18
Hast du nicht gesagt, dass du geohrfeigt werden
willst?« Janie schlug mich noch heftiger auf die andere Wange. »Ich
will nur behilflich sein.«
Am liebsten hätte ich mich auf sie gestürzt und
ihr den Hals aufgerissen – schließlich waren wir nicht gerade
Busenfreundinnen -, aber der Schmerz des Schlages half mir, ein
Stück meiner Kontrolle zurückzuerlangen. Ich schlich mich auf die
andere Seite des Raumes und starrte sie an.
Quinn stand mit einem teils besorgten, teils
angewiderten Ausdruck hinter ihr. Es war das harte Urteil eines
ehemaligen Vampirjägers, der einmal scharf auf mich gewesen war.
Na, super.
Thierry hielt sich den verletzten Hals, bis er
wie durch ein Wunder verheilte. Seine Miene wirkte
undurchdringlich. »Danke, dass du eingegriffen hast.«
Janie schüttelte den Kopf. »Wenn eine Frau dich
ausdrücklich auffordert, sie zu ohrfeigen, solltest du sie ernst
nehmen.«
Er kniff die Augen zusammen. »Vielleicht hat
Quinn keine Skrupel, dich zu schlagen, aber ich weigere mich, Sarah
wehzutun.«
»Lass mich aus dem Spiel.« Quinn sah noch einmal
besorgt in meine Richtung.
Janie ließ den Blick aufmerksam durch das Zimmer
gleiten und zog dann einen Holzpflock aus der Handtasche.
»Denk nicht mal daran.« Thierry zog die Brauen
zusammen.
»Verdammt, vielleicht ist der für dich. Du
scheinst selbst auch ein bisschen außer dir zu sein, du
Frauenheld.«
Quinn legte eine Hand auf den angespannten Arm
seiner Verlobten. »Das ist nicht nötig, Janie.«
»Sie ist eine Nachtwandlerin«, erinnerte sie ihn
und deutete mit dem Kopf auf mich. »Ich kenne die Geschichten aus
den Geschichtsbüchern.«
»Sarah ist verflucht worden«, erklärte Quinn.
»Das weißt du doch.«
»Deshalb ist sie nicht weniger
gefährlich.«
»Sie ist anders.«
»Auf mich wirkt sie nicht sehr anders.« Sie
musterte mich scharf. Ich beherrschte mich, sie anzuzischen, denn
das wäre vermutlich nicht sehr hilfreich. Nach einer Weile steckte
sie den Pflock widerwillig wieder ein.
Ich hatte noch den Geschmack von Thierrys Blut
im Mund und sehnte mich nach mehr, aber mein wahres Ich rang jetzt
wie verrückt um seine Kontrolle.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Quinn. Im ersten
Augenblick dachte ich, er meinte mich, aber seine Aufmerksamkeit
war auf Thierry gerichtet.
Thierrys Augen hatten wieder ihre übliche
Silberfarbe angenommen. Er suchte meinen Blick und sah mich
schuldbewusst an, sagte jedoch nichts weiter, drehte sich um und
verließ mit Quinn den Raum.
Janie stand mit verschränkten Armen vor der Tür,
die momentan meinen einzigen Fluchtweg darstellte.
Man konnte die Söldnerin ohne das Mädchen
bekommen, aber man konnte nicht das Mädchen ohne die Söldnerin
haben.
Oder so ähnlich.
»Also …« Sie grinste mich schief an. »Amüsieren
wir uns?«
»Ich muss wohl nehmen, was hinter Tür Nummer
zwei steckt.«
»Fühlst du dich etwas besser?«
»Minimal.«
»Zuerst habe ich gedacht, wir hätten euch beim
Sex gestört. Doch dann habe ich gemerkt, dass ihr beide noch
angezogen wart und dass deine Zähne in seinem Hals steckten. Das
deutete irgendwie auf mögliche Schwierigkeiten hin.«
»Du bist sehr aufmerksam.«
Sie atmete aus. »Du bist ganz anders als das
letzte Mal, als ich dich gesehen habe. Nicht mehr ganz so
glücklich.«
»Ich habe einen anstrengenden Monat hinter mir.«
Ich blinzelte vorsichtig. »Wir beide. Ich kann immer noch nicht
glauben, dass du und Quinn ein Paar seid.«
»Glaub es.«
»Hast du Lust, mir zu erzählen, wie ihr
zusammengekommen seid?«
»Ich hatte von meinem dämonischen Chef den
Auftrag erhalten, ein magisches Artefakt in Arizona zu besorgen, zu
dem Quinn den Weg kannte. Anschließend sollte ich ihn umbringen.
Schließlich haben wir zusammengearbeitet, um den bösen Kerl zur
Strecke zu bringen. Als ich beinahe gestorben wäre, musste er mich
zeugen, so dass ich nun offiziell zur Reißzahngemeinde gehöre. Wenn
du es genauer wissen willst, kauf meine Memoiren.«
Janie war sogar noch ein größerer Klugscheißer
als ich. Okay, unwesentlich größer. Aber tief – ganz tief – in ihr
schlug ein gutes Herz. Sie hatte mir schon einmal das Leben
gerettet. Das hatte etwas zu bedeuten. Sie hatte ein hartes Leben
hinter sich und war in etwas zweifelhafte Gesellschaft geraten,
aber am Ende hatte sie richtig entschieden. Das galt schließlich
auch für Quinn.
Ich hatte meine Kontrolle jetzt ungefähr zu
sechzig Prozent zurückerlangt. »Quinn ist ein toller Kerl.«
Sie gab ein missbilligendes Geräusch von
sich.
»Keine Sorge«, sagte ich. »Ich werde nicht
versuchen, ihn dir wegzunehmen. Er hat mir schon erzählt, was du
ansonsten mit mir machst. Ich glaube, es war irgendetwas mit Tod
und Zerstückeln.«
»Ich bin nicht eifersüchtig«, erklärte sie
voller Überzeugung.
»Gut zu wissen.«
Sie wanderte zu meinem unordentlichen Bett und
zurück zu der verschlossenen Tür. »Aber du weißt nicht, was
wir zusammen durchgemacht haben. Ich weiß, es ist sehr schnell
gegangen, aber ich liebe ihn sehr. Ich weiß, dass er in dich
verliebt war und ihr nur deshalb kein Paar seid, weil du dich für
Thierry entschieden hast.«
Na, toll. Vampire mit Problemen. Wir waren so
viele, dass es sich fast gelohnt hätte, eine Selbsthilfegruppe
aufzumachen.
»Du hast recht.« Ich zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht hätte ich mich für Quinn entscheiden sollen. Er ist
wirklich toll.«
Sie strafte mich mit einem finsteren
Blick.
Trotz allem musste ich unwillkürlich lachen.
»Das war nur Spaß. Ehrlich, Janie, der Kerl ist dir total
verfallen. Außerdem war Quinn nie wirklich in mich verliebt, und
für mich war er immer nur ein sehr guter Freund.«
»Wirklich?«
»Andererseits kann er hervorragend
küssen.«
»Ich glaube, ich bringe dich um.«
Obwohl sie es halb im Spaß gesagt hatte,
ernüchterte es mich ein bisschen. »Was das angeht…«
»Dich umzubringen?«
»Ja.«
»Sag schon. Ich bin ganz Ohr.« Sie verzog die
Lippen zu einem Lächeln, bis sie merkte, dass ich es ernst meinte.
»Was ist los?«
»Wie du ja selbst gesehen hast, wird es mit
meinem Fluch irgendwie nicht besser. Er führt mich eigentlich
geradewegs in die Stadt der Verdammten.«
»Meinst du nicht, dass du lernen kannst, ihn
unter Kontrolle zu halten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht für immer. Jetzt
kann ich mich einigermaßen beherrschen, weil ich … nun, sagen wir
einfach, weil ich momentan gut gesättigt bin. Aber sobald mein
Magen wieder zu knurren anfängt, sollten sich alle lieber aus dem
Staub machen.«
»Was hast du also vor?«
»Ich kann nur versuchen, die Leute zu schützen,
die mir etwas bedeuten. Verdammt, ich muss natürlich auch die Leute
schützen, die mir nichts bedeuten.« Obwohl es eigentlich nicht mehr
nötig war, holte ich tief Luft. »Ich habe Thierry gebeten, mir
einen Pflock ins Herz zu stoßen, wenn wir keine andere Lösung
finden. Wenn ich ganz und gar böse werde, haben wir keine andere
Wahl.«
Bei diesen Worten schnellten ihre Brauen nach
oben. »Du hast ihn gebeten, dich umzubringen? Und er hat
zugestimmt?«
Ich nickte und versuchte die plötzlich
aufkommende Panik zu unterdrücken. Es klang schrecklich, aber es
gab keine andere Möglichkeit. Wenn er mich nicht selbst erstach,
würde der Ring jemanden schicken, und ich ging nicht davon aus,
dass sie mich mit Plüschhasen bewarfen.
»Ich habe eine andere Idee«, erklärte
Janie.
»Was?«
»Benimm dich nicht wie ein Trottel. Hör auf,
diesen ganzen Mist einfach hinzunehmen und kämpfe um dein
Leben.«
Ich sah sie finster an. »Ist das wahre
Liebe?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist meine
Meinung. Tu es oder lass es. Ich finde nur, dass es besser wäre,
irgendetwas zu tun, als nur hier herumzusitzen und zu warten.
Quinn und ich versuchen herauszufinden, wo dein Freund Gideon Amy
versteckt hält.«
Die Erinnerung an meine Freundin traf mich wie
eine dritte Ohrfeige ins Gesicht. »Woher weißt du überhaupt
davon?«
»George hat es uns erzählt, als wir hergekommen
sind. Da er weiß, in welchem Hotel Gideon gewohnt hat, fangen wir
dort an. Das ist besser als nichts.« Sie wandte mir den Rücken zu
und ging auf die Schlafzimmertür zu.
»Hör zu, Janie …«
»Ja?«
»Wenn es ganz schlimm kommt und Thierry nicht…,
nun, du weißt schon … dann will ich, dass
du …«
Einen Augenblick hing eine schwere Stille über
uns.
Sie nickte fest. »Du wirst es überhaupt nicht
spüren. Es fühlt sich an, als würdest du dir Ohrlöcher stechen
lassen.«
»Wir sprechen aber schon über dasselbe,
oder?«
»Darüber, dass ich dich mit einem Pflock
ersteche, wenn deine Augen ganz und gar schwarz sind und du langsam
verrückt wirst?«
»Ja, aber ich erinnere mich, dass das
Ohrlochstechen höllisch wehgetan hat.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was soll ich
sagen? Ich bin nicht gut im Finden von guten Vergleichen. Ich mache
es aber kurz und schmerzlos. Mach dir keine Sorgen.«
Keine Sorgen? Klar. Die
hatte leicht reden. »Nun, gut. Danke.«
»Janie«, sagte Quinn von der Tür her. »Wir
machen uns auf die Suche. Kommst du?«
»Ja«, erwiderte sie. »Ich bin gleich da.«
Quinn sah mir direkt in die Augen, und ich
bemerkte, dass der Abscheu und die Unsicherheit in seinem Blick
purer Sorge gewichen war. »Bist du okay?«
»Ich tue mein Bestes.«
Er nickte. »Bitte lass uns wissen, wenn du etwas
brauchst.«
Nun, ich habe gerade deine
Verlobte gebeten, mich zu erstechen, dachte ich. Wie findest du das?
Janie streckte ohne zu zögern die Hand aus und
berührte meine Schulter. »Du schaffst das. Ganz bestimmt.«
»Meinst du?«
»Ich weiß es. Weißt du, wieso?«
»Warum?«
»Weil du zu unserer Hochzeit eingeladen bist.«
Sie lächelte. »Und nur, dass du es weißt, Bargeld ist uns am
liebsten, denn wir sind nirgends registriert. Während wir um unser
Leben gerannt sind und ich mich an das Vampirdasein gewöhnen
musste, hatte ich dafür einfach keine Zeit.«
»Vollkommen verständlich.«
Sie nahm Quinns Hand. Mit einem letzten Blick zu
mir drehte er sich um und verließ das Zimmer. Hätte ich gewusst,
dass hier heute ein solcher Betrieb sein würde, hätte ich ein
bisschen sauber gemacht. Zum Glück war ich zu verzweifelt, um mich
für meine Unordnung zu schämen, zu der, wie ich jetzt bemerkte, ein
rosa Büstenhalter am Türknauf gehörte.
Ein paar Minuten stand ich einfach nur da und
dachte über Janies Worte nach.
»Sei kein Trottel!«, war der Kern ihrer
Aussage.
Ich trat aus dem Schlafzimmer und sah gerade
noch, wie
George, Janie und Quinn aus der Haustür traten, um sich auf die
vergebliche Suche nach Amy zu machen.
Wie komisch, dass sie Thierry und mich nach dem,
was vorhin geschehen war, allein ließen. Vertrauten sie mir schon
wieder?
Aber nein, als ich mich umdrehte, entdeckte ich
den Grund für den Massenaufbruch. Auf der Couch saß Barry. Er sah
mich finster mit besorgtem Gesicht an. Ich hatte keinen Zweifel
daran, dass er bereits wusste, was mit Amy geschehen war.
»Ihr wird nichts passieren«, versicherte ich
ihm.
»Das ist deine Schuld.« In seiner Stimme hörte
ich einen Unterton, der bewirkte, dass ich mich noch elender als
sowieso schon fühlte. Er klang eher außer sich als wütend.
Außerdem hatte er recht. Es war meine
Schuld.
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
Barry runzelte die Stirn. Vielleicht hatte er
nicht damit gerechnet, dass ich es gleich zugeben würde.
»Wenn Amy stirbt …«, hob er an.
»Wenn Amy stirbt, darfst du mich erstechen, denn
dann will ich sowieso nicht mehr weiterleben«, beendete ich den
Satz für ihn.
Jetzt hatte ich schon drei Leuten die Erlaubnis
für die Tat gegeben. Ich sollte eine Exceltabelle anlegen, um nicht
die Übersicht zu verlieren.
»Das ist nicht nötig«, sagte Thierry. Er stand
mit verschränkten Armen an der Haustür und sah mir nicht in die
Augen. Seit unserer kleinen teuflischen Fummelei schien er meinem
Blick ganz bewusst auszuweichen. »Ich bin
zuversichtlich, dass Quinn, Janie und George deine Frau finden
werden.«
»Aber was, wenn nicht?«, entgegnete Barry. »Wir
haben keine Ahnung, wo sie ist. Und wenn dieser Mistkerl ihr ein
Haar krümmt …«
»Kannst du nicht fühlen, wo sie ist?«, fragte
ich. »Wenn du dich ganz doll konzentrierst? Ich meine, du hast sie
doch gezeugt, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine sehr
seltene Verbindung, die Amy und ich leider nicht teilen. Ich liebe
sie so sehr, aber ich kann sie nicht orten. Ich … ich kann ihr
nicht helfen.«
Obwohl wir zwei nicht sonderlich gut miteinander
auskamen, brach es mir mein nicht schlagendes Herz, dass er wegen
der Frau, die er liebte, so aufgelöst war.
»Alles wird gut«, sagte ich schlicht. »Ich gehe
jetzt und suche Gideon. Wenn ich ihn zeuge, lässt er Amy frei. So
einfach ist das.«
»Nein, daran ist gar nichts einfach.« Bevor ich
einen Schritt in Richtung Tür machen konnte, ergriff Thierry meine
Hand. »Das ist zu gefährlich.«
»Wenn ich bleibe, ist es zu gefährlich.« Ich
machte mich von ihm los.
»Was willst du denn tun, nachdem du ihm seinen
Wunsch erfüllt und ihn damit wahrscheinlich zu einem der
mächtigsten Vampire gemacht hast, den es je gegeben hat? Glaubst
du, dass es ihn irgendwie interessiert, wer lebt oder stirbt?
Gideon Chase ist ein egoistischer, selbstverliebter Jäger, der nur
an sein eigenes Überleben denkt.«
»Er hat Schmerzen. Das Höllenfeuer verbrennt ihn
bei lebendigem Leib.«
Er starrte mich an. »Wieso zum Teufel nimmst du
ihn immer noch in Schutz? Nach allem, was passiert ist?«
Ich spürte Wut in mir aufsteigen. »Du
übertreibst.«
»Ach ja?«, erwiderte er trocken.
»Ja, das tust du.«
»Aber Meister«, schaltete sich Barry ein. »Wir
können doch nicht einfach hier herumsitzen und tatenlos
zusehen.«
Thierry durchquerte den Raum und baute sich vor
Barry auf. »Es ist zu gefährlich, Sarah in ihrem gegenwärtigen
Zustand allein loszuschicken.«
»Sie ist bereit zu gehen.«
»Sarah ist ganz offensichtlich im Augenblick
nicht bei sich und kann sich nicht selbst überlassen werden.« Er
musterte mich. Er meinte es nicht böse, er sagte nur die Wahrheit.
Nach dem Vorfall im Schlafzimmer konnte ich ihm das kaum
verübeln.
Barry musterte mich, und zum ersten Mal, seit
ich ihm begegnet war – es kam mir vor, als wäre es eine Ewigkeit
her, dabei waren seither erst drei Monate vergangen -, wirkte er
nicht abweisend, sondern nur ängstlich und besorgt. »Was meinst du,
Sarah? Du bist Amys beste Freundin. Wird sie das heil
überstehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich … ich weiß es
nicht.«
Ich spürte, wie die Nachtwandlerin an meinem
Bewusstsein zerrte. Wie ein blutrünstiges Monster versuchte sie,
meine Selbstbeherrschung zu erschüttern, aber ich hielt sie
aufrecht. Die letzte Dosis Meisterblut hatte mir noch einmal
geholfen.
»Du weißt es nicht?« Barrys Gesicht lief rot an.
»Das reicht nicht.«
Eine Minute herrschte eisiges Schweigen.
»Ich hole uns etwas von dem Kaffee, den George
gekocht hat«, zischte Barry. Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er
vom Sofa auf und ging in die Küche. Ich hörte ihn mit Tassen und
Löffeln hantieren.
Ich trat einen Schritt auf Thierry zu. »Ich muss
wirklich gehen.«
»Das kannst du nicht.« Er hielt abwehrend eine
Hand hoch, um mich aufzuhalten. »Und bitte, Sarah. Komm nicht
näher. Ich bin immer noch ein bisschen wackelig von vorhin.«
Ich erstarrte auf der Stelle. »Ich habe zu viel
Blut getrunken.«
»Es ist nicht wegen des Bluts, es ist …« Er sah
mich aus seinen silberfarbenen Augen an. »Deine Nachtwandlerin
lockt meine eigene finstere Seite hervor. Sie beunruhigt
mich.«
Ich zuckte zusammen. »Ich weiß. Es ist
abstoßend.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich finde es
verwirrend, weil ich … weil es mir gefällt. Wenn meine dunkle Seite
zum Vorschein kommt, ist alles so einfach. Die Sorgen der Welt
verschwinden, und es bleibt nur die Finsternis und die Lust, die
mit ihr verbunden ist.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Das hört sich
eigentlich ganz sexy an. Aber du findest es nicht gut,
richtig?«
Er gab ein Geräusch von sich, das sich beinahe
wie ein Lachen anhörte. »Ich habe mich vor langer Zeit entschieden,
alles zu meiden, das meine dunkle Seite hervorlockt.«
Er zog die Brauen zusammen. »Ich bin noch nie einem Vampir
begegnet, der sich so schwer beherrschen kann wie ich. Abgesehen
von Nachtwandlern natürlich.«
»Es gibt eine Menge Vampire, die überhaupt nicht
wählerisch sind, was ihre Blutquelle angeht.«
»Ja, aber die sind nicht so … süchtig nach Blut
wie ich.«
Ich dachte über seine Worte nach. »Du meinst, du
hättest einen kleinen Nachtwandler in dir, der versucht, die
Kontrolle zu übernehmen?«
»Vielleicht.« Sein schönes Gesicht wirkte
angespannt und verriet mir, wie viel Überwindung ihn dieses
Geständnis gekostet hatte.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein,
unmöglich.«
Sein Blick verfinsterte sich noch mehr. »Es
überrascht mich, dass du das sagst. Schließlich hast du mehr als
viele andere von meiner dunklen Seite erlebt.«
»Nachtwandler empfinden nach ihrem
Mitternachtsimbiss keine Reue. Aber du? Du fühlst dich total
schuldig. Beinahe siebenhundert Jahre sind eine lange Zeit, um sich
selbst zu hassen. Ich wette, du konntest dich schon als Mensch
nicht leiden, als du noch Schafe gehütet hast oder womit auch immer
man damals sein Geld verdient hat. Lange bevor du Veronique
begegnet bist.«
Er hob eine dunkle Braue. »Ich war kein
Schäfer.«
»Was warst du dann?«
»Schankwirt. Bevor die Pest über uns kam, habe
ich diverse Gastwirtschaften und Tavernen betrieben.« Einen
Augenblick schien er vollkommen abwesend. »Seltsam. Ich habe schon
ewig nicht mehr daran gedacht.«
»Warst du so etwas wie ein mittelalterlicher
Donald Trump?«
»Das könnte man sagen.«
Darüber musste ich lächeln. »Scheint mir
irgendwie passend.« Ich streckte die Hand aus, um ihn zu berühren,
und diesmal wich er nicht zurück. »Ich weiß, dass du eine schlimme
Zeit durchgemacht hast. Es ist nicht gerade einfach, ein Vampir zu
sein, oder?«
»Du bist erstaunlich gut damit
zurechtgekommen.«
»Machst du dich lustig über mich? Muss ich erst
meine ganzen Missgeschicke aufzählen? Seit der Nacht, in der ich
gezeugt wurde, habe ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.
Ich wollte kein Vampir sein. Ich fand es abscheulich. Und als ich
mich gerade daran gewöhnt hatte, wurde es immer schlimmer.«
»Sarah …«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann sie fühlen,
Thierry … die Nachtwandlerin, die die Kontrolle über mein Leben und
meinen Körper übernehmen will. Ich spüre, wie sie sich langsam in
mein Bewusstsein drängt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch
habe, aber ich will, dass du etwas sehr Wichtiges weißt.«
Er wirkte angespannt. »Was?«
»Dass ich nicht wieder normal sein will. Ich
will nur glücklich sein. Mit dir.«
Er zog mich näher an sich. »Ich schwöre dir,
Sarah, ich werde alles tun, um dafür zu sorgen.«
»Ich kann dafür sorgen, aber ich muss jetzt
gehen.«
»Nein. Du bleibst hier.« Sein Griff wurde
fester. »Ich suche Gideon und tue, was nötig ist, um ihn
aufzuhalten.«
Mein Magen sank in die Kniekehlen. »Du willst
ihn umbringen.«
»Wenn es nötig ist.« Er sah mich aus schmalen
Augen an. »Würde es dir etwas ausmachen? Würdest du um Gideon Chase
trauern? Nach allem, was er getan hat?«
Ich glaube, meine Antwort kam nicht so prompt,
wie er es sich gewünscht hätte.
»Verstehe«, erwiderte er, und über seinen
offenen Gesichtsausdruck legte sich wieder diese nervige kühle
Maske.
»Du verstehst gar nichts.«
»Vielleicht sieht Gideon ja klarer. Er scheint
deine dunkle Seite zu schätzen, während ich sie bekämpfe. Ich
glaube, du musst selbst entscheiden, wer von uns recht hat.«
Ich fühlte Wut in mir aufsteigen, die meine
dunkle Seite hervorlockte. Ich spürte, wie meine Augen schwarz
wurden, wie sich mein Blickfeld verengte und an den Kanten unscharf
wurde. »Verdammt, Thierry …«
Barry kam mit einem Tablett aus der Küche. Es
war sogar ein Kaffee für mich dabei. »Hier, Meister. Trink
das.«
Thierry nahm geistesabwesend einen Becher mit
schwarzem Kaffee vom Tablett. »Das ist der Lauf der Dinge, Sarah.
Auch wenn du das nicht einsehen willst, es ist viel zu gefährlich,
wenn du zu ihm gehst. Insbesondere, weil du so kurz davor stehst,
die Beherrschung zu verlieren.«
Ich starrte ihn an, kämpfte gegen den Nebel in
mir und versuchte, mich zu beruhigen.
Thierry trat an das Fenster und blickte hinaus,
während er an seinem dampfenden Becher nippte.
Für einen Augenblick schwiegen wir, und ich
überlegte,
was ich als Nächstes sagen oder tun könnte. Ich konnte nicht die
ganze Nacht im Haus herumsitzen und warten. Das passte nicht mit
dem »Sei kein Trottel«-Rat von Janie zusammen.
Plötzlich ertönte ein Knall. Thierry hatte
seinen Kaffeebecher fallen lassen. Er war auf den Boden gekracht
und hatte einen dunklen Fleck auf dem hellbeigen Teppich
hinterlassen. George würde nicht begeistert sein. Er fasste sich an
die Stirn.
Ich eilte zu ihm. »Was ist los?«
Er drehte sich langsam um und sah an mir vorbei
zu Barry. »Was hast du getan?«
Barrys Miene war undurchdringlich. »Du hast mir
keine andere Wahl gelassen. Tut mir leid, Meister.«
Thierry ging in die Knie. Bevor er ganz auf den
Boden fiel, fing ich ihn auf.
»Sarah …«, flüsterte er, dann schloss er die
Augen und sackte in sich zusammen.
Ich drehte mich zu Barry um und starrte ihn mit
großen Augen an. »Was hast du gemacht?«
Sein Atem ging so schnell, dass sich seine
kleine Brust wie ein Akkordeon hob und senkte. »Geruchlose,
geschmacklose Knoblauchtabletten. Ich habe ihm ein paar in den
Kaffee getan.«
Knoblauch. Es war eine
Mär, dass das Gewürz eine abstoßende Wirkung auf Vampire hatte.
Knoblauch machte uns aber bewusstlos. Ich hatte bereits mit
Knoblauchpfeilen Bekanntschaft gemacht. Jäger benutzten sie, wenn
sie ihr Opfer treffen, aber nicht gleich umbringen wollten. Es
setzte den Vampir für eine kurze Zeit außer Gefecht.
Es war ein harmloses, aber sehr wirkungsvolles
Beruhigungsmittel.
Ich berührte Thierrys Gesicht und strich ihm die
schwarzen Haare aus der Stirn. Er vertraute Barry, und dieser
hinterhältige kleine Mistkerl hatte das ausgenutzt, um die Oberhand
zu gewinnen.
Ich war beeindruckt!
»Du musst gehen«, sagte Barry. »Bevor er
aufwacht.«
Ich musterte ihn. »Er wird wütend auf dich
sein.«
»Wenn ich die Wahl habe, Amy zu retten oder hier
hilflos herumzusitzen, nehme ich das gern in Kauf. Gehst du jetzt,
oder was?«
»Du bist ganz schön herrisch.«
»Der Meister meint es nur gut, aber wenn deine
Sicherheit auf dem Spiel steht, kann er nicht mehr klar denken. Du
bist sehr schnell zu seinem blinden Fleck geworden.«
Er hatte recht. Thierrys Denken war von dem
Wunsch beherrscht, mich in Sicherheit zu wissen. Er hätte mich
heute Nacht niemals aus dem Haus gehen lassen, selbst wenn wir
dadurch Amys Leben in Gefahr brachten.
Außerdem wollte er ganz offensichtlich nicht,
dass ich noch einmal irgendwie in Gideons Nähe kam.
Ich beugte mich vor, küsste Thierry sanft auf
die Lippen und betete, dass es nicht der letzte Kuss war.
Dann stand ich auf und sah zu Barry. »Wünsch mir
Glück.«
»Wir haben keine Zeit für Glück. Geh.«
»Himmelherrgott nochmal! Ich habe dich
schließlich nicht gebeten, mich zu umarmen oder so etwas.«
Er starrte mich finster an. »Wieso bist du noch
hier? Der Meister wird nicht lange bewusstlos sein.«
Guter Punkt.
Ich drehte mich um, stieß die Tür auf und
verließ das Haus in der Hoffnung, dass sich alles fügen würde. Die
Erfahrung sagte mir, dass das unmöglich war, aber ein Mädchen
durfte ja wohl noch träumen, oder?