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Demi-Monde:
55. Tag im Winter des Jahres 1004
Das größte und vornehmste Ziel des UnFunDaMentalismus besteht darin, die völkische Reinheit der Arier (als direkte Nachfahren des UrVolks) wiederherzustellen, die sie während des Unterganges verloren haben, und sie vor der Verseuchung durch die UnterWesen zu bewahren. Während moderne eugenische Untersuchungen davon ausgehen, dass es möglich ist, innerhalb von zehn Generationen das arische Volk von der Verseuchung durch die UnterWesen zu läutern, wird es zudem notwendig sein, diese wohlüberlegten Aspekte der eugenischen Politik mit Vernichtungsstrategien zu verbinden, um die UnterWesen ein für alle Mal von der Welt zu tilgen. Diese Vernichtungspolitik habe ich als Endlösung bezeichnet.
– Reinhard Heydrich, Mein Kampf
Freie Presse des ForthRight
Es war schlimm genug, als sie die Nachricht bekamen, dass Kamerad Führer Heydrich die Dämonin höchstpersönlich befragen und das Verhör in Dashwood Manor stattfinden würde. Das allein hatte ausgereicht, um den Haushalt in Panik zu versetzen.
Der Nachtrag der Botschaft jedoch drohte Trixies Gouvernante Margaret den Verstand zu rauben. Die Meldung, dass Seine Heiligkeit Kamerad Crowley beabsichtigte, im Ballsaal von Dashwood Manor eine Séance abzuhalten, an der der Führer und weitere Granden des Reiches teilnehmen würden, war zu viel für die angegriffene Gesundheit der armen Frau, vor allem, weil »die Séance dazu dienen soll, der Dämonin ihre dunkelsten Geheimnisse zu entlocken, unter Zuhilfenahme entsprechender Zauber-und Beschwörungsformeln, um sie gefügig zu machen«.
Trixies Gouvernante wäre unter der Last der Verantwortung und angesichts der Vorstellung, dass Dashwood Manor als Veranstaltungsort für eine zweifelhafte WhoDoo-Sitzung dienen sollte, beinahe zusammengebrochen. Dass ihr Heim ein Medium und – wie man ihnen angekündigt hatte – eine Shade beherbergen sollte, war unerträglich. Als dann die ungehobelten Handwerker eintrafen, um im Ballsaal ein mysteriöses Gebilde zu errichten, das sie hounfo nannten, stand die Ärmste kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Aber nach einem Gespräch mit dem Hausherrn unter vier Augen und einem Glas zwanzigprozentiger Lösung kam sie wieder zur Vernunft, nahm sich zusammen und bemühte sich nach Kräften, Dashwood Manor auf die Ankunft des Führers vorzubereiten.
Unter der nervösen – und manchmal auch tränenreichen – Leitung der Gouvernante fegten und wischten, schrubbten und polierten die Diener das Haus, bis es makellos sauber war und nach Bienenwachs und geschäftigem Treiben duftete. Niemals zuvor war Dashwood Manor so sauber gewesen, hatten die Holzböden so trügerisch geglänzt. Für Trixie war das Bemerkenswerteste an diesem vorweggenommenen Frühjahrsputz, dass die Dienerschaft angewiesen wurde, sämtliche Spiegel im Saal und im Salon abzuhängen.
Ihrem Vater entging ihre Verwunderung nicht. »Der Führer hat eine Abneigung gegen Spiegel. Er kann einfach nicht hineinsehen«, versuchte er ihr zu erklären. Doch das weckte ihre Neugier nur noch mehr.
»Warum denn?«
Ihr Vater zuckte die Achseln. »Wer weiß? Der Führer ist anders als wir Normalsterbliche. Vielleicht will er nicht sehen, was aus ihm geworden ist«, setzte er leise hinzu. Bei diesem Gedanken hielt der Kommissar einen Augenblick inne, dann beugte er sich noch mehr zu seiner Tochter vor. »Und vor dem, was aus Reinhard Heydrich geworden ist, müssen wir uns in Acht nehmen. Als meine Tochter wirst du dem Führer vorgestellt werden, Trixie, aber ob er sich dazu herablässt, ein Wort mit dir zu wechseln, ist zu bezweifeln. Sollte er es tun, dann musst du wie eine brave Tochter des ForthRight antworten. Du darfst ihm niemals widersprechen und musst deinen berühmten Sarkasmus vergessen. Du bist noch jung, Trixie, aber deine Jugend wird dir kein Schutz sein. Wer die Worte oder Taten des Führers in Zweifel zieht, gilt als Verräter. Und wenn man als Frau den Endsieg des ForthRight über die anderen Völker der Demi-Monde in Frage stellt, ist man schnell als HerEtikalistin abgestempelt.« Er machte eine Pause, als ginge er in Gedanken eine Liste durch. »Kennst du deine UnFunDaMentalistischen Gebote? Gut möglich, dass Heydrich dir befiehlt, sie aufzusagen. Der Kerl ist ziemlich pingelig, wenn es um Parteidogmen geht.«
Trixie nickte.
»Sehr gut.« Ihr Vater legte ihr die Hand auf die Schulter. »Und lass dich ja nicht mit deinem Itakersklaven blicken. Heydrich hasst die Rassen aus dem Medi fast genauso wie die Shades und nuJus.«
Obwohl man ihnen gesagt hatte, dass der Führer erst gegen Abend eintreffen würde, fuhr Heydrichs Kavalkade schon kurz nach ein Uhr mittags vor: die Mercedes-Dampflimousine des Führers inmitten einer Phalanx aus gepanzerten Kastenwagen voller SS-Männer.
Hauptmann Dabrowski hatte seine Kompanie in einer Ehrenformation vor dem Haus aufgestellt, doch die vier schwarz uniformierten SS-Leute, die aus der Limousine stiegen und über den sauber geharkten Kieselsteinweg zum Tor von Dashwood Manor marschierten, würdigten seine Männer und ihn keines Blickes. Trixie kannte sie alle. Sie waren oft auf der Vorderseite des Stürmers abgebildet. Alles Helden der Revolution. Der Stellvertretende Führer Kamerad Beria, Seine Heiligkeit Kamerad Crowley und Standartenführer Clement. Und natürlich der Kamerad Führer höchstpersönlich.
Trixie war fürchterlich aufgeregt, dass sie dem Führer leibhaftig begegnen würde. Alle Mitglieder der RightNixes – der Jugendbewegung des ForthRight – träumten davon, ihm ein Mal im Leben von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.
Sie versuchte, sich zu beruhigen. Der Führer war so unerwartet aufgetaucht, dass ihr Vater und sie herbeieilen mussten, um ihre Ehrengäste zu begrüßen. Jetzt aber stand sie da mit ihrem Blumenstrauß, in einem zugegeben steifen und mit blauen Valknuts bestickten Dirndl, denn die Partei sah es nicht gern, wenn Frauen der dekadenten Mode aus Paris folgten. Trixie hasste diese Bauerntracht, aber die Gouvernante hatte darauf bestanden.
Ihr Vater salutierte mit dem Parteigruß, rief den Parteischwur und verbeugte sich. »Guten Tag, mein Führer. Sie erweisen meinem Haus eine große Ehre.«
»Wo ist Ihre Uniform, Dashwood?«, herrschte ihn Heydrich an und nahm dann den Garten kritisch unter die Lupe. Offensichtlich begutachtete er die Verteidigungsanlagen. »Bei öffentlichen Veranstaltungen verlange ich von den Mitgliedern meiner Regierung, dass sie Uniform tragen. Mit der Uniform setzen wir ein Zeichen: dass wir alle aus einem Guss gemacht sind. Das zeigt mir nur, dass Sie Ihre Individualität über den Willen des Führers und der Partei gestellt haben.« Er schlug mit einer Reitgerte, die er immer bei sich hatte, gegen seine blank polierten Stiefel. »Eines Tages werden alle Männer im ForthRight verpflichtet sein, Uniform zu tragen, als Zeichen dafür, dass ihre Identität ein Geschenk der Partei ist. Dass Individualismus und Freiheit des Denkens dekadent und überholt sind und die einzige Aufgabe im Leben darin besteht zu gehorchen.«
Kamerad Führer sprach sehr schnell, als müsste sein Mund mit seinen hastigen Gedanken Schritt halten. Trixie dachte noch darüber nach, was er gesagt hatte – versuchte, es sich einzuprägen, um in der Akademie davon berichten zu können –, da war er bereits zu einem anderen Thema übergegangen. »Ich bin gekommen, um die Dämonin zu befragen«, erklärte Heydrich plötzlich. »Haben Sie einen Raum, den ich dafür benutzen könnte?«
»Selbstverständlich, Kamerad Führer.«
»Dann schaffen Sie mir das Geschöpf dorthin.« Heydrichs Blick streifte Trixie. »Ist das Ihre Tochter, Dashwood? Das Mädel, das uns hilft, die Dämonin auszufragen?«
»Jawohl, Kamerad Führer. Darf ich Ihnen meine Tochter, Lady Trixiebell Dashwood vorstellen?«
Trixie verbeugte sich und zitierte das Mantra der RightNixes. »Eine Rasse bestimmt uns, eine Partei vereint uns, ein Führer befiehlt uns.« Dann hielt sie ihm den Blumenstrauß hin, bis einer der Lakaien des Führers ihn ihr abnahm.
»Bezaubernd«, murmelte der Führer und streckte Trixie die Hand entgegen. »Meinen Glückwunsch, Kamerad Kommissar, Sie haben eine vollkommene Blüte arischer Weiblichkeit gezeugt. Wenn ich so hübsche und rassisch reine junge Frauen sehe, glaube ich fest daran, dass das Blut des ForthRight bald von der Verseuchung durch die minderwertigen Rassen der UnterWesen gereinigt sein wird.« Er lächelte Trixie zu. »Vergessen Sie nie, dass ABBA den Frauen des ForthRight die göttliche Aufgabe erteilt hat, die rassischen Verunreinigungen auszumerzen, die das hochwertige Erbgut unserer Volksgemeinschaft schänden, Lady Trixiebell. Heiraten Sie jung und seien Sie fruchtbar.«
Während der Führer ihr die Hand reichte, hatte sie Zeit gehabt, sich ihn genauer anzusehen. Er war groß, gelenkig und hatte schmale Hüften. Die pechschwarze Uniform brachte seine schlanke Gestalt wunderbar zur Geltung. Das längliche Gesicht wurde von einer herrischen Nase und eng beieinanderstehenden, sehr hellen Augen beherrscht. Er war der Inbegriff eines arischen Mannes aus dem ForthRight.
Plötzlich kam Trixie ein lausbübischer, unpatriotischer und hochgefährlicher Gedanke. Vielleicht war er ja sogar eine Spur zu vollkommen. Vielleicht lag es an seinem allzu schlaffen Händedruck. Vielleicht auch an seiner tadellosen Uniform oder an den Augen, die weder Humor noch Menschlichkeit erkennen ließen. Jedenfalls kam es ihr vor, als hätte er etwas geradezu Puppenhaftes, als stünde sie vor einer Maschine ohne Gefühle und ohne Seele.
Trixie wurde aus ihrer Träumerei gerissen, als der Führer mit der Reitgerte gegen seine schwarzen Reitstiefel schlug. »Dann nichts wie an die Arbeit, Kamerad Kommissar, Müßiggang ist aller Laster Anfang. Wir dürfen die Zügel nicht schleifen lassen.«
Man führte Heydrich und seine Männer ins Haus. Trixie und ihr Vater trotteten hinter der Delegation des Führers her. Trixie konnte gerade noch sehen, wie der Führer im Arbeitszimmer ihres Vaters verschwand und Crowley, dem Clement dicht auf den Fersen folgte, in Richtung Ballsaal schritt, wahrscheinlich, um den Bau des Tempels für die abendliche Séance zu inspizieren. Kaum war die Tür des Arbeitszimmers ins Schloss geschnappt, da brüllte Beria bereits Befehle, die Dämonin herbeizuschaffen.
Fünf Minuten später eskortierten zwei von Clements SS-Männern sie aus ihrem Zimmer. Trixie beobachtete, wie sie die Treppen herunterkam, und wunderte sich über ihre scheinbare Sorglosigkeit. Sie grüßte sie im Vorbeigehen sogar mit einem heiteren »Hallo«.
Wusste das dumme Ding denn nicht, dass es gleich dem Führer gegenüberstehen würde?
Kaum war die Dämonin ins Arbeitszimmer geführt worden, schloss Beria die Tür und postierte zwei imposante SS-Wachen davor. Dann machte er Dashwood unmissverständlich klar, dass der Führer unter keinen Umständen gestört werden durfte, solange er sich mit der Dämonin unterhielt.
Der Haushalt von Dashwood Manor versank in angespannter Trägheit, bereit, jederzeit den Wünschen des Führers nachzukommen, obwohl sich niemand traute, irgendetwas zu unternehmen. Alle warteten. Trixie beschloss, zu ihrer Stickerei zurückzukehren, doch als sie halbwegs die Treppe zu ihrem Zimmer im ersten Stock hinaufgestiegen war, sah sie, wie Hauptmann Dabrowski sich in eins der Gästezimmer im ersten Stock stahl.
Merkwürdig …
Aber nicht halb so merkwürdig wie das, was sie entdeckte, als sie einen Blick durch das Schlüsselloch warf. Dabrowski kniete vor dem leeren Kamin und horchte anscheinend auf den Wind, der durch den Schacht blies. Sie drehte am Türknauf, doch zu ihrer Verwunderung hatte der Hauptmann die Tür von innen verriegelt. Verdutzt und einigermaßen gekränkt von solchen Possen klopfte sie an die Tür. Kurz darauf hörte sie, wie der Riegel zurückgeschoben wurde, und dann wurde die Tür aufgerissen. »Ja?«, fauchte Dabrowski sichtlich respektlos und ungeduldig.
»Was machen Sie da drin, Hauptmann?«, fragte Trixie laut und gebieterisch. »Ich weiß ja, dass Sie für die Sicherheit in diesem Haus zuständig sind, aber was ich gerade gesehen habe …«
Sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Dabrowski streckte den Arm aus, packte sie am Handgelenk und zerrte sie ins Zimmer. Trixie protestierte kurz, doch als sie den Revolver in seiner Hand sah und erkannte, das der Lauf auf sie gerichtet war, kam sie zu dem Schluss, dass schreien vielleicht keine gute Idee war.
»Seien Sie still, Miss Dashwood, sonst sehe ich mich gezwungen, Sie zum Schweigen zu bringen.« Er schob den Riegel wieder vor, zog anschließend ein Taschentuch aus der Tasche und stopfte es in das Schlüsselloch, um weitere Möchtegern-Voyeure abzuschrecken.
»Sind Sie wahnsinnig? Mein Vater …«
»Halten Sie den Mund, Miss Dashwood! Ich habe die von ABBA geschickte Möglichkeit herauszufinden, was dieser Hundesohn Heydrich …«
Hundesohn? Trixie zuckte bei dieser gefährlichen Beleidigung zusammen.
»… im Schilde führt. Wenn Sie still sind und tun, was ich sage, werde ich hier verschwinden, ohne Ihnen etwas anzutun. Sollten Sie aber versuchen, Alarm zu schlagen, muss ich Sie mundtot machen … und zwar für immer. Täuschen Sie sich nicht, es sind hoffnungslose Zeiten, und ich werde nicht zögern, ein Leben zu opfern, um Millionen andere zu retten. Haben Sie verstanden?«
Dabrowskis Blick überzeugte Trixie vom Ernst der Lage. Sie nickte.
»Sehr gut«, sagte der Hauptmann. »Dann setzen Sie sich bitte mit mir vor den Kamin. Ich glaube, dass wir zuhören können, wie Geschichte gemacht wird.«
»Wie bitte?«
»Der Kaminschacht auf dieser Seite des Hauses führt ins Arbeitszimmer Ihres Vaters. Wenn wir leise sind, können wir alles hören, was da unten gesagt wird.«
»Sie können doch den Führer nicht belauschen«, wandte Trixie ein.
Und ob sie das konnten.
»Guten Tag, Miss Williams. Nehmen Sie bitte Platz.«
Einen Augenblick blieb Norma unsicher an der Tür des abgedunkelten Zimmers stehen. Niemand hatte ihr gesagt, wen sie treffen würde, doch aus der Panik, die das ganze Haus erfasst hatte, schloss sie, dass es ein hohes Tier sein musste. Sie ging auf den Schreitisch zu und setzte sich in den Ledersessel, den man ihr angeboten hatte. Und jetzt, aus der Nähe, erkannte sie, wer ihr Gastgeber war.
O Gott.
»Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen …«
»Ich weiß, wer Sie sind. Sie sind Reinhard Heydrich. Ich habe von Ihnen gelesen.«
»Freut mich, dass die Verdienste meines Vorgängers in der Realen Welt nach meinem Tod immer noch so viel Resonanz finden. Wäre ja schrecklich, wenn die eigenen Anstrengungen ohne Wirkung auf die Geschichte geblieben wären.«
»O ja, die Menschheit hat Sie in Erinnerung behalten. Sie erinnert sich an Sie als den bösesten und abscheulichsten Mann, der je gelebt hat, als den Urheber des größten Verbrechens, das je gegen die Menschlichkeit verübt wurde, als den Mann, der den Genozid industrialisierte. O ja, die Geschichte hat Sie in Erinnerung behalten, Heydrich, als wahnsinnigen, psychotischen Massenmörder.« Dann überfiel sie ein beunruhigender Gedanke. »Aber woher wissen Sie eigentlich, dass Sie einen Doppelgänger haben?«
Heydrich grinste selbstgefällig. »Alles mit der Ruhe, Miss Williams, alles mit der Ruhe.« Er nahm eine Zigarette aus dem silbernen Etui, das auf Dashwoods Schreibtisch lag, klopfte sie gedankenverloren gegen seinen Daumennagel und steckte sie mit einem goldenen Feuerzeug an, das er aus der Brusttasche seiner Uniform zauberte. Mehrere Sekunden lang rauchte er schweigend, als dächte er darüber nach, was er als Nächstes sagen wollte. Schließlich wandte er die Aufmerksamkeit wieder seinem Gast zu. »Ich bin hier, weil ich Sie persönlich sprechen wollte. Sie sind eine bemerkenswerte junge Frau, Miss Williams, wirklich einzigartig. Sie sind der erste Dämon, den wir aus der Realen Welt in die Demi-Monde schaffen konnten. Alle anderen kamen, um ihre schmutzigen kleinen Kriegsspielchen zu spielen, aber Sie sind anders. Sie wurden hierhergebracht, um eine wichtige Rolle in einem unserer eigenen Spielchen zu übernehmen.« Er blies eine Rauchwolke an die Decke. »Sie, Miss Williams, sind unsere Hoffnung auf die Zukunft.«
Die Art, wie er den letzten Satz betonte, erschreckte Norma. Warum wusste sie nicht. Doch sie hatte den Eindruck, als würde sich Heydrich hinter vorgehaltener Hand über sie lustig machen, weil er etwas wusste, was ihr nicht bekannt war. Während er so dasaß, an seiner Zigarette zog und Kaffee trank, hatte sie das Gefühl, dass er mit ihr Katz und Maus spielte.
»Und welche Zukunft soll das sein?«
»Eine, in der sich die Vergangenheit wiederholt, allerdings so, dass Fehler und Fehlurteile der Geschichte korrigiert werden und das, was hätte sein sollen … wahr wird. Eine Zukunft, die so umgeformt und umgemodelt wird, dass sie Adolf Hitlers Vision eines arischen Paradieses auf Erden entspricht.«
»Adolf Hitler?« Norma gab sich Mühe, so beiläufig wie möglich zu klingen, obwohl sie in Wahrheit sehr beunruhigt war, denn hier sprach ein Dupe von einer Person, die ihres Wissens nach in der Demi-Monde gar nicht neu erschaffen worden war.
»Ich bitte Sie, Miss Williams, tun Sie nicht so scheu oder naiv. Wir beide wissen, wer Adolf Hitler ist. Wir müssen uns nicht länger verstellen.« Er zog lange und genüsslich an seiner Zigarette. »Vielleicht fragen Sie sich, ob ich nur vortäusche, dass ich vom Führer weiß und sozusagen auf Angeltour bin, wie Yanks wie Sie so bilderreich zu sagen pflegen. Vielleicht glauben Sie, dass mir einer der anderen Dämonen, die wir gefangen und befragt haben, versehentlich einen Wink gegeben hat. Da würden Sie sich täuschen. Ich war mit dem Führer aufs Engste vertraut und hatte die Ehre, ihm zu dienen, zuletzt als Reichsprotektor für Böhmen und Mären. Mein Leben in der Realen Welt wurde in der Tschechoslowakei abrupt unterbrochen. O ja, ich kannte Adolf Hitler. Er war ein großer Mann, wenn auch emotional ein bisschen verklemmt.«
»Hitler war kein großer Mann, sondern ein Ungeheuer. Er war ein Wahnsinniger. Ein Irrer und ein Mörder.«
Heydrich durchbohrte Norma mit seinem stechenden Blick. »Ich bin es nicht gewohnt, dass man mir widerspricht, Miss Williams, am allerwenigsten eine Kreatur, der die intellektuellen Fähigkeiten abgehen, um die Lehren des Führers in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen.«
Nun war es an Norma, innezuhalten und nachzudenken, sich vielleicht zu fragen, ob dieser Dupe, der vor ihr saß, tatsächlich keine Ahnung hatte, wie sein »echtes Ich« gewesen war, als es noch lebte. Aber das war wirklich unmöglich, sagte sie sich dann. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte man ABBA ausdrücklich und unveränderbar so programmiert, dass kein Dupe in der Demi-Monde sich daran erinnern könnte, wer er, oder – im Fall der Vor-Gelebten Singularitäten – was er in der Realen Welt gewesen war.
Plötzlich kam ihr ein mulmiger Gedanke. Sie selbst war ein Dupe und konnte sich daran erinnern, was sie in der Realen Welt gewesen war. All das war höchst verwirrend und sehr sehr beunruhigend.
Norma beschloss, cool zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen. »Na schön, Sie kennen Adolf Hitler. Großartig. Und Sie sind der Meinung, dass dieser Irre das Größte seit der Erfindung des Rads war. Die Frage ist nur: Wen interessiert das?«
»Eine gute Frage, Miss Williams, eine sehr gute Frage. Und aus der verächtlichen Art, mit der Sie sie stellen, entnehme ich, dass Sie meine Talente nicht gerade schätzen. Wäre ich ein gewöhnlicher Mensch mit gewöhnlichen Eigenschaften und gewöhnlichen Ambitionen, wäre die Antwort auf Ihre Frage: ›niemanden‹. Kein Hahn würde danach krähen, ob ich Kenntnisse über die Reale Welt besitze, die den Bewohnern der Demi-Monde verwehrt sind. Doch ich bin kein gewöhnlicher Mensch, Miss Williams. Ich bin einer jener Übermenschen, die berufen sind, die Welt zu beherrschen. Ich bin ein Messias, der geschickt wurde, um die Vorherrschaft der Herrenrasse – der arischen Rasse – wiederherzustellen und die Welt von der Durchseuchung der minderwertigen Rassen zu läutern. Das Schicksal hat mich dazu auserkoren, die Endlösung durchzusetzen. Und als Übermensch bin ich eine Laune der Natur, Miss Williams. Ich verweise nicht nur auf mein Genie und meine Führungsqualitäten, sondern auch auf die Tatsache, dass ich der Einzige in der Demi-Monde bin, der die Leistungen des Originals kennt, dem ich nachempfunden wurde. Ich erinnere mich daran, wer und was ich war.«
Norma war alarmiert. Es war einfach, die Bewohner der Demi-Monde als ein Hirngespinst von ABBAs Quantenvorstellung abzutun, aber ganz was anderes, wenn die Hundesöhne einem plötzlich eröffneten, sie könnten sich an ihre frühere Existenz in der Realen Welt erinnern. Dass Reinhard Heydrichs Doppelgänger irgendwie über alles im Bilde zu sein schien, machte ihr Angst. Dieser Dreckskerl war schon schlimm genug, wenn sein böswilliges teuflisches Wirken auf die Demi-Monde begrenzt blieb, sollte es aber plötzlich so aussehen, als reichte sein Arm bis in die Reale Welt, dann …
»Woher wissen Sie das alles?«
Heydrich winkte lässig ab. »Wen interessiert das schon? Vielleicht ist meine Persönlichkeit – meine Willenskraft – einfach zu stark für ABBA.«
ABBA? Der Hund wusste über ABBA Bescheid?
»ABBA?«, wiederholte sie. Vielleicht sprach Heydrich ja nur über den Gott der Demi-Monde und nicht über den Computer, auf dem diese Simulation lief, in der sie gefangen war.
Heydrich schnippte die Asche seiner Zigarette achtlos auf den Teppich. »Stellen Sie sich nicht dumm, Miss Williams. ABBA ist eine leistungsstarke Differenzmaschine, die die Demi-Monde als Spielplatz entwickelt und erschaffen hat, damit das amerikanische Militär seine Soldaten ausbilden und seine lächerlichen Theorien über urbane Kriegsführung testen kann.«
Lieber Himmel!
»Na schön. Wenn Sie also über ABBA Bescheid wissen, dann müssten Sie auch wissen, dass Sie nur ein Programmierfehler sind, ein Geist in der Maschine. Was ist das für ein Gefühl, Heydrich, nicht mehr als der feuchte Traum eines Programmierers zu sein? Wie fühlt es sich an, wenn man mit einem einzigen Mausklick gelöscht werden kann?«
Heydrich zuckte die Achseln. »Ich fühle mich in der Demi-Monde genauso wie früher in der Realen Welt, es gibt keinen Unterschied. Cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich. In beiden Realitäten hängt mein Dasein von einer Laune des Schicksals ab. Was macht es da schon für einen Unterschied, ob ich durch die Kugel eines tschechoslowakischen Terroristen oder die Laune eines Programmierers umkomme? In beiden Fällen wäre ich mausetot. Aber hier in der Demi-Monde bin ich eigentlich quicklebendig.« Er kicherte in sich hinein. »Und das bringt mich auf meine ursprüngliche Frage zurück: Wen interessiert das schon?«
Norma lächelte ihn sorglos an, als hätte das, was er sagte, wenig Gewicht. Auf keinen Fall sollte dieser Wahnsinnige merken, wie sehr er sie aus der Fassung gebracht hatte.
»Ihr Problem ist, dass Sie nicht verstehen können, wie es sich anfühlt, die Macht zu kosten und sie dann mit einem Mal zu verlieren, Miss Williams. Ich sitze hier und quäle mich mit dem Gedanken, was wäre gewesen, wenn? Wenn mich die tschechoslowakischen Terroristen nicht umgebracht hätten? Wenn ich noch da gewesen wäre, um die Zügel der Macht in die Hand zu nehmen, als Hitler schwach wurde und seine Willenskraft einbüßte? Wenn ich der Führer geworden wäre?«
»Man hätte Sie wie all die anderen Naziverbrecher in Nürnberg aufgeknüpft, das wäre gewesen.«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.«
»Pech für Sie, Heydrich.«
»Sie werden mich gefälligst mit meinem Titel ansprechen.«
»Sie können mich mal.«
Eine Zeitlang herrschte gespannte Stille, während sich beide in die Augen sahen. Schließlich brach Heydrich das Schweigen. »Von mir aus. Nennen Sie mich, wie Sie wollen. Wir sind allein.«
»Na schön, dann will ich Ihnen sagen, was Sie sind. Eine computergesteuerte Schimäre. Ein Nichts. Ein digitales Hirngespinst. Und deshalb können Sie all Ihre psychotischen ›Was wäre wenn-Szenarien‹ nur hier in der Demi-Monde durchspielen. Genießen Sie es, solange es noch geht, denn eines Tages wird jemand in der Realen Welt den Stecker rausziehen, und Ihre miese kleine Welt wird einfach verschwinden.«
Heydrich lachte höhnisch. »Wie rührend! Glauben Sie wirklich, dass ein Mensch mit meiner Willenskraft, meinem Genie und meinem Ehrgeiz sich damit zufriedengeben würde, in einem … Nichts wie diesem eingesperrt zu sein? Meinen Sie wirklich, dass ich mich damit abfinden könnte, mein Leben – mein zweites Leben – in einer Welt zu verbringen, die nur ein digitaler Sandkasten ist, um zum Vergnügen von ein paar Salongenerälen inkompetente Militärs auszubilden?« Er schüttelte den Kopf. »Niemals. Wer einmal Filet gekostet hat, gibt sich nicht mehr mit Hackfleisch zufrieden.«
»Sie kapieren aber auch gar nichts, Heydrich. Ich will es Ihnen noch einmal klipp und klar sagen: Sie sind nicht wirklich.«
»Wenn ich mehr Zeit und Geduld hätte, Miss Williams, wäre es vielleicht interessant, sich darüber zu unterhalten, wie man ein empfindsames Wesen, das ich zweifellos bin, als nicht wirklich bezeichnen kann. Doch leider drängt die Zeit, und das Wichtige hat Vorrang vor dem Interessanten. Wir sprachen von Adolf Hitler. Für Hitler bestand das Hauptziel der deutschen Außenpolitik darin, neuen Lebensraum für das deutsche Volk zu erobern. Das waren die Hauptgründe für seinen Einmarsch in der Tschechoslowakei und in Polen. Während meines Aufenthaltes hier in der Demi-Monde hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, und glaube, dass der Führer sich in diesem Fall geirrt hat. Meiner Meinung nach hat die Außenpolitik einer Nation nichts mit den Bedürfnissen des Volkes zu tun. Sie muss eher so konzipiert sein, dass ein Volk die Möglichkeit erhält, mit der Größe, dem Genie und der Kraft seines Führers Schritt zu halten. Nationen gedeihen und vergehen, wachsen und schrumpfen nicht aufgrund der Bedürfnisse ihrer Völker oder des politischen oder wirtschaftlichen Erfolgs einer Nation, sondern im Verhältnis zum Ehrgeiz desjenigen, der sie anführt.«
»Hören Sie, Heydrich, so faszinierend das alles ist und so gern ich den ganzen Tag mit Ihnen plaudern würde …«
Heydrich ignorierte sie. »Ich will ganz ehrlich mit Ihnen sein, Miss Williams. Ich habe vor, die Reale Welt zu erobern.«
Norma brach in schallendes Gelächter aus. »Ich glaube, dass Ihr Ehrgeiz mit Ihnen durchgeht. Sie wollen wohl den zweiten vor dem ersten Schritt machen, wie? Noch haben Sie nicht einmal die Demi-Monde unter Ihre Herrschaft gebracht.«
»Das ist nur eine Frage der Zeit. Die Zerstörung der Demi-Monde ist eine historische Zwangsläufigkeit. Ich habe das Unternehmen Barbarossa bereits eingeleitet.«
»Schon wieder Pech für Sie. Unternehmen Barbarossa war der Überfall auf die Sowjetunion, der in der Realen Welt letztendlich zu Hitlers Untergang führte.«
Heydrich lachte spöttisch. »In dieser Welt wird es einen solchen Untergang nicht geben. Ich werde die Demi-Monde bald erobert haben und sie verändern.«
»Verändern?«
»Ja, nach meinem Gusto neu entwerfen. Ich werde die Endlösung einleiten und alle UnterWesen von dieser Welt vertreiben. In diesem Mikrokosmos, den die Demi-Monde darstellt, werde ich meine Welt des Übermenschen – des Superman – errichten, und der wird wiederum die Reale Welt erobern. Das ist meine Aufgabe hier in der Demi-Monde: für Rassenhygiene zu sorgen.«
»Ihr Nazis habt das schon einmal versucht und seid dabei gründlich gescheitert.«
»Nein, nicht wir sind gescheitert, sondern der Führer hat uns im Stich gelassen. Letztendlich hat er sich als Schwächling erwiesen. Er war ein falscher Messias. Ich aber bin kein Schwächling, Miss Williams. Im Übrigen habe ich aus dem Scheitern des Führers gelernt. Ich werde eine perfekte arische Welt aus der Demi-Monde machen. Sämtliche minderwertigen Rassen – nuJus, Polen, Shades, Asiaten und Araber – werden ausgemerzt werden.«
»Ausgemerzt?«
»Ja, eliminiert. Kurz und schmerzlos, innerhalb von wenigen Tagen. Unternehmen Barbarossa beginnt hier im ForthRight. Die nuJus und Polen – Abschaum des ForthRight – habe ich bereits ins Warschauer Ghetto deportieren lassen. Ich muss nur noch den verrückten Archie Clement und seinen SS-Ordo Templi Aryanis auf sie loslassen. Sie werden alle dort zusammengepferchten UnterWesen eliminieren. Clement wird mein Eichmann sein.«
»Sie wollen Ihre eigenen Leute umbringen?«
»Nein. Ich werde die rassisch Minderwertigen und Degenerierten umbringen. Nur die Starken dürfen überleben, damit diejenigen, die nach ihnen kommen, umso stärker werden.«
»Warum hassen Sie die Polen eigentlich so?«
»Es ist ein Instinkt, in ihm zeigt sich der überlieferte Hass des Teutonen auf die Polen. Von allen Völkern der Welt – dieser und der Realen Welt – ist das polnische das minderwertigste. Der Pole stellt die niedrigste Stufe des Homo Sapiens dar, er kommt gleich nach den Juden und Schwarzen. Eine so wertlose Kreatur zu eliminieren ist nichts weiter als Ausdruck der darwinistischen Lehre, derzufolge nur die Stärksten überleben. Polen, nuJus und Shades sind es nicht wert, diese – oder irgendeine andere Welt – mit dem arischen Volk zu teilen, von daher ist es nur logisch und angebracht, sie auszumerzen.«
»Wissen Sie was, Heydrich? Sie sind völlig wahnsinnig.«
»Nicht wahnsinnig, Miss Williams, ich habe bloß die Gabe, Naturgesetze zu erkennen, und die Willenskraft, diese Erkenntnisse umzusetzen. Man erinnert sich an große Männer wie Dschingis Khan, Tamerlan und Alexander nicht wegen der Millionen von Menschen, die sie abschlachteten, sondern wegen ihrer grandiosen Ambitionen. Die Auslöschung von drei Millionen dummer, wertloser Polen und nuJus, die im Warschauer Ghetto hocken, wird in fünfzig Jahren höchstens eine Fußnote in der Geschichte der Demi-Monde bilden. Und wenn wir mit den Polen fertig sind, sind die degenerierten und perversen LessBiens in Coven an der Reihe.«
»Aber mit welchem Ziel? Wozu all das Leid, wenn Sie und Ihre Übermenschen weiter hier in der Demi-Monde festsitzen? Sie wären trotzdem nur ein Dupe wie alle anderen in der Demi-Monde auch!«
Heydrich lachte höhnisch. »Es wird Zeit, dass Sie eine Freundin treffen, besser gesagt wiedertreffen, Miss Williams.«
Heydrich ergriff eine kleine Glocke, die auf Dashwoods Schreibtisch lag, und klingelte. Im nächsten Augenblick trat Beria in Begleitung einer Frau ins Zimmer. Sie verbarg ihre Identität unter einem dichten Schleier, der von der Haube über das Gesicht bis zu den Schultern reichte.
Nachdem Beria unter mehreren Verbeugungen den Raum verlassen hatte, machte Heydrich die beiden miteinander bekannt. »Miss Williams, ich habe die große Ehre, Sie mit meiner Tochter Aaliz bekannt zu machen.« Das Mädchen zog den Schleier zurück, und Norma erblickte plötzlich … sich selbst.
Sie musste zwei Mal hinsehen. Zu ihrer Verwunderung war Aaliz Heydrich ein perfekter Zwilling, eine genaue Doppelgängerin ihrer selbst, und die Ähnlichkeit beschränkte sich nicht nur auf ihren Körper. Mit Ausnahme der Haarfarbe, der fehlenden Body-Piercings und Tätowierungen war dieses Mädchen Norma. Jede Geste, jede Reaktion und jede Regung des Gesichts entsprachen dem, was Norma morgens in ihrem Badezimmerspiegel sah.
Am beunruhigendsten war jedoch die Tatsache, dass sie dieser Aaliz Heydrich in der Realen Welt schon einmal begegnet war. Aaliz Heydrich war die Frau in dem Laden gewesen, die Norma dazu überredet hatte, das Demi-Monde-Computerspiel zu spielen.
Und das Tragische daran war, dass Norma sie nicht erkannt hatte … sie hatte sich selbst nicht erkannt. O ja, sie hatte instinktiv geahnt, dass irgendetwas mit der jungen Frau nicht stimmte, aber sie war so geschickt verkleidet gewesen, dass Norma nicht gemerkt hatte, dass sie mit sich selbst sprach und sich selbst ansah. Was für ein Trottel sie doch gewesen war!
»Du bist die Verkäuferin aus dem Laden.«
Als Aaliz Heydrich antwortete, klang ihre Stimme genauso wie die von Norma, ihr schwerer New Yorker Akzent aus der Realen Welt war gänzlich verschwunden. »Ja, erstaunlich, was man alles aus sich machen kann. Man braucht nur einen neuen Haarschnitt, eine neue Haarfarbe und ein bisschen Make-up, nicht, Norma?«
Als Heydrich Normas Verwirrung sah, kicherte er. »Scheint so, als hätten die Programmierer der Demi-Monde einen ausgesprochen morbiden Sinn von Humor gehabt, Miss Williams. Als Vorbild für die digitale Doppelgängerin meiner Tochter haben sie sich ausgerechnet die älteste Tochter des Präsidenten der Vereinigten Staaten ausgesucht. Ein äußerst glücklicher Zufall, der einem Mann mit meinem Ehrgeiz große Möglichkeiten eröffnet, Miss Williams.«
Heydrich bedeutete seiner Tochter, Platz zu nehmen, und steckte sich eine neue Zigarette an. Na, hoffentlich raucht sich der Mistkerl bald zu Tode, dachte Norma. Da Bewohner der Demi-Monde keine Lungen hatten, war die Wahrscheinlichkeit, an Lungenkrebs zu erkranken, allerdings gleich null.
»Aleister Crowley ist schon lange der Ansicht, dass die Demi-Monde von der Spirituellen Welt oder der Realen Welt, wenn Sie so wollen, manipuliert wird. Obwohl Crowley dies durch die Magie beweisen will, hat er im Grunde genommen recht. Sie, die Bewohner der Realen Welt, sind Crowleys Geister, Miss Williams, und wir wissen, wie viel Spaß sie daran haben, uns arme Demi-Mondianer zu quälen. Doch es gab etwas, was den Horizont der Demi-Monde-Schöpfer offenbar überstieg: ein Gespür für die psychischen Bande zwischen den Dupes der Demi-Monde und ihren Zwillingen in der Realen Welt. Crowley hingegen erkannte sie und benutzte seine okkulten Kräfte, um die Psyche der Demi-Mondianer mit denen der Realen Welt zu verschmelzen.«
»Entschuldigen Sie, aber Crowley ist nicht ganz dicht.«
»Zu Ihrem Pech ist es Crowley gelungen, die Kluft zwischen der Demi-Monde und der Realen Welt zu überwinden, Miss Williams. Allein Ihre Anwesenheit hier ist der Beweis dafür. Zugegeben, der Ausflug meiner Tochter in Ihre Welt war sein bislang erster und einziger erfolgreicher Versuch, einen Bewohner der Demi-Monde in die Reale Welt zu verpflanzen. Und obwohl uns das Experiment gewisse Grenzen aufzeigte, verschaffte es uns doch die Möglichkeit, Sie hier in die Demi-Monde zu locken.«
»Warum?«
»Anfänglich, um Ihre Meister davon abzuhalten, die Demi-Monde zu zerstören. Als ich die Macht im ForthRight ergriff, bestand meine dringlichste Aufgabe darin, die Demi-Monde von der Bedrohung zu befreien, die Sie so stilsicher mit ›den Stecker ziehen‹ umschrieben haben. Um das zu bewerkstelligen, musste ich eine Geisel nehmen, die so wichtig war, dass die Bewohner der Realen Welt daran gehindert würden, die Demi-Monde auszuknipsen. Diese Geisel sind Sie, Miss Williams. Nachdem ich das erreicht hatte, entdeckte ich weitere Möglichkeiten, die uns Ihr Besuch eröffnete.«
»Andere Möglichkeiten?«
»In der Tat. Ich hatte sozusagen eine Eingebung.« Heydrich lächelte triumphierend. »Alle Bewohner der Demi-Monde sind exakte Nachbildungen von Menschen aus der Realen Welt, und das heißt, dass nicht nur die Menschen in der Realen Welt Doppelgänger in der Demi-Monde haben, sondern auch die Bewohner der Demi-Monde Doppelgänger in der Realen Welt. Eine Art digitale Gegenleistung, wenn man so will. Ich fragte mich, ob wir diesen Prozess nicht umkehren könnten. Statt dass ihr, die Bewohner der Realen Welt, in eurer Arroganz den Bewohnern der Demi-Monde eure Persönlichkeit aufzwingt, könnten wir, die Bewohner der Demi-Monde, dasselbe bei unseren Doppelgängern in der Realen Welt versuchen.«
Norma riss die Augen auf. Eine schreckliche, geradezu gruselige Vorstellung dämmerte ihr. »Sie wollen mich gegen Ihre Tochter auswechseln!«
»Sie haben es erfasst«, bemerkte Heydrich ungeniert. »Aaliz ist so etwas wie mein Trojanisches Pferd. Zwar ist noch nicht erwiesen, dass dieser Übertragungsritus, wie Crowley ihn so melodramatisch nennt, auch tatsächlich funktioniert, aber er ist äußerst zuversichtlich, dass es prinzipiell machbar ist. Wir Demi-Mondianer haben vielleicht nicht dieselbe fachliche Kompetenz wie Sie aus der Realen Welt, wenn es darum geht, das digitale Universum zu manipulieren, dafür sind wir sehr geschickt im Umgang mit dem spiritistischen. Wenn Aaliz erst in der Realen Welt ist – als Tochter des mächtigsten Mannes auf der Erde –, wird sie in der Lage sein, sich sehr effektiv für den Erhalt der Demi-Monde einzusetzen … unter anderem.«
»Ich glaube, dass Sie meine Einflussmöglichkeiten überschätzen.«
Jetzt lachte Aaliz. »Und ich glaube, dass du mich unterschätzt. Ich bin die Tochter meines Vaters, Norma. Während du deine Intelligenz und deine Zeit damit verschwendest, dir das Image einer Kämpferin gegen das Establishment zu geben, und dich in Selbstmitleid und Selbsthass erschöpfst, habe ich meine Kraft darauf verwendet, diese Welt zu gestalten. Hier in der Demi-Monde leite ich die Jugendbewegung der Partei: RightNix.«
»Wie toll für dich! Ich bin seit zehn Jahren keine Pfadfinderin mehr.«
»Sehr blöd von dir. Die Arbeit der RightNix ist lebenswichtig, um die Ansichten und Überzeugungen der Jugend des ForthRight zu formen. Ich bin überzeugt, dass die Kinder von heute die Parteimitglieder von morgen sind. Als Leiterin der RightNix bin ich dafür zuständig, den jungen Menschen des ForthRight einzuschärfen, dass sie zu bedingungslosem Gehorsam gegenüber dem Führer verpflichtet sind, wenn sie wahre Arier sein wollen. Die Heranwachsenden sollen wissen, dass sie zu Vaterlandsverrätern werden, wenn sie die Lehren des UnFunDaMentalismus verletzen, so wie sie in den nuGeboten verzeichnet sind. Sie lernen, dass die Starken die Schwachen zu führen haben und die arische Rasse eine Herrenrasse ist. Sobald meine Zöglinge erwachsen sind, werden sie keine Gnade mit den Feinden des ForthRight kennen. Wer immer dem ForthRight im Weg steht, wird vernichtet.« Aaliz beugte sich hinüber und ergriff Heydrichs Hand. »Mein Vater war mir ein guter Lehrer. Und ich glaube, dass dein Vater, Norma, entzückt sein wird, wenn seine Tochter plötzlich eine aktivere und engagiertere Rolle bei der Gestaltung Amerikas übernimmt. Er muss deinen Egoismus und deine ewige Nabelschau gründlich satthaben. Eine Emo als Tochter zu haben zahlt sich an den Wahlurnen nicht gerade aus, erst recht nicht jetzt, da dein Vater um die Stimmen im konservativen Mittelwesten kämpfen muss.«
Ein wahrer Albtraum. Schlimm genug, dass Norma in der Demi-Monde festsaß, aber eine Doppelgängerin zu haben, die davon sprach, ihren Körper – ihre ganze Existenz – zu übernehmen, war einfach grauenhaft.
»So ein Kunststück bringst du gar nicht fertig. Du kannst so aussehen wie ich, und du kannst auch so sprechen wie ich, aber du hast keine Ahnung von mir und meinem Leben. Das ist unmöglich. Du weißt nichts von der Realen Welt, abgesehen von dem, was du an der Kasse einer Kleiderboutique gelernt hast. Man wird dich sofort als Schwindlerin enttarnen.«
Heydrich warf Norma ein schräges Lächeln zu. »Leider ist an dem, was Sie sagen, etwas dran, Miss Williams. Selbst wenn man so intelligent und gewissenhaft ist wie Aaliz, wird man es schwer haben, so aufzutreten, dass man nicht zumindest Misstrauen erregt. Aus diesem Grund haben wir Sie hier auf Dashwood Manor gefangen gehalten, in der Hoffnung, die Tochter unseres verehrten Kamerad Kommissars könnte Sie dazu bringen, uns etwas über Ihr Leben in der Realen Welt zu erzählen.«
Er hielt inne und zog an seiner Zigarette. »Leider kam Lady Trixiebell gegen Ihre Halsstarrigkeit nicht an, was mich allerdings nicht überrascht. Kamerad Kommissar Dashwood ist ein reaktionärer Königstreuer und somit ein Volksfeind, und was seine Tochter angeht …« Heydrich lachte. »Sie ist nur eine eingebildete dumme Gans. Beide gehören verhaftet und erschossen. Sobald wir diese abendliche Séance beendet haben, werde ich Beria damit beauftragen, die Dashwoods auszulöschen. Es wird ihm ein Vergnügen sein. Trixie Dashwood ist ein hübsches kleines Ding.«
Heydrich drückte seine Zigarette aus. »Zum Glück hat uns das Schicksal andere, ungefährlichere Wege eröffnet, wie wir an Ihre Erinnerungen herankommen können. Crowley hat eine äußerst mächtige Seherin ausgemacht, die bis in die entlegensten Winkel Ihrer Psyche einzudringen vermag. Heute Nacht werden wir Sie aussaugen, Miss Williams.« Er warf einen Blick auf die Standuhr in der Ecke. »Liebe Güte, schon so spät! Ich habe anderes, worum ich mich kümmern muss. Sie, Miss Williams, werden den Nachmittag mit Aaliz verbringen, damit Sie beide sich ein wenig besser kennen lernen. Schließlich werden Sie bald unzertrennlich sein.«