20
Wach auf, Sarah!«
Die Stimme kannte ich.
Ich schlug langsam und widerwillig die Augen auf. Es war nicht besonders angenehm, aus der Bewusstlosigkeit eines Knoblauchpfeils zu erwachen. Es war wie ein Kater, man hatte höllische Kopfschmerzen und fühlte sich insgesamt unwohl.
Ich blinzelte ein paarmal, bis sich in meinem Blickfeld ein hübsches Gesicht abzeichnete. Kurze blonde Haare. Und eine hübsche rote Bluse, die sie erst kürzlich bei Banana Republic erstanden hatte.
»Amy.« Ich setzte mich auf.
»Heiliger Strohsack!« Sie grinste mich an. »Ich dachte, du würdest nie mehr aufwachen.«
Ich blinzelte noch ein paarmal. »Wo zum Teufel sind wir?«
»Keine Ahnung.«
Ich sah mich um. Wir waren irgendwo im Dunkeln. Es brannten ein paar Kerzen, aber abgesehen davon gab es kein Licht. Es roch feucht und moderig – abgesehen von Amys nach Erdbeeren duftendem Parfum.
Ich sah zu ihr und suchte nach irgendwelchen Anzeichen, dass sie misshandelt worden war. »Bist du in Ordnung?«
»Abgesehen davon, dass ich etwas klaustrophobisch bin, ist alles bestens. Wie geht es Barry?«
»Er macht sich Sorgen.«
Sie winkte ab. »Das muss er nicht. Gideon ist wirklich nett, nicht? Sehr höflich.« Ihr Grinsen wurde breiter. »Und ich glaube ja, dass er ein klitzekleines bisschen in jemand verliebt ist, den ich kenne.« Sie stupste gegen meine Schulter. »Ich meine dich! Es ist wie bei Romeo und Julia. Nur mit ein bisschen mehr Blut.«
Ich blinzelte sie an. »Hast du LSD genommen?«
»Nein.«
»Eimerweise Mondschein getrunken?«
»Auch nicht.«
Mir fiel ein, was sie mir heute Morgen am Telefon erzählt hatte. »Gideon hat dir Drogen gegeben, damit du ruhig bist.«
»Oh, absolut.« Sie lächelte schief. »Normalerweise habe ich etwas gegen Nadeln, aber diese sind okay. Es ist alles gut, Sarah. Es gibt überhaupt kein Problem. Das Leben ist schön und lustig, und alles wird gut.«
Ein Beruhigungsmittel. Großartig. Ich hatte schon erlebt, wie es war, wenn Amy ausrastete. Das letzte Mal, als sie herausgefunden hatte, dass ihre beste Freundin ein Vampir war. Sie war schreiend vor mir davongelaufen. Aber derzeit war sie überhaupt nicht in der Stimmung auszurasten. Sie wirkte, als wäre sie im Urlaub. Irgendwo, wo es ganz entspannend war.
»Gideon sieht wirklich gut aus«, schwärmte sie. »Mit oder ohne Narben.«
»Gideon ist böse.«
Sie lächelte. »Er hat diese Narben, weil er gegen einen Dämon gekämpft hat, Sarah. Einen Dämon. Das ist ein erstklassiger romantischer Held – kein schlechter Kerl. Kann man ein Buch nach seinem Umschlag beurteilen? Ich weiß nicht. Was ist überhaupt böse? Werden wir so geboren, oder werden wir es durch unsere Handlungen? Es ist so toll, über diese Dinge in Ruhe nachdenken zu können und sie immer und immer wieder in meinem Kopf zu bewegen.« Sie seufzte wehmütig. »Vielleicht ist niemand wirklich böse und niemand wirklich gut. Wir sind einfach alle Brüder und Schwestern, ob wir nun Vampire oder Menschen oder Jäger sind. Wir müssen uns umarmen. Liebe statt Krieg.«
Ich fixierte sie genau. »Ich bin sicher, du hast LSD genommen.«
Sie grinste weiter, doch ihr Blick glitt hinunter zu meinem Hals. »Du trägst deine Goldkette nicht. Böse, böse!«
»Gideon hat sie kaputt gemacht.«
»Wirklich?« Sie hob träge die dünnen Brauen. »Wirst du mich jetzt beißen?«
»Hatte ich nicht vor.« Ich blickte auf ihren Hals. Nun, jetzt wo sie es sagte … Ihr Blut schmeckte sicher süß und ganz köstlich …
Nein, das kam nicht in Frage. Ich hatte nach wie vor die Kontrolle über mich, und das musste unbedingt so bleiben, wenn ich hier heil herauskommen wollte. Wo auch immer hier war.
Ich stand mit wackeligen Beinen auf und ging hinüber zu dem schwachen Umriss einer Tür, doch sie hatte keinen Türgriff. Ich sah mich um. Die Wände waren aus Stein – sie fühlten sich glatt und kalt an. Es war etwas in die Wand geritzt. Namen und Daten.
»Es könnte eine Gruft sein«, sagte Amy. »Irgendwo auf einem Friedhof. Ist das nicht cool?«
Mir war mulmig zumute. »Ja, total cool. Wie spät ist es?«
Sie schielte auf ihr Handgelenk. »Zehn vor zwölf.«
Zehn Minuten noch.
Ich bin total aufgeregt!, bemerkte meine Nachtwandlerin. Du nicht? So kurz vor dem schicksalhaften Augenblick. Tick-tack.
Meine fröhliche innere Dunkelheit drängte langsam nach vorn. Ich wollte nicht, dass sie jetzt die Kontrolle übernahm, insbesondere nicht, wenn ein so hilfloses Opfer in der Nähe war.
Ich schlug gegen die Tür. »Gideon! Wo bist du?«
Amy seufzte zufrieden. »Vielleicht wird Quinn uns retten. Es gibt so viele reizende Vampirjäger, findest du nicht? Wer weiß? Habe ich dir schon gesagt, wie glücklich ich bin, dass ihr zwei wieder zusammen seid?«
Ich rieb meine Schläfen. »Das war nur zur Tarnung. Gideon hat mich gezwungen, mit Thierry Schluss zu machen. Deshalb haben Quinn und ich so getan, als wären wir noch zusammen. Wir wollten ihm etwas vormachen. Hat nicht sehr gut funktioniert.«
Sie runzelte die Stirn. »Du bist also immer noch mit Thierry zusammen?«
»Ja. Oder zumindest glaube ich das. Er hat Probleme mit meiner Zeugung von Gideon. Außerdem lag er das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, bewusstlos auf dem Boden. Ich musste über ihn hinwegsteigen, um deinen Hintern zu retten.« Ich blickte mich in der Gruft um. »Das hat offenbar auch nicht so gut funktioniert.«
Sie schnaubte verächtlich. »Du könntest jemand Besseren als Thierry haben.«
Ich stieß verzweifelt die Luft aus. »Ich habe jetzt keine Zeit für eine Diskussion über Thierry, vielen Dank. Ich soll in weniger als zehn Minuten Gideon zeugen. Das beschäftigt mich gerade mehr.«
»Ich glaube, du wärst sogar noch besser mit Gideon dran als mit Thierry.«
»Kannst du das beurteilen, weil du, wie jeder weiß, so einen fabelhaften Geschmack hast, was Männer angeht? Würdest du jetzt wohl so lieb sein und eine Minute schweigen? Ich muss nachdenken.«
Sie schnaubte gereizt. »Ach, erzähl mir etwas Neues. Es geht immer nur um dich. Märtyrerin Sarah, was für eine Überraschung. Seit du zum Vampir geworden bist, bist du die totale Spaßbremse geworden. Weißt du das?«
Meine finstere Seite riss an meiner Kontrolle. »Das werde ich einfach überhören, weil du auf Drogen bist.«
Sie verdrehte die Augen. »Ich glaube, du bist eifersüchtig auf mich.«
»Auf dich?«
»Ich habe mich tausendmal besser an das Vampirleben gewöhnt als du. Und ich habe einen Mann, der mich bedingungslos liebt. Du hast nur diesen mürrischen, unglücklichen – wobei zugegeben wirklich scharfen -, alten Trauerkloß.«
Als ich ihren Hals packte und sie gegen die Wand donnerte, keuchte sie. »Weißt du was? Es ist mir ziemlich egal, was du denkst. Er ist der Mann, mit dem ich den Rest meines ewigen Lebens verbringen will.« Ich zögerte, runzelte die Stirn. »Es sei denn, er muss mich umbringen, natürlich. Aber in der Zwischenzeit kannst du dir deine Meinung dorthin stecken, wo es keine Fledermäuse gibt. Verstanden?«
»J…ja.« Sie schnaufte zustimmend. »Bitte … tu … mir … nicht … weh.«
Ich runzelte die Stirn. Ihr wehtun? Dann bemerkte ich, dass sie einen Fußbreit über dem Boden schwebte und ich sie nur an ihrem Hals festhielt.
Hinter uns öffnete sich knarrend die Tür.
»Lass sie los, Sarah«, befahl Gideon.
Ich riss die Augen auf und ließ sie sofort hinunter. Ein Blick über meine Schulter bestätigte, dass Gideon, immer noch mit einem Schal vor dem Gesicht, mit Steven im Türrahmen stand.
»Ich muss hier raus!« Amy ging auf Gideon zu. »Ich fühle mich nicht mehr so toll.«
»Du musst hier unten bleiben. Wieso machst du nicht noch ein kleines Schläfchen?« Gideon schoss einen Beruhigungspfeil auf sie ab.
»Oh, Mist.« Sie zog den Pfeil heraus, dann taumelte sie auf den Boden, wo sie schlagartig einschlief.
»Das wäre nicht nötig gewesen.« Ich hörte das Knurren in meiner Stimme.
»Ich fürchte, doch«, erwiderte Gideon. Er musterte mich aufmerksam. »Deine Selbstkontrolle ist ziemlich brüchig, oder?«
»Hast du Angst, dass ich dich versehentlich umbringe, anstatt dich zu zeugen?«
»Wenn ich diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen würde, wäre ich ein Idiot.«
»Was, wenn ich vollkommen die Kontrolle verliere? Wenn ich ganz und gar zur Nachtwandlerin mutiere? Dann kannst du mich kaum kontrollieren, oder?«
»Diese Kontrolle wird deutlich überschätzt«, sagte Gideon. »Wieso bist du jetzt unsicher und verlierst beinahe deine Selbstbeherrschung? Weil du dich dagegen wehrst. Deine zwei Seiten kämpfen gegeneinander und sind müde.«
»Gut gegen schlecht«, sagte Steven und nickte.
»Ich bin ein Verfechter der Grautöne.« Gideons Blick glitt über mich hinweg. »Jeder hat gute und schlechte Seiten. Es kommt nur darauf an, welche gerade stärker sind. Aber selbst jemand, den man für vollkommen böse hält, hat seine guten Seiten – wie ich zum Beispiel. Und jemand, den du für gut hältst – wie deinen Meistervampir vielleicht -, besitzt auch eine starke dunkle Seite.«
»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Thierrys inneren Konflikt akzeptierst du, aber du willst nicht wahrhaben, dass ich das Gleiche durchmache?«
»Ich glaube, dass Handlungen mehr sagen als tausend Worte.«
»Meine Handlungen waren eindeutig. Ich habe dir das Leben gerettet. Ich habe dir die Goldkette geschenkt …«
»Die du wieder zerstört hast.«
»Du brauchst sie nicht«, erklärte er mit Nachdruck.
»Darüber lässt sich streiten. Du hast meine Freunde und meine Familie bedroht, um deinen Willen zu bekommen.«
»Dafür habe ich mich entschuldigt. Verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen.«
»Du bist ein Vampirjäger.«
»Das kann ich nicht leugnen. Und dennoch sind wir hier. Wir stehen auf derselben Seite der Brücke, die mich in mein neues Leben führt.«
»Das ist lustig. Ich dachte, wir wären auf einem Friedhof.«
Um seine Augen bildeten sich Fältchen und deuteten auf ein verstecktes Lächeln hin, das umgehend von Schmerz überschattet wurde. Er taumelte vorwärts. »Ich glaube, es ist bald so weit.«
Ich blickte zu Steven. »Ich dachte, du solltest mich nur herbeirufen oder so etwas. Wieso lungerst du hier noch herum?«
Der jugendliche Hexenmeister machte einen überaus unglücklichen Eindruck. »Ich habe noch ein paar andere Sachen zu erledigen. Mr. Chase war sehr genau.«
»Ich brauche Stevens Hilfe bei dem Ritual, damit die Kraft von deinem besonderen Blut auf mich übergeht. Es ist keine einfache Zeugung. Es ist zugleich ein Heilungsprozess. Außerdem brauch ich ihn noch aus einem anderen Grund.«
»Wozu?«, fragte ich alarmiert.
Gideon kam auf mich zu. Er wirkte müde, als er die vernarbte linke Hand hob und meine Wange streichelte. »Es ist besser, wenn du dich nicht dagegen wehrst. Als Nachtwandlerin hast du mehr Macht. Du kannst mir mehr nutzen. Es macht alles so viel einfacher.«
Verdammt, ja, stimmte meine Nachtwandlerin voller Überzeugung zu. Dieser Kerl gefällt mir.
Ich schob seine Hand weg. »Das kommt nicht in Frage.«
Er rührte sich nicht vom Fleck. Er kam sogar noch etwas näher. Er forderte das Schicksal heraus. Ich musste nur die Hand ausstrecken, um ihm den Hals aufzureißen und dem ein für alle Mal ein Ende zu machen.
Das Problem war, dass ich das nicht wollte.
Meine Nachtwandlerin strich unruhig in mir umher und war zunehmend schwieriger zu kontrollieren. Das Gift von meinem Fluch brannte unter meiner Haut. Es sehnte sich nach Gideon – es mochte ihn.
Sehr, sogar.
Meine Nachtwandlerin begehrte Gideon Chase, er war der Größte. Sie fühlte sich genauso, wenn nicht sogar noch mehr, von seiner dunklen Seite angezogen wie von Thierrys, die sie bei jeder Gelegenheit so gern hervorlockte, um mit ihr zu spielen. Nur dass sie sie bei Gideon erst gar nicht hervorlocken musste.
Gideon wusste, dass ich Thierry liebte. Aber ich glaube, er wusste auch, dass meine Nachtwandlerin in ihn verliebt war. Sie hatte mich dazu gebracht, Thierrys Wünsche zu missachten. Sie war der Grund, weshalb ich hier war und um Mitternacht in einer kühlen dunklen Gruft vor Gideon stand, bereit, willig und in der Lage, ihn in einen Vampir zu verwandeln und seine unsterbliche Seele zu retten.
»Sarah«, sagte Gideon leise und streckte die Hand erneut nach meinem Gesicht aus. »Ich werde dich vermissen. Aber es muss sein.«
Ich schluckte, und Panik ergriff mich. »Was hast du …?«
»Steven«, sagte er lauter. »Jetzt!«
Ich fragte mich nur kurz, was er meinte. Die Kerzen erloschen. Etwas strich über meine Haut, aber es war nichts Greifbares – es war Magie. Stevens schwarze Magie. Sie tastete sich erst vorsichtig an mich heran, bevor sie in mich eindrang.
Ich keuchte. Die dunkle Seite meiner Nachtwandlerin wurde stärker und stärker, bis ich das Gefühl hatte, sie würde aus mir hervorquellen und von oben bis unten über mich fließen. Ich versuchte, mich aus ihrem festen Griff zu lösen, aber sie ließ mich nicht vom Fleck weichen.
Dann war es plötzlich vorbei.
Ich blinzelte und sah mich um. Irgendwie war der Raum heller geworden, obwohl nicht mehr Licht brannte als vorher. Meine Sehkraft hatte sich so verbessert, dass ich buchstäblich im Dunkeln sehen konnte. Ich ließ meinen verschärften Blick zu Gideon gleiten, der jetzt ein Stück von mir entfernt stand. Er legte den Kopf auf eine Seite.
»Ich habe Steven beauftragt, die letzten Reste deines Egos aus dir zu vertreiben, damit du deine Nachtwandlerin vollkommen willkommen heißen kannst«, sagte er zögernd. »Wie fühlst du dich?«
Gideon. Es war, als hätte ich ihn vorher nicht richtig gesehen. Ich war so umnebelt gewesen. Jetzt konnte ich sogar durch den schwarzen Schal und hinter seine Narben blicken. Ich sah, wie das Höllenfeuer unter seiner Haut brannte und wie qualvoll seine Seele Stück für Stück aufgefressen wurde.
Ich ging langsam auf ihn zu und griff nach seinem Schal. Als ich sein vernarbtes Gesicht berührte, zuckte er zusammen.
»Wie ich mich fühle?«, wiederholte ich. »Viel, viel besser.«
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn leidenschaftlich mitten auf den Mund.