6
Quinn sah genauso aus wie das letzte Mal, als
ich ihn gesehen hatte, was nicht sonderlich überraschend war, denn
es war erst einen Monat her. Er hatte dunkelblonde Haare, wache
blaue Augen und einen sehr anziehenden jungenhaften Charme, auch
wenn er jetzt für ewig dreißig war. Er war lässig gekleidet, trug
eine verwaschene Jeans und eine schwarze Lederjacke und darunter
ein grünes T-Shirt, das seinen muskulösen Körper betonte.
Ich kannte ihn eher unglücklich und verängstigt,
aber heute strahlte er so, dass sogar seine Reißzähne zum Vorschein
kamen.
»Du siehst hinreißend aus, Sarah«, sagte er, und
bevor ich etwas erwidern konnte, beugte er sich vor und küsste
mich.
Ich riss die Augen auf und hörte ein klickendes
Geräusch. Amy hatte ein Foto geschossen.
Er wandte sich ihr zu. »Freut mich, dich zu
sehen, Amy.«
»Dito.« Sie strahlte. »Du ahnst nicht, wie
glücklich ich gerade bin. Ich habe ja immer schon gedacht, dass du
und
Sarah perfekt zusammenpasst. Ich war immer für Quinn. Es ist
schön, dass sie endlich eingesehen hat, wer der Richtige für sie
ist.«
»Wenn es um die Liebe geht, bist du
offensichtlich sehr klug. Das schätze ich am meisten an dir.«
»Als ich gehört habe, dass du Janie heiraten
willst …«
Er winkte ab. »Alles nur Gerüchte.«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber du
hast es mir selbst erzählt. Als du mich vor ein paar Wochen
angerufen hast, weißt du noch?«
»Ach, richtig.« Er hustete. »Ja … sagen wir,
Janie und ich haben unsere Meinung geändert. Das kommt vor. Wir
haben uns nicht im Bösen getrennt.«
»Großartig.« Sie ließ das Telefon zurück in ihre
Tasche gleiten. »Nun, hier fühlt sich jemand wie das fünfte Rad am
Wagen. Ich gehe besser und lasse euch zwei Turteltäubchen
allein.«
»Äh …«, hob ich ungeschickt an. »Warte einen
Augenblick, Amy …«
Quinn griff meine Hand und drückte sie. »Bis
später, Amy. Danke, dass du dich um meinen Engel gekümmert hast,
solange ich weg war.«
Sie grinste. »Kein Problem!«
Während sie ging, sah sie sich noch ein paarmal
begeistert über ihre Schulter nach uns um.
»Sie ist süß«, sagte Quinn, nachdem sie das Café
verlassen hatte. »Ist sie eigentlich von Natur aus blond? Wenn du
nicht willst, dass ihr etwas zustößt, musst du wohl etwas besser
auf sie aufpassen.«
»Quinn …«
»Komm schon.« Er stand auf. »Machen wir einen
romantischen Spaziergang, hm?«
»Aber Quinn …«
Er drückte wieder meine Hand, und dieses Mal tat
es weh.
Okay, schon verstanden. Halt
die Klappe, Sarah.
Wir verließen das Café und schlenderten langsam
Hand in Hand die Straße hinunter. Ich musterte ihn hinter meiner
Sonnenbrille hervor. »Okay, was geht hier vor?«
»Nicht hier«, flüsterte er und beschleunigte
seinen Schritt. »Es könnte uns jemand verfolgen. Alles, was du
wissen musst, ist, dass wir wieder angefangen haben, uns zu
treffen, und alles gut ist.«
»Wer hat dich angerufen?«
»Was glaubst du?«
Thierry natürlich. Anstatt von seinen
planerischen Fähigkeiten beeindruckt zu sein, nervte mich die
Vorstellung, dass er so etwas einfädelte, ohne mich wenigstens
vorzuwarnen. Der Mann verschwieg mir zu viel, erst über den Roten
Teufel und jetzt das mit Quinn und Janie. Amy hatte mich erst
aufklären müssen wie eine angehende Nancy Drew mit
Reißzähnen.
»Erst als du weg warst, habe ich gemerkt, wie
sehr ich dich liebe«, sagte er so laut, dass jeder Passant es hören
konnte. »Ich war überall. In Arizona. Las Vegas, Florida. Bevor ich
hergekommen bin, war ich in New York. Aber du bist der Sonnenschein
in meinem finsteren Leben. Deshalb bin ich zurückgekommen.«
»Trägst du nicht ein bisschen dick auf?« Obwohl
ich auf Thierry wütend war, musste ich unwillkürlich lachen.
Ich mochte Quinn wirklich sehr. Obwohl er es damals abgestritten
hatte, war ich bei seinem Weggang davon überzeugt gewesen, dass er
mich hasste und ich ihn nie wiedersehen würde. Als Vampirzöglinge
hatten wir eine Menge miteinander durchgemacht. Er war ein weiterer
Aspekt meines Vampirlebens, an den ich mich nicht erinnern könnte,
wenn Finsternis meinen Fluch ausgerottet hätte.
Wir bogen um eine Ecke, und sein fröhliches
Grinsen verschwand, als er über seine Schulter zurückblickte.
»Okay, ich glaube, wir sind sie los. Thierry hat mich
angerufen.«
»Das kann ich kaum glauben, aber erzähl
weiter.«
Er schnaubte. »Ja, ich weiß. Wir sind nicht
gerade Pokerfreunde. Jedenfalls hat er mir die Situation
geschildert. Mist, Sarah. Ich fühle mich schuldig. Ich habe euch
allen erzählt, dass Gideon tot wäre.«
»Ist er aber nicht.«
»Offensichtlich. Er ist wie eine Kakerlake;
einfach nicht totzukriegen. Der Mann ist gefährlich. Vor allem
jetzt, wo er verzweifelt ist.«
Ich versuchte krampfhaft zu lächeln. »Und nun
sollst du so tun, als würdest du mit mir ausgehen. Das ist eine
tolle Methode, mit einem verzweifelten Killer wie Gideon
umzugehen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Du kennst Gideon
nicht so gut wie ich. Wir waren bis vor zehn Jahren befreundet, bis
ich gemerkt habe, dass er ein kompletter Soziopath ist. Du darfst
ihn keine Sekunde unterschätzen.«
»Nein.« Mein Blick verfinsterte sich. »Glaubst
du, dass
man mit Gideon überhaupt nicht vernünftig reden kann? Dass man ihn
kein bisschen bekehren kann?«
»Er tötet Vampire.«
»Das hast du schließlich auch getan, und du hast
dich doch ganz gut entwickelt.«
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich
hatte nie Spaß daran so wie er.«
Ich hatte Quinn geholfen. Ich hatte ihm sogar
geholfen, als ich es vermutlich gar nicht gemusst hätte, weil er
mich damals noch mit einer Mücke verglichen hatte, die man einfach
zerquetschen sollte. Er hatte eine Weile gebraucht, um zu
begreifen, dass er sich als Vampir nicht anders fühlte denn als
Mensch. Er hatte eingesehen, dass er sich falsch verhalten hatte.
Er war ein Jäger, der eigentlich nicht böse war.
Wenn alles nach Gideons Masterplan lief, würde
er ebenfalls zum Vampir werden. Würde er eine Erleuchtung haben?
War er vielleicht nicht durch und durch böse? Steckte in ihm
womöglich ein guter Kern?
He, man konnte nie wissen, oder?
»Thierry hat mir von deinem Fluch erzählt.« Er
flüsterte beinahe und sah mich von der Seite an. Wir gingen weiter.
Ein paar unauffällige, harmlose Passanten – zumindest sahen sie so
aus – kamen uns entgegen. »Er dachte, dass es gut wäre, wenn ich da
bin. Nur für den Fall.«
Mein Magen verkrampfte sich. »Nur für welchen
Fall?«
»Für den Fall, dass der Ring jemanden schickt,
um dich zu überprüfen. Mit überprüfen meine ich eliminieren. Betrachte mich einfach als zusätzlichen
Schutz.«
Ich schluckte schwer. Noch eine Sache, mit der
ich mich beschäftigen musste.
»Was ist mit Janie?«, fragte ich leise.
»Sie ist ebenfalls bereit zu helfen.«
Ich hob skeptisch eine Braue. »Ich habe ein Foto
gesehen, auf dem sie Thierry küsst.«
Seine Miene verfinsterte sich, und er biss die
Zähne zusammen. »Vielleicht bringe ich Thierry einfach um. Der
alten Zeiten wegen. Ich habe sicher irgendwo noch einen scharfen
Pflock.«
»Dann stimmt es also? Ihr seid zusammen?«
Er schwieg einen Moment. »Es sei denn, sie
stellt auf einmal fest, dass sie auf alte humorlose Vampire mit
null Persönlichkeit steht. Wie eine gewisse andere Frau, die ich
kenne.« Dann grinste er mich an. »Ja, wir sind zusammen.«
»Was Frauen angeht, hast du einen seltsamen
Geschmack.«
»Wie du bei Männern.«
»Touché.«
Darüber musste er lachen. »Ich weiß, es klingt
verrückt, aber ich liebe sie. Sogar sehr. Ich will mit ihr den Rest
meines Lebens verbringen.«
»Aber sie ist ein Mensch. Ist das nicht
irgendwann schwierig, wenn sie achtzig ist und du immer noch
genauso aussiehst wie heute?«
»Sie … sie ist kein Mensch mehr. Sie ist auch
ein Vampir.« Er holte tief Luft und stieß sie langsam aus. »Das ist
eine lange Geschichte, okay? Es gibt Situationen, die eine rasche
Entscheidung verlangen. Bei denen es um Leben oder Tod geht.«
Ich versuchte, mir meinen Schock nicht anmerken
zu
lassen. Jeder schien neuerdings ein Vampir werden zu wollen. Waren
Vampire wirklich so en vogue? Vielleicht
war es tatsächlich auf einmal cool und erstrebenswert, ein Vampir
zu sein.
Klar. Das sollte ich glauben. Wenn ich so naiv
wie Amy wäre vielleicht. Ich wünschte mir ein bisschen, ich wäre
es.
Ich stieß die Luft aus. »Janie war sicher nicht
gerade begeistert, als sie erfuhr, dass du so tun willst, als wärst
du mit mir zusammen.«
»Sie hat irgendetwas davon gemurmelt, sie würde
dich aufschlitzen und dein Herz verspeisen, wenn du es wagst,
meinen Körper auch nur zu berühren.«
Meine Brauen küssten meinen Haaransatz.
»He! Sie hat nur Spaß gemacht. Na ja, jedenfalls
überwiegend.« Dann sah er mit
nachdenklichem Blick nach vorn. »Wenn man vom Teufel
spricht.«
Wir waren um die Ecke gebogen und wieder auf die
Yonge Street gekommen. Während wir uns gehetzt im Flüsterton
unterhalten hatten, waren wir einmal um den Block gelaufen. Vor uns
verließen zwei sehr vertraute Vampire ein schickes Restaurant, in
dem sie laut Amys Beobachtung einen Großteil des Nachmittags
verbracht hatten. Als wir auf sie zugingen, legte Quinn den Arm um
meine Taille.
Thierry sah mit zusammengezogenen Augen erst
Quinn und dann mich an. »Was für ein Zufall! Sarah, wie schön, dich
zu sehen.«
Seine Worte klangen herzlich, aber seine Miene
war es nicht. Er wirkte vielmehr deutlich unterkühlt.
Ich ebenso. Einerseits freute ich mich, ihn zu
sehen. Andererseits
wollte ich ihm die kalte Schulter zeigen, weil er mich nicht
informiert hatte. Über gar nichts.
Das war ziemlich nervig.
Und trotzdem musste ich so tun, als wäre alles
okay, und freundlich lächeln.
»Thierry«, sagte ich und versuchte, nicht im
Geringsten freundlich zu klingen. »Wie ich sehe, hast du eine neue
Freundin.«
»Eine neue alte Freundin.« Er nahm Janies Hand
und küsste sie.
Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen
schoss und zwang mich, ruhig zu bleiben und mitzuspielen. Vorerst.
Janies Blick bohrte sich wie silberne Messer in
mich hinein. »Schön, dich wiederzusehen, Sarah.«
»Gleichfalls«, sagte ich angespannt.
»Was für eine hässliche Kette«, bemerkte sie.
»Aber vermutlich kannst du dir die Accessoires momentan nicht
aussuchen, hm?«
Ich tastete nach meiner Goldkette. »Beiß mich
doch.« Ich starrte Thierry an. »Und du auch.«
Seine dunklen Brauen schnellten nach oben. »Ist
das eine Einladung, oder willst du unhöflich sein?«
»Letzteres«, erwiderte ich.
Na, das amüsierte ihn aber. Super. Ich sollte
Eintritt verlangen.
Janie lächelte dünn. »Ach, ich habe doch nur
Spaß gemacht. Da ist wohl jemand nicht so glücklich mit seinem
Leben wie früher.«
»Und da hat wohl jemand dunklere Haarwurzeln als
früher.«
Sie tastete nach ihren Haaren. »Nimm das sofort
zurück.«
Ich versuchte meine innere Zicke unter Kontrolle
zu bekommen. Es war, als würde mein Nachtwandler an den
Gitterstäben rütteln und knurrend nach einem Ausweg suchen, solange
ich die Goldkette trug.
»Ich hätte nie gedacht, dass Thierry dein Typ
ist, Janie«, bemerkte ich. Ein Paar trat aus dem Restaurant und
ging zwischen uns hindurch zu einem Taxi. Nachdem sie losgefahren
waren, fuhr ich fort. »Ich meine, als wir uns das letzte Mal
gesehen haben, hattest du ihm Handschellen angelegt und wolltest
ihm einen Pflock durch sein Herz bohren.«
Sie lehnte sich an seinen muskulösen Körper.
»Pflöcke gibt es in unserer Beziehung nicht mehr. Aber Handschellen
sind ab und an ganz spaßig.«
Ich grub meine Fingernägel in Quinns
Seite.
Quinn zuckte zusammen und räusperte sich. »Ich
glaube, wir müssen los.«
Als sie sich ansahen, wurde Janies Ausdruck
weicher, und ich spürte die warme Intimität zwischen den beiden
einen Moment lang. »Ich will dich und deine neue Freundin nicht
aufhalten … was auch immer Sarah mit ihrer arbeitslosen Zeit
anfängt.«
»Haufenweise Sex«, erklärte ich. »Und vielleicht
später einen Film ansehen, wenn Quinn nicht zu müde ist. Von dem
leidenschaftlichen Sex, meine ich.«
»Richtig. Nun, wir auch«, erwiderte sie knapp
und klammerte sich fester an Thierrys Arm.
Irgendwie passte mir das gar nicht.
»Bis dann«, sagte ich, während wir uns an ihnen
vorbeidrängten. Thierry ergriff meine Hand. Bei seiner Berührung
klopfte mein Herz wie wild.
»Es war nett, dich zu sehen, Sarah«, sagte er.
Ich hätte schwören können, dass ich einen Anflug von Bedauern in
seinen silberfarbenen Augen sah. Wusste er, wieso ich wütend war?
Es stand mir sicher ins Gesicht geschrieben. Zum Glück hatte es so
ausgesehen, als wollte ich nur nicht meinem Ex begegnen, was
glaubhaft war.
Unsere Finger strichen leicht aneinander vorbei,
als er mich losließ.
Ich blinzelte, nickte und kämpfte mit dem Kloß
in meinem Hals.
Schließlich gelang es mir, den Blick von ihm zu
lösen. Thierry musterte Quinn kurz, und obwohl er derjenige war,
der den Exjäger um Hilfe gebeten hatte, war in seinem Blick nicht
ein Funken Freundlichkeit zu erkennen.
Quinn und ich gingen die Straße hinunter.
»Das war nicht sehr witzig«, stellte Quinn fest.
»Jetzt muss ich auch noch das Angebot ablehnen, haufenweise Sex zu
haben. Ich bin nämlich der monogame Typ.«
»Dann ist es ja gut, dass ich nur Spaß gemacht
habe.« Ich drehte mich um und sah, dass Thierry und Janie in die
andere Richtung davongingen. Thierry blickte kurz über seine
Schulter zurück zu uns und wirkte immer noch sehr angespannt.
Ich war froh, dass es ihm offenbar doch etwas
ausmachte, mich mit Quinn zu sehen. Ja, ich weiß! Na und? Dann bin
ich eben trivial.
Quinn lächelte. »Ehrlich, Sarah, als ich so auf
dich fixiert war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es für mich
je eine andere Frau geben würde. Janie ist zum vollkommen falschen
Zeitpunkt in mein Leben geplatzt. Ich hätte kaum weniger an einer
neuen Beziehung interessiert sein können. Aber es war, als wollte
mir das Schicksal klarmachen, dass sie die Richtige ist.«
»Ja, sie scheint ein richtig nettes Mädchen zu
sein.« Sarkasmus gab es gratis dazu.
»Das ist sie wirklich. Aber wenn sie will, kann
sie es ganz gut verbergen.« Er schwieg für eine Weile. »Thierry hat
mir erzählt, dass der Rote Teufel zurück ist und ebenfalls auf dich
aufpasst.«
Ich seufzte. »Ich werde von so vielen Leuten
beobachtet, dass ich mir wie in einer Dokusoap vorkomme.«
»Nicht mehr lange, und alles wird wieder ganz
normal sein.«
»Bis auf meinen Nachtwandlerfluch und die
Tatsache, dass ich Gideon zum Supervampir gemacht habe.«
»Abgesehen davon. Ja.« Er lachte doch
tatsächlich. »Du ziehst die Schwierigkeiten aber auch wirklich an.
Hat dir das schon einmal jemand gesagt?«
»Das ist eine Gabe.« Das war wirklich ein bisschen komisch. Wenn das alles
jemand anderem passieren würde, würde ich vermutlich darüber
lachen. »Hast du mit Thierry etwas geplant, was ich wissen sollte,
oder laufen wir alle einfach planlos durch die Stadt?«
Quinn zog mich an die Seite des Bürgersteigs,
weg von den zahlreicher werdenden Passanten, so dass wir
einigermaßen ungestört reden konnten. »Sobald wir wissen, wen
er als Attentäter beauftragt hat und dass alle in Sicherheit sind,
muss Gideon sterben.«
Keine Ahnung, wieso mich das überraschte. »Und
wer schießt? Du?«
Er schüttelte den Kopf. »Thierry hat den Roten
Teufel beauftragt oder wer auch immer der Kerl eigentlich ist. Er
liebt dich, Sarah. Ich weiß, dass ich das früher bezweifelt habe.
Verdammt, ich konnte mir nicht vorstellen, dass hinter dieser
mürrischen abweisenden Fassade ein lebendiges Wesen steckt.« Er
grinste. »Nichts für ungut.«
»Wir können uns darauf einigen, dass wir uns
über die wichtigste Person im Leben des jeweils anderen nicht
einigen können.«
»Abgemacht.«
»Glaubst du, dass man dem Roten Teufel trauen
kann?«, fragte ich. »Meinst du nicht, dass er gefährlich ist? Wo
hat er wohl die letzten einhundert Jahre gesteckt?«
»Keine Ahnung. Aber Thierry scheint Vertrauen in
seine Fähigkeiten zu haben. Das soll ja wohl schon etwas heißen,
oder?«
»Ich denke schon.«
Das schien wirklich gerecht. Gideon wollte den
Roten Teufel umbringen. Jetzt würde der Rote Teufel Gideon
umbringen.
Wieso fühlte sich das dann so verkehrt an?
Hatte ich etwa geglaubt, dass diese Geschichte
für alle Beteiligten gut ausging? Das war wohl eher
unwahrscheinlich, oder?
Ich verschränkte die Arme. »Du lässt
stillschweigend zu, dass Gideon kaltblütig ermordet wird?«
Quinn ließ prüfend den Blick über die Umgebung
schweifen und zog mich näher an sich, so als gingen wir miteinander
aus und er könnte die Hände nicht von mir lassen. Er sprach jetzt
noch leiser, so dass ich mich anstrengen musste, ihn überhaupt zu
verstehen. »Was soll das, Sarah?«
»Was meinst du?«
»Der Mann ist ein Mörder. Du hast doch nicht
etwa Mitleid mit ihm? Das wäre ein großer Fehler.«
»Natürlich nicht.«
»Thierry hat erzählt, dass du dich ein paarmal
mit ihm in diesem Hotel getroffen hast.«
»Thierry ist dir gegenüber offenbar deutlich
gesprächiger, als er es mir gegenüber in letzter Zeit war.« Ich
verschränkte die Arme. »Aber es stimmt. Was soll ich denn machen?
Nein sagen? Ich sehe ihn sogar heute Abend wieder.«
»Warum?«
»Vielleicht kann er dort, wo er ist, keinen
Pizzaservice kommen lassen. Ich weiß es nicht. Willst du mich davon
abhalten?«
»Nein.« Er wirkte jetzt sehr ernst. »Aber ich
weiß, dass es in deiner Natur liegt, das Gute in den Leuten zu
sehen. Das ist eine Gabe, aber es kann dich ebenso in ernsthafte
Schwierigkeiten bringen. Wie jetzt.«
»Ich habe auch in dir das Gute gesehen, oder
nicht?«
»Das war etwas anderes.« Er wirkte angespannt.
»Ich weiß nicht, was er zu dir gesagt hat oder wie er sich verhält,
aber er ist ein gemeiner Killer. Vergiss das nicht.«
»Ich komme schon mit Gideon klar.«
»Gideon hält Vampire für eine niedere
Lebensform, die man vernichten muss. Es ist mir egal, ob er
herumerzählt, er wollte auch einer werden, oder ob er dir sein
Milliardärslächeln zeigt. Er ist gefährlich. Er denkt, weil du ein
Vampir bist, bist du nichts wert. Vergiss das nie.«
Ich erinnerte mich an ein kaltes, dunkles
Lagerhaus. Auf einem Tisch lagen Bilder von meinen Freunden und
meiner Familie, mit denen Gideon mir bewiesen hatte, dass er
wusste, wo alle lebten. Ich erinnerte mich an seine finstere kalte
Drohung.
Ich werde sie alle
umbringen.
Seit jener Nacht hatte Gideon sich mir gegenüber
nicht mehr von dieser speziellen Seite gezeigt. Er war entweder
freundlich gewesen und hatte sich gefreut, mich zu sehen, wenn ich
in sein Hotelzimmer kam, oder er hatte unter Schmerzen
gelitten.
Aber ich durfte echt nicht vergessen, wie er
eigentlich war. Wozu er in der Lage war.
Ich schluckte. »Ich werde es nicht
vergessen.«
Er beugte sich vor und küsste mich auf die
Wange. »Sei einfach vorsichtig. Sei auch vorsichtig, wenn du dem
Roten Teufel begegnest. Ich weiß nicht, ob ich ihm wirklich
traue.«
»Ich auch nicht. Hast du keine Ahnung, wer er
wirklich ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass ich
lieber nicht Gideon sein möchte.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Wenn Gideon
stirbt, fährt er zur Hölle. Das Höllenfeuer wird ihn
hinunterziehen.«
»Nach allem, was er getan hat, wäre Gideon
sowieso in der Hölle gelandet. Das muss dich nicht um den Schlaf
bringen, Sarah.«
»Nein.«
Das würde es nicht. Ich hasste Gideon. Er hatte
den Tod verdient.
Wenn das der Fall war, wieso fühlte ich mich bei
der Vorstellung, ihn diesem Schicksal zu überlassen, dann ein
bisschen schlecht?
Quinn hatte recht. Ich war ein Weichling. Ein schlapper Waschlappen.
Ich würde in Gideon nur noch einen skrupellosen
Killer sehen. Er war nicht wie Quinn, der sich geändert hatte, und
er war nicht wie Thierry, der in seinem langen Leben mit seiner
dunklen Seite zurechtkommen musste.
Das musste ich mir immer wieder sagen. Wenn ich
es vergaß, riskierte ich einfach zu viel.