15
Ich legte eine Hand um meinen Hals und tastete nach der Kette, die nicht mehr da war. Gideon hatte sie mir weggenommen. Nein, er hatte sie mir nicht weggenommen. Er hatte sie weggerissen. Er hatte sie kaputt gemacht.
Oh, Mist.
Nach dem, was Veronique mir gestern erklärt hatte, würde sie nicht mehr funktionieren, selbst wenn ich sie wiederbekam. Und ich konnte nicht mehr auf das Zauberbuch der Hexe hoffen, um meinen Nachtwandlerfluch zu brechen.
Veroniques Augen wirkten besorgt. »Sarah, Liebes. Bist du in Ordnung?«
Noch fühlte ich mich vollkommen in Ordnung. Aber nachdem ich einen Atemzug getan hatte, bemerkte ich, dass ich nicht mehr zu atmen brauchte. Als mein Herz noch einmal langsam schlug und dann aussetzte, presste ich meine Hand gegen die Wand.
»Mir geht es nicht so gut«, gab ich zu.
Ich ging schnell zu ihr und untersuchte ihre Fesseln. Sie war mit einem Paar silberner Handschellen angebunden. Ihr linkes Handgelenk war von dem Metall, mit dem sie an dem Lagerregal befestigt war, bereits gerötet und wund.
Vampire und Silber vertrugen sich nicht sehr gut. Obwohl wir stark genug waren, Metall zu brechen, war Silber gefährlich für uns, insbesondere für einen Meistervampir wie Veronique. Wenn ich an den Handschellen riss, riskierte ich, ihr die Hand abzutrennen. Selbst die leichteste Berührung brannte wie Feuer.
Ich spürte den Schmerz, als ich an den Handschellen riss, zog schnell die Hand zurück und schüttelte sie. »Ich weiß nicht, wie ich dich befreien kann.«
Sie seufzte. »Ich wünschte, du hättest mir genug vertraut, um mir die Wahrheit über dich und meinem Mann zu sagen. Ich habe ein Recht, das zu wissen.«
Verzweiflung breitete sich in mir aus. »Wieso tust du das?«
»Was?«
»Wieso sprichst du immer von deinem Mann?«
Sie sah verwirrt aus. »Weil er das ist. Was macht das für einen Unterschied, wie ich ihn nenne?«
»Es ist nur …« Ich atmete zitternd aus und dachte daran, dass sie nie bemerkt hatte, dass ihr »Mann« der Rote Teufel war. »Du erinnerst mich damit jedes Mal daran, dass er niemals mir gehören wird, und das tut weh. Sehr. Es ist der Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen bringt.«
»Es ist doch nur ein Wort.«
»Nein, es ist mehr als das. Es ist ein … ein Titel. Eine Marke. Er ist ›dein Mann‹.« Ich malte Anführungsstriche in die Luft. »Du unterschreibst die Annullierung nicht, weil er dir gehört, und das ist alles.«
»Ich glaube kaum, dass das der passende Zeitpunkt oder Ort ist, das zu diskutieren.«
»Da hast du vollkommen recht.«
Sie musterte mich eine Weile. »Hasst du mich, weil ich die Papiere nicht unterschrieben habe?«
Ich hob den Blick zu ihr. »Manchmal wünschte ich mir, es wäre so. Aber nein. Ich habe einiges durch diesen Nachtwandlerfluch gelernt. Er hat mich gelehrt, die Zeiten zu schätzen, in denen ich die Kontrolle über mein Leben habe. Offensichtlich gehen diese Zeiten in den nächsten Minuten dem Ende entgegen, jetzt, wo meine Kette weg ist.« Ich kämpfte mit den Tränen. Aber ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren, ich musste die Ruhe bewahren. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Ihre Miene wirkte angespannt. »Du tust, was ich immer getan habe und weiterhin tue. Du wirst überleben. Du wirst alles tun, was nötig ist, um einen weiteren Sonnenaufgang zu erleben.«
»Nachtwandler sehen keine Sonnenaufgänge.«
Ihr entglitten die Gesichtszüge. »Oh, mein Liebes …«
»Nenn mich nicht immer Liebes.« Eine dunkle Welle der Gewalt erfasste mich.
Uh, oh. Das war kein gutes Zeichen. Ich musste ruhig bleiben. Ich wollte nicht als finstere Sarah auf Veronique losgehen. Wie gesagt, ich hasste sie nicht. Ich wollte ihr nicht wehtun. Sie befand sich in einer sehr prekären Situation. Sie war mit einem potentiellen Monster, das es nach dem Blut eines Meistervampirs dürstete, in einem Raum gefangen.
Ihr Blut ist süß und voll, bemerkte meine Nachtwandlerin aufgeregt. Voller Kraft… läuft es mir den Hals hinunter … köstlich und nahrhaft … Mmmh!
Solche Gedanken waren momentan alles andere als hilfreich.
»Habe ich dir je erzählt, wie ich meine wahre Liebe Marcellus getroffen habe?«, fragte Veronique.
Das war der Vampir, von dem Thierry mir erzählt hatte, dass er der eigentliche Rote Teufel gewesen war, bevor er zum Mann hinter der Maske wurde. »Meinst du wirklich, dass das der beste Moment ist, in Erinnerungen zu schwelgen?«
»Ich glaube, dass die Geschichte für diese Situation von Bedeutung ist, deshalb erlaube mir fortzufahren.«
Ich blickte zurück zu der verschlossenen Tür. Selbst wenn ich meine Vampirohren anstrengte, vernahm ich dahinter kein Geräusch. Vermutlich wartete Gideon geduldig vor der Tür, während ich schluckte. Ich war immer noch geschockt, weil ich meine Goldkette verloren hatte. Wie sollte ich jemals wieder normal werden? Erst seit das Zauberbuch nicht mehr zur Verfügung stand, war mir klar geworden, wie sehr ich darauf gesetzt hatte.
He, vergiss das Zauberbuch, ja?, forderte meine Nachtwandlerin. Du wolltest den Fluch doch überhaupt nicht brechen. Es ist viel zu lustig, ich zu sein.
Ich dachte nicht an Blut. Und ich achtete nicht auf das langsame, aber regelmäßige Pochen an Veroniques Hals.
Zuzugeben – dass man ein Problem hatte, war Teil der Lösung, richtig? Ja. Ich hatte ein Problem, und ich ging nicht davon aus, dass es mir helfen würde, Veroniques wehmütiges Gequatsche über ihren toten Liebhaber zu hören.
»Bevor ich Marcellus begegnet bin«, hob sie an, als ich nichts sagte, um sie zu unterbrechen, »führte ich in Frankreich ein privilegiertes, aber langweiliges Leben mit meiner Mutter und meinem Vater und vielen Bediensteten. Ich war eine bekannte Schönheit, und viele Männer hielten um meine Hand an.«
Also los. »Hört sich ziemlich gut an.«
»Meine Eltern hatten für mich eine Hochzeit mit einem wohlhabenden Mann arrangiert, aber er war ziemlich alt und hässlich. Ich erklärte ihnen, dass ich aus Liebe heiraten wollte, aber Liebesheiraten gibt es erst seit jüngerer Zeit. Man heiratete damals aus deutlich praktischeren Gründen wie Wohlstand oder einem Titel. Doch dann begegnete ich Marcellus.«
»War er nicht auch reich?«, fragte ich. Ich sah nicht auf ihren Hals, der Meistervampirblut unter ihrer Haut versprach. Nein.
»Oh, ja. Er war sehr reich und gut aussehend. Ich habe mich auf den ersten Blick in ihn verliebt und bin mit ihm durchgebrannt. Das tat man als anständige junge Frau sowieso nicht. Ich wusste, dass ich nicht zu meiner Familie zurückkehren konnte, aber das war in Ordnung. Solange ich mit Marcellus zusammen war, hatte ich vor nichts Angst.«
Je länger sie sprach, desto mehr konzentrierte ich mich auf ihren makellosen weißen Hals. Sie musste meine Unaufmerksamkeit bemerkt haben, denn sie räusperte sich.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich … ich kann mich gerade so schwer konzentrieren. Kannst du vielleicht zum Punkt kommen, damit wir uns um das aktuelle Problem kümmern können?«
»Hast du überhaupt keine Kontrolle über deine Nachtwandlerin?«
Nun, das werden wir bald herausfinden, oder?, zischte die Nachtwandlerin in mir.
»Ich versuche es.« Ich spürte, wie meine Reißzähne in die Länge wuchsen und schärfer wurden, und fuhr mit der Zungenspitze darüber. Mein Magen knurrte vor Hunger.
»Marcellus gab sich mir in unserer ersten Liebesnacht als Vampir zu erkennen«, fuhr sie unbeirrt fort. »Er schämte sich und fürchtete, dass ich ihn auf der Stelle vor Angst und Abscheu verlassen würde. Aber das tat ich nicht. Ich bat ihn, mich zu zeugen, und das tat er. Da er bereits ein Meistervampir war, war ich von Anfang an sehr stark, und er brachte mir bei, wie man überlebte.« Sie seufzte bei der Erinnerung. »Wie sehr ich ihn geliebt habe.«
»Und dann hat Marcellus dich verlassen und mit einem jüngeren Zögling angebandelt. Das weiß ich schon, Veronique. Die Einsamkeit während der Pest hat dich dazu gebracht, Thierry zu zeugen, und der Rest ist Geschichte. Ich meine … Vergangenheit. Gideon will, dass ich dich aussauge, damit ich stärker werde. Interessiert dich das denn überhaupt nicht?«
»Natürlich«, entgegnete sie scharf. »Aber ich bin schon mit deutlich schlimmeren Situationen zurechtgekommen. Ich habe bis heute überlebt, indem ich getan habe, was getan werden musste. Und ja, Marcellus hat mich verlassen.« Ihre Stimme brach. »Der Betrug versetzt mir immer noch einen Stich. Aber nach allem, was zwischen uns geschehen ist, weiß ich, dass er mich genauso geliebt hat wie ich ihn. Am Ende hat er sich geopfert, um mich zu retten. Das war wahre Liebe.«
Mein Blickfeld hatte sich langsam auf sie beschränkt und ihre Stimme wurde ein winziges Summen, das ich leicht ignorieren konnte. »Das war eine hübsche Geschichte. Wozu war sie noch mal gut?«
»Wenn Thierry dich so liebt, wo ist er dann jetzt?«, fragte sie.
»Warum? Glaubst du, dass er sich wie Marcellus opfern würde, um dich zu retten?«
Aus ihren Augen sprach immer noch keine Angst, nur Mitleid. Für mich. »Ich lebe schon sehr lange, ohne dass jemand gekommen wäre, mich zu retten.«
Meine Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln. »Ehrlich, Veronique, du hättest diese Annullierungspapiere wirklich unterschreiben und zu deinem fabelhaften Leben nach Europa zurückkehren sollen. Dir die Hände nicht mit diesem ganzen Mist schmutzig machen sollen. Aber nein, du musstest Thierry mit beiden Händen festhalten – einen Mann, den du nicht liebst -, damit ihn keine andere bekommt.«
»Dann hat Gideon womöglich recht. Vielleicht solltest du die Gelegenheit ergreifen, mich zu töten. Wenn man will, gibt es viele Möglichkeiten, einen Vampir zu töten, sogar einen Meistervampir.« Sie musterte mich. »Deine Augen sind jetzt ganz schwarz, Liebes.«
»Vielleicht muss ich mich damit abfinden, dass ich eine Nachtwandlerin bin.«
»Es ist nur ein unglücklicher Fluch. Du bist nicht wirklich so.«
»Du bist nicht die Erste, die das sagt, aber ich fühle mich wie eine Nachtwandlerin, und ich verhalte mich wie eine Nachtwandlerin. Es ist so gut wie unmöglich, dass ich diese Seite noch einmal wieder loswerde. Es ist echt.«
»Nein«, erklärte sie mit Nachdruck. »Es ist nur ein Zauber, und ein Zauber ist nicht dasselbe wie die Realität.«
»Gideon wird jedenfalls keine von uns hier herauslassen, bevor ich nicht getan habe, was er von mir verlangt. Und seltsamerweise wird es immer leichter, je länger du sprichst.«
Ich war sehr durstig. Ganz ausgetrocknet. Ich verzehrte mich vor Lust nach Blut. Ich hatte mich dagegen gewehrt, seit ich ein Vampir geworden war, fand es wirklich widerlich und abstoßend und unhygienisch. Es war eine Sache, in einem Vampirclub Blut vom Fass zu trinken, aber es war eine andere, es direkt aus der Quelle zu beziehen. Es waren unterschiedliche Sitten – das eine war gut, das andere schlecht. Das eine machte mich normal, das andere machte mich zum Monster. Dennoch war es Blut.
Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf den Puls an Veroniques Hals – ein Puls, der seit siebenhundert Jahren schlug. Er hatte immer weitergeschlagen. Und auf einmal gab es für mich nichts anderes mehr auf der Welt.
Ich streckte die Hand aus, um diesen Puls zu berühren und spürte, wie das Blut unter der Hautoberfläche pulsierte. Es fühlte sich an, als würde die Kraft in Wellen von ihr ausgehen. Gideon hatte mit so vielem recht. Wenn ich von ihr trank, würde ich noch mächtiger werden.
Wenn ich sie austrockne, erklärte meine Nachtwandlerin, während ich mich mit meinem Mund Veroniques Hals näherte, bin ich einige Probleme los.
Ja, dachte ich. Vielleicht hast du recht.
Plötzlich schlug Veronique mich ziemlich heftig mit der freien Hand ins Gesicht.
»Geh weg«, zischte sie.
Ich packte sie an der Bluse, kniff die Augen zusammen und bleckte meine Reißzähne, die spitzer waren als üblich.
Sie schlug mich noch einmal. Diesmal fester.
»Au!« Ich schrie auf und wich vor ihr zurück.
Ihre dunklen Augen blitzten. »Nun komm schon, Sarah, du bist stark genug, um dich zusammenzureißen.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich fühlte mich benebelt und vollkommen verwirrt, aber ein kleines Stück von meinem Verstand war noch da. »Ich glaube nicht, dass ich mich beherrschen kann.«
»Natürlich kannst du das.«
»Kann ich nicht!« Ich ging wieder auf sie zu und wurde für meinen Versuch mit einer weiteren brennenden Ohrfeige bestraft. Das reichte, um einen klaren Kopf zu bekommen und einigermaßen vernünftig zu werden.
»Denk an Thierry«, sagte sie harsch. »Er würde nicht wollen, dass du so bist. Er würde es überaus ungehörig finden.«
Da hatte sie recht. Ich versuchte, das Bild von Thierry in meinem Kopf festzuhalten.
»Ich versuche es.«
Sie biss die Zähne zusammen. »Es wird nicht leichter, Liebes. Nie. Im Leben eines Vampirs gibt es keine einfachen Antworten. Es wird immer Jäger geben, es wird immer Gefahren geben, es wird immer welche geben, die uns wehtun wollen, aber du darfst dich nicht von ihnen unterkriegen lassen. Du musst an erster Stelle überleben wollen. Genau wie ich.«
Ich hatte den Kern verstanden: Sei stark. Kneif nicht. »Ich muss uns unbedingt hier herausbringen.«
»Du verstehst immer noch nicht.« Sie führte den rechten Unterarm an ihren Mund und biss in ihr Handgelenk. »Du darfst von mir trinken, aber nach meinen Regeln. Gideon ist sicher nicht klar, dass mein Blut stark genug ist, dir etwas von deiner Kontrolle wiederzugeben. Es ändert nichts an der Tatsache, dass deine Kette weg ist, aber es hilft eine Weile.«
Mein Blick hing an ihrem Handgelenk. »Veronique … ich weiß nicht.«
»Mach«, sagte sie so scharf, dass ich … nun, es tat.
Dank meines Fluchs war ich so hungrig, dass ihr Blut wie ein Big Mac nach einer Woche Wasser und trocken Brot schmeckte. Ich trank gierig und war einerseits aufgeregt, andererseits ängstigte ich mich zu Tode.
Es war keine gute Gefühlskombination.
Mein Gesicht brannte immer noch von ihrer Ohrfeige, aber ich versuchte nicht, es zu ignorieren, sondern konzentrierte mich geradezu darauf. Der Schmerz erdete mich. Ich trank von ihr, bis sie mit ihrer gefesselten Hand gegen meine Stirn stieß.
»Das reicht«, erklärte sie.
»Ich fühle mich … besser.« Ich wich zurück und sah sie an. »Sind meine Augen noch schwarz?«
Sie nickte. »Ja, das sind sie.«
Ich drehte mich zu der verschlossenen Tür um, trat dagegen und war etwas überrascht, aber zufrieden, als sie aufgrund meiner zusätzlichen Nachtwandlerkraft zersplitterte. Ich schritt den Flur hinunter und zurück in den Hauptraum, wo Gideon an der Bar wartete. Ich ging schnurstracks auf ihn zu und packte ihn am Hals, ohne dass er überhaupt eine Chance hatte, sich zu verteidigen.
»Sarah«, keuchte er. »Nicht.«
»Nicht was?« Ich legte den Kopf auf eine Seite. »Soll ich dir nicht den Kopf abreißen, dafür dass du ein manipulierendes Arschloch bist?«
Ich legte meine andere Hand um seinen Hals und drückte fester zu. Seine Augen traten hervor, und auf einmal bemerkte ich Angst in seinem Blick. Sein Gesicht nahm ein ungesundes Dunkelrot an.
Tu ihm nicht weh, du Schlampe!, schrie meine Nachtwandlerin.
Ich runzelte die Stirn und versuchte, meine böse innere Stimme zu ignorieren.
Dann spürte ich eine Hand um meinen Oberarm und konnte Gideon nicht länger halten. Ich bekam runde Augen, als ich sah, dass es Veronique war. Sie stieß mich fort, nur ganz leicht, aber sie war so stark, dass ich rückwärts taumelte und auf der leeren Tanzfläche auf den Hintern fiel.
Ich hatte keine Ahnung, dass sie so stark war.
Die Wunden an ihren Handgelenken – dort, wo ich von ihr getrunken hatte und sie mit Silber gefesselt gewesen war – verheilten bereits.
Gideon hustete und spuckte und fasste sich an seinen empfindlichen Hals.
»Bist du nicht mehr glücklich mit mir, Sarah?«, brachte er nach einem Moment hervor. »Ich glaube, ich verstehe dich.«
Ich rappelte mich von dem harten Boden hoch und ging wieder auf ihn zu, aber Veronique stellte sich mir in den Weg und hielt mich auf.
»Was machst du?« Ihr seltsames Verhalten brachte mich vollkommen aus dem Konzept. »Wie hast du dich aus den Handschellen befreit?«
»Mit einem Schlüssel«, erwiderte sie schlicht mit undurchdringlicher Miene.
»Den Gideon mir vorhin gegeben hat«, gab sie unumwunden zu. »Es tut mir leid. Aber wie schon gesagt, ich will nur überleben.«
»Wovon sprichst du?«
Gideon trat neben Veronique. Er nahm ihre Hand und führte ihr verheilendes Handgelenk an seinen Mund, um es zu küssen. »Arme Veronique, wegen der Schmerzen tut es mir leid.«
»Das ist nichts.«
Mein Blickfeld wackelte, aber das kam vermutlich daher, dass ich am ganzen Leib zitterte. »Was zum Teufel geht hier vor?«
Gideon lächelte mich an. »Erinnerst du dich an die Frau, von der ich dir erzählt habe? Der Vampirin, die mich vor Jahren verführt hat, um ihren Hals zu retten?«
»Der beste Sex deines Lebens?« Ich erinnerte mich an die kleine Geschichte. Dann schoss mein Blick zu Veronique, und ich erinnerte mich an Gideons unordentliche Laken von gestern Nachmittag. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das glaube ich nicht.«
»Du wirst das sicher nicht verstehen«, sagte sie schlicht, »aber Gideon ist sehr mächtig und wird noch mächtiger sein, wenn er heute Nacht gezeugt wurde. Außerdem hat er eine andere Meinung darüber, was es heißt, ein Vampir zu sein. Wie gesagt, ich will überleben. Warum sollte ich mich nicht mit ihm verbünden, ganz besonders jetzt? Es muss ja niemand zu Schaden kommen. Wenn du gewusst hättest, dass ich über alles Bescheid weiß, hättest du dich nie zwingen lassen, von mir zu trinken. Das ist für alle das Beste. Glaub mir, Liebes. Ich tue das nicht, um dir oder irgendjemand anders wehzutun.«
Veronique war mit Gideon zusammen? Ich konnte verstehen, wenn auch nur ansatzweise, dass sie mit ihm geschlafen hatte, damit er sie nicht umbrachte – immerhin war er ziemlich scharf. Aber dass sie es jetzt freiwillig tat?
Ich war fassungslos, aber es ergab von Minute zu Minute mehr Sinn. Veronique war immer egoistisch gewesen. Sie schätzte ihr Dasein. Sie war einer der ältesten Vampire auf der ganzen Welt. Sie wollte überleben – egal um welchen Preis.
Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie charmant und überzeugend Gideon sein konnte, wenn er etwas haben wollte.
Auch wenn ich ihr ihren Part in Thierrys Leben verübelte, hatte ich an sie geglaubt. Verdammt, ich sah sogar ein bisschen zu ihr auf. Wie zu einer viel, viel … viel … älteren Schwester. Ich war enttäuscht von ihr.
»Ich muss hier raus«, sagte ich bebend. »Wenn mir nach einem großen Drama wäre, hätte ich meinen Festplattenrekorder programmiert.«
Gideon schüttelte den Kopf. »Es ist ein sehr sonniger Tag. Ich rate dir, ohne deine Kette nicht vor Sonnenuntergang irgendwohin zu gehen.«
Ich trat langsam auf ihn zu. Er zuckte nicht vor mir zurück.
»Willst du mich wieder umbringen?«, fragte er.
»Nein.« Ich ergriff seine Hand. »Ich war etwas außer mir, dass du meine Kette kaputt gemacht hast und mir die Möglichkeit genommen hast, meinen Fluch zu brechen. Aber dich umzubringen oder deshalb auszurasten, bringt mich auch nicht weiter, oder?«
»Nein.«
Mit einer schnellen Bewegung riss ich die Zauberuhr von seinem Handgelenk. Ein Lichtschein strich über ihn hinweg, und eine Sekunde später war er wieder mit Narben übersät.
»Gib mir die Uhr zurück«, forderte er mit zusammengekniffenen Augen.
»Die?« Ich hielt ihm die Uhr eine Sekunde vor die Nase, wich dann jedoch schnell zurück, ließ die Uhr auf den Boden fallen und trat mit dem Absatz darauf. »Ups. Tut mir leid. Ich bin ausgerutscht.«
Es war jämmerlich, aber es fühlte sich gut an.
Er tastete sein vernarbtes Gesicht ab und zuckte zusammen. Veronique sah ihn schockiert an.
»Gut. Ich gehe.« Ich zog mich zurück und bewegte mich in Richtung Ausgang. »Willst du mich aufhalten?«
Er biss die Zähne zusammen. »Sarah, tu das nicht. Bleib hier. Bring dich nicht in Gefahr, nur weil du etwas beweisen willst.«
»Du kannst mich mal, Gideon.«
Sehr eloquent, schon gut, ich weiß.
Wortlos drehte ich ihm den Rücken zu und ging hinaus in den alten Buchladen.
»Ich werde dich finden, egal wo du hingehst«, rief Gideon mir hinterher. »Das Ritual findet wie geplant statt. Das bisschen Zauberei spielt keine Rolle mehr. Wenn du mich erst gezeugt hast, verschwinden meine Narben sowieso.«
Als ich die Eingangstür aufstieß, lief mir eine Träne der Wut und Verzweiflung die rechte Wange hinunter, doch sie trocknete schlagartig, als ich vor den Club auf den Bürgersteig trat und das gleißende Sonnenlicht auf mich fiel.