Rückfälligkeit interpretieren.«

»Kamerad Führer Heydrich sollte an meiner uneingeschränkten und unerschütterlichen Loyalität gegenüber dem ForthRight und der Partei nicht zweifeln.«

Beria zog langsam ein Taschentuch aus dem Ärmel, putzte damit seine winzigen Brillengläser und tupfte sich vorsichtig über die feuchten Lippen. »Ich bin sicher, dass der Führer entzückt sein wird, von Ihrem Treueschwur zu hören, vor allem, weil ich Ihnen die Möglichkeit eröffnen will, dem ForthRight und der Partei einen großen Dienst zu erweisen.«

Um Haaresbreite hätte Dashwood vor Erleichterung losgeheult. Er sollte also doch nicht beseitigt werden. Jedenfalls nicht sofort. »Ich bin bereit, jede Aufgabe zu übernehmen, die unserem Führer dient.«

»Der Führer war von Ihrem Auftritt während der gestrigen Versammlung des Politbüros beeindruckt. Der Große Führer hält große Stücke auf Sie. Ihre Kompetenz in puncto Logistik ist unerreicht.«

Und wahrscheinlich auch der Grund, weshalb ich nicht beseitigt worden bin, dachte Dashwood.

Noch nicht.

Beria lehnte sich zurück und starrte an die Decke, als suchte er nach einer höheren Eingebung. »Leider kann ich dasselbe von Ihrer Familie nicht behaupten. Ich habe Hauptmann Dabrowski vor zwei Tagen zu einer gesellschaftlichen Veranstaltung unter Federführung von Mrs. Albemarle geschickt, und zwar mit der ausdrücklichen Maßgabe, eine Beurteilung Ihrer Tochter abzugeben.«

Dashword erstarrte auf seinem Stuhl und spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Im ForthRight hatte der Ausdruck »Beurteilung« viele Bedeutungen, und keine davon war gut.

»Meine Tochter?«, fragte er so beiläufig wie nur irgend möglich.

Beria antwortete nicht sofort, stattdessen kramte er eine gelbbraune Akte hervor, öffnete sie und begann, langsam in den Seiten zu blättern, während er sie mit übertriebener Aufmerksamkeit studierte. »Dafür, dass sie noch so jung ist, hat Ihre Tochter eine bemerkenswert … besser gesagt, eine unverschämt dicke Akte angesammelt.« Er schüttelte mit gespielter Verwunderung den Kopf. »Aus alldem muss ich leider den Schluss ziehen, dass Ihre Tochter sämtliche Voraussetzungen erfüllt, um sich in Zukunft zu einer echten Unruhestifterin zu entwickeln. Sie verfügt über ein hohes Potenzial an beunruhigend herEtikalistischen Tendenzen. Man muss schon eine gehörige Portion konterrevolutionärer Begeisterung haben, um noch vor seinem sechzehnten Geburtstag dermaßen aufzufallen.«

»Der Tod ihrer Mutter hat Trixiebell aus der Bahn geworfen …«

»Das ist noch lange kein Grund, über ihren Lehrer für UnFunDaMentalistische Ideologie herzuziehen, weil er angeblich, ich zitiere, ›nur dummes Zeug von sich gibt‹. Junge, Junge … Von der Tochter eines hohen Parteifunktionärs erwartet man etwas anderes. Offensichtlich hat sie sich obendrein beim Direktor ihrer Schule beschwert, weil man eine nonNix von der Schule verwiesen hatte.«

Dashwood versuchte sein Bestes, um seine Tochter zu verteidigen. »Trixiebell wurde bestraft und musste im letzten Sommer zwei Wochen in einem politischen Umerziehungslager verbringen. Ich bin sicher, dass sie mittlerweile sowohl politisch als auch ideologisch auf Linie ist.«

»Nun, ich wünschte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen, Kamerad Kommissar. Die jungen Leute von heute sind eine echte Plage. Leider kommt der Bericht unseres verehrten Hauptmanns zu dem Schluss, dass Ihre Tochter immer noch subversive Neigungen hegt.«

Verstohlen öffnete Dashwood sein Pistolenholster. Eins stand fest: Niemals würde er zulassen, dass Trixiebell diesen degenerierten Hundesöhnen in die Hände fiel. Eher brächte er Beria um.

Der nahm ein Foto von Trixiebell aus der Akte und studierte es aufmerksam. »Ihre Tochter ist eine Schönheit.« Er feuchtete seine Lippen an. »So schlank, so blond, so sportlich, aber leider auch so eigensinnig. Es wäre eine Tragödie, nicht wahr, ein derart vollkommenes Exemplar arischer Weiblichkeit an den schändlichen HerEtikalismus zu verlieren. Der Hauptmann hegt die Befürchtung, dass aus Ihrer Tochter eine Proto-RaTionalistin werden könnte … vielleicht sogar eine Suff-Ra-Gette.«

»Niemals.«

»Nun ja, vielleicht ist das übertrieben. Trotzdem muss ich Sie warnen, Kamerad Kommissar. Ihre Tochter befindet sich auf einem Weg, der geradewegs ins Verderben führt. Andererseits berichten ihre Lehrer, dass sie über eine bemerkenswerte Intelligenz verfügt und außerdem eine begnadete Rednerin ist.« Er zog kräftig an seiner Zigarette und blies eine dichte Rauchwolke an die Decke. »Ich habe eine Aufgabe, die die Dienste eines jungen Mädchens erfordert … eines intelligenten jungen Mädchens. Eine Aufgabe, die, sollte sie gewissenhaft ausgeführt werden, zur Folge hätte, dass der kompromittierende Inhalt dieses Berichts« – er schlug die Akte zu und warf sie verächtlich in den Papierkorb – »in der Versenkung verschwinden würde.«

»Was für eine Aufgabe?«, fragte Dashwood.