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Die Reale Welt: 12. Juni 2018

Spannungsfeld #1, Bevölkerungsdichte: Die anfängliche Bevölkerungsdichte der Demi-Monde® beträgt fast 70000 Personen pro Quadratmeile, eine komfortable Steigerung der Quote von 60000 Personen pro Quadratmeile, die Soziologen als Grenzwert in einem urbanen Milieu definieren, bevor jegliche Disziplin zerfällt und Recht und Ordnung zusammenbrechen. Infolgedessen kann man mit Gewissheit davon ausgehen, dass nach dem OutSet der auf der Demi-Monde gemessene aSoziale Verhaltensquotient (AVQ) zunehmen und zu sozialen Unruhen, gewalttätigen Unruhen im großen Stil und unweigerlich zum Ausbruch von Bürgerkriegen in und kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Sektoren führen wird.

– Demi-Monde® Produktbeschreibung
14. Juni 2013

»Sie wollen mich also zur Hölle schicken.«

»Nun ja, vielleicht habe ich mich etwas zu dramatisch ausgedrückt«, räumte der General ein. »Aber im Wesentlichen ist das richtig, ja. Wir wollen Sie zur Hölle schicken. Sie sollen in die Demi-Monde eindringen.«

»Eindringen?«

»Ja, wir wollen Sie als Dupe in die Demi-Monde einschleusen.«

Ella lachte laut los. »Hören Sie, General, ich möchte Ihre Pläne nicht durchkreuzen, aber der Captain und Sie haben mir soeben vor Augen geführt, dass die Demi-Monde ausgeflippter ist, als die Polizei erlaubt, und doppelt so hinterhältig, und jetzt wollen Sie mich ausgerechnet dorthin schicken? Tut mir sehr leid, aber da muss ich passen.«

»Da ist noch ein … kleines Problem, das ich Ihnen erklären sollte, ehe wir uns weiter darüber unterhalten, wie Sie uns behilflich sein könnten, Miss Thomas.«

Der Kerl muss Watte in den Ohren haben.

»Wie Captain Sanderson Ihnen bereits erklärte, wurde das Entwickler-Team unter der Leitung von Professor Bole damit beauftragt, die intersektorielle Zwietracht in der Demi-Monde derart zu programmieren, dass sich mindestens zwei Sektoren ständig im Krieg befinden. Es war also notwendig, zwischen den Sektoren eine verschärfte Konkurrenz im Hinblick auf seltene, aber von allen begehrte Rohstoffe sicherzustellen. In der wirklichen Welt wäre es die Kontrolle der Erdöl– oder Wasservorkommen, aber unser Professor war noch grausamer bei der Wahl der Rohstoffe: Er entschied sich für Blut.«

»Blut?«, rief Ella und fragte sich nervös, wohin die Frage führen würde.

»Wir haben die Dupes, die in der Demi-Monde wohnen, so programmiert, dass sie nach Blut dürsten«, erklärte der Professor. »Für die Bewohner der Demi-Monde ist Blut dasselbe wie Heroin für einen Junkie. Der einzige Unterschied liegt darin, dass sie keinen Entzug kennen. Ohne Blut sterben sie einfach innerhalb von zwei Wochen.«

Ella starrte den Professor mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an. »Wollen Sie damit sagen, dass alle diese Menschen, ich meine Maschinen, in der Demi-Monde Vampire sind?«

Professor Bole lachte verächtlich. »Seien Sie nicht albern. Vampire, also wirklich! Die Demi-Mondianer haben weder besonders lange Eckzähne noch eine Abneigung gegen Tageslicht. Nein. Sagen wir lieber, dass die Demi-Mondianer einen wöchentlichen Bedarf von mindestens zehn Milliliter Blut haben. Die meisten von ihnen nehmen das Blut mit Alkohol gemischt ein, sie nennen es ›Lösung‹, weil sich all ihre Ängste und Sorgen im wahrsten Sinne des Wortes darin auflösen.«

»Aber wo kriegen sie das Blut her?«

»Ach, das war nicht schwer. In der Demi-Monde gibt es ein ganzes Netzwerk von Blutbanken, und einmal in der Woche erhält jeder Demi-Mondianer zwanzig Milliliter Blut. Das, was er nicht verbraucht, kann er aufheben, tauschen oder verkaufen.«

»Das verstehe ich nicht, Professor«, wandte Ella ein. »Wenn sie nur zehn Milliliter Blut brauchen, aber zwanzig Milliliter bekommen, wie kann Blut dann ein umkämpfter Rohstoff sein? Dann gibt es doch einen Überfluss an dem Stoff.«

»Zehn Milliliter sind das absolute Minimum, das ein Bewohner der Demi-Monde zum Überleben benötigt. Sie wollen natürlich viel, viel mehr. Man kann zwar mit zehn Millilitern pro Woche überleben, aber man bekommt keinen Kick.«

Ella warf dem Professor einen aufmerksamen Blick zu. »Ich hasse es, schwer von Begriff zu sein, aber – was ist hier das Problem?«

»Unglücklicherweise hat sich ein Programmierfehler eingeschlichen.« Der Professor ignorierte den finsteren Blick, den der General ihm nach diesem Eingeständnis zuwarf. »Die Dupes, die die Demi-Monde bewohnen, sind zwar süchtig nach Blut, haben aber selbst keines … jedenfalls nicht in ihrem Körper. Dafür hat ABBA diejenigen, die die Demi-Monde besuchen – also die neoFights des Generals –, mit einem vollen Quantum von fünf Litern virtuellem Blut ausgerüstet … Blut, das auf dem Schwarzmarkt der Demi-Monde ein Vermögen wert ist.«

»Ah …«

»Ah …, genau. Die Bewohner der Demi-Monde haben es sich angewöhnt, unsere Soldaten – oder Dämonen, wie sie sagen – zu jagen. Sie nehmen sie gefangen, hängen sie an den Tropf und melken sie, aber nur so viel, dass sie gefügig sind, ohne gleich zu krepieren. Sie haben aus ihren menschlichen Kriegsgefangenen nicht gerade Milch-, aber doch Blutkühe gemacht.«

»Mein Gott, das ist ja grauenvoll.«

Der Professor nickte. »Leider nicht so grauenvoll wie die Erkenntnis, dass die Kriegsgefangenen in der Realen Welt wie Gemüse wären, wenn wir ihre Verbindung zur Demi-Monde kappen würden, ohne sie vorher ›zurückzuholen‹. Sie dürfen nicht vergessen, dass für unsere neoFights die Demi-Monde die einzige Realität ist, die sie kennen. Sie haben keine Ahnung von der Existenz der Realen Welt. Das Letzte, was wir wollten, ist, dass sich ein Frontsoldat in der Demi-Monde volllaufen lässt und den Einheimischen verklickert, dass sie nur Teil eines digitalen Mapping sind. Diese Art von Schlamassel wäre nicht geeignet, die Funktionsfähigkeit der Simulation aufrechtzuerhalten. Wir haben versucht, das zu korrigieren, indem wir den Offizieren der neoFights so etwas wie ein partielles Gedächtnis mitgegeben haben …«

»Protokoll 57«, warf der Professor ein, doch der General ignorierte ihn.

»… da aber nur Offiziere über diese Fähigkeit verfügen, wollen wir Sie nicht länger damit behelligen, Miss Thomas. Alles, was Sie wissen müssen, ist Folgendes: Sollten wir die armen Teufel, die in der Demi-Monde erwischt wurden, vorzeitig zurückholen müssen, hätten wir zwar ihre Körper hier bei uns, ihr Verstand aber wäre für immer im Cyberspace verloren. Diese Männer sind in der Sprache der Demi-Monde Gefangene.«

»Lassen Sie mich eines klarstellen: Sie haben Männer in die Demi-Monde geschickt, die von den Dupes gefangen genommen wurden?«

Der General sah nicht gerade glücklich aus. »Ich weiß, es klingt ziemlich abwegig, und glauben Sie mir, wir haben alles getan, um die Situation zu bereinigen, aber um Ihre Frage zu beantworten, Miss Thomas, ja.«

»Haben Sie denn nicht den Versuch unternommen, sie wieder rauszuholen?«

Der General seufzte. »Doch, haben wir, aber die Anführer der Dupes waren zu schnell für uns. Alle Sektoren haben den Zugang – die Portale – geschlossen, die in die Reale Welt hinein- und auch wieder hinausführen. Als Folge dieses Debakels sind inzwischen siebzehn unserer Männer in der kleinen Computersimulation unseres verehrten Professors gefangen.«

Ella schüttelte den Kopf. »Hören Sie, ich möchte nicht unhöflich sein, aber Ihre Demi-Monde kommt mir ziemlich abgefahren vor. Warum ziehen Sie nicht einfach Konsequenzen und machen alles dicht?«

»Nun ja, abgesehen davon, dass es siebzehn brave Männer das Leben kosten würde, gibt es noch etwas zu berücksichtigen. Irgendwie ist uns Norma Williams, die Tochter des Präsidenten, in dieser Demi-Monde abhandengekommen.«

Ella konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. »Norma Williams? Was zum Teufel haben Sie sich denn dabei gedacht, die Tochter des Präsidenten in diese Hölle zu schicken?«

Der General nickte Professor Bole zu, damit er es erklärte. Zumindest hatte der Professor den Anstand, sich einen verlegenen Anstrich zu geben. »Wie gesagt, die Demi-Monde ist ein Cyber-Ambiente, das sich selbst verwaltet und selbst versorgt. Und es ist wehrhaft. So verrückt und paranoid die Führer der Demi-Monde auch sind, sie gelangten zu der, wie sich herausstellte, richtigen Einsicht, dass wir aus der Realen Welt eine Bedrohung für sie sind. Also beschlossen sie, jemanden zu entführen, den wir keinesfalls opfern können: die Tochter des Präsidenten.«

»Wie haben sie das angestellt?«

»Das wissen wir nicht«, räumte Professor Bole ein. »Wir glauben, dass Aleister Crowley die Entführung organisiert hat, aber wie, ist uns ein Rätsel. Alles, was wir wissen, ist, dass Norma Williams im Innern der Simulation aktiv ist.«

»Na, dann schicken Sie doch ein weiteres Rettungsteam.«

»Wie gesagt«, entgegnete der General düster, »die Bewohner der Demi-Monde haben sämtliche Portale geschlossen. Wir können niemanden mehr hineinbringen. Zum Glück gibt es ein einziges Portal – einen Ausgang –, der noch offen ist, allerdings mitten im Sektor NoirVille, und das ist ein verdammt gefährliches Pflaster.«

»Wenn es unmöglich ist, in die Demi-Monde hineinzukommen, warum sitzen wir dann hier und unterhalten uns darüber? Sie stecken in der Scheiße!«

Der General und Professor Bole tauschten Blicke aus.

»Nicht ganz, Miss Thomas«, widersprach der General. »Professor Bole hat so etwas wie einen siebten Sinn gehabt. Als sie mit dem Entwurf der Demi-Monde anfingen, überredete er einen seiner Programmierer, einen Dupe zu entwickeln, den wir dann nie benutzten. Er sollte, wie es in der Computerwelt heißt, ein ›Trojaner‹ sein, mit dem man unbemerkt in die Demi-Monde gelangen konnte.« Auf dem Monitor an der Wand tauchte das Bild einer Gasse auf. »Das hier ist eine Gasse in den Rookeries, dem angelsächsischen Sektor der Demi-Monde.« Die Szene wechselte, und plötzlich sah man einen Türeingang am Ende der Gasse, der von einer roten Gaslampe erleuchtet wurde.

»Gaslampen?«, fragte Ella. »Wieso gibt es da noch Gaslampen?«

»Wir haben die technologische Entwicklung der Demi-Monde auf das Jahr achtzehnhundertsiebzig festgelegt. Das US-Militär hat darauf bestanden, dass die Computersimulation ein ziemlich primitives Ambiente widerspiegelt, so wie man es in asymmetrischen Kriegssituationen in der Realen Welt erwarten dürfte. Wir einigten uns daher darauf, die technologische Entwicklung in der Demi-Monde auf dem Niveau der Zeit von Königin Viktoria zu belassen. Deshalb benutzen ihre Bewohner immer noch Gaslampen. Bislang haben sie nicht herausgefunden, wie man Strom erzeugt.«

Ach so.

Als die Kamera auf die Tür zoomte, erkannte Ella das Zeichen darüber, »The Prancing Pig«.

»The Prancing Pig ist ein Pub in den Slums von Londons Hafenviertel«, erklärte der Professor. »Eine schreckliche Kneipe an einem schrecklichen Ort.«

Die Kamera blieb nicht an der Tür stehen, sondern fuhr noch näher heran, bis ein regennasser, an die Tür genagelter Zettel erkennbar wurde. Jemand hatte mit der Hand daraufgekritzelt:

THE PRANCING PIG PUB

CHIRP
GESUCHT

JUNG, SINGLE UND KONTAKTFREUDIG

BEWERBUNGEN BITTE AUSSCHLIESSLICH
VON WEIBLICHEN SHADES

VORSINGEN JEDEN SONNTAG

WENDEN SIE SICH AN BURLESQUE BANDSTAND

»Ein Chirp ist eine …«, setzte Professor Bole an.

»Ich weiß, was ein Chirp ist, Professor. Ein Chirp ist eine Jazzsängerin«, unterbrach ihn Ella kopfschüttelnd. »Jemine, Sie machen wohl Witze.«

»Lassen Sie mich erklären«, bemerkte der General leise. »Als wir die Demi-Monde bevölkerten, kam unser Professor auf einen großartigen Einfall. Wir würden Werbung für etwas machen, was hier undenkbar war: nämlich eine schwarze Jazzsängerin in einem Sektor, in dem nur weiße Fanatiker leben. Und eigens dafür entwickelte er einen Dupe.«

Der General nickte dem Professor zu, woraufhin sich das Bild auf dem Monitor erneut veränderte. Dieses Mal tauchte die Gestalt eines Dupes auf. Es war eine hochgewachsene junge Frau mit dunkelbrauner Haut, großen Augen und schlank. Sah man von der viktorianischen Kleidung und der Haube auf dem Kopf ab, hatte sie eine verblüffende Ähnlichkeit mit Ella. Es war, als hätte ABBA geradezu auf sie gewartet.

»Sie haben ja nicht alle Tassen im Schrank! Ich werde mich auf gar keinen Fall in diese Demi-Monde oder auch nur in die Nähe dieses verdammten Rassisten Reinhard Heydrich begeben, darauf können Sie Gift nehmen.«

Der General achtete gar nicht auf Ellas Einwände. »Wir brauchen unbedingt jemanden, der in der Lage ist, sich als Jazzsängerin auszugeben und in die Demi-Monde einzudringen, um Norma Williams zu befreien und sie heil und gesund in die Reale Welt zurückzubringen. Sie werden sich ja denken können, dass wir unter enormem Druck von Seiten des Präsidenten stehen, seine Tochter zu retten.«

»Sie gehen offensichtlich davon aus, dass ich dazu bereit bin, da aber sind Sie auf dem Holzweg. Sie haben sich die Falsche ausgesucht, General. Wenn Sie gestatten, werde ich das Angebot, das Sie mir soeben gemacht haben, noch einmal kurz zusammenfassen. Sie laden mich in eine Art Superrechner und senden mich in eine durch und durch abgefuckte Kriegszone, die von Vampiren bewohnt und von einem Haufen Psychopathen regiert wird, scheußlicher und schrecklicher als alles, was man sich vorstellen kann, die Schwarze wie mich hassen – entschuldigen Sie, bis aufs Blut HASSEN. Und obendrein erwarten Sie, dass ich herausfinde, wo sich die Tochter des Präsidenten befindet, sie befreie und mit ihr, weiß Gott wie, in die Reale Welt zurückfinde. Tja. Sollte mir aber dieses Kunststück nicht gelingen, habe ich beste Aussichten, den Rest meines Lebens an einer ihrer Melkmaschinen zu hängen und Blutspender zu spielen.« Ella tat so, als würde sie angestrengt darüber nachdenken. »Neee … ich glaube, ich passe.«

»Sie werden gehen müssen, Miss Thomas! Sie sind die Einzige, die sämtliche Auswahlkriterien erfüllt. Sie sind das perfekte Ebenbild unseres Maulwurfs. Sie sind intelligent, Sie sind kräftig und gesund genug, um die Strapazen der Demi-Monde zu überstehen, und Sie sind, laut Aussage des Captains, eine talentierte Jazzsängerin. Kurz und gut, Sie sind die ideale Besetzung. Sie müssen gehen!«

»Ideal hin, ideal her, ich gehe auf gar keinen Fall. Oder glauben Sie im Ernst, ich würde zulassen, dass Sie mich einem solchen Inbegriff des Rassismus aussetzen? Wenn diese Hundesöhne meinen schwarzen Hintern entdecken, ist meine Lebenserwartung nicht größer als die einer Fruchtfliege. Was ziehen die Leute in diesem ForthRight überhaupt an? Weiße Gewänder mit spitzen Hauben? Und haben sie auch so komische Namen wie Mr. Ku und Mrs. Klux?«

»Ihre Einstellung ist nicht gerade hilfreich, Miss Thomas.«

»Kann schon sein, trotzdem habe ich das sichere Gefühl, dass sie auf jeden Fall vernünftig ist.«

»Dürfte ich Sie daran erinnern, dass Sie im Augenblick so richtig in der Scheiße stecken, Miss Thomas?«

»Tja, da könnten Sie sogar recht haben, General, aber die Aussicht, den Rest meines Lebens als lebende Zapfsäule für Graf Dracula und seine Kumpel zu verbringen, ist noch viel beschissener.«

»Könnte ein Angebot von fünf Millionen Ihre Meinung ändern?«

Es konnte.