16
Wenn ich erklären sollte, wie es sich anfühlte, als Nachtwandlerin am helllichten Tag hinauszugehen, würde es sich so anhören:
Purer Schmerz.
Milliardenfach.
Vielleicht hört sich das übertrieben an, war es aber nicht. Ehrlich. Sonne und Nachtwandler passten nicht zusammen. Überhaupt nicht. Wenn ich der Sonne für längere Zeit ausgesetzt war, und wir sprechen hier von zehn bis fünfzehn Sekunden, ging ich in Flammen auf und lief mit fuchtelnden Armen durch die Gegend, bis ich mich in den Inhalt eines schmutzigen Aschenbechers verwandelte und über den Bürgersteig verteilt wurde. Vermutlich würde ich selbst dann noch weiterschreien.
Als ich aus dem Darkside in das tödlich heiße Sonnenlicht trat, zog ich mir das Hemd über den Kopf und lief wie ein Sprinter bei der Olympiade auf den nächsten U-Bahn-Eingang zu. Ich stolperte die Treppen in die Glück verheißende Finsternis hinunter und versuchte zu ignorieren, dass ich wegen meiner rot glühenden Haut, von der kleine Rauchwolken aufstiegen, seltsam angestiert wurde.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte jemand.
»Hervorragend«, keuchte ich. »Mir ging es noch nie besser. Haben Sie vielen Dank.«
Meine Haare klebten an der Stirn, denn ich verströmte eimerweise Schweiß. Ich tastete nach meinen Augenbrauen, um mich davon zu überzeugen, dass sie nicht angesengt worden waren. Das würde mich wirklich nerven. Aber sie waren noch da. Für den Moment jedenfalls. Bis ich mich wieder auf Raumtemperatur abgekühlt hatte, lehnte ich wie ein verschwitztes Soufflé, das man gerade aus dem Ofen gezogen hatte, an der Wand der Haltestelle.
Veronique war mit Gideon zusammen. Dieser Gedanke wirbelte fortwährend durch meinen Kopf.
Ich konnte es nicht fassen. Klar, ich wusste, dass sie egoistisch und selbstverliebt war, aber hatte sie wirklich das mit Überleben gemeint?
Wenn es nach mir ginge, würde sie sofort aus dem Dschungelcamp rausgewählt werden.
Das Schlimmste war, dass sie sich anscheinend überhaupt keiner Schuld bewusst war.
Nun, gut. Das war nicht das Schlimmste.
Die ganze Situation hatte zumindest etwas Gutes, ihr Blut hatte mir vorübergehend Kontrolle über meinen Fluch verschafft. Normalerweise würde ich nach einer solchen Zeit ohne meine Goldkette bereits an jedem menschlichen Hals schnuppern, der sich mir bot, um herauszufinden, welcher am besten schmeckte.
Aber ich schnüffelte an niemandem herum. Natürlich, ich roch sie. Duzende von Menschen drängten auf ihrem Weg zur U-Bahn an mir vorbei. Aber sie verströmten nicht nur den beunruhigenden Geruch von Essen. Da war mehr. Ich konnte an ihrem Geruch erkennen, in welcher Stimmung sie waren. Ob sie gestresst oder ängstlich oder wütend waren.
Es roch … köstlich.
Aber momentan wuchsen meine Reißzähne nicht in die Länge. Schließlich hatte ich gerade erst ein sehr zufriedenstellendes Mahl gehabt.
Gott, was war bloß mit meinem Leben passiert?
Vor dem Fluch hatte ich mit meinem Vampirdasein gehadert. Ich hatte mich dagegen gewehrt, als »Monster« abgestempelt zu werden. Ich hatte angenommen, ich würde mich durch die Verwandlung in einen Vampir verändern, aber das war nicht der Fall. Ich fühlte mich genau wie immer. Deshalb verstand ich nicht, wieso die Jäger auf einmal hinter mir her waren und mich umbringen wollten, nur weil ich war, was ich war.
Doch jetzt begriff ich es. Als die Erde noch von Nachtwandlern bevölkert war, hatte man die Jäger dringend gebraucht. Vor einem Vampir, wie ich jetzt einer war, mussten sich die Leute ängstigen. Sie versteckten sich vor der Sonne und zeigten sich nur nachts, wenn der Hunger sie trieb. Sie waren nicht in der Lage, sich zu beherrschen. Sie wollten sich nicht beherrschen.
Ich war die Art von Vampir, die es verdiente, erstochen zu werden. Ein außer Kontrolle geratenes blutrünstiges Monster.
Ich schluckte schwer. Ich saß tief in der Tinte.
Sehr tief.
Aber immerhin konnte ich noch klar denken. Die Goldkette war großartig gewesen – ein wahres Wunder -, aber sie war nun einmal weg. Damit hatte ich die ganze Zeit über rechnen müssen. Das nervte zwar. Ziemlich sogar. Aber ich musste zusehen, dass ich irgendwie ohne sie zurechtkam.
Ich konnte die Kontrolle behalten. Ich konnte es.
Verdammt. Wem versuchte ich etwas vorzumachen? Ich sollte besser weiterhin denken, dass ich tief in der Tinte saß.
Ich musste Thierry finden.
Thierry. Allein sein schwer auszusprechender französischer Name machte mir Mut – ein winziges bisschen.
Ich zog mein Telefon aus der Tasche, wählte schnell seine Nummer und landete direkt auf der Mailbox. Verflucht. Ich steckte es zurück in die Tasche. Sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinn war ich mittlerweile genug abgekühlt, um mich auf den Weg zu machen. Ich stellte einen Fuß vor den anderen, stieg in eine U-Bahn und fuhr zur Union Station.
Wenn ich erst wieder bei George war, würde ich mich um alles kümmern. Wie ich dorthin kommen wollte, wusste ich zwar noch nicht genau, aber ich würde schon einen Weg finden. Ohne wieder einen Fuß ins Tageslicht zu setzen. Klar.
Ich würde mich des kleinen Vampirantriebs bedienen, der dazu in der Lage war. Ich konnte es. Eins nach dem anderen.
Ich kann es. Ich kann es.
Ich zwang mich, nach etwas Positivem an der Situation zu suchen. Es war schwer, aber schließlich fiel mir etwas ein. Mit dem Erreichen der Union Station hatte ich auch das PATH System von Toronto erreicht – sechzehn Meilen unterirdischer Fußgängertunnel, die das Verkehrssystem mit zahlreichen Gebäuden des Geschäftsviertels verbanden. Es war nicht nötig, sich hier jemals wieder in die oberste Etage zu bewegen. Tatsächlich nie. Es gab Läden, Theater und Restaurants in Hülle und Fülle, und das alles unter der Erde.
Ein wahres Paradies für Nachtwandler.
Dennoch bereitete mir der Gedanke kein Wohlbehagen. Obwohl es fantastisch war, dass mir das PATH im Notfall zum Einkaufen und Bummeln zur Verfügung stand, war es keine angenehme Aussicht, womöglich nie mehr die Sonne zu sehen.
Eigentlich kannte ich das PATH. Als ich noch ein anständiges Leben geführt hatte, hatte ich es täglich benutzt. Aber jetzt … sah alles gleich aus. Mein Kopf fühlte sich neblig an. Ich stellte einen Fuß vor den anderen und bewegte mich in Richtung Norden, wobei ich im Vorbeigehen einige Leute ansah. Sie starrten alle seltsam zurück.
Vielleicht sah ich fürchterlich aus. Schließlich fühlte ich mich so. Wieso sollte ich also nicht auch so aussehen?
»Entschuldigen Sie«, fragte ich eine blonde Frau mit einem Kind von ungefähr drei Jahren. »Kennen Sie sich hier aus?«
Sie riss die Augen auf und wich einen Schritt zurück. »Ich … ich weiß nicht.«
Ich sah auf das Kind hinunter und lächelte es an.
Daraufhin fing das Kleine an zu weinen.
Ich schlug eine Hand vor meinen Mund. Wahrscheinlich hatte ich ihn nur mit meinen Reißzähnen angeblitzt, die länger, um nicht zu sagen schärfer, als üblich waren.
Mein Name ist Sarah Dearly. Meine Spezialität ist es, unschuldige Kinder zu erschrecken.
»Tragen Sie … tragen Sie zufällig Kontaktlinsen?«, fragte die Frau mit zittriger Stimme.
»Kontaktlinsen?«
Oh, Mist. Meine Augen waren noch schwarz. Und meine Reißzähne spitz. Außerdem war ich in einem verschwitzten, aufgelösten, desolaten Zustand. Ich sah mich um und stellte fest, dass einige Leute auf mich aufmerksam geworden waren. Sie sahen mich an, als würde ich jeden Moment die Jacke ausziehen und darunter eine Ladung Dynamit zum Vorschein kommen.
Dann blickte ich hinüber zu der Wand neben uns und bemerkte, dass sie verspiegelt war. Jeder in der Nähe des Donutladens, vor dem ich mich befand, war darin zu sehen.
Jeder. Außer mir, versteht sich.
Das bemerkte auch die Frau. Sie begann zu kreischen und zeigte auf mich, während ihr Kind noch lauter anfing zu heulen.
Ich ging weiter. Schneller. Inzwischen war mir die Richtung egal, solange ich nur von den kreischenden, nach Erdnussbutter riechenden Menschen wegkam. Ein Blick über meine Schulter verriet mir, dass ein paar von ihnen mir zögerlich folgten. Ich wusste nicht, ob es sich um Jäger handelte, die auf den einsamen Vampir aufmerksam geworden waren, oder einfach um neugierige Gaffer. Da ich nicht in der Lage war, klar zu denken, konnte ich es nicht herausfinden. Am besten sollte ich weglaufen, und genau das tat ich.
Ich bog um eine Ecke und fand mich plötzlich einer massiven Gestalt gegenüber. Sie hielt mich an den Schultern fest, blickte auf mich hinunter und strich mir die strähnigen Haare aus dem Gesicht.
»Sarah«, sagte Thierry besorgt. »Beruhige dich.«
Ich musste zugeben, dass ich dazu einen Moment brauchte.
Er zog mich in seine Arme und hielt mich mitten im PATH fest, während ich langsam meine Fassung wiedererlangte.
»W … wie hast du mich gefunden?«, stieß ich nach einem Augenblick hervor.
»Seit du vorhin einfach aufgelegt hast, habe ich nach dir gesucht. Dank unserer Zeuger-Zöglings-Verbindung kann ich dich orten, wenn ich mich konzentriere.«
Er war zwar nicht wirklich mein Erzeuger, aber fast. Nachdem mein teuflisches Blind Date erstochen worden war, hatte Thierry mich mit seinem Blut vor dem Tod gerettet. Damit war die Verbindung zwischen uns geschaffen, von der ich bis heute angenommen hatte, dass nur ich sie hätte.
»Meine Kette ist weg«, erklärte ich mit zitternder Stimme. »Gideon hat sie kaputt gemacht.«
Er biss die Zähne zusammen. »Was
»Und außerdem hat er das Zauberbuch verbrannt.«
»Verstehe.«
»Erklärst du mir jetzt, dass du das ja gleich gesagt hast?«
Mit grimmiger Miene erwiderte er: »Nein.«
»Das solltest du aber. Ich hätte es verdient.«
»Ich könnte nichts sagen, was die Situation verbessert.«
Da hatte er allerdings recht.
Er legte einen Arm um meine Schultern, lenkte mich einen Flur hinunter. Wir liefen und liefen scheinbar eine Ewigkeit, bis wir ein Parkhaus erreichten.
»Für den Fall, dass wir ihn brauchen, hatte ich den an einer zentralen Stelle in der Stadt abgestellt«, erklärte er und deutete mit dem Kopf auf einen weißen Lieferwagen.
Als ich entdeckt hatte, dass ich verflucht worden war und mich die Sonne in einen Chip verwandeln konnte, hatten wir schon einmal einen ähnlichen Lieferwagen benutzt. Es war keine sehr angenehme Fahrt gewesen, aber es hatte funktioniert. Auf diese Weise hatten wir den sonnenscheuen Nachtwandler von A nach B transportiert.
»Was soll ich tun?«, fragte ich ihn.
Er strich mir die Haare aus der Stirn und küsste mich sanft, dann nahm er mein Gesicht in seine Hände und blickte in meine schwarzen Nachtwandleraugen.
»Du steigst hinten in den Lieferwagen, und wir fahren zu George.«
»Aber…«
»Nein. Alles zu seiner Zeit, Sarah.«
»Kannst du mir sagen, dass alles wieder gut wird?«
Er legte den Kopf auf eine Seite. »Willst du, dass ich das sage?«
»Nur, wenn es stimmt.«
»Dann sollten wir uns mit solchen Versprechungen zurückhalten, bis wir entschieden haben, was wir als Nächstes tun.«
Er konnte seine Sorge nicht verbergen. Er konnte mich nicht davon überzeugen, dass alles in Ordnung war. Von allen Leuten, die ich kannte, war Thierry der größte Realist. Er hatte in seinem langen Leben schon eine Menge erlebt, was seinen Optimismus, sollte er jemals welchen besessen haben, eindeutig gedämpft hatte. Manche hielten ihn für einen überzeugten Schwarzseher, aber mittlerweile wusste ich es besser. Er hatte recht. Er machte keine gute Miene, wenn alles den Bach runterging. Er fand sich irgendwie damit ab und machte weiter.
Er musste sich mit mir abfinden.
Ich stieg hinten in den Lieferwagen. Er ließ meine Hand los, schlug wortlos die Hintertür zu, und ich war von Finsternis umgeben. Es gab keine Fenster, keine hübsche Aussicht, denn dann würde die Sonne hereinkommen.
Er hatte das vorbereitet, ohne mir etwas davon zu erzählen. Er wusste, dass das passieren konnte – dass es passieren würde.
Er war zwar kein Optimist, aber er hätte gut ein Pfadfinder sein können. Jeden Tag eine gute Tat.
Als der Wagen losfuhr, drückte ich mich mit dem Rücken an die kühle Seitenwand des Lieferwagens. Von dort, wo wir waren, wo immer das auch war – ich hatte irgendwie die Orientierung verloren -, brauchten wir fünfzehn Minuten bis zu Georges Haus.
Ich hörte ein Klopfen an der Hintertür, das mich darauf vorbereiten sollte, dass sie gleich geöffnet würde. Ich wich zurück, und die Tür schwang auf. Das Licht erreichte mich zwar nicht, brannte mir aber in den Augen. Es war ein Vorgeschmack auf den Schmerz, der mich außerhalb des Wagens erwartete.
Thierry hielt eine ziemlich dicke schwarze Decke in Händen und hielt sie hoch.
»Komm«, forderte er mich auf. »George wartet.«
Ich kratzte mein letztes bisschen Mut zusammen, warf mich in seine Arme, und er bedeckte mich mit der Decke. So schnell wir konnten liefen wir zum Eingang. Es waren nur zwanzig Fuß, aber es war kein angenehmer Sprint.
Durch ein winziges Guckloch erspähte ich George, der auf der Türschwelle stand und ängstlich die Hände rang.
»Ich lade dich in mein Haus ein, Sarah Dearly!« Seine Stimme klang schrill.
Ach ja. Das hatte ich ganz vergessen. Ohne explizite Einladung konnte ich niemandes Zuhause mehr betreten.
Das war ziemlich unpraktisch.
Ich hatte schon einmal erfahren müssen, wie es sich anfühlte, wenn man gegen eine unsichtbare Tür stieß. Es war, als würde man gegen eine dicke Glaswand rennen. Unsichtbar, aber undurchdringlich. Zum Glück hatte George das Notwendige gesagt, und ich rauschte mit Thierry an meiner Seite an ihm vorbei in die ersehnte Dunkelheit. Alle Vorhänge waren zugezogen.
Ich bemühte mich, die kleinen Rauchwölkchen auf meiner Haut zu ignorieren. Es war der letzte Tag im Februar, und die Temperatur bewegte sich um null, aber das schien keinen großen Unterschied zu machen.
Thierry sah mich mit finsterem Blick an. »Sarah, ist alles okay?«
War ich okay? Selbst wenn ich mich bemühte, konnte ich wohl kaum weniger okay sein. Mein Blickfeld verengte sich. Verdunkelte sich. Der Raum begann sich leicht zu drehen.
Als es noch Nachtwandler gab, hatten sie tagsüber geschlafen. Bewusstlos zu sein war die einfachste Art, das Sonnenlicht zu meiden.
»Sie ist sehr blass«, stellte George fest und musterte mich. »Kreidebleich ist derzeit nicht angesagt.«
Dann verdrehte ich die Augen und verlor das Bewusstsein.