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Wenn ich erklären sollte, wie es sich anfühlte,
als Nachtwandlerin am helllichten Tag hinauszugehen, würde es sich
so anhören:
Purer Schmerz.
Milliardenfach.
Vielleicht hört sich das übertrieben an, war es
aber nicht. Ehrlich. Sonne und Nachtwandler passten nicht zusammen.
Überhaupt nicht. Wenn ich der Sonne für längere Zeit ausgesetzt
war, und wir sprechen hier von zehn bis fünfzehn Sekunden, ging ich
in Flammen auf und lief mit fuchtelnden Armen durch die Gegend, bis
ich mich in den Inhalt eines schmutzigen Aschenbechers verwandelte
und über den Bürgersteig verteilt wurde. Vermutlich würde ich
selbst dann noch weiterschreien.
Als ich aus dem Darkside
in das tödlich heiße Sonnenlicht trat, zog ich mir das Hemd über
den Kopf und lief wie ein Sprinter bei der Olympiade auf den
nächsten
U-Bahn-Eingang zu. Ich stolperte die Treppen in die Glück
verheißende Finsternis hinunter und versuchte zu ignorieren, dass
ich wegen meiner rot glühenden Haut, von der kleine Rauchwolken
aufstiegen, seltsam angestiert wurde.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte jemand.
»Hervorragend«, keuchte ich. »Mir ging es noch
nie besser. Haben Sie vielen Dank.«
Meine Haare klebten an der Stirn, denn ich
verströmte eimerweise Schweiß. Ich tastete nach meinen Augenbrauen,
um mich davon zu überzeugen, dass sie nicht angesengt worden waren.
Das würde mich wirklich nerven. Aber sie waren noch da. Für den
Moment jedenfalls. Bis ich mich wieder auf Raumtemperatur abgekühlt
hatte, lehnte ich wie ein verschwitztes Soufflé, das man gerade aus
dem Ofen gezogen hatte, an der Wand der Haltestelle.
Veronique war mit Gideon
zusammen. Dieser Gedanke wirbelte fortwährend durch meinen
Kopf.
Ich konnte es nicht fassen. Klar, ich wusste,
dass sie egoistisch und selbstverliebt war, aber hatte sie wirklich
das mit Überleben gemeint?
Wenn es nach mir ginge, würde sie sofort aus dem
Dschungelcamp rausgewählt werden.
Das Schlimmste war, dass sie sich anscheinend
überhaupt keiner Schuld bewusst war.
Nun, gut. Das war nicht das Schlimmste.
Die ganze Situation hatte zumindest etwas Gutes,
ihr Blut hatte mir vorübergehend Kontrolle über meinen Fluch
verschafft. Normalerweise würde ich nach einer solchen Zeit ohne
meine Goldkette bereits an jedem menschlichen
Hals schnuppern, der sich mir bot, um herauszufinden, welcher am
besten schmeckte.
Aber ich schnüffelte an niemandem herum.
Natürlich, ich roch sie. Duzende von Menschen drängten auf ihrem
Weg zur U-Bahn an mir vorbei. Aber sie verströmten nicht nur den
beunruhigenden Geruch von Essen. Da war mehr. Ich konnte an ihrem
Geruch erkennen, in welcher Stimmung sie waren. Ob sie gestresst
oder ängstlich oder wütend waren.
Es roch … köstlich.
Aber momentan wuchsen meine Reißzähne nicht in
die Länge. Schließlich hatte ich gerade erst ein sehr
zufriedenstellendes Mahl gehabt.
Gott, was war bloß mit meinem Leben
passiert?
Vor dem Fluch hatte ich mit meinem Vampirdasein
gehadert. Ich hatte mich dagegen gewehrt, als »Monster«
abgestempelt zu werden. Ich hatte angenommen, ich würde mich durch
die Verwandlung in einen Vampir verändern, aber das war nicht der
Fall. Ich fühlte mich genau wie immer. Deshalb verstand ich nicht,
wieso die Jäger auf einmal hinter mir her waren und mich umbringen
wollten, nur weil ich war, was ich war.
Doch jetzt begriff ich es. Als die Erde noch von
Nachtwandlern bevölkert war, hatte man die Jäger dringend
gebraucht. Vor einem Vampir, wie ich jetzt einer war, mussten sich
die Leute ängstigen. Sie versteckten sich vor der Sonne und zeigten
sich nur nachts, wenn der Hunger sie trieb. Sie waren nicht in der
Lage, sich zu beherrschen. Sie wollten sich
nicht beherrschen.
Ich war die Art von Vampir, die es verdiente,
erstochen
zu werden. Ein außer Kontrolle geratenes blutrünstiges
Monster.
Ich schluckte schwer. Ich saß tief in der
Tinte.
Sehr tief.
Aber immerhin konnte ich noch klar denken. Die
Goldkette war großartig gewesen – ein wahres Wunder -, aber sie war
nun einmal weg. Damit hatte ich die ganze Zeit über rechnen müssen.
Das nervte zwar. Ziemlich sogar. Aber ich musste zusehen, dass ich
irgendwie ohne sie zurechtkam.
Ich konnte die Kontrolle behalten. Ich konnte
es.
Verdammt. Wem versuchte ich etwas vorzumachen?
Ich sollte besser weiterhin denken, dass ich tief in der Tinte
saß.
Ich musste Thierry finden.
Thierry. Allein sein
schwer auszusprechender französischer Name machte mir Mut – ein
winziges bisschen.
Ich zog mein Telefon aus der Tasche, wählte
schnell seine Nummer und landete direkt auf der Mailbox. Verflucht. Ich steckte es zurück in die Tasche.
Sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinn war ich mittlerweile
genug abgekühlt, um mich auf den Weg zu machen. Ich stellte einen
Fuß vor den anderen, stieg in eine U-Bahn und fuhr zur Union
Station.
Wenn ich erst wieder bei George war, würde ich
mich um alles kümmern. Wie ich dorthin kommen wollte, wusste ich
zwar noch nicht genau, aber ich würde schon einen Weg finden. Ohne
wieder einen Fuß ins Tageslicht zu setzen. Klar.
Ich würde mich des kleinen Vampirantriebs
bedienen,
der dazu in der Lage war. Ich konnte es. Eins nach dem
anderen.
Ich kann es. Ich kann
es.
Ich zwang mich, nach etwas Positivem an der
Situation zu suchen. Es war schwer, aber schließlich fiel mir etwas
ein. Mit dem Erreichen der Union Station hatte ich auch das PATH
System von Toronto erreicht – sechzehn Meilen unterirdischer
Fußgängertunnel, die das Verkehrssystem mit zahlreichen Gebäuden
des Geschäftsviertels verbanden. Es war nicht nötig, sich hier
jemals wieder in die oberste Etage zu bewegen. Tatsächlich
nie. Es gab Läden, Theater und Restaurants
in Hülle und Fülle, und das alles unter der Erde.
Ein wahres Paradies für Nachtwandler.
Dennoch bereitete mir der Gedanke kein
Wohlbehagen. Obwohl es fantastisch war, dass mir das PATH im
Notfall zum Einkaufen und Bummeln zur Verfügung stand, war es keine
angenehme Aussicht, womöglich nie mehr die Sonne zu sehen.
Eigentlich kannte ich das PATH. Als ich noch ein
anständiges Leben geführt hatte, hatte ich es täglich benutzt. Aber
jetzt … sah alles gleich aus. Mein Kopf fühlte sich neblig an. Ich
stellte einen Fuß vor den anderen und bewegte mich in Richtung
Norden, wobei ich im Vorbeigehen einige Leute ansah. Sie starrten
alle seltsam zurück.
Vielleicht sah ich fürchterlich aus. Schließlich
fühlte ich mich so. Wieso sollte ich also nicht auch so
aussehen?
»Entschuldigen Sie«, fragte ich eine blonde Frau
mit einem Kind von ungefähr drei Jahren. »Kennen Sie sich hier
aus?«
Sie riss die Augen auf und wich einen Schritt
zurück. »Ich … ich weiß nicht.«
Ich sah auf das Kind hinunter und lächelte es
an.
Daraufhin fing das Kleine an zu weinen.
Ich schlug eine Hand vor meinen Mund.
Wahrscheinlich hatte ich ihn nur mit meinen Reißzähnen angeblitzt,
die länger, um nicht zu sagen schärfer, als
üblich waren.
Mein Name ist Sarah Dearly.
Meine Spezialität ist es, unschuldige Kinder zu
erschrecken.
»Tragen Sie … tragen Sie zufällig
Kontaktlinsen?«, fragte die Frau mit zittriger Stimme.
»Kontaktlinsen?«
Oh, Mist. Meine Augen
waren noch schwarz. Und meine Reißzähne spitz. Außerdem war ich in
einem verschwitzten, aufgelösten, desolaten Zustand. Ich sah mich
um und stellte fest, dass einige Leute auf mich aufmerksam geworden
waren. Sie sahen mich an, als würde ich jeden Moment die Jacke
ausziehen und darunter eine Ladung Dynamit zum Vorschein
kommen.
Dann blickte ich hinüber zu der Wand neben uns
und bemerkte, dass sie verspiegelt war. Jeder in der Nähe des
Donutladens, vor dem ich mich befand, war darin zu sehen.
Jeder. Außer mir, versteht sich.
Das bemerkte auch die Frau. Sie begann zu
kreischen und zeigte auf mich, während ihr Kind noch lauter anfing
zu heulen.
Ich ging weiter. Schneller. Inzwischen war mir
die Richtung egal, solange ich nur von den kreischenden, nach
Erdnussbutter riechenden Menschen wegkam. Ein Blick über meine
Schulter verriet mir, dass ein paar von ihnen mir
zögerlich folgten. Ich wusste nicht, ob es sich um Jäger handelte,
die auf den einsamen Vampir aufmerksam geworden waren, oder einfach
um neugierige Gaffer. Da ich nicht in der Lage war, klar zu denken,
konnte ich es nicht herausfinden. Am besten sollte ich weglaufen,
und genau das tat ich.
Ich bog um eine Ecke und fand mich plötzlich
einer massiven Gestalt gegenüber. Sie hielt mich an den Schultern
fest, blickte auf mich hinunter und strich mir die strähnigen Haare
aus dem Gesicht.
»Sarah«, sagte Thierry besorgt. »Beruhige
dich.«
Ich musste zugeben, dass ich dazu einen Moment
brauchte.
Er zog mich in seine Arme und hielt mich mitten
im PATH fest, während ich langsam meine Fassung
wiedererlangte.
»W … wie hast du mich gefunden?«, stieß ich nach
einem Augenblick hervor.
»Seit du vorhin einfach aufgelegt hast, habe ich
nach dir gesucht. Dank unserer Zeuger-Zöglings-Verbindung kann ich
dich orten, wenn ich mich konzentriere.«
Er war zwar nicht wirklich mein Erzeuger, aber
fast. Nachdem mein teuflisches Blind Date erstochen worden war,
hatte Thierry mich mit seinem Blut vor dem Tod gerettet. Damit war
die Verbindung zwischen uns geschaffen, von der ich bis heute
angenommen hatte, dass nur ich sie hätte.
»Meine Kette ist weg«, erklärte ich mit
zitternder Stimme. »Gideon hat sie kaputt gemacht.«
Er biss die Zähne zusammen. »Was?«
»Und außerdem hat er das Zauberbuch
verbrannt.«
»Verstehe.«
»Erklärst du mir jetzt, dass du das ja gleich
gesagt hast?«
Mit grimmiger Miene erwiderte er: »Nein.«
»Das solltest du aber. Ich hätte es
verdient.«
»Ich könnte nichts sagen, was die Situation
verbessert.«
Da hatte er allerdings recht.
Er legte einen Arm um meine Schultern, lenkte
mich einen Flur hinunter. Wir liefen und liefen scheinbar eine
Ewigkeit, bis wir ein Parkhaus erreichten.
»Für den Fall, dass wir ihn brauchen, hatte ich
den an einer zentralen Stelle in der Stadt abgestellt«, erklärte er
und deutete mit dem Kopf auf einen weißen Lieferwagen.
Als ich entdeckt hatte, dass ich verflucht
worden war und mich die Sonne in einen Chip verwandeln konnte,
hatten wir schon einmal einen ähnlichen Lieferwagen benutzt. Es war
keine sehr angenehme Fahrt gewesen, aber es hatte funktioniert. Auf
diese Weise hatten wir den sonnenscheuen Nachtwandler von A nach B
transportiert.
»Was soll ich tun?«, fragte ich ihn.
Er strich mir die Haare aus der Stirn und küsste
mich sanft, dann nahm er mein Gesicht in seine Hände und blickte in
meine schwarzen Nachtwandleraugen.
»Du steigst hinten in den Lieferwagen, und wir
fahren zu George.«
»Aber…«
»Nein. Alles zu seiner Zeit, Sarah.«
»Kannst du mir sagen, dass alles wieder gut
wird?«
Er legte den Kopf auf eine Seite. »Willst du,
dass ich das sage?«
»Nur, wenn es stimmt.«
»Dann sollten wir uns mit solchen Versprechungen
zurückhalten, bis wir entschieden haben, was wir als Nächstes
tun.«
Er konnte seine Sorge nicht verbergen. Er konnte
mich nicht davon überzeugen, dass alles in Ordnung war. Von allen
Leuten, die ich kannte, war Thierry der größte Realist. Er hatte in
seinem langen Leben schon eine Menge erlebt, was seinen Optimismus,
sollte er jemals welchen besessen haben, eindeutig gedämpft hatte.
Manche hielten ihn für einen überzeugten Schwarzseher, aber
mittlerweile wusste ich es besser. Er hatte recht. Er machte keine
gute Miene, wenn alles den Bach runterging. Er fand sich irgendwie
damit ab und machte weiter.
Er musste sich mit mir abfinden.
Ich stieg hinten in den Lieferwagen. Er ließ
meine Hand los, schlug wortlos die Hintertür zu, und ich war von
Finsternis umgeben. Es gab keine Fenster, keine hübsche Aussicht,
denn dann würde die Sonne hereinkommen.
Er hatte das vorbereitet, ohne mir etwas davon
zu erzählen. Er wusste, dass das passieren konnte – dass es
passieren würde.
Er war zwar kein Optimist, aber er hätte gut ein
Pfadfinder sein können. Jeden Tag eine gute Tat.
Als der Wagen losfuhr, drückte ich mich mit dem
Rücken an die kühle Seitenwand des Lieferwagens. Von dort, wo wir
waren, wo immer das auch war – ich hatte irgendwie die Orientierung
verloren -, brauchten wir fünfzehn Minuten bis zu Georges
Haus.
Ich hörte ein Klopfen an der Hintertür, das mich
darauf
vorbereiten sollte, dass sie gleich geöffnet würde. Ich wich
zurück, und die Tür schwang auf. Das Licht erreichte mich zwar
nicht, brannte mir aber in den Augen. Es war ein Vorgeschmack auf
den Schmerz, der mich außerhalb des Wagens erwartete.
Thierry hielt eine ziemlich dicke schwarze Decke
in Händen und hielt sie hoch.
»Komm«, forderte er mich auf. »George
wartet.«
Ich kratzte mein letztes bisschen Mut zusammen,
warf mich in seine Arme, und er bedeckte mich mit der Decke. So
schnell wir konnten liefen wir zum Eingang. Es waren nur zwanzig
Fuß, aber es war kein angenehmer Sprint.
Durch ein winziges Guckloch erspähte ich George,
der auf der Türschwelle stand und ängstlich die Hände rang.
»Ich lade dich in mein Haus ein, Sarah Dearly!«
Seine Stimme klang schrill.
Ach ja. Das hatte ich ganz vergessen. Ohne
explizite Einladung konnte ich niemandes Zuhause mehr
betreten.
Das war ziemlich unpraktisch.
Ich hatte schon einmal erfahren müssen, wie es
sich anfühlte, wenn man gegen eine unsichtbare Tür stieß. Es war,
als würde man gegen eine dicke Glaswand rennen. Unsichtbar, aber
undurchdringlich. Zum Glück hatte George das Notwendige gesagt, und
ich rauschte mit Thierry an meiner Seite an ihm vorbei in die
ersehnte Dunkelheit. Alle Vorhänge waren zugezogen.
Ich bemühte mich, die kleinen Rauchwölkchen auf
meiner Haut zu ignorieren. Es war der letzte Tag im Februar, und
die Temperatur bewegte sich um null, aber das schien keinen großen
Unterschied zu machen.
Thierry sah mich mit finsterem Blick an. »Sarah,
ist alles okay?«
War ich okay? Selbst wenn ich mich bemühte,
konnte ich wohl kaum weniger okay sein. Mein Blickfeld verengte
sich. Verdunkelte sich. Der Raum begann sich leicht zu
drehen.
Als es noch Nachtwandler gab, hatten sie
tagsüber geschlafen. Bewusstlos zu sein war die einfachste Art, das
Sonnenlicht zu meiden.
»Sie ist sehr blass«, stellte George fest und
musterte mich. »Kreidebleich ist derzeit nicht angesagt.«
Dann verdrehte ich die Augen und verlor das
Bewusstsein.