5
Mein Heilmittel. Das war es also.
Heiliger Strohsack.
Anfangs hatte ich solche Schwierigkeiten gehabt, mich an das Vampirleben zu gewöhnen, dass ich mich an das Gerücht geklammert hatte, es gäbe ein Heilmittel. Die Suche danach hatte mir ziemlichen Ärger eingehandelt und mit der enttäuschenden Erkenntnis geendet, dass es kein wirkliches Heilmittel gegen Vampirismus gab. Wenn man einmal infiziert war, konnte man nichts mehr dagegen tun.
Reißzähne für immer.
Aber das hier war kein Heilmittel. Es war eine Ausrottung. Eine vollkommen weiße Weste, es wurde alles gelöscht, das mir passiert war. Durch die Ausrottung des Fluches würde ich wieder zum Menschen werden.
Ich müsste keine Angst mehr haben, von einem übereifrigen Jäger erstochen zu werden. Hätte keine spitzen Zähne mehr und müsste kein Blut mehr trinken, um zu überleben.
Ich würde mein Spiegelbild zurückbekommen. Ich konnte feste Nahrung zu mir nehmen. Ich hätte die Chance, ein normales Leben zu führen, ohne mir Sorgen machen zu müssen, ob ich einen Vampirclub fand, in dem es meine Lieblingsblutgruppe gab.
»Das ist großartig, Sarah«, sagte George. »Ich weiß, dass du dir das die ganze Zeit gewünscht hast.«
Natürlich.
Das war wirklich zu schön, um wahr zu sein. Das konnte nur eins bedeuten.
»Wo ist der Haken?«, fragte ich.
Finsternis hatte immer noch die Augen geschlossen. »Der Haken?«
»Wenn ich das mache, bin ich meinen Fluch und meinen Vampirvirus los.«
»Und sechs Monate deines Lebens.«
Da dämmerte es mir. »Meine Erinnerung geht verloren, oder?« Alles, was ich in den vergangenen sechs Monaten erlebt habe.
»Richtig.«
Mir sank der Mut. Herzukommen und nach einer Lösung für meinen Nachtwandlerfluch zu suchen, war eine Sache. Die Heilung vom Vampirismus war ein kostenloser Bonus. Aber alles zu vergessen, was ich erlebt hatte?
Und jeden, dem ich begegnet war. Alles, was ich erfahren hatte. Alles, was mich verändert hatte, ob zum Besseren oder zum Schlechteren, aber das mich zu der Person gemacht hatte, die ich heute war.
Abgesehen davon: Wenn Gideon herausfand, dass ich ein Geschäft mit dem Grufti-Jungen gemacht hatte, um das loszuwerden, das ihn wahrscheinlich von seinem Problem heilen konnte – und ich mich noch dazu nicht mehr erinnern konnte, wer er überhaupt war …
Vermutlich würde er diese Neuigkeit nicht sehr gut aufnehmen. Das war reine Vermutung.
Dann würde er bestimmt nicht mehr versuchen, mir Schmuck zu schenken. Er würde seine Drohungen wahrmachen, egal ob ich mich noch an ihn erinnern konnte oder wusste, wieso er das tat.
Ich hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera. Das war mein neues Leben.
»Hör zu … Düsternis …«
»Finsternis
»Wie auch immer. Können wir das korrigieren? Gibt es vielleicht die Möglichkeit, nur den Fluch loszuwerden und wegen dem anderen Kram erst wiederzukommen, wenn sich meine Gefühle ändern sollten?«
Er schlug die Augen auf. Ich schnappte erschrocken nach Luft und packte Georges Hand, denn seine Augen waren ganz und gar dunkelrot. Vermutlich war er wirklich ein Hexenmeister. Mit normalen Augen war das unmöglich. Eindeutig.
»Machst du Witze?«, schnappte er.
»Oh … nein. Nein.«
»Hör zu, Lady, das ist ein einmaliges Geschäft. Du bezahlst mich, und ich führe die Ausrottung durch. Anschließend gehst du. Übrigens funktioniert diese Art schwarzer Magie normalerweise nicht auf die Art, erst gucken, dann zahlen. Das ist schon ein Entgegenkommen von mir. Wenn du es jetzt nicht machst, bist du verdorben.«
»Verdorben?«
»Ja. Wenn ich es noch einmal versuche, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die dämonischen Kräfte mir dabei schaden. Ich spreche da von einer Lobotomie und ziemlich viel Sabbern. Selbst wenn du nicht verdorben wärst: Meine Mutter und ich ziehen nach Deutschland und kommen nicht zurück. Ich bin schon froh, dass ich noch so lange bleiben darf, um auf das Death-Suck-Konzert zu gehen. Danach ist es vorbei.«
»Vielleicht solltest du es tun, Sarah«, sagte George. »Was sind schon ein paar Erinnerungen für etwas so Großes?«
»Entscheide dich.« Finsternis klang noch unfreundlicher als zuvor. »Denn wenn die Kerze ausgeht, ist das Geschäft vorbei.«
George drückte meine Hand. »Du kannst deinen Fluch loswerden. Puff. Einfach weg. Das allein ist es schon wert, findest du nicht? Willst du das alles nicht vergessen und wieder normal werden?«
Er wusste nicht, wieso ich zögerte. Er dachte, ich würde nur zögern, weil ich meine Erinnerung verlor.
Wie Höllenwesen geisterten ganz unterschiedliche Szenarien durch meinen Kopf. Ich hatte Kopfschmerzen. Ich wünschte, mir würde eine andere Lösung einfallen, aber es gab keine. Nicht heute. Nicht morgen. Möglicherweise nie.
»Ich glaube, normal…«, meine Stimme klang genauso angespannt wie ich mich fühlte, »… geht nicht mehr.«
Ich blies die Kerze aus.
 
Die Finsternis, auch bekannt als der deutschstämmige Death-Suck-Fan Steven Kendall, bekam einen Anfall, als ich die Anzahlung in Höhe von eintausend Dollar zurückforderte. Wir gingen ohne sie. Als George ausparkte, fuhr gerade die Mutter des Hexenmeisters vor.
Das war nicht sehr spaßig gewesen. Vorsichtig ausgedrückt.
Ich war enttäuscht. Es war, als hätte man mit einem Stück Schokoladenkuchen – einem Stück Schokoladenkuchen, der all meine Probleme lösen konnte – vor meiner Nase herumgewedelt, bis mir einfiel, dass ich ein Vampir war, der keine feste Nahrung zu sich nehmen konnte.
Meine Erinnerungen der letzten sechs Monate waren deutlich mehr wert als zweitausend Dollar. Geld konnte man wenigstens zurückzahlen.
Die letzten sechs Monate waren eigentlich egal. In den letzten drei Monaten hatte ich die schlimmsten Erlebnisse meines bisherigen Lebens gehabt. Aber auch die schönsten.
Wäre ich kein Vampir geworden, hätte ich Thierry nicht getroffen.
Oder George.
Oder Barry.
Nun, das wäre zumindest ein Lichtblick.
Mein Mobiltelefon vibrierte, und ich zog es aus meiner Handtasche, um auf das Display zu sehen.
ANRUF VON G.
Der Tag entwickelte sich nicht gut.
Ich überlegte, ob ich warten sollte, bis die Mailbox ansprang, aber mit einem Blick zu George, der ganz auf den Gardiner Expressway konzentriert war, nahm ich das Gespräch an.
»Ja?«, meldete ich mich.
»Ist dein Treffen mit dem jungen Hexenmeister gut gelaufen?«, fragte Gideon.
Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Anscheinend wusste er immer, wo ich mich aufhielt, als hätte er übernatürliche Kräfte anstelle von Spionen. Das war extrem nervig. »Nein.«
»Bist du immer noch verflucht?«
»Ich fürchte, ja.«
»Wer ist das?«, fragte George und stellte das Radio leiser. »Ist das Amy?«
»Nein«, erklärte ich. »Das ist eindeutig nicht Amy.«
»Amy bekommt gerade eine Gesichtsbehandlung, nachdem sie sich die Hände hat maniküren lassen«, wurde ich von Gideon informiert. »In einem hübschen kleinen Spa Schrägstrich Friseursalon namens Studio Fünf. Sie gibt genau fünfzehn Prozent Trinkgeld, falls es dich interessiert.«
Vermutlich wäre ein Laden, der nur Vampire zur Kundschaft hatte, nicht gerade begeistert zu erfahren, dass Gideon ihn entdeckt hatte. Und das so mühelos. Selbst wenn ich mich jemals vor Jägern sicher gefühlt hätte, löste sich dieses Gefühl gerade in Wohlgefallen auf. Dachten wir wirklich, unsere Vampirclubs wären absolut geheim und sicher?
»Ich kann jetzt nicht reden«, sagte ich.
»Würde George nicht gern von unserer kleinen Partnerschaft wissen?«
»Das würde ich so nicht sagen.« Ich schluckte, als ich daran dachte, in welchem Zustand ich ihn gestern Abend in dem Hotelzimmer zurückgelassen hatte. »Geht es dir heute besser?«
»Siehst du, ich wusste, dass du mich magst.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Wohl kaum. Aber du warst in ziemlich schlechter Verfassung.«
»Ich glaube, ich sehe jetzt alles in allem ganz gut aus.« Er schwieg kurz. »Aber du hast recht. Mir geht es nicht gut. Wenn ich noch zwei Tage durchhalte, wird alles besser.«
»Was willst du? Oder wolltest du mich nur daran erinnern? Kannst du mich nicht in Ruhe lassen, bis ich dich unbedingt wiedersehen muss?«
»Wenn ich dich in Ruhe lasse, rast du aus der Stadt und versuchst einfach, die Geschehnisse zu ändern. Wenn du dich noch ein paar Tage benimmst, bin ich geneigt, dir mehr Freiraum zu lassen.« Seine tiefe Stimme klang nicht mehr ganz so charmant. Das sollte mir eine Warnung sein. Ich war noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Ob er wohl wusste, wie knapp ich davor gewesen war, seine Pläne platzen zu lassen?
»Ich benehme mich.«
»Ich weiß, dass du heute Morgen Thierry gesehen hast. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir vereinbart hatten, dass das nicht vorkommt.«
Ich spürte, wie sich eine panische Kralle um mein Herz schloss und es zerquetschte. »Das hatte nichts zu bedeuten, er war nur zufällig da. Ich wollte ihn nicht treffen.«
»Ich glaube dir.« Aber irgendetwas in seiner Stimme sagte mir, dass er mir nicht glaubte. »Sorge bitte dafür, dass das nicht noch einmal vorkommt.«
»Nun, nachdem du so brav bitte gesagt hast.«
»Ich will dich später sehen. Ich brauche etwas von dir.«
»Was? Eine geistreiche Antwort? Da hast du dich verwählt.«
»Etwas anderes. Komm um acht Uhr zu meinem Hotel. Ich erwarte dich.«
Er legte auf. Ich hatte das Telefon so fest umklammert, dass meine Finger taub wurden.
Ich räusperte mich. »Okay, Mom. Schön, dass du angerufen hast. Ich hoffe, dass ich dich und Dad bald besuchen kann. Wiedersehen.«
Ich klappte das Telefon zu und sah zu George, der mich verwirrt anstarrte. »Das war deine Mom? Ich habe ja nur die eine Seite gehört, aber das klang ziemlich merkwürdig.«
»Du kennst meine Mutter nicht sehr gut.«
Ich glaubte zu wissen, was Gideon von mir wollte. Jetzt, wo er wusste, dass ich nach einer Lösung für meinen Fluch gesucht hatte, dachte er, ich wäre verzweifelt genug, im Tausch für das Zauberbuch den Roten Teufel ans Messer zu liefern.
Da hatte er recht.
Ich kannte den Kerl nicht. Vielleicht war er böse. Vielleicht hatte er es verdient, unter Gideons Pflock zu enden.
Vielleicht aber auch nicht.
Wenn ich weiter so unentschieden war, würde ich den Fluch nicht loswerden. Ich hakte meinen Finger in die Kette. Ich brauchte mehr Zeit, um mir über alles klar zu werden. Ich musste ihn noch etwas hinhalten. So lange wie möglich.
 
Nachdem George mich zu Hause abgesetzt hatte und zu seinem Vorstellungsgespräch gefahren war, versuchte ich ein Nickerchen zu machen. Ich konnte nicht schlafen. Was für eine Überraschung. Die Ereignisse des heutigen Tages kamen mir immer wieder hoch wie schlechtes mexikanisches Essen.
Also lief ich unruhig auf und ab. Und sah fern. Und recherchierte etwas im Internet.
Vampire konnten keine gewöhnliche Erkältung bekommen. Das war gut zu wissen.
Dann versuchte ich so viel wie möglich über Gideon Chase herauszufinden. Es gab reichlich Informationen und ein paar sehr schmeichelhafte Bilder von ihm mit einer ganzen Schar reizender Begleiterinnen auf Filmpremieren und in schicken Restaurants. Er hatte für wohltätige Zwecke gespendet und ein Gebäude für ein Kinderkrankenhaus finanziert.
Er war ein schräger Held. Zumindest oberflächlich gesehen.
Ich musste etwas tiefer graben, um auf seine Verbindung zu der Vampirjägerorganisation zu stoßen. Die meisten normalen Websurfer würden dem überhaupt keine Aufmerksamkeit schenken, denn 99 Prozent der Welt ignorierten oder leugneten, dass es Vampire außerhalb Hollywoods überhaupt gab. Sie glaubten bestimmt, dass es nur ein Gerücht war, so wie mein Spitzname die »Schlächterin der Schlächter«. Oder waren der Meinung, Vampire wären eine reine Erfindung. Für sie war Gideon Chase einfach nur ein Milliardär, ein reicher gut aussehender Kerl, der gern reiste und sich amüsierte.
Der Rest der Welt glaubte, dass er jetzt tot war.
Aber in zwei Tagen würde er mit meiner freundlichen Unterstützung wieder auferstehen.
Wenn ich lange genug lebte, konnte ich bestimmt die Filmrechte verscherbeln.
Offenbar hatte Amy gehört, dass ich nach ihr gesucht hatte, denn sie rief mich am späten Nachmittag an und wollte sich mit mir auf einen Kaffee treffen. Da ich abgesehen von meiner Acht-Uhr-Verabredung mit Gideon keine weiteren Pläne hatte, beschloss ich, mich eine Weile nicht mit meinen Problemen zu beschäftigen und mich lieber mit Amy abzulenken.
Ich bewegte meinen Hintern zu einem Laden, der Bodacious Bean hieß, eine Art Coffeeshop, in dem es eine wunderbar feine kolumbianische Haselnussmischung gab. Amy war bereits da und saß an einem Ecktisch. Vor ihr standen ein Moccaccino und ein Bananenbrot.
Noch eine Wahrheit über Vampire: Manche Vampire konnten problemlos feste Nahrung zu sich nehmen, ohne dass sie sich daraufhin am liebsten sofort all ihrer inneren Organe entledigt hätten. Anderen Vampiren – mir zum Beispiel – war dieser Luxus nicht vergönnt.
Amy konnte essen, was sie wollte. Normalerweise vergaß sie, dass das nicht bei allen so war.
»Möchtest du auch ein Bananenbrot?«, fragte sie.
Ich winkte ab. »Nein, danke.«
Ich nahm ihr gegenüber Platz und schob mir die Sonnenbrille auf die Stirn. Vom Fenster aus konnte man auf die belebte Yonge Street blicken. Sie wirkte wie an einem geschäftigen, ganz gewöhnlichen kalten Sonntag Ende Februar.
Amy sah aus, als versuchte sie zu lächeln, was ihr aber nicht gelang. Ihre Mundwinkel schienen am Kinn festgeklebt zu sein. »Wie geht es dir, Sarah?«
»Du klingst etwas bedrückt. War es nicht gut bei der Maniküre?«
»Doch, das war gut.« Sie warf einen Blick auf ihre perfekt manikürten Nägel. An ihrem Ringfinger blinkte – mit besten Empfehlungen von Barry – ein Ring mit einem winzigen Diamanten, und auf dem Nagel blitzte nun ebenfalls ein Stein. »Barry hat gesagt, du wärst vorbeigekommen.«
»Es wundert mich, dass er es dir überhaupt erzählt hat, wenn man bedenkt, wie sehr er mich hasst.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wieso er in letzter Zeit so launisch ist.«
»In letzter Zeit
»Er hat gesagt, dass Thierry da war, als du kamst und dass du deshalb extrem unglücklich ausgesehen hast.«
»Das hat er gesagt?« Ich nippte peinlich berührt an meinem Kaffee.
Sie nickte bedeutungsvoll, und ich runzelte die Stirn. Was war los? Wo hatte sie heute bloß ihr übersprudelndes blondiertes Ich gelassen?
Amy stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
Ich hob erstaunt die Brauen. »Moi
Sie nickte. »Ich weiß, dass du versuchst, alle davon zu überzeugen, dass es dir gut geht, aber ich sehe dir doch an, dass das nicht stimmt, Sarah. Wir sind Freundinnen. Du kannst mir nichts vormachen.«
Das ging ja gut los. »Ich weiß nicht, was du meinst. Es ist alles bestens. Wunderbar, wirklich.«
»Ich weiß, dass du gesagt hast, du hättest mit Thierry Schluss gemacht, aber das stimmt gar nicht, oder?«
Mir war übel. War ich eine so schlechte Lügnerin, dass ich selbst Amy nicht überzeugen konnte? Ich liebte sie über alles, aber sie war nicht gerade die Hellste. Normalerweise nahm sie alle Informationen einfach so hin, ohne weiter nachzufragen. Ich hatte ihr erzählt, dass ich meine Beziehung mit Thierry beendet hätte, und sie hatte es geglaubt. Sie war glücklich gewesen, dass ich mich von diesem »armseligen Idioten« getrennt hatte. Das waren genau ihre Worte gewesen.
»Natürlich stimmt das. Ich habe Schluss gemacht.«
»Wieso warst du dann vorhin bei mir, um mit ihm zu reden?«
Ich brauchte einen Augenblick, weil ich erst die Umgebung prüfte. Da Gideon anscheinend ständig wusste, was ich tat, war ich sicher, dass ich auch hier von jemandem beobachtet wurde. Aber von wem? Von der Gruppe Teenager, die völlig mit sich beschäftigt schien? Oder der alten Frau mit dem doppelten Espresso drüben an dem Regal mit den überteuerten, handbemalten Kaffeebechern? Oder vielleicht dem Kerl mit dem Blindenhund und dem Chai-Latte? Er sah verschlagen aus. Ebenso wie sein Hund.
»Ich war dort, weil ich dich sprechen wollte, nicht ihn«, erklärte ich. »Es war purer Zufall, dass Thierry da war. Ich kann schließlich nichts dafür, dass dein Mann zufällig der Sklave von meinem Ex ist.«
»Der Begriff gefällt mir nicht. Ich würde ihn eher als Diener bezeichnen.«
»Richtig. Nun, egal, was er ist, ich bin nicht sehr lange geblieben. Ich wollte nicht stören, was auch immer Thierry, Veronique und er dort zu tun hatten.«
»Es hatte etwas mit dem Ring zu tun«, sagte sie. »Die haben sich kürzlich bei Thierry gemeldet.«
Der Ring? Sehr interessant und zwar so, dass es mich beinahe unerträglich neugierig machte. Der Ring war ein Vampirrat mit Sitz in Kalifornien, der jedoch auf der ganzen Welt Dependancen hatte. Der Ring hatte sich für mich interessiert, als mein Ruf als »Schlächterin der Schlächter« aufkam.
Ich runzelte die Stirn. »Ich frage mich, was die wohl aushecken?«
»Es geht um deinen Fluch«, erklärte sie freiheraus. »Sie haben davon gehört und wollten wissen, ob du eine Gefahr für Leben, Freiheit und das Vampirleben darstellst.«
Ich bekam runde Augen. »Und?«
»Thierry hat dich verteidigt. Er hat gesagt, dass der Fluch nur eine vorübergehende Erscheinung wäre und dich überhaupt nicht beeinträchtigt.«
Mein Held. »Das ist aber süß von ihm.«
»Er hat ihnen aber auch gesagt, dass du momentan äußerst unberechenbar bist.«
Mistkerl! »Das hat er gesagt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls habe ich das gehört.«
Ich war erst einem älteren Mitglied des Rings begegnet. Er hatte versucht, mich umzubringen. Obwohl er verrückt gewesen war, hatte die Organisation bei mir deshalb keinen guten Eindruck hinterlassen.
»Wolltest du mich deshalb hier treffen?«, fragte ich. »Ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber ich werde nicht ausrasten. Thierry kommt mit den Vampiren vom Ring schon zurecht, und solange ich meine Goldkette habe, stelle ich keine Bedrohung für irgendjemanden dar.«
Ja, solange ich sie um meinen Hals beließ. Für immer. Das Bild von dem verängstigten blassen Gesicht des Zöglings tauchte vor meinem inneren Auge auf. Und der verlockende Pulsschlag an ihrem Hals. Ich klammerte mich derart an die Tischkante, dass meine Knöchel ganz weiß wurden. Dann zwang ich mich, mit zitternder Hand einen Schluck Kaffee zu trinken.
»Du liebst ihn immer noch, stimmt’s?«, fragte Amy spitz.
Ich schüttelte den Kopf. »Amy …«
»Er hat dich sitzenlassen, richtig? Nicht anders herum.«
Ach du je! Wenn sich Amy einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es zwecklos, sie von etwas anderem überzeugen zu wollen. Sie war zwar keine Rhodes-Stipendiatin, aber sie war unerbittlich. »Okay, du hast mich erwischt. Thierry hat Schluss gemacht. Ich habe versucht, mein Gesicht zu wahren, indem ich behauptet habe, ich wäre es gewesen.«
Sie schien zutiefst erschüttert von meinem falschen Geständnis. »Ich wusste es.«
»Ich tue, was ich kann. Es ist vorbei. Es tut schrecklich weh, aber ich bemühe mich sehr, es zu akzeptieren.«
Ich hatte in letzter Zeit so viel gelogen, dass ich mich wunderte, wieso meine Beine noch nicht kürzer geworden waren – oder meine Nase länger.
»Barry hat gesagt, er könnte nicht glauben, dass du Schluss gemacht hast.«
»Darauf wette ich.« Ich verkniff es mir, mit den Augen zu rollen. »Nun, entspann dich. So schlimm ist das nun auch wieder nicht, okay? Es geht mir gut. Ich finde mich langsam, aber sicher damit ab.«
»Er hat dich verlassen, als alles gerade richtig schwierig wurde … mit deinem Fluch.« Sie wirkte angespannt. »Ich habe von Anfang an gewusst, dass er ein egoistischer Mistkerl ist. Erst betrügt er seine Frau mit dir …«
Bei diesen Worten zuckte ich zusammen. »Ich würde nicht von betrügen sprechen. Schließlich wusste Veronique Bescheid und war mit allem einverstanden.«
»Trotzdem.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Oh, Sarah, ich will dir das eigentlich gar nicht erzählen, aber ich muss.«
Ich beugte mich über den Tisch zu ihr hinüber und ergriff ihre Hand. »Oh, mein Gott, Amy, was ist denn? Was ist los?«
»Vor einer Stunde habe ich … Thierry in einem Restaurant weiter unten in der Straße gesehen. Vielleicht ist er sogar noch da. Deshalb habe ich dich angerufen.«
»Nun, das ist wirklich schockierend, wenn man bedenkt, dass er nichts isst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat dort mit jemand etwas getrunken. Als ich gesehen habe, mit wem, war ich derart schockiert. Das hätte ich nie gedacht. Sarah …« Sie schüttelte sich und stieß die Luft aus. »Ich glaube, Thierry hat nicht nur seine Frau, sondern auch dich betrogen. Er spielt ein doppeltes Spiel!«
Mein Auge begann zu zucken. »Wovon redest du?«
»Ich wollte es dir nicht erzählen, aber du musst es unbedingt wissen. Es beweist, dass er ein absolut widerlicher Kerl ist und deiner nicht wert.«
»Willst du sagen, dass du ihn mit einer anderen Frau in einem Restaurant gesehen hast?«
Sie nickte ernst.
»Und es war nicht Veronique.«
Sie schüttelte ernst den Kopf.
Ich räusperte mich. »Hat es auf dich so gewirkt, als wären die beiden richtig zusammen? Als würden sie nicht nur etwas zusammen trinken, sondern hätten eine Romanze?«
Wieder nickte sie ernst.
»Was genau veranlasst dich zu dieser Vermutung?«, fragte ich steif.
Sie griff in ihre Tasche und zog ihr Mobiltelefon hervor. »Ich habe einen Beweis.«
»Hast du Fotos gemacht?«
Sie nickte. »Ich überlege, ob ich mir eine Lizenz als Privatdetektiv besorge.« Ihre Miene hellte sich etwas auf. »Ich glaube, ich wäre gut darin, nichtsnutzige Männer beim Ehebruch zu erwischen. Ich habe gehört, dass man damit ganz gut verdienen kann.«
Keine Ahnung, wieso ich mich mit der Vorstellung so schwertat. Sie schickte mir regelmäßig Fotos aus den Umkleidekabinen irgendwelcher Boutiquen, weil sie meine Meinung zu irgendwelchen Kreationen hören wollte. Das war doch eigentlich auch nichts anderes.
»Wenn du nicht willst, musst du sie dir nicht ansehen. Ich meine, ihr habt euch getrennt. Ich wollte dir nur beweisen, dass er ein gemeiner Kerl ist. Ein absolut gemeiner Kerl, wenn man überlegt, mit wem er angebändelt hat. Und dass du dich über eure Trennung nicht mehr aufregen solltest, falls du das überhaupt noch tust.«
Ich glaubte ihr kein Wort. Insbesondere wenn sie ein so altmodisches Wort benutzte wie »gemeiner Kerl«. So etwas machte Thierry nicht, oder? Nein. Natürlich nicht. Wir waren uns vielleicht nicht immer einig, um es freundlich auszudrücken, aber er liebte mich. Wir hatten zu viel miteinander durchgestanden, als dass er mitten in der Megakrise unseres Lebens einfach so nebenbei eine neue Beziehung anfangen würde. Ich vertraute ihm voll und ganz.
Sarah + Thierry.
Ewige Liebe.
Und trotzdem. Es konnte nicht schaden, einen kurzen Blick darauf zu werfen.
»Zeig mir die Fotos«, sagte ich fest.
Sie durchsuchte das Menü und reichte mir das Telefon. Ich starrte auf das erste Bild und ging dann weiter zu dem nächsten. Und dem übernächsten.
Thierry nahm in einem gehobenen Restaurant ein Getränk zu sich und saß direkt am Fenster, so dass Amy ein paar gute Aufnahmen machen konnte.
Es gab ein Bild, auf dem Thierry lachte.
Er lachte? Das war nicht typisch für ihn.
Ein weiteres, auf dem er über den Tisch hinweg nach der Hand seiner Begleitung griff.
Und eins … auf dem er … ihre … Hand … küsste.
Ich biss die Zähne zusammen.
Auf einem anderen beugte er sich über den Tisch … und… küsste … sie … auf … den … Mund.
Bei dem Anblick sah ich rot, und mein Herz hämmerte gegen meine Rippen.
Die Frau lachte aus vollem Hals und schien sich bestens zu amüsieren. Auf einem Bild sah sie aus dem Fenster, so dass deutlich ihr Gesicht zu erkennen war.
»Ist das zu fassen?«, fragte Amy atemlos. »Ich dachte, sie wäre verlobt und würde heiraten. Diese Schlampe! Dieses hinterhältige blonde Flittchen!«
Ich erkannte sie sofort. Es gab absolut keinen Zweifel, wen Thierry da auf den Bildern unverhohlen umwarb.
»Das ist Janie Parker«, sagte Amy mit deutlicher Verachtung. »Verdammt, kannst du das glauben?«
Nein. Das konnte ich verdammt noch mal nicht.
Janie war erst kürzlich als mein Leibwächter angeheuert worden, um mich vor Jägern zu schützen, die es aufgrund meines unseligen falschen Rufs auf mich abgesehen hatten. Am Ende hatte ich erfahren, dass sie eine falsche Identität angegeben hatte und eigentlich eine Söldnerin war, die sich an mir rächen wollte, weil ich in Notwehr ihren verrückten Jägerbruder erschossen hatte, was mir überhaupt erst den Ruf als Schlächterin der Schlächter beschert hatte.
Sie hatte sich rehabilitiert, indem sie mich am Ende gerettet hatte, aber wir waren eindeutig nicht die besten Freunde. Zuletzt hatte ich gehört, dass sie sich nach einer superschnellen Romanze, die selbst mich überrascht hatte, mit Quinn, einem anderen Freund von mir, verlobt hatte.
Quinn war früher Vampirjäger gewesen, dann aber in einen Vampir verwandelt worden und hatte große Schwierigkeiten mit diesem Wechsel. Zurückhaltend ausgedrückt. Ich betrachtete ihn als sehr guten Freund, obwohl er ursprünglich mehr als nur eine normale Freundschaft von mir wollte. Wenn ich mich nicht in Thierry verliebt hätte, hätte Quinn mehr von mir haben können. Obwohl er als Jäger mehrmals versucht hatte, mich umzubringen, war er ein guter Kerl. Und verdammt heiß.
Er hatte die Stadt verlassen. Janie hatte ebenfalls die Stadt verlassen. Und ich hatte gehört, dass sie zusammen waren, was mich aus verschiedenen Gründen überrascht hatte. Zuletzt hatte ich gehört, dass sie zurückkommen wollten, um zu heiraten.
So wie Janie meinen Mann knutschte, würde ich sagen, dass diese Pläne wohl geplatzt waren.
Ich würde sie umbringen. Und ihn. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Aber nein. Nein. Es musste mehr dahinterstecken.
Thierry hatte doch gestern Abend vorgeschlagen, »zum Schein andere Leute« zu treffen, oder? Es würde helfen, Gideon davon zu überzeugen, dass nichts mehr zwischen uns war und dass ich mich an seine Anweisung gehalten hatte, mit Thierry Schluss zu machen.
Ein Auftritt in einer öden Vampirseifenoper war wirklich das Letzte, wonach mir der Sinn stand. Aber ich glaubte langsam, dass es Gideon sozusagen von unserer Spur ablenken würde, wenn wir uns mit anderen trafen.
Ich fragte mich, ob die Bilder von ihm und Janie irgendetwas damit zu tun hatten, dass alle denken sollten, wir würden uns mit anderen treffen. Aber wenn Janie gerade mit Thierry zusammen war, fragte ich mich, wo …
»He, Sarah«, ertönte eine männliche Stimme hinter meiner linken Schulter. »Ich habe dich überall gesucht.«
Ich kannte diese Stimme. Und Amy ebenso. Mit schockierter Miene glitt ihr Blick an mir vorbei, dann begann sie breit zu lächeln und sah wieder mich an.
»Du hinterhältiger kleiner Teufel«, rief sie aus. »Natürlich! Jetzt ergibt alles einen Sinn. Wieso hast du mir nicht erzählt, dass ihr wieder zusammen seid? Das ist ja wundervoll!«
Ein Mann glitt auf den Stuhl neben mir. »Sarah behält ihre Geheimnisse gern für sich, nicht? Aber ja, Amy, wir sind zusammen und waren noch nie glücklicher. Erzähl es unbedingt jedem, den du kennst, okay?«
Sie tippte bereits eine Nachricht in ihr Telefon. »Du liegst weit vorn. George rastet aus, wenn er das hört. Er rastet aus!«
Ich drehte mich langsam zu Quinn um. Der Schock, ihn einfach so aus dem Nichts wiederzusehen, machte mich vollkommen sprachlos.