5
Mein Heilmittel. Das war es also.
Heiliger
Strohsack.
Anfangs hatte ich solche Schwierigkeiten gehabt,
mich an das Vampirleben zu gewöhnen, dass ich mich an das Gerücht
geklammert hatte, es gäbe ein Heilmittel. Die Suche
danach hatte mir ziemlichen Ärger eingehandelt und mit der
enttäuschenden Erkenntnis geendet, dass es kein wirkliches
Heilmittel gegen Vampirismus gab. Wenn man einmal infiziert war,
konnte man nichts mehr dagegen tun.
Reißzähne für immer.
Aber das hier war kein Heilmittel. Es war eine
Ausrottung. Eine vollkommen weiße Weste, es
wurde alles gelöscht, das mir passiert war. Durch die Ausrottung
des Fluches würde ich wieder zum Menschen werden.
Ich müsste keine Angst mehr haben, von einem
übereifrigen Jäger erstochen zu werden. Hätte keine spitzen Zähne
mehr und müsste kein Blut mehr trinken, um zu überleben.
Ich würde mein Spiegelbild zurückbekommen. Ich
konnte feste Nahrung zu mir nehmen. Ich hätte die Chance, ein
normales Leben zu führen, ohne mir Sorgen machen zu müssen, ob ich
einen Vampirclub fand, in dem es meine Lieblingsblutgruppe
gab.
»Das ist großartig, Sarah«, sagte George. »Ich
weiß, dass du dir das die ganze Zeit gewünscht hast.«
Natürlich.
Das war wirklich zu schön, um wahr zu sein. Das
konnte nur eins bedeuten.
»Wo ist der Haken?«, fragte ich.
Finsternis hatte immer noch die Augen
geschlossen. »Der Haken?«
»Wenn ich das mache, bin ich meinen Fluch und
meinen Vampirvirus los.«
»Und sechs Monate deines Lebens.«
Da dämmerte es mir. »Meine Erinnerung geht
verloren,
oder?« Alles, was ich in den vergangenen sechs Monaten erlebt
habe.
»Richtig.«
Mir sank der Mut. Herzukommen und nach einer
Lösung für meinen Nachtwandlerfluch zu suchen, war eine Sache. Die
Heilung vom Vampirismus war ein kostenloser Bonus. Aber alles zu
vergessen, was ich erlebt hatte?
Und jeden, dem ich begegnet war. Alles, was ich
erfahren hatte. Alles, was mich verändert hatte, ob zum Besseren
oder zum Schlechteren, aber das mich zu der Person gemacht hatte,
die ich heute war.
Abgesehen davon: Wenn Gideon herausfand, dass
ich ein Geschäft mit dem Grufti-Jungen gemacht hatte, um das
loszuwerden, das ihn wahrscheinlich von seinem Problem heilen
konnte – und ich mich noch dazu nicht mehr
erinnern konnte, wer er überhaupt war …
Vermutlich würde er diese Neuigkeit nicht sehr
gut aufnehmen. Das war reine Vermutung.
Dann würde er bestimmt nicht mehr versuchen, mir
Schmuck zu schenken. Er würde seine Drohungen wahrmachen, egal ob
ich mich noch an ihn erinnern konnte oder wusste, wieso er das
tat.
Ich hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Das war mein neues Leben.
»Hör zu … Düsternis
…«
»Finsternis.«
»Wie auch immer. Können wir das korrigieren?
Gibt es vielleicht die Möglichkeit, nur den Fluch loszuwerden und
wegen dem anderen Kram erst wiederzukommen, wenn sich meine Gefühle
ändern sollten?«
Er schlug die Augen auf. Ich schnappte
erschrocken nach Luft und packte Georges Hand, denn seine Augen
waren ganz und gar dunkelrot. Vermutlich war er wirklich ein
Hexenmeister. Mit normalen Augen war das unmöglich.
Eindeutig.
»Machst du Witze?«, schnappte er.
»Oh … nein. Nein.«
»Hör zu, Lady, das ist ein einmaliges Geschäft.
Du bezahlst mich, und ich führe die Ausrottung durch. Anschließend
gehst du. Übrigens funktioniert diese Art schwarzer Magie
normalerweise nicht auf die Art, erst gucken, dann zahlen. Das ist
schon ein Entgegenkommen von mir. Wenn du es jetzt nicht machst,
bist du verdorben.«
»Verdorben?«
»Ja. Wenn ich es noch einmal versuche, ist die
Wahrscheinlichkeit groß, dass die dämonischen Kräfte mir dabei
schaden. Ich spreche da von einer Lobotomie und ziemlich viel
Sabbern. Selbst wenn du nicht verdorben wärst: Meine Mutter und ich
ziehen nach Deutschland und kommen nicht zurück. Ich bin schon
froh, dass ich noch so lange bleiben darf, um auf das
Death-Suck-Konzert zu gehen. Danach ist es vorbei.«
»Vielleicht solltest du es tun, Sarah«, sagte
George. »Was sind schon ein paar Erinnerungen für etwas so
Großes?«
»Entscheide dich.« Finsternis klang noch unfreundlicher als zuvor.
»Denn wenn die Kerze ausgeht, ist das Geschäft vorbei.«
George drückte meine Hand. »Du kannst deinen
Fluch loswerden. Puff. Einfach weg. Das allein ist es schon wert,
findest du nicht? Willst du das alles nicht vergessen und wieder
normal werden?«
Er wusste nicht, wieso ich zögerte. Er dachte,
ich würde nur zögern, weil ich meine Erinnerung verlor.
Wie Höllenwesen geisterten ganz unterschiedliche
Szenarien durch meinen Kopf. Ich hatte Kopfschmerzen. Ich wünschte,
mir würde eine andere Lösung einfallen, aber es gab keine. Nicht
heute. Nicht morgen. Möglicherweise nie.
»Ich glaube, normal…«, meine Stimme klang
genauso angespannt wie ich mich fühlte, »… geht nicht mehr.«
Ich blies die Kerze aus.
Die Finsternis, auch bekannt als der
deutschstämmige Death-Suck-Fan Steven Kendall, bekam einen Anfall,
als ich die Anzahlung in Höhe von eintausend Dollar zurückforderte.
Wir gingen ohne sie. Als George ausparkte, fuhr gerade die Mutter
des Hexenmeisters vor.
Das war nicht sehr spaßig gewesen. Vorsichtig
ausgedrückt.
Ich war enttäuscht. Es war, als hätte man mit
einem Stück Schokoladenkuchen – einem Stück Schokoladenkuchen, der
all meine Probleme lösen konnte – vor meiner Nase herumgewedelt,
bis mir einfiel, dass ich ein Vampir war, der keine feste Nahrung
zu sich nehmen konnte.
Meine Erinnerungen der letzten sechs Monate
waren deutlich mehr wert als zweitausend Dollar. Geld konnte man
wenigstens zurückzahlen.
Die letzten sechs Monate waren eigentlich egal.
In den letzten drei Monaten hatte ich die schlimmsten Erlebnisse
meines bisherigen Lebens gehabt. Aber auch die schönsten.
Wäre ich kein Vampir geworden, hätte ich Thierry
nicht getroffen.
Oder George.
Oder Barry.
Nun, das wäre zumindest ein Lichtblick.
Mein Mobiltelefon vibrierte, und ich zog es aus
meiner Handtasche, um auf das Display zu sehen.
ANRUF VON G.
Der Tag entwickelte sich nicht gut.
Ich überlegte, ob ich warten sollte, bis die
Mailbox ansprang, aber mit einem Blick zu George, der ganz auf den
Gardiner Expressway konzentriert war, nahm ich das Gespräch
an.
»Ja?«, meldete ich mich.
»Ist dein Treffen mit dem jungen Hexenmeister
gut gelaufen?«, fragte Gideon.
Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf.
Anscheinend wusste er immer, wo ich mich aufhielt, als hätte er
übernatürliche Kräfte anstelle von Spionen. Das war extrem nervig.
»Nein.«
»Bist du immer noch verflucht?«
»Ich fürchte, ja.«
»Wer ist das?«, fragte George und stellte das
Radio leiser. »Ist das Amy?«
»Nein«, erklärte ich. »Das ist eindeutig nicht
Amy.«
»Amy bekommt gerade eine Gesichtsbehandlung,
nachdem sie sich die Hände hat maniküren lassen«, wurde ich von
Gideon informiert. »In einem hübschen kleinen Spa Schrägstrich
Friseursalon namens Studio Fünf. Sie gibt genau fünfzehn Prozent
Trinkgeld, falls es dich interessiert.«
Vermutlich wäre ein Laden, der nur Vampire zur
Kundschaft hatte, nicht gerade begeistert zu erfahren, dass Gideon
ihn entdeckt hatte. Und das so mühelos. Selbst wenn ich mich jemals
vor Jägern sicher gefühlt hätte, löste sich dieses Gefühl gerade in
Wohlgefallen auf. Dachten wir wirklich, unsere Vampirclubs wären
absolut geheim und sicher?
»Ich kann jetzt nicht reden«, sagte ich.
»Würde George nicht gern von unserer kleinen
Partnerschaft wissen?«
»Das würde ich so nicht sagen.« Ich schluckte,
als ich daran dachte, in welchem Zustand ich ihn gestern Abend in
dem Hotelzimmer zurückgelassen hatte. »Geht es dir heute
besser?«
»Siehst du, ich wusste,
dass du mich magst.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Wohl kaum. Aber du
warst in ziemlich schlechter Verfassung.«
»Ich glaube, ich sehe jetzt alles in allem ganz
gut aus.« Er schwieg kurz. »Aber du hast recht. Mir geht es nicht
gut. Wenn ich noch zwei Tage durchhalte, wird alles besser.«
»Was willst du? Oder wolltest du mich nur daran
erinnern? Kannst du mich nicht in Ruhe lassen, bis ich dich
unbedingt wiedersehen muss?«
»Wenn ich dich in Ruhe lasse, rast du aus der
Stadt und versuchst einfach, die Geschehnisse zu ändern. Wenn du
dich noch ein paar Tage benimmst, bin ich geneigt, dir mehr
Freiraum zu lassen.« Seine tiefe Stimme klang nicht mehr ganz so
charmant. Das sollte mir eine Warnung sein. Ich war noch einmal mit
einem blauen Auge davongekommen. Ob er wohl wusste, wie knapp ich
davor gewesen war, seine Pläne platzen zu lassen?
»Ich benehme
mich.«
»Ich weiß, dass du heute Morgen Thierry gesehen
hast. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir vereinbart hatten, dass
das nicht vorkommt.«
Ich spürte, wie sich eine panische Kralle um
mein Herz schloss und es zerquetschte. »Das hatte nichts zu
bedeuten, er war nur zufällig da. Ich wollte ihn nicht
treffen.«
»Ich glaube dir.« Aber irgendetwas in seiner
Stimme sagte mir, dass er mir nicht
glaubte. »Sorge bitte dafür, dass das nicht noch einmal
vorkommt.«
»Nun, nachdem du so brav bitte gesagt
hast.«
»Ich will dich später sehen. Ich brauche etwas
von dir.«
»Was? Eine geistreiche Antwort? Da hast du dich
verwählt.«
»Etwas anderes. Komm um acht Uhr zu meinem
Hotel. Ich erwarte dich.«
Er legte auf. Ich hatte das Telefon so fest
umklammert, dass meine Finger taub wurden.
Ich räusperte mich. »Okay, Mom. Schön, dass du
angerufen hast. Ich hoffe, dass ich dich und Dad bald besuchen
kann. Wiedersehen.«
Ich klappte das Telefon zu und sah zu George,
der mich verwirrt anstarrte. »Das war deine Mom? Ich habe ja nur
die eine Seite gehört, aber das klang ziemlich merkwürdig.«
»Du kennst meine Mutter nicht sehr gut.«
Ich glaubte zu wissen, was Gideon von mir
wollte. Jetzt, wo er wusste, dass ich nach einer Lösung für meinen
Fluch gesucht hatte, dachte er, ich wäre verzweifelt genug, im
Tausch für das Zauberbuch den Roten Teufel ans Messer zu
liefern.
Da hatte er recht.
Ich kannte den Kerl nicht. Vielleicht war er böse. Vielleicht hatte er es verdient, unter
Gideons Pflock zu enden.
Vielleicht aber auch nicht.
Wenn ich weiter so unentschieden war, würde ich
den Fluch nicht loswerden. Ich hakte meinen Finger in die Kette.
Ich brauchte mehr Zeit, um mir über alles klar zu werden. Ich
musste ihn noch etwas hinhalten. So lange wie möglich.
Nachdem George mich zu Hause abgesetzt hatte und
zu seinem Vorstellungsgespräch gefahren war, versuchte ich ein
Nickerchen zu machen. Ich konnte nicht schlafen. Was für eine
Überraschung. Die Ereignisse des heutigen Tages kamen mir immer
wieder hoch wie schlechtes mexikanisches Essen.
Also lief ich unruhig auf und ab. Und sah fern.
Und recherchierte etwas im Internet.
Vampire konnten keine gewöhnliche Erkältung
bekommen. Das war gut zu wissen.
Dann versuchte ich so viel wie möglich über
Gideon Chase herauszufinden. Es gab reichlich Informationen und ein
paar sehr schmeichelhafte Bilder von ihm mit einer ganzen Schar
reizender Begleiterinnen auf Filmpremieren und in schicken
Restaurants. Er hatte für wohltätige Zwecke gespendet und ein
Gebäude für ein Kinderkrankenhaus finanziert.
Er war ein schräger Held. Zumindest
oberflächlich gesehen.
Ich musste etwas tiefer graben, um auf seine
Verbindung zu der Vampirjägerorganisation zu stoßen. Die meisten
normalen Websurfer würden dem überhaupt keine Aufmerksamkeit
schenken, denn 99 Prozent der Welt ignorierten oder leugneten, dass
es Vampire außerhalb Hollywoods überhaupt gab. Sie glaubten
bestimmt, dass es nur ein Gerücht war, so wie mein Spitzname die
»Schlächterin der Schlächter«. Oder waren der Meinung, Vampire
wären eine reine Erfindung. Für sie war Gideon Chase einfach nur
ein Milliardär, ein reicher gut aussehender Kerl, der gern reiste
und sich amüsierte.
Der Rest der Welt glaubte, dass er jetzt
tot war.
Aber in zwei Tagen würde er mit meiner
freundlichen Unterstützung wieder auferstehen.
Wenn ich lange genug lebte, konnte ich bestimmt
die Filmrechte verscherbeln.
Offenbar hatte Amy gehört, dass ich nach ihr
gesucht hatte, denn sie rief mich am späten Nachmittag an und
wollte sich mit mir auf einen Kaffee treffen. Da ich abgesehen von
meiner Acht-Uhr-Verabredung mit Gideon keine weiteren Pläne hatte,
beschloss ich, mich eine Weile nicht mit meinen Problemen zu
beschäftigen und mich lieber mit Amy abzulenken.
Ich bewegte meinen Hintern zu einem Laden, der
Bodacious Bean hieß, eine Art Coffeeshop,
in dem es eine wunderbar feine kolumbianische Haselnussmischung
gab. Amy war bereits da und saß an einem Ecktisch. Vor ihr standen
ein Moccaccino und ein Bananenbrot.
Noch eine Wahrheit über Vampire: Manche Vampire
konnten problemlos feste Nahrung zu sich nehmen, ohne dass sie sich
daraufhin am liebsten sofort all ihrer inneren Organe entledigt
hätten. Anderen Vampiren – mir zum Beispiel – war dieser Luxus
nicht vergönnt.
Amy konnte essen, was sie wollte. Normalerweise
vergaß sie, dass das nicht bei allen so war.
»Möchtest du auch ein Bananenbrot?«, fragte
sie.
Ich winkte ab. »Nein, danke.«
Ich nahm ihr gegenüber Platz und schob mir die
Sonnenbrille auf die Stirn. Vom Fenster aus konnte man auf die
belebte Yonge Street blicken. Sie wirkte wie an einem geschäftigen,
ganz gewöhnlichen kalten Sonntag Ende Februar.
Amy sah aus, als versuchte sie zu lächeln, was
ihr aber nicht gelang. Ihre Mundwinkel schienen am Kinn festgeklebt
zu sein. »Wie geht es dir, Sarah?«
»Du klingst etwas bedrückt. War es nicht gut bei
der Maniküre?«
»Doch, das war gut.« Sie warf einen Blick auf
ihre perfekt manikürten Nägel. An ihrem Ringfinger blinkte – mit
besten Empfehlungen von Barry – ein Ring mit einem winzigen
Diamanten, und auf dem Nagel blitzte nun ebenfalls ein Stein.
»Barry hat gesagt, du wärst vorbeigekommen.«
»Es wundert mich, dass er es dir überhaupt
erzählt hat, wenn man bedenkt, wie sehr er mich hasst.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht,
wieso er in letzter Zeit so launisch ist.«
»In letzter Zeit?«
»Er hat gesagt, dass Thierry da war, als du
kamst und dass du deshalb extrem unglücklich ausgesehen
hast.«
»Das hat er gesagt?« Ich nippte peinlich berührt
an meinem Kaffee.
Sie nickte bedeutungsvoll, und ich runzelte die
Stirn. Was war los? Wo hatte sie heute bloß ihr übersprudelndes
blondiertes Ich gelassen?
Amy stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich mache
mir Sorgen um dich.«
Ich hob erstaunt die Brauen. »Moi?«
Sie nickte. »Ich weiß, dass du versuchst, alle
davon zu überzeugen, dass es dir gut geht, aber ich sehe dir doch
an, dass das nicht stimmt, Sarah. Wir sind Freundinnen. Du kannst
mir nichts vormachen.«
Das ging ja gut los. »Ich weiß nicht, was du
meinst. Es ist alles bestens. Wunderbar, wirklich.«
»Ich weiß, dass du gesagt hast, du hättest mit
Thierry Schluss gemacht, aber das stimmt gar nicht, oder?«
Mir war übel. War ich eine so schlechte
Lügnerin, dass ich selbst Amy nicht überzeugen konnte? Ich liebte
sie über alles, aber sie war nicht gerade die Hellste.
Normalerweise nahm sie alle Informationen einfach so hin, ohne
weiter nachzufragen. Ich hatte ihr erzählt, dass ich meine
Beziehung mit Thierry beendet hätte, und sie hatte es geglaubt. Sie
war glücklich gewesen, dass ich mich von diesem »armseligen
Idioten« getrennt hatte. Das waren genau ihre Worte gewesen.
»Natürlich stimmt das. Ich habe Schluss
gemacht.«
»Wieso warst du dann vorhin bei mir, um mit ihm
zu reden?«
Ich brauchte einen Augenblick, weil ich erst die
Umgebung prüfte. Da Gideon anscheinend ständig wusste, was ich tat,
war ich sicher, dass ich auch hier von jemandem beobachtet wurde.
Aber von wem? Von der Gruppe Teenager, die völlig mit sich
beschäftigt schien? Oder der alten Frau mit dem doppelten Espresso
drüben an dem Regal mit den überteuerten, handbemalten
Kaffeebechern? Oder vielleicht dem Kerl mit dem Blindenhund und dem
Chai-Latte? Er sah verschlagen aus. Ebenso wie sein Hund.
»Ich war dort, weil ich dich sprechen wollte, nicht ihn«, erklärte ich. »Es
war purer Zufall, dass Thierry da war. Ich kann schließlich nichts
dafür, dass dein Mann zufällig der Sklave von meinem Ex ist.«
»Der Begriff gefällt mir nicht. Ich würde ihn
eher als Diener bezeichnen.«
»Richtig. Nun, egal, was er ist, ich bin nicht
sehr lange geblieben. Ich wollte nicht stören, was auch immer
Thierry, Veronique und er dort zu tun hatten.«
»Es hatte etwas mit dem Ring zu tun«, sagte sie.
»Die haben sich kürzlich bei Thierry gemeldet.«
Der Ring? Sehr interessant und zwar so, dass es
mich beinahe unerträglich neugierig machte. Der Ring war ein
Vampirrat mit Sitz in Kalifornien, der jedoch auf der ganzen Welt
Dependancen hatte. Der Ring hatte sich für mich interessiert, als
mein Ruf als »Schlächterin der Schlächter« aufkam.
Ich runzelte die Stirn. »Ich frage mich, was die
wohl aushecken?«
»Es geht um deinen Fluch«, erklärte sie
freiheraus. »Sie
haben davon gehört und wollten wissen, ob du eine Gefahr für
Leben, Freiheit und das Vampirleben darstellst.«
Ich bekam runde Augen. »Und?«
»Thierry hat dich verteidigt. Er hat gesagt,
dass der Fluch nur eine vorübergehende Erscheinung wäre und dich
überhaupt nicht beeinträchtigt.«
Mein Held. »Das ist aber
süß von ihm.«
»Er hat ihnen aber auch gesagt, dass du momentan
äußerst unberechenbar bist.«
Mistkerl! »Das hat er
gesagt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls habe
ich das gehört.«
Ich war erst einem älteren Mitglied des Rings
begegnet. Er hatte versucht, mich umzubringen. Obwohl er verrückt
gewesen war, hatte die Organisation bei mir deshalb keinen guten
Eindruck hinterlassen.
»Wolltest du mich deshalb hier treffen?«, fragte
ich. »Ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber ich werde nicht
ausrasten. Thierry kommt mit den Vampiren vom Ring schon zurecht,
und solange ich meine Goldkette habe, stelle ich keine Bedrohung
für irgendjemanden dar.«
Ja, solange ich sie um meinen Hals beließ. Für
immer. Das Bild von dem verängstigten blassen Gesicht des Zöglings
tauchte vor meinem inneren Auge auf. Und der verlockende Pulsschlag
an ihrem Hals. Ich klammerte mich derart an die Tischkante, dass
meine Knöchel ganz weiß wurden. Dann zwang ich mich, mit zitternder
Hand einen Schluck Kaffee zu trinken.
»Du liebst ihn immer noch, stimmt’s?«, fragte
Amy spitz.
Ich schüttelte den Kopf. »Amy …«
»Er hat dich sitzenlassen, richtig? Nicht anders
herum.«
Ach du je! Wenn sich Amy einmal etwas in den
Kopf gesetzt hatte, war es zwecklos, sie von etwas anderem
überzeugen zu wollen. Sie war zwar keine Rhodes-Stipendiatin, aber
sie war unerbittlich. »Okay, du hast mich erwischt. Thierry hat
Schluss gemacht. Ich habe versucht, mein Gesicht zu wahren, indem
ich behauptet habe, ich wäre es gewesen.«
Sie schien zutiefst erschüttert von meinem
falschen Geständnis. »Ich wusste es.«
»Ich tue, was ich kann. Es ist vorbei. Es tut
schrecklich weh, aber ich bemühe mich sehr, es zu
akzeptieren.«
Ich hatte in letzter Zeit so viel gelogen, dass
ich mich wunderte, wieso meine Beine noch nicht kürzer geworden
waren – oder meine Nase länger.
»Barry hat gesagt, er könnte nicht glauben, dass
du Schluss gemacht hast.«
»Darauf wette ich.« Ich verkniff es mir, mit den
Augen zu rollen. »Nun, entspann dich. So schlimm ist das nun auch
wieder nicht, okay? Es geht mir gut. Ich finde mich langsam, aber
sicher damit ab.«
»Er hat dich verlassen, als alles gerade richtig
schwierig wurde … mit deinem Fluch.« Sie wirkte angespannt. »Ich
habe von Anfang an gewusst, dass er ein egoistischer Mistkerl ist.
Erst betrügt er seine Frau mit dir …«
Bei diesen Worten zuckte ich zusammen. »Ich
würde nicht von betrügen sprechen. Schließlich wusste Veronique
Bescheid und war mit allem einverstanden.«
»Trotzdem.« Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Oh, Sarah,
ich will dir das eigentlich gar nicht erzählen, aber ich
muss.«
Ich beugte mich über den Tisch zu ihr hinüber
und ergriff ihre Hand. »Oh, mein Gott, Amy, was ist denn? Was ist
los?«
»Vor einer Stunde habe ich … Thierry in einem
Restaurant weiter unten in der Straße gesehen. Vielleicht ist er
sogar noch da. Deshalb habe ich dich angerufen.«
»Nun, das ist wirklich schockierend, wenn man
bedenkt, dass er nichts isst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat dort mit jemand
etwas getrunken. Als ich gesehen habe, mit wem, war ich derart
schockiert. Das hätte ich nie gedacht. Sarah …« Sie schüttelte sich
und stieß die Luft aus. »Ich glaube, Thierry hat nicht nur seine
Frau, sondern auch dich betrogen. Er spielt ein doppeltes
Spiel!«
Mein Auge begann zu zucken. »Wovon redest
du?«
»Ich wollte es dir nicht erzählen, aber du musst
es unbedingt wissen. Es beweist, dass er ein absolut widerlicher
Kerl ist und deiner nicht wert.«
»Willst du sagen, dass du ihn mit einer anderen
Frau in einem Restaurant gesehen hast?«
Sie nickte ernst.
»Und es war nicht Veronique.«
Sie schüttelte ernst den Kopf.
Ich räusperte mich. »Hat es auf dich so gewirkt,
als wären die beiden richtig zusammen? Als würden sie nicht nur
etwas zusammen trinken, sondern hätten eine Romanze?«
Wieder nickte sie ernst.
»Was genau veranlasst dich zu dieser
Vermutung?«, fragte ich steif.
Sie griff in ihre Tasche und zog ihr
Mobiltelefon hervor. »Ich habe einen Beweis.«
»Hast du Fotos gemacht?«
Sie nickte. »Ich überlege, ob ich mir eine
Lizenz als Privatdetektiv besorge.« Ihre Miene hellte sich etwas
auf. »Ich glaube, ich wäre gut darin, nichtsnutzige Männer beim
Ehebruch zu erwischen. Ich habe gehört, dass man damit ganz gut
verdienen kann.«
Keine Ahnung, wieso ich mich mit der Vorstellung
so schwertat. Sie schickte mir regelmäßig Fotos aus den
Umkleidekabinen irgendwelcher Boutiquen, weil sie meine Meinung zu
irgendwelchen Kreationen hören wollte. Das war doch eigentlich auch
nichts anderes.
»Wenn du nicht willst, musst du sie dir nicht
ansehen. Ich meine, ihr habt euch getrennt. Ich wollte dir nur
beweisen, dass er ein gemeiner Kerl ist. Ein absolut gemeiner Kerl,
wenn man überlegt, mit wem er angebändelt hat. Und dass du dich
über eure Trennung nicht mehr aufregen solltest, falls du das
überhaupt noch tust.«
Ich glaubte ihr kein Wort. Insbesondere wenn sie
ein so altmodisches Wort benutzte wie »gemeiner Kerl«. So etwas
machte Thierry nicht, oder? Nein. Natürlich nicht. Wir waren uns
vielleicht nicht immer einig, um es freundlich auszudrücken, aber
er liebte mich. Wir hatten zu viel miteinander durchgestanden, als
dass er mitten in der Megakrise unseres Lebens einfach so nebenbei
eine neue Beziehung anfangen würde. Ich vertraute ihm voll und
ganz.
Sarah + Thierry.
Ewige Liebe.
Und trotzdem. Es konnte nicht schaden, einen
kurzen Blick darauf zu werfen.
»Zeig mir die Fotos«, sagte ich fest.
Sie durchsuchte das Menü und reichte mir das
Telefon. Ich starrte auf das erste Bild und ging dann weiter zu dem
nächsten. Und dem übernächsten.
Thierry nahm in einem gehobenen Restaurant ein
Getränk zu sich und saß direkt am Fenster, so dass Amy ein paar
gute Aufnahmen machen konnte.
Es gab ein Bild, auf dem Thierry lachte.
Er lachte? Das war nicht
typisch für ihn.
Ein weiteres, auf dem er über den Tisch hinweg
nach der Hand seiner Begleitung griff.
Und eins … auf dem er … ihre … Hand … küsste.
Ich biss die Zähne zusammen.
Auf einem anderen beugte er sich über den Tisch
… und… küsste … sie … auf … den …
Mund.
Bei dem Anblick sah ich rot, und mein Herz
hämmerte gegen meine Rippen.
Die Frau lachte aus vollem Hals und schien sich
bestens zu amüsieren. Auf einem Bild sah sie aus dem Fenster, so
dass deutlich ihr Gesicht zu erkennen war.
»Ist das zu fassen?«, fragte Amy atemlos. »Ich
dachte, sie wäre verlobt und würde heiraten. Diese Schlampe! Dieses
hinterhältige blonde Flittchen!«
Ich erkannte sie sofort. Es gab absolut keinen
Zweifel, wen Thierry da auf den Bildern unverhohlen umwarb.
»Das ist Janie Parker«, sagte Amy mit deutlicher
Verachtung. »Verdammt, kannst du das glauben?«
Nein. Das konnte ich verdammt noch mal
nicht.
Janie war erst kürzlich als mein Leibwächter
angeheuert worden, um mich vor Jägern zu schützen, die es aufgrund
meines unseligen falschen Rufs auf mich abgesehen hatten. Am Ende
hatte ich erfahren, dass sie eine falsche Identität angegeben hatte
und eigentlich eine Söldnerin war, die sich an mir rächen wollte,
weil ich in Notwehr ihren verrückten Jägerbruder erschossen hatte,
was mir überhaupt erst den Ruf als Schlächterin der Schlächter
beschert hatte.
Sie hatte sich rehabilitiert, indem sie mich am
Ende gerettet hatte, aber wir waren eindeutig nicht die besten
Freunde. Zuletzt hatte ich gehört, dass sie sich nach einer
superschnellen Romanze, die selbst mich überrascht hatte, mit
Quinn, einem anderen Freund von mir, verlobt hatte.
Quinn war früher Vampirjäger gewesen, dann aber
in einen Vampir verwandelt worden und hatte große Schwierigkeiten
mit diesem Wechsel. Zurückhaltend ausgedrückt. Ich betrachtete ihn
als sehr guten Freund, obwohl er ursprünglich mehr als nur eine
normale Freundschaft von mir wollte. Wenn ich mich nicht in Thierry
verliebt hätte, hätte Quinn mehr von mir haben können. Obwohl er
als Jäger mehrmals versucht hatte, mich umzubringen, war er ein
guter Kerl. Und verdammt heiß.
Er hatte die Stadt verlassen. Janie hatte
ebenfalls die Stadt verlassen. Und ich hatte gehört, dass sie
zusammen waren, was mich aus verschiedenen Gründen überrascht
hatte. Zuletzt hatte ich gehört, dass sie zurückkommen wollten, um
zu heiraten.
So wie Janie meinen Mann knutschte, würde ich
sagen, dass diese Pläne wohl geplatzt waren.
Ich würde sie umbringen. Und ihn. Nicht
unbedingt in dieser Reihenfolge.
Aber nein. Nein. Es
musste mehr dahinterstecken.
Thierry hatte doch gestern Abend vorgeschlagen,
»zum Schein andere Leute« zu treffen, oder? Es würde helfen, Gideon
davon zu überzeugen, dass nichts mehr zwischen uns war und dass ich
mich an seine Anweisung gehalten hatte, mit Thierry Schluss zu
machen.
Ein Auftritt in einer öden Vampirseifenoper war
wirklich das Letzte, wonach mir der Sinn stand. Aber ich glaubte
langsam, dass es Gideon sozusagen von unserer Spur ablenken würde,
wenn wir uns mit anderen trafen.
Ich fragte mich, ob die Bilder von ihm und Janie
irgendetwas damit zu tun hatten, dass alle denken sollten, wir
würden uns mit anderen treffen. Aber wenn Janie gerade mit Thierry
zusammen war, fragte ich mich, wo …
»He, Sarah«, ertönte eine männliche Stimme
hinter meiner linken Schulter. »Ich habe dich überall
gesucht.«
Ich kannte diese Stimme. Und Amy ebenso. Mit
schockierter Miene glitt ihr Blick an mir vorbei, dann begann sie
breit zu lächeln und sah wieder mich an.
»Du hinterhältiger kleiner Teufel«, rief sie
aus. »Natürlich! Jetzt ergibt alles einen Sinn. Wieso hast du mir
nicht erzählt, dass ihr wieder zusammen seid? Das ist ja
wundervoll!«
Ein Mann glitt auf den Stuhl neben mir. »Sarah
behält ihre Geheimnisse gern für sich, nicht? Aber ja, Amy, wir
sind zusammen und waren noch nie glücklicher. Erzähl es unbedingt
jedem, den du kennst, okay?«
Sie tippte bereits eine Nachricht in ihr
Telefon. »Du
liegst weit vorn. George rastet aus, wenn er das hört. Er rastet aus!«
Ich drehte mich langsam zu Quinn um. Der Schock,
ihn einfach so aus dem Nichts wiederzusehen, machte mich vollkommen
sprachlos.