15
Ich legte eine Hand um meinen Hals und tastete
nach der Kette, die nicht mehr da war. Gideon hatte sie mir
weggenommen. Nein, er hatte sie mir nicht weggenommen. Er hatte sie
weggerissen. Er hatte sie kaputt
gemacht.
Oh, Mist.
Nach dem, was Veronique mir gestern erklärt
hatte, würde sie nicht mehr funktionieren, selbst wenn ich sie
wiederbekam. Und ich konnte nicht mehr auf das Zauberbuch der Hexe
hoffen, um meinen Nachtwandlerfluch zu brechen.
Veroniques Augen wirkten besorgt. »Sarah,
Liebes. Bist du in Ordnung?«
Noch fühlte ich mich vollkommen in Ordnung. Aber
nachdem ich einen Atemzug getan hatte, bemerkte ich, dass ich nicht
mehr zu atmen brauchte. Als mein Herz noch einmal langsam schlug
und dann aussetzte, presste ich meine Hand gegen die Wand.
»Mir geht es nicht so gut«, gab ich zu.
Ich ging schnell zu ihr und untersuchte ihre
Fesseln. Sie war mit einem Paar silberner Handschellen angebunden.
Ihr linkes Handgelenk war von dem Metall, mit dem sie an dem
Lagerregal befestigt war, bereits gerötet und wund.
Vampire und Silber vertrugen sich nicht sehr
gut. Obwohl wir stark genug waren, Metall zu brechen, war Silber
gefährlich für uns, insbesondere für einen Meistervampir wie
Veronique. Wenn ich an den Handschellen riss, riskierte
ich, ihr die Hand abzutrennen. Selbst die leichteste Berührung
brannte wie Feuer.
Ich spürte den Schmerz, als ich an den
Handschellen riss, zog schnell die Hand zurück und schüttelte sie.
»Ich weiß nicht, wie ich dich befreien kann.«
Sie seufzte. »Ich wünschte, du hättest mir genug
vertraut, um mir die Wahrheit über dich und meinem Mann zu sagen.
Ich habe ein Recht, das zu wissen.«
Verzweiflung breitete sich in mir aus. »Wieso
tust du das?«
»Was?«
»Wieso sprichst du immer von deinem Mann?«
Sie sah verwirrt aus. »Weil er das ist. Was
macht das für einen Unterschied, wie ich ihn nenne?«
»Es ist nur …« Ich atmete zitternd aus und
dachte daran, dass sie nie bemerkt hatte, dass ihr »Mann« der Rote
Teufel war. »Du erinnerst mich damit jedes Mal daran, dass er
niemals mir gehören wird, und das tut weh. Sehr. Es ist der
Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen bringt.«
»Es ist doch nur ein Wort.«
»Nein, es ist mehr als das. Es ist ein … ein
Titel. Eine Marke. Er ist ›dein Mann‹.« Ich
malte Anführungsstriche in die Luft. »Du unterschreibst die
Annullierung nicht, weil er dir gehört, und das ist alles.«
»Ich glaube kaum, dass das der passende
Zeitpunkt oder Ort ist, das zu diskutieren.«
»Da hast du vollkommen recht.«
Sie musterte mich eine Weile. »Hasst du mich,
weil ich die Papiere nicht unterschrieben habe?«
Ich hob den Blick zu ihr. »Manchmal wünschte ich
mir, es wäre so. Aber nein. Ich habe einiges durch diesen
Nachtwandlerfluch gelernt. Er hat mich gelehrt, die Zeiten zu
schätzen, in denen ich die Kontrolle über mein Leben habe.
Offensichtlich gehen diese Zeiten in den nächsten Minuten dem Ende
entgegen, jetzt, wo meine Kette weg ist.« Ich kämpfte mit den
Tränen. Aber ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren, ich
musste die Ruhe bewahren. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Ihre Miene wirkte angespannt. »Du tust, was ich
immer getan habe und weiterhin tue. Du wirst überleben. Du wirst
alles tun, was nötig ist, um einen weiteren Sonnenaufgang zu
erleben.«
»Nachtwandler sehen keine Sonnenaufgänge.«
Ihr entglitten die Gesichtszüge. »Oh, mein
Liebes …«
»Nenn mich nicht immer Liebes.« Eine dunkle Welle der Gewalt erfasste
mich.
Uh, oh. Das war kein
gutes Zeichen. Ich musste ruhig bleiben. Ich wollte nicht als
finstere Sarah auf Veronique losgehen. Wie gesagt, ich hasste sie
nicht. Ich wollte ihr nicht wehtun. Sie befand sich in einer sehr
prekären Situation. Sie war mit einem potentiellen Monster, das es
nach dem Blut eines Meistervampirs dürstete, in einem Raum
gefangen.
Ihr Blut ist süß und
voll, bemerkte meine Nachtwandlerin aufgeregt. Voller Kraft… läuft es mir den Hals hinunter … köstlich
und nahrhaft … Mmmh!
Solche Gedanken waren momentan alles andere als
hilfreich.
»Habe ich dir je erzählt, wie ich meine wahre
Liebe Marcellus getroffen habe?«, fragte Veronique.
Das war der Vampir, von dem Thierry mir erzählt
hatte, dass er der eigentliche Rote Teufel gewesen war, bevor er
zum Mann hinter der Maske wurde. »Meinst du wirklich, dass das der
beste Moment ist, in Erinnerungen zu schwelgen?«
»Ich glaube, dass die Geschichte für diese
Situation von Bedeutung ist, deshalb erlaube mir
fortzufahren.«
Ich blickte zurück zu der verschlossenen Tür.
Selbst wenn ich meine Vampirohren anstrengte, vernahm ich dahinter
kein Geräusch. Vermutlich wartete Gideon geduldig vor der Tür,
während ich schluckte. Ich war immer noch geschockt, weil ich meine
Goldkette verloren hatte. Wie sollte ich jemals wieder normal
werden? Erst seit das Zauberbuch nicht mehr zur Verfügung stand,
war mir klar geworden, wie sehr ich darauf gesetzt hatte.
He, vergiss das Zauberbuch,
ja?, forderte meine Nachtwandlerin. Du
wolltest den Fluch doch überhaupt nicht brechen. Es ist viel zu
lustig, ich zu sein.
Ich dachte nicht an Blut. Und ich achtete nicht
auf das langsame, aber regelmäßige Pochen an Veroniques Hals.
Zuzugeben – dass man ein Problem hatte, war Teil
der Lösung, richtig? Ja. Ich hatte ein Problem, und ich ging nicht
davon aus, dass es mir helfen würde, Veroniques wehmütiges
Gequatsche über ihren toten Liebhaber zu hören.
»Bevor ich Marcellus begegnet bin«, hob sie an,
als ich nichts sagte, um sie zu unterbrechen, »führte ich in
Frankreich ein privilegiertes, aber langweiliges Leben mit meiner
Mutter und meinem Vater und vielen Bediensteten. Ich war eine
bekannte Schönheit, und viele Männer hielten um meine Hand
an.«
Also los. »Hört sich
ziemlich gut an.«
»Meine Eltern hatten für mich eine Hochzeit mit
einem wohlhabenden Mann arrangiert, aber er war ziemlich alt und
hässlich. Ich erklärte ihnen, dass ich aus Liebe heiraten wollte,
aber Liebesheiraten gibt es erst seit jüngerer Zeit. Man heiratete
damals aus deutlich praktischeren Gründen wie Wohlstand oder einem
Titel. Doch dann begegnete ich Marcellus.«
»War er nicht auch reich?«, fragte ich. Ich sah
nicht auf ihren Hals, der Meistervampirblut unter ihrer Haut
versprach. Nein.
»Oh, ja. Er war sehr reich und gut aussehend.
Ich habe mich auf den ersten Blick in ihn verliebt und bin mit ihm
durchgebrannt. Das tat man als anständige junge Frau sowieso nicht.
Ich wusste, dass ich nicht zu meiner Familie zurückkehren konnte,
aber das war in Ordnung. Solange ich mit Marcellus zusammen war,
hatte ich vor nichts Angst.«
Je länger sie sprach, desto mehr konzentrierte
ich mich auf ihren makellosen weißen Hals. Sie musste meine
Unaufmerksamkeit bemerkt haben, denn sie räusperte sich.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich … ich kann mich
gerade so schwer konzentrieren. Kannst du vielleicht zum Punkt
kommen, damit wir uns um das aktuelle Problem kümmern
können?«
»Hast du überhaupt keine Kontrolle über deine
Nachtwandlerin?«
Nun, das werden wir bald
herausfinden, oder?, zischte die Nachtwandlerin in mir.
»Ich versuche es.« Ich spürte, wie meine
Reißzähne in
die Länge wuchsen und schärfer wurden, und fuhr mit der
Zungenspitze darüber. Mein Magen knurrte vor Hunger.
»Marcellus gab sich mir in unserer ersten
Liebesnacht als Vampir zu erkennen«, fuhr sie unbeirrt fort. »Er
schämte sich und fürchtete, dass ich ihn auf der Stelle vor Angst
und Abscheu verlassen würde. Aber das tat ich nicht. Ich bat ihn,
mich zu zeugen, und das tat er. Da er bereits ein Meistervampir
war, war ich von Anfang an sehr stark, und er brachte mir bei, wie
man überlebte.« Sie seufzte bei der Erinnerung. »Wie sehr ich ihn
geliebt habe.«
»Und dann hat Marcellus dich verlassen und mit
einem jüngeren Zögling angebandelt. Das weiß ich schon, Veronique.
Die Einsamkeit während der Pest hat dich dazu gebracht, Thierry zu
zeugen, und der Rest ist Geschichte. Ich meine … Vergangenheit. Gideon will, dass ich dich aussauge,
damit ich stärker werde. Interessiert dich das denn überhaupt
nicht?«
»Natürlich«, entgegnete sie scharf. »Aber ich
bin schon mit deutlich schlimmeren Situationen zurechtgekommen. Ich
habe bis heute überlebt, indem ich getan habe, was getan werden
musste. Und ja, Marcellus hat mich verlassen.« Ihre Stimme brach.
»Der Betrug versetzt mir immer noch einen Stich. Aber nach allem,
was zwischen uns geschehen ist, weiß ich, dass er mich genauso
geliebt hat wie ich ihn. Am Ende hat er sich geopfert, um mich zu
retten. Das war wahre Liebe.«
Mein Blickfeld hatte sich langsam auf sie
beschränkt und ihre Stimme wurde ein winziges Summen, das ich
leicht ignorieren konnte. »Das war eine hübsche Geschichte. Wozu
war sie noch mal gut?«
»Wenn Thierry dich so liebt, wo ist er dann
jetzt?«, fragte sie.
»Warum? Glaubst du, dass er sich wie Marcellus
opfern würde, um dich zu retten?«
Aus ihren Augen sprach immer noch keine Angst,
nur Mitleid. Für mich. »Ich lebe schon sehr lange, ohne dass jemand
gekommen wäre, mich zu retten.«
Meine Lippen verzogen sich langsam zu einem
Lächeln. »Ehrlich, Veronique, du hättest diese Annullierungspapiere
wirklich unterschreiben und zu deinem fabelhaften Leben nach Europa
zurückkehren sollen. Dir die Hände nicht mit diesem ganzen Mist
schmutzig machen sollen. Aber nein, du
musstest Thierry mit beiden Händen festhalten – einen Mann, den du
nicht liebst -, damit ihn keine andere bekommt.«
»Dann hat Gideon womöglich recht. Vielleicht
solltest du die Gelegenheit ergreifen, mich zu töten. Wenn man
will, gibt es viele Möglichkeiten, einen Vampir zu töten, sogar
einen Meistervampir.« Sie musterte mich. »Deine Augen sind jetzt
ganz schwarz, Liebes.«
»Vielleicht muss ich mich damit abfinden, dass
ich eine Nachtwandlerin bin.«
»Es ist nur ein unglücklicher Fluch. Du bist
nicht wirklich so.«
»Du bist nicht die Erste, die das sagt, aber ich
fühle mich wie eine Nachtwandlerin, und ich verhalte mich wie eine
Nachtwandlerin. Es ist so gut wie unmöglich, dass ich diese Seite
noch einmal wieder loswerde. Es ist echt.«
»Nein«, erklärte sie mit Nachdruck. »Es ist nur
ein Zauber, und ein Zauber ist nicht dasselbe wie die
Realität.«
»Gideon wird jedenfalls keine von uns hier
herauslassen, bevor ich nicht getan habe, was er von mir verlangt.
Und seltsamerweise wird es immer leichter, je länger du
sprichst.«
Ich war sehr durstig. Ganz ausgetrocknet. Ich
verzehrte mich vor Lust nach Blut. Ich hatte mich dagegen gewehrt,
seit ich ein Vampir geworden war, fand es wirklich widerlich und
abstoßend und unhygienisch. Es war eine Sache, in einem Vampirclub
Blut vom Fass zu trinken, aber es war eine andere, es direkt aus
der Quelle zu beziehen. Es waren unterschiedliche Sitten – das eine
war gut, das andere schlecht. Das eine machte mich normal, das
andere machte mich zum Monster. Dennoch war es Blut.
Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf den
Puls an Veroniques Hals – ein Puls, der seit siebenhundert Jahren
schlug. Er hatte immer weitergeschlagen. Und auf einmal gab es für
mich nichts anderes mehr auf der Welt.
Ich streckte die Hand aus, um diesen Puls zu
berühren und spürte, wie das Blut unter der Hautoberfläche
pulsierte. Es fühlte sich an, als würde die Kraft in Wellen von ihr
ausgehen. Gideon hatte mit so vielem recht. Wenn ich von ihr trank,
würde ich noch mächtiger werden.
Wenn ich sie austrockne,
erklärte meine Nachtwandlerin, während ich mich mit meinem Mund
Veroniques Hals näherte, bin ich einige
Probleme los.
Ja, dachte ich.
Vielleicht hast du recht.
Plötzlich schlug Veronique mich ziemlich heftig
mit der freien Hand ins Gesicht.
»Geh weg«, zischte sie.
Ich packte sie an der Bluse, kniff die Augen
zusammen
und bleckte meine Reißzähne, die spitzer waren als üblich.
Sie schlug mich noch einmal. Diesmal
fester.
»Au!« Ich schrie auf und wich vor ihr
zurück.
Ihre dunklen Augen blitzten. »Nun komm schon,
Sarah, du bist stark genug, um dich zusammenzureißen.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich fühlte mich
benebelt und vollkommen verwirrt, aber ein kleines Stück von meinem
Verstand war noch da. »Ich glaube nicht, dass ich mich beherrschen
kann.«
»Natürlich kannst du das.«
»Kann ich nicht!« Ich ging wieder auf sie zu und
wurde für meinen Versuch mit einer weiteren brennenden Ohrfeige
bestraft. Das reichte, um einen klaren Kopf zu bekommen und
einigermaßen vernünftig zu werden.
»Denk an Thierry«, sagte sie harsch. »Er würde
nicht wollen, dass du so bist. Er würde es überaus ungehörig
finden.«
Da hatte sie recht. Ich versuchte, das Bild von
Thierry in meinem Kopf festzuhalten.
»Ich versuche es.«
Sie biss die Zähne zusammen. »Es wird nicht
leichter, Liebes. Nie. Im Leben eines Vampirs gibt es keine
einfachen Antworten. Es wird immer Jäger geben, es wird immer
Gefahren geben, es wird immer welche geben, die uns wehtun wollen,
aber du darfst dich nicht von ihnen unterkriegen lassen. Du musst
an erster Stelle überleben wollen. Genau wie ich.«
Ich hatte den Kern verstanden: Sei stark. Kneif
nicht. »Ich muss uns unbedingt hier herausbringen.«
»Du verstehst immer noch nicht.« Sie führte den
rechten Unterarm an ihren Mund und biss in ihr Handgelenk. »Du
darfst von mir trinken, aber nach meinen
Regeln. Gideon ist sicher nicht klar, dass mein Blut stark genug
ist, dir etwas von deiner Kontrolle wiederzugeben. Es ändert nichts
an der Tatsache, dass deine Kette weg ist, aber es hilft eine
Weile.«
Mein Blick hing an ihrem Handgelenk. »Veronique
… ich weiß nicht.«
»Mach«, sagte sie so scharf, dass ich … nun,
es tat.
Dank meines Fluchs war ich so hungrig, dass ihr
Blut wie ein Big Mac nach einer Woche Wasser und trocken Brot
schmeckte. Ich trank gierig und war einerseits aufgeregt,
andererseits ängstigte ich mich zu Tode.
Es war keine gute Gefühlskombination.
Mein Gesicht brannte immer noch von ihrer
Ohrfeige, aber ich versuchte nicht, es zu ignorieren, sondern
konzentrierte mich geradezu darauf. Der Schmerz erdete mich. Ich
trank von ihr, bis sie mit ihrer gefesselten Hand gegen meine Stirn
stieß.
»Das reicht«, erklärte sie.
»Ich fühle mich … besser.« Ich wich zurück und sah sie an. »Sind meine
Augen noch schwarz?«
Sie nickte. »Ja, das sind sie.«
Ich drehte mich zu der verschlossenen Tür um,
trat dagegen und war etwas überrascht, aber zufrieden, als sie
aufgrund meiner zusätzlichen Nachtwandlerkraft zersplitterte. Ich
schritt den Flur hinunter und zurück in den Hauptraum, wo Gideon an
der Bar wartete. Ich ging schnurstracks auf ihn zu und packte ihn
am Hals, ohne dass er überhaupt eine Chance hatte, sich zu
verteidigen.
»Sarah«, keuchte er. »Nicht.«
»Nicht was?« Ich legte den Kopf auf eine Seite.
»Soll ich dir nicht den Kopf abreißen, dafür dass du ein
manipulierendes Arschloch bist?«
Ich legte meine andere Hand um seinen Hals und
drückte fester zu. Seine Augen traten hervor, und auf einmal
bemerkte ich Angst in seinem Blick. Sein Gesicht nahm ein
ungesundes Dunkelrot an.
Tu ihm nicht weh, du
Schlampe!, schrie meine Nachtwandlerin.
Ich runzelte die Stirn und versuchte, meine böse
innere Stimme zu ignorieren.
Dann spürte ich eine Hand um meinen Oberarm und
konnte Gideon nicht länger halten. Ich bekam runde Augen, als ich
sah, dass es Veronique war. Sie stieß mich fort, nur ganz leicht,
aber sie war so stark, dass ich rückwärts taumelte und auf der
leeren Tanzfläche auf den Hintern fiel.
Ich hatte keine Ahnung, dass sie so stark
war.
Die Wunden an ihren Handgelenken – dort, wo ich
von ihr getrunken hatte und sie mit Silber gefesselt gewesen war –
verheilten bereits.
Gideon hustete und spuckte und fasste sich an
seinen empfindlichen Hals.
»Bist du nicht mehr glücklich mit mir, Sarah?«,
brachte er nach einem Moment hervor. »Ich glaube, ich verstehe
dich.«
Ich rappelte mich von dem harten Boden hoch und
ging wieder auf ihn zu, aber Veronique stellte sich mir in den Weg
und hielt mich auf.
»Was machst du?« Ihr seltsames Verhalten brachte
mich vollkommen aus dem Konzept. »Wie hast du dich aus den
Handschellen befreit?«
»Mit einem Schlüssel«, erwiderte sie schlicht
mit undurchdringlicher Miene.
»Den Gideon mir vorhin gegeben hat«, gab sie
unumwunden zu. »Es tut mir leid. Aber wie schon gesagt, ich will
nur überleben.«
»Wovon sprichst du?«
Gideon trat neben Veronique. Er nahm ihre Hand
und führte ihr verheilendes Handgelenk an seinen Mund, um es zu
küssen. »Arme Veronique, wegen der Schmerzen tut es mir
leid.«
»Das ist nichts.«
Mein Blickfeld wackelte, aber das kam vermutlich
daher, dass ich am ganzen Leib zitterte. »Was zum Teufel geht hier
vor?«
Gideon lächelte mich an. »Erinnerst du dich an
die Frau, von der ich dir erzählt habe? Der Vampirin, die mich vor
Jahren verführt hat, um ihren Hals zu retten?«
»Der beste Sex deines Lebens?« Ich erinnerte
mich an die kleine Geschichte. Dann schoss mein Blick zu Veronique,
und ich erinnerte mich an Gideons unordentliche Laken von gestern
Nachmittag. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das glaube ich
nicht.«
»Du wirst das sicher nicht verstehen«, sagte sie
schlicht, »aber Gideon ist sehr mächtig und wird noch mächtiger
sein, wenn er heute Nacht gezeugt wurde. Außerdem hat er eine
andere Meinung darüber, was es heißt, ein Vampir zu sein. Wie
gesagt, ich will überleben. Warum sollte ich mich
nicht mit ihm verbünden, ganz besonders jetzt? Es muss ja niemand
zu Schaden kommen. Wenn du gewusst hättest, dass ich über alles
Bescheid weiß, hättest du dich nie zwingen lassen, von mir zu
trinken. Das ist für alle das Beste. Glaub mir, Liebes. Ich tue das
nicht, um dir oder irgendjemand anders wehzutun.«
Veronique war mit Gideon zusammen? Ich konnte
verstehen, wenn auch nur ansatzweise, dass sie mit ihm geschlafen
hatte, damit er sie nicht umbrachte – immerhin war er ziemlich
scharf. Aber dass sie es jetzt freiwillig tat?
Ich war fassungslos, aber es ergab von Minute zu
Minute mehr Sinn. Veronique war immer egoistisch gewesen. Sie
schätzte ihr Dasein. Sie war einer der ältesten Vampire auf der
ganzen Welt. Sie wollte überleben – egal um welchen Preis.
Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie charmant
und überzeugend Gideon sein konnte, wenn er etwas haben
wollte.
Auch wenn ich ihr ihren Part in Thierrys Leben
verübelte, hatte ich an sie geglaubt. Verdammt, ich sah sogar ein
bisschen zu ihr auf. Wie zu einer viel, viel … viel … älteren Schwester. Ich war enttäuscht von
ihr.
»Ich muss hier raus«, sagte ich bebend. »Wenn
mir nach einem großen Drama wäre, hätte ich meinen
Festplattenrekorder programmiert.«
Gideon schüttelte den Kopf. »Es ist ein sehr
sonniger Tag. Ich rate dir, ohne deine Kette nicht vor
Sonnenuntergang irgendwohin zu gehen.«
Ich trat langsam auf ihn zu. Er zuckte nicht vor
mir zurück.
»Willst du mich wieder umbringen?«, fragte
er.
»Nein.« Ich ergriff seine Hand. »Ich war etwas
außer mir, dass du meine Kette kaputt gemacht hast und mir die
Möglichkeit genommen hast, meinen Fluch zu brechen. Aber dich
umzubringen oder deshalb auszurasten, bringt mich auch nicht
weiter, oder?«
»Nein.«
Mit einer schnellen Bewegung riss ich die
Zauberuhr von seinem Handgelenk. Ein Lichtschein strich über ihn
hinweg, und eine Sekunde später war er wieder mit Narben
übersät.
»Gib mir die Uhr zurück«, forderte er mit
zusammengekniffenen Augen.
»Die?« Ich hielt ihm die Uhr eine Sekunde vor
die Nase, wich dann jedoch schnell zurück, ließ die Uhr auf den
Boden fallen und trat mit dem Absatz darauf. »Ups. Tut mir leid.
Ich bin ausgerutscht.«
Es war jämmerlich, aber es fühlte sich gut
an.
Er tastete sein vernarbtes Gesicht ab und zuckte
zusammen. Veronique sah ihn schockiert an.
»Gut. Ich gehe.« Ich zog mich zurück und bewegte
mich in Richtung Ausgang. »Willst du mich aufhalten?«
Er biss die Zähne zusammen. »Sarah, tu das
nicht. Bleib hier. Bring dich nicht in Gefahr, nur weil du etwas
beweisen willst.«
»Du kannst mich mal, Gideon.«
Sehr eloquent, schon gut, ich weiß.
Wortlos drehte ich ihm den Rücken zu und ging
hinaus in den alten Buchladen.
»Ich werde dich finden, egal wo du hingehst«,
rief Gideon
mir hinterher. »Das Ritual findet wie geplant statt. Das bisschen
Zauberei spielt keine Rolle mehr. Wenn du mich erst gezeugt hast,
verschwinden meine Narben sowieso.«
Als ich die Eingangstür aufstieß, lief mir eine
Träne der Wut und Verzweiflung die rechte Wange hinunter, doch sie
trocknete schlagartig, als ich vor den Club auf den Bürgersteig
trat und das gleißende Sonnenlicht auf mich fiel.