18
Hast du nicht gesagt, dass du geohrfeigt werden willst?« Janie schlug mich noch heftiger auf die andere Wange. »Ich will nur behilflich sein.«
Am liebsten hätte ich mich auf sie gestürzt und ihr den Hals aufgerissen – schließlich waren wir nicht gerade Busenfreundinnen -, aber der Schmerz des Schlages half mir, ein Stück meiner Kontrolle zurückzuerlangen. Ich schlich mich auf die andere Seite des Raumes und starrte sie an.
Quinn stand mit einem teils besorgten, teils angewiderten Ausdruck hinter ihr. Es war das harte Urteil eines ehemaligen Vampirjägers, der einmal scharf auf mich gewesen war. Na, super.
Thierry hielt sich den verletzten Hals, bis er wie durch ein Wunder verheilte. Seine Miene wirkte undurchdringlich. »Danke, dass du eingegriffen hast.«
Janie schüttelte den Kopf. »Wenn eine Frau dich ausdrücklich auffordert, sie zu ohrfeigen, solltest du sie ernst nehmen.«
Er kniff die Augen zusammen. »Vielleicht hat Quinn keine Skrupel, dich zu schlagen, aber ich weigere mich, Sarah wehzutun.«
»Lass mich aus dem Spiel.« Quinn sah noch einmal besorgt in meine Richtung.
Janie ließ den Blick aufmerksam durch das Zimmer gleiten und zog dann einen Holzpflock aus der Handtasche.
»Denk nicht mal daran.« Thierry zog die Brauen zusammen.
»Verdammt, vielleicht ist der für dich. Du scheinst selbst auch ein bisschen außer dir zu sein, du Frauenheld.«
Quinn legte eine Hand auf den angespannten Arm seiner Verlobten. »Das ist nicht nötig, Janie.«
»Sie ist eine Nachtwandlerin«, erinnerte sie ihn und deutete mit dem Kopf auf mich. »Ich kenne die Geschichten aus den Geschichtsbüchern.«
»Sarah ist verflucht worden«, erklärte Quinn. »Das weißt du doch.«
»Deshalb ist sie nicht weniger gefährlich.«
»Sie ist anders.«
»Auf mich wirkt sie nicht sehr anders.« Sie musterte mich scharf. Ich beherrschte mich, sie anzuzischen, denn das wäre vermutlich nicht sehr hilfreich. Nach einer Weile steckte sie den Pflock widerwillig wieder ein.
Ich hatte noch den Geschmack von Thierrys Blut im Mund und sehnte mich nach mehr, aber mein wahres Ich rang jetzt wie verrückt um seine Kontrolle.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Quinn. Im ersten Augenblick dachte ich, er meinte mich, aber seine Aufmerksamkeit war auf Thierry gerichtet.
Thierrys Augen hatten wieder ihre übliche Silberfarbe angenommen. Er suchte meinen Blick und sah mich schuldbewusst an, sagte jedoch nichts weiter, drehte sich um und verließ mit Quinn den Raum.
Janie stand mit verschränkten Armen vor der Tür, die momentan meinen einzigen Fluchtweg darstellte.
Man konnte die Söldnerin ohne das Mädchen bekommen, aber man konnte nicht das Mädchen ohne die Söldnerin haben.
Oder so ähnlich.
»Also …« Sie grinste mich schief an. »Amüsieren wir uns?«
»Ich muss wohl nehmen, was hinter Tür Nummer zwei steckt.«
»Fühlst du dich etwas besser?«
»Minimal.«
»Zuerst habe ich gedacht, wir hätten euch beim Sex gestört. Doch dann habe ich gemerkt, dass ihr beide noch angezogen wart und dass deine Zähne in seinem Hals steckten. Das deutete irgendwie auf mögliche Schwierigkeiten hin.«
»Du bist sehr aufmerksam.«
Sie atmete aus. »Du bist ganz anders als das letzte Mal, als ich dich gesehen habe. Nicht mehr ganz so glücklich.«
»Ich habe einen anstrengenden Monat hinter mir.« Ich blinzelte vorsichtig. »Wir beide. Ich kann immer noch nicht glauben, dass du und Quinn ein Paar seid.«
»Glaub es.«
»Hast du Lust, mir zu erzählen, wie ihr zusammengekommen seid?«
»Ich hatte von meinem dämonischen Chef den Auftrag erhalten, ein magisches Artefakt in Arizona zu besorgen, zu dem Quinn den Weg kannte. Anschließend sollte ich ihn umbringen. Schließlich haben wir zusammengearbeitet, um den bösen Kerl zur Strecke zu bringen. Als ich beinahe gestorben wäre, musste er mich zeugen, so dass ich nun offiziell zur Reißzahngemeinde gehöre. Wenn du es genauer wissen willst, kauf meine Memoiren.«
Janie war sogar noch ein größerer Klugscheißer als ich. Okay, unwesentlich größer. Aber tief – ganz tief – in ihr schlug ein gutes Herz. Sie hatte mir schon einmal das Leben gerettet. Das hatte etwas zu bedeuten. Sie hatte ein hartes Leben hinter sich und war in etwas zweifelhafte Gesellschaft geraten, aber am Ende hatte sie richtig entschieden. Das galt schließlich auch für Quinn.
Ich hatte meine Kontrolle jetzt ungefähr zu sechzig Prozent zurückerlangt. »Quinn ist ein toller Kerl.«
Sie gab ein missbilligendes Geräusch von sich.
»Keine Sorge«, sagte ich. »Ich werde nicht versuchen, ihn dir wegzunehmen. Er hat mir schon erzählt, was du ansonsten mit mir machst. Ich glaube, es war irgendetwas mit Tod und Zerstückeln.«
»Ich bin nicht eifersüchtig«, erklärte sie voller Überzeugung.
»Gut zu wissen.«
Sie wanderte zu meinem unordentlichen Bett und zurück zu der verschlossenen Tür. »Aber du weißt nicht, was wir zusammen durchgemacht haben. Ich weiß, es ist sehr schnell gegangen, aber ich liebe ihn sehr. Ich weiß, dass er in dich verliebt war und ihr nur deshalb kein Paar seid, weil du dich für Thierry entschieden hast.«
Na, toll. Vampire mit Problemen. Wir waren so viele, dass es sich fast gelohnt hätte, eine Selbsthilfegruppe aufzumachen.
»Du hast recht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hätte ich mich für Quinn entscheiden sollen. Er ist wirklich toll.«
Sie strafte mich mit einem finsteren Blick.
Trotz allem musste ich unwillkürlich lachen. »Das war nur Spaß. Ehrlich, Janie, der Kerl ist dir total verfallen. Außerdem war Quinn nie wirklich in mich verliebt, und für mich war er immer nur ein sehr guter Freund.«
»Wirklich?«
»Andererseits kann er hervorragend küssen.«
»Ich glaube, ich bringe dich um.«
Obwohl sie es halb im Spaß gesagt hatte, ernüchterte es mich ein bisschen. »Was das angeht…«
»Dich umzubringen?«
»Ja.«
»Sag schon. Ich bin ganz Ohr.« Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln, bis sie merkte, dass ich es ernst meinte. »Was ist los?«
»Wie du ja selbst gesehen hast, wird es mit meinem Fluch irgendwie nicht besser. Er führt mich eigentlich geradewegs in die Stadt der Verdammten.«
»Meinst du nicht, dass du lernen kannst, ihn unter Kontrolle zu halten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht für immer. Jetzt kann ich mich einigermaßen beherrschen, weil ich … nun, sagen wir einfach, weil ich momentan gut gesättigt bin. Aber sobald mein Magen wieder zu knurren anfängt, sollten sich alle lieber aus dem Staub machen.«
»Was hast du also vor?«
»Ich kann nur versuchen, die Leute zu schützen, die mir etwas bedeuten. Verdammt, ich muss natürlich auch die Leute schützen, die mir nichts bedeuten.« Obwohl es eigentlich nicht mehr nötig war, holte ich tief Luft. »Ich habe Thierry gebeten, mir einen Pflock ins Herz zu stoßen, wenn wir keine andere Lösung finden. Wenn ich ganz und gar böse werde, haben wir keine andere Wahl.«
Bei diesen Worten schnellten ihre Brauen nach oben. »Du hast ihn gebeten, dich umzubringen? Und er hat zugestimmt?«
Ich nickte und versuchte die plötzlich aufkommende Panik zu unterdrücken. Es klang schrecklich, aber es gab keine andere Möglichkeit. Wenn er mich nicht selbst erstach, würde der Ring jemanden schicken, und ich ging nicht davon aus, dass sie mich mit Plüschhasen bewarfen.
»Ich habe eine andere Idee«, erklärte Janie.
»Was?«
»Benimm dich nicht wie ein Trottel. Hör auf, diesen ganzen Mist einfach hinzunehmen und kämpfe um dein Leben.«
Ich sah sie finster an. »Ist das wahre Liebe?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist meine Meinung. Tu es oder lass es. Ich finde nur, dass es besser wäre, irgendetwas zu tun, als nur hier herumzusitzen und zu warten. Quinn und ich versuchen herauszufinden, wo dein Freund Gideon Amy versteckt hält.«
Die Erinnerung an meine Freundin traf mich wie eine dritte Ohrfeige ins Gesicht. »Woher weißt du überhaupt davon?«
»George hat es uns erzählt, als wir hergekommen sind. Da er weiß, in welchem Hotel Gideon gewohnt hat, fangen wir dort an. Das ist besser als nichts.« Sie wandte mir den Rücken zu und ging auf die Schlafzimmertür zu.
»Hör zu, Janie …«
»Ja?«
»Wenn es ganz schlimm kommt und Thierry nicht…, nun, du weißt schon … dann will ich, dass du …«
Einen Augenblick hing eine schwere Stille über uns.
Sie nickte fest. »Du wirst es überhaupt nicht spüren. Es fühlt sich an, als würdest du dir Ohrlöcher stechen lassen.«
»Wir sprechen aber schon über dasselbe, oder?«
»Darüber, dass ich dich mit einem Pflock ersteche, wenn deine Augen ganz und gar schwarz sind und du langsam verrückt wirst?«
»Ja, aber ich erinnere mich, dass das Ohrlochstechen höllisch wehgetan hat.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sagen? Ich bin nicht gut im Finden von guten Vergleichen. Ich mache es aber kurz und schmerzlos. Mach dir keine Sorgen.«
Keine Sorgen? Klar. Die hatte leicht reden. »Nun, gut. Danke.«
»Janie«, sagte Quinn von der Tür her. »Wir machen uns auf die Suche. Kommst du?«
»Ja«, erwiderte sie. »Ich bin gleich da.«
Quinn sah mir direkt in die Augen, und ich bemerkte, dass der Abscheu und die Unsicherheit in seinem Blick purer Sorge gewichen war. »Bist du okay?«
»Ich tue mein Bestes.«
Er nickte. »Bitte lass uns wissen, wenn du etwas brauchst.«
Nun, ich habe gerade deine Verlobte gebeten, mich zu erstechen, dachte ich. Wie findest du das?
Janie streckte ohne zu zögern die Hand aus und berührte meine Schulter. »Du schaffst das. Ganz bestimmt.«
»Meinst du?«
»Ich weiß es. Weißt du, wieso?«
»Warum?«
»Weil du zu unserer Hochzeit eingeladen bist.« Sie lächelte. »Und nur, dass du es weißt, Bargeld ist uns am liebsten, denn wir sind nirgends registriert. Während wir um unser Leben gerannt sind und ich mich an das Vampirdasein gewöhnen musste, hatte ich dafür einfach keine Zeit.«
»Vollkommen verständlich.«
Sie nahm Quinns Hand. Mit einem letzten Blick zu mir drehte er sich um und verließ das Zimmer. Hätte ich gewusst, dass hier heute ein solcher Betrieb sein würde, hätte ich ein bisschen sauber gemacht. Zum Glück war ich zu verzweifelt, um mich für meine Unordnung zu schämen, zu der, wie ich jetzt bemerkte, ein rosa Büstenhalter am Türknauf gehörte.
Ein paar Minuten stand ich einfach nur da und dachte über Janies Worte nach.
»Sei kein Trottel!«, war der Kern ihrer Aussage.
Ich trat aus dem Schlafzimmer und sah gerade noch, wie George, Janie und Quinn aus der Haustür traten, um sich auf die vergebliche Suche nach Amy zu machen.
Wie komisch, dass sie Thierry und mich nach dem, was vorhin geschehen war, allein ließen. Vertrauten sie mir schon wieder?
Aber nein, als ich mich umdrehte, entdeckte ich den Grund für den Massenaufbruch. Auf der Couch saß Barry. Er sah mich finster mit besorgtem Gesicht an. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass er bereits wusste, was mit Amy geschehen war.
»Ihr wird nichts passieren«, versicherte ich ihm.
»Das ist deine Schuld.« In seiner Stimme hörte ich einen Unterton, der bewirkte, dass ich mich noch elender als sowieso schon fühlte. Er klang eher außer sich als wütend.
Außerdem hatte er recht. Es war meine Schuld.
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
Barry runzelte die Stirn. Vielleicht hatte er nicht damit gerechnet, dass ich es gleich zugeben würde.
»Wenn Amy stirbt …«, hob er an.
»Wenn Amy stirbt, darfst du mich erstechen, denn dann will ich sowieso nicht mehr weiterleben«, beendete ich den Satz für ihn.
Jetzt hatte ich schon drei Leuten die Erlaubnis für die Tat gegeben. Ich sollte eine Exceltabelle anlegen, um nicht die Übersicht zu verlieren.
»Das ist nicht nötig«, sagte Thierry. Er stand mit verschränkten Armen an der Haustür und sah mir nicht in die Augen. Seit unserer kleinen teuflischen Fummelei schien er meinem Blick ganz bewusst auszuweichen. »Ich bin zuversichtlich, dass Quinn, Janie und George deine Frau finden werden.«
»Aber was, wenn nicht?«, entgegnete Barry. »Wir haben keine Ahnung, wo sie ist. Und wenn dieser Mistkerl ihr ein Haar krümmt …«
»Kannst du nicht fühlen, wo sie ist?«, fragte ich. »Wenn du dich ganz doll konzentrierst? Ich meine, du hast sie doch gezeugt, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine sehr seltene Verbindung, die Amy und ich leider nicht teilen. Ich liebe sie so sehr, aber ich kann sie nicht orten. Ich … ich kann ihr nicht helfen.«
Obwohl wir zwei nicht sonderlich gut miteinander auskamen, brach es mir mein nicht schlagendes Herz, dass er wegen der Frau, die er liebte, so aufgelöst war.
»Alles wird gut«, sagte ich schlicht. »Ich gehe jetzt und suche Gideon. Wenn ich ihn zeuge, lässt er Amy frei. So einfach ist das.«
»Nein, daran ist gar nichts einfach.« Bevor ich einen Schritt in Richtung Tür machen konnte, ergriff Thierry meine Hand. »Das ist zu gefährlich.«
»Wenn ich bleibe, ist es zu gefährlich.« Ich machte mich von ihm los.
»Was willst du denn tun, nachdem du ihm seinen Wunsch erfüllt und ihn damit wahrscheinlich zu einem der mächtigsten Vampire gemacht hast, den es je gegeben hat? Glaubst du, dass es ihn irgendwie interessiert, wer lebt oder stirbt? Gideon Chase ist ein egoistischer, selbstverliebter Jäger, der nur an sein eigenes Überleben denkt.«
»Er hat Schmerzen. Das Höllenfeuer verbrennt ihn bei lebendigem Leib.«
Er starrte mich an. »Wieso zum Teufel nimmst du ihn immer noch in Schutz? Nach allem, was passiert ist?«
Ich spürte Wut in mir aufsteigen. »Du übertreibst.«
»Ach ja?«, erwiderte er trocken.
»Ja, das tust du.«
»Aber Meister«, schaltete sich Barry ein. »Wir können doch nicht einfach hier herumsitzen und tatenlos zusehen.«
Thierry durchquerte den Raum und baute sich vor Barry auf. »Es ist zu gefährlich, Sarah in ihrem gegenwärtigen Zustand allein loszuschicken.«
»Sie ist bereit zu gehen.«
»Sarah ist ganz offensichtlich im Augenblick nicht bei sich und kann sich nicht selbst überlassen werden.« Er musterte mich. Er meinte es nicht böse, er sagte nur die Wahrheit. Nach dem Vorfall im Schlafzimmer konnte ich ihm das kaum verübeln.
Barry musterte mich, und zum ersten Mal, seit ich ihm begegnet war – es kam mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dabei waren seither erst drei Monate vergangen -, wirkte er nicht abweisend, sondern nur ängstlich und besorgt. »Was meinst du, Sarah? Du bist Amys beste Freundin. Wird sie das heil überstehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich … ich weiß es nicht.«
Ich spürte, wie die Nachtwandlerin an meinem Bewusstsein zerrte. Wie ein blutrünstiges Monster versuchte sie, meine Selbstbeherrschung zu erschüttern, aber ich hielt sie aufrecht. Die letzte Dosis Meisterblut hatte mir noch einmal geholfen.
»Du weißt es nicht?« Barrys Gesicht lief rot an. »Das reicht nicht.«
Eine Minute herrschte eisiges Schweigen.
»Ich hole uns etwas von dem Kaffee, den George gekocht hat«, zischte Barry. Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er vom Sofa auf und ging in die Küche. Ich hörte ihn mit Tassen und Löffeln hantieren.
Ich trat einen Schritt auf Thierry zu. »Ich muss wirklich gehen.«
»Das kannst du nicht.« Er hielt abwehrend eine Hand hoch, um mich aufzuhalten. »Und bitte, Sarah. Komm nicht näher. Ich bin immer noch ein bisschen wackelig von vorhin.«
Ich erstarrte auf der Stelle. »Ich habe zu viel Blut getrunken.«
»Es ist nicht wegen des Bluts, es ist …« Er sah mich aus seinen silberfarbenen Augen an. »Deine Nachtwandlerin lockt meine eigene finstere Seite hervor. Sie beunruhigt mich.«
Ich zuckte zusammen. »Ich weiß. Es ist abstoßend.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich finde es verwirrend, weil ich … weil es mir gefällt. Wenn meine dunkle Seite zum Vorschein kommt, ist alles so einfach. Die Sorgen der Welt verschwinden, und es bleibt nur die Finsternis und die Lust, die mit ihr verbunden ist.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Das hört sich eigentlich ganz sexy an. Aber du findest es nicht gut, richtig?«
Er gab ein Geräusch von sich, das sich beinahe wie ein Lachen anhörte. »Ich habe mich vor langer Zeit entschieden, alles zu meiden, das meine dunkle Seite hervorlockt.« Er zog die Brauen zusammen. »Ich bin noch nie einem Vampir begegnet, der sich so schwer beherrschen kann wie ich. Abgesehen von Nachtwandlern natürlich.«
»Es gibt eine Menge Vampire, die überhaupt nicht wählerisch sind, was ihre Blutquelle angeht.«
»Ja, aber die sind nicht so … süchtig nach Blut wie ich.«
Ich dachte über seine Worte nach. »Du meinst, du hättest einen kleinen Nachtwandler in dir, der versucht, die Kontrolle zu übernehmen?«
»Vielleicht.« Sein schönes Gesicht wirkte angespannt und verriet mir, wie viel Überwindung ihn dieses Geständnis gekostet hatte.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, unmöglich.«
Sein Blick verfinsterte sich noch mehr. »Es überrascht mich, dass du das sagst. Schließlich hast du mehr als viele andere von meiner dunklen Seite erlebt.«
»Nachtwandler empfinden nach ihrem Mitternachtsimbiss keine Reue. Aber du? Du fühlst dich total schuldig. Beinahe siebenhundert Jahre sind eine lange Zeit, um sich selbst zu hassen. Ich wette, du konntest dich schon als Mensch nicht leiden, als du noch Schafe gehütet hast oder womit auch immer man damals sein Geld verdient hat. Lange bevor du Veronique begegnet bist.«
Er hob eine dunkle Braue. »Ich war kein Schäfer.«
»Was warst du dann?«
»Schankwirt. Bevor die Pest über uns kam, habe ich diverse Gastwirtschaften und Tavernen betrieben.« Einen Augenblick schien er vollkommen abwesend. »Seltsam. Ich habe schon ewig nicht mehr daran gedacht.«
»Warst du so etwas wie ein mittelalterlicher Donald Trump?«
»Das könnte man sagen.«
Darüber musste ich lächeln. »Scheint mir irgendwie passend.« Ich streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, und diesmal wich er nicht zurück. »Ich weiß, dass du eine schlimme Zeit durchgemacht hast. Es ist nicht gerade einfach, ein Vampir zu sein, oder?«
»Du bist erstaunlich gut damit zurechtgekommen.«
»Machst du dich lustig über mich? Muss ich erst meine ganzen Missgeschicke aufzählen? Seit der Nacht, in der ich gezeugt wurde, habe ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Ich wollte kein Vampir sein. Ich fand es abscheulich. Und als ich mich gerade daran gewöhnt hatte, wurde es immer schlimmer.«
»Sarah …«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann sie fühlen, Thierry … die Nachtwandlerin, die die Kontrolle über mein Leben und meinen Körper übernehmen will. Ich spüre, wie sie sich langsam in mein Bewusstsein drängt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch habe, aber ich will, dass du etwas sehr Wichtiges weißt.«
Er wirkte angespannt. »Was?«
»Dass ich nicht wieder normal sein will. Ich will nur glücklich sein. Mit dir.«
Er zog mich näher an sich. »Ich schwöre dir, Sarah, ich werde alles tun, um dafür zu sorgen.«
»Ich kann dafür sorgen, aber ich muss jetzt gehen.«
»Nein. Du bleibst hier.« Sein Griff wurde fester. »Ich suche Gideon und tue, was nötig ist, um ihn aufzuhalten.«
Mein Magen sank in die Kniekehlen. »Du willst ihn umbringen.«
»Wenn es nötig ist.« Er sah mich aus schmalen Augen an. »Würde es dir etwas ausmachen? Würdest du um Gideon Chase trauern? Nach allem, was er getan hat?«
Ich glaube, meine Antwort kam nicht so prompt, wie er es sich gewünscht hätte.
»Verstehe«, erwiderte er, und über seinen offenen Gesichtsausdruck legte sich wieder diese nervige kühle Maske.
»Du verstehst gar nichts.«
»Vielleicht sieht Gideon ja klarer. Er scheint deine dunkle Seite zu schätzen, während ich sie bekämpfe. Ich glaube, du musst selbst entscheiden, wer von uns recht hat.«
Ich fühlte Wut in mir aufsteigen, die meine dunkle Seite hervorlockte. Ich spürte, wie meine Augen schwarz wurden, wie sich mein Blickfeld verengte und an den Kanten unscharf wurde. »Verdammt, Thierry …«
Barry kam mit einem Tablett aus der Küche. Es war sogar ein Kaffee für mich dabei. »Hier, Meister. Trink das.«
Thierry nahm geistesabwesend einen Becher mit schwarzem Kaffee vom Tablett. »Das ist der Lauf der Dinge, Sarah. Auch wenn du das nicht einsehen willst, es ist viel zu gefährlich, wenn du zu ihm gehst. Insbesondere, weil du so kurz davor stehst, die Beherrschung zu verlieren.«
Ich starrte ihn an, kämpfte gegen den Nebel in mir und versuchte, mich zu beruhigen.
Thierry trat an das Fenster und blickte hinaus, während er an seinem dampfenden Becher nippte.
Für einen Augenblick schwiegen wir, und ich überlegte, was ich als Nächstes sagen oder tun könnte. Ich konnte nicht die ganze Nacht im Haus herumsitzen und warten. Das passte nicht mit dem »Sei kein Trottel«-Rat von Janie zusammen.
Plötzlich ertönte ein Knall. Thierry hatte seinen Kaffeebecher fallen lassen. Er war auf den Boden gekracht und hatte einen dunklen Fleck auf dem hellbeigen Teppich hinterlassen. George würde nicht begeistert sein. Er fasste sich an die Stirn.
Ich eilte zu ihm. »Was ist los?«
Er drehte sich langsam um und sah an mir vorbei zu Barry. »Was hast du getan?«
Barrys Miene war undurchdringlich. »Du hast mir keine andere Wahl gelassen. Tut mir leid, Meister.«
Thierry ging in die Knie. Bevor er ganz auf den Boden fiel, fing ich ihn auf.
»Sarah …«, flüsterte er, dann schloss er die Augen und sackte in sich zusammen.
Ich drehte mich zu Barry um und starrte ihn mit großen Augen an. »Was hast du gemacht?«
Sein Atem ging so schnell, dass sich seine kleine Brust wie ein Akkordeon hob und senkte. »Geruchlose, geschmacklose Knoblauchtabletten. Ich habe ihm ein paar in den Kaffee getan.«
Knoblauch. Es war eine Mär, dass das Gewürz eine abstoßende Wirkung auf Vampire hatte. Knoblauch machte uns aber bewusstlos. Ich hatte bereits mit Knoblauchpfeilen Bekanntschaft gemacht. Jäger benutzten sie, wenn sie ihr Opfer treffen, aber nicht gleich umbringen wollten. Es setzte den Vampir für eine kurze Zeit außer Gefecht.
Es war ein harmloses, aber sehr wirkungsvolles Beruhigungsmittel.
Ich berührte Thierrys Gesicht und strich ihm die schwarzen Haare aus der Stirn. Er vertraute Barry, und dieser hinterhältige kleine Mistkerl hatte das ausgenutzt, um die Oberhand zu gewinnen.
Ich war beeindruckt!
»Du musst gehen«, sagte Barry. »Bevor er aufwacht.«
Ich musterte ihn. »Er wird wütend auf dich sein.«
»Wenn ich die Wahl habe, Amy zu retten oder hier hilflos herumzusitzen, nehme ich das gern in Kauf. Gehst du jetzt, oder was?«
»Du bist ganz schön herrisch.«
»Der Meister meint es nur gut, aber wenn deine Sicherheit auf dem Spiel steht, kann er nicht mehr klar denken. Du bist sehr schnell zu seinem blinden Fleck geworden.«
Er hatte recht. Thierrys Denken war von dem Wunsch beherrscht, mich in Sicherheit zu wissen. Er hätte mich heute Nacht niemals aus dem Haus gehen lassen, selbst wenn wir dadurch Amys Leben in Gefahr brachten.
Außerdem wollte er ganz offensichtlich nicht, dass ich noch einmal irgendwie in Gideons Nähe kam.
Ich beugte mich vor, küsste Thierry sanft auf die Lippen und betete, dass es nicht der letzte Kuss war.
Dann stand ich auf und sah zu Barry. »Wünsch mir Glück.«
»Wir haben keine Zeit für Glück. Geh.«
»Himmelherrgott nochmal! Ich habe dich schließlich nicht gebeten, mich zu umarmen oder so etwas.«
Er starrte mich finster an. »Wieso bist du noch hier? Der Meister wird nicht lange bewusstlos sein.«
Guter Punkt.
Ich drehte mich um, stieß die Tür auf und verließ das Haus in der Hoffnung, dass sich alles fügen würde. Die Erfahrung sagte mir, dass das unmöglich war, aber ein Mädchen durfte ja wohl noch träumen, oder?