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Okay, Sarah, bitte versuch nicht auszuflippen«,
sagte Amy.
Das war kein guter Ratschlag. Jedenfalls nicht,
wenn man kurz davor war auszurasten. So wie ich im Moment.
Meine zwei besten Reißzahnfreunde Amy und George
wollten mit mir im Darkside, dem einzigen
geheimen Vampirclub, der in Toronto derzeit geöffnet hatte, etwas
trinken.
Amy kannte ich seit Jahren, denn wir hatten vor
unserer Vampirzeit zusammen als persönliche Assistentinnen
gearbeitet. Eine Tätigkeit, die sie nach wie vor ausübte. George
hatte ich vor drei Monaten kennen gelernt, nachdem ich mich in
einen Vampir verwandelt hatte. Nach meinem hässlichen Bruch mit
meinem Meistervampir Thierry vor anderthalb Wochen versuchten sie
mein gebrochenes Herz zu heilen und mir neues Selbstvertrauen
einzuflößen.
Da Alkohol für Vampire nicht mehr als
wirkungsloses Naschwerk ist, hatte ich nach dem dritten Tequila
Sunrise leider immer noch keine andere Sicht auf das Leben, das
Universum und na ja, auf… alles.
»Fröhlich« war nicht gerade mein zweiter
Vorname. Was er ohnehin nie gewesen war.
Ich beäugte Amy mürrisch. »Wovon redest
du?«
Sie antwortete nicht. Amys rot angemalte Lippen
waren zu einem etwas ängstlichen Lächeln erstarrt. Sie trug ihre
kurzen, platinblonden Haare wie Madonna in ihrer Papa-Don’t-Preach- Phase, um einen Kontrast zu ihrem
tief ausgeschnittenen, schwarzen Paillettentop und dem engen
schwarzen Rock zu schaffen.
Ich sah George fragend an, doch der zuckte nur
mit den Schultern. Er hatte schulterlange, mittelblonde Haare, die
er derzeit zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und sah aus wie
ein Modell. Er hatte kantige Gesichtszüge, ein kräftiges Kinn, und
ich wusste, dass sich unter dem engen weißen Hemd und der schwarzen
Lederhose ein zum Heulen schöner Körper verbarg. Zum Heulen war das
vor allem deshalb, weil er in der anderen Mannschaft spielte.
Frauen hatten keine Chance. Außerdem hatte ich auch so schon genug
Ärger mit Männern.
Trotzdem sah George überaus gut aus.
»Sie wird ausflippen«, unkte er.
Bevor ich mich nach den Einzelheiten seines
prophezeiten Ausbruchs erkundigen konnte, kam ein Mann auf die Bar
zu, an der wir uns auf ziemlich unbequemen Stühlen herumdrückten.
Er war groß, gut gebaut, attraktiv und trug ein dunkelblaues
Button-down-Hemd, das genau der Farbe seiner Augen entsprach. Sein
Blick war starr auf mich gerichtet.
Ich reagierte angespannt auf die unerwartete
Aufmerksamkeit.
»Du bist Sarah, stimmt’s?«, fragte er.
»Ich …«
»Ich bin Jeremy.« Er lächelte so breit, dass
seine strahlendweißen
Reißzähne zum Vorschein kamen. »Amy hat mir alles über dich
erzählt, aber dir eilt natürlich ein gewisser Ruf voraus.«
Mein Blick zuckte verwirrt zu Amy, bevor ich
Jeremy wieder ansah. »Ich …«
Sein Grinsen wurde breiter. »Vielleicht setzen
wir uns an einen Tisch, wo wir uns ein bisschen besser kennenlernen
können.«
Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, und ich
starrte Amy schockiert an.
War das etwa ein … Blind
Date?
Oh, verdammt! Nicht
doch!
Unter meinem Blick räusperte Amy sich nervös.
»Jeremy arbeitet bei uns in der Personalabteilung. Als ich
festgestellt habe, dass er ebenfalls ein Vampir ist, wusste ich
gleich, dass ihr zwei ein Traumpaar wärt. Also habe ich ihn
gebeten, sich uns heute Abend anzuschließen. Du weißt schon, ohne
es dir vorher zu sagen.«
Das letzte Blind Date, das Amy für mich
organisiert hatte, hatte mit einem Knutschfleck geendet, den ich
nie vergessen werde, denn der Kerl hatte mich gebissen und in einen
Vampir verwandelt. Unnötig zu erwähnen, dass ich kein großer Freund
von improvisierten Verabredungen mit Unbekannten mehr war. Vor
allem nicht, wenn Amy sie arrangiert hatte.
»Schön, dich kennenzulernen … Jeremy. Richtig?«
Ich lächelte gezwungen, während mein Blick zurück zu meiner Amor
spielenden blonden Freundin glitt. »Kann ich dich eine Minute
sprechen, Amy? Unter vier Augen?«
Sie nickte angespannt. »K … Klar.«
»Wir sind sofort zurück. Plaudert ihr beiden
doch so lange ein bisschen.« Ich glitt von dem lederbezogenen
Barhocker, machte einen großen Bogen um Jeremy und George und
bahnte mir einen Weg durch die Menge durstiger Vampire zu dem Gang,
der zu den Waschräumen führte. Amy folgte mir stumm.
»Also?«, sagte ich, nachdem wir außer Hörweite
waren und die Musik nicht mehr ganz so laut war. »Du willst mich
auf den Arm nehmen, oder?«
»Aber er ist doch so nett. Du hast ihm überhaupt
keine Chance gegeben.«
»Das hat nichts mit ihm zu tun. Er ist
sicherlich der netteste Vampirjunggeselle der Stadt.«
»Ich wollte dich nur aufmuntern. Verklag mich
doch!« Sie schmollte, weil ihr Versuch, mich zu verkuppeln,
missglückt war. »Seit du und dieser Dummkopf Schluss gemacht habt,
hast du überhaupt keinen Spaß mehr.«
Dummkopf war ihr Spitzname für Thierry. Ich
hatte einen ähnlich charmanten Kosenamen für ihren Vampirehemann
Barry. Von daher waren wir wohl quitt.
Ich räusperte mich. »Genau deshalb möchte ich
mich nicht wieder verabreden. Zumindest nicht so bald.«
»Jeremy wäre perfekt für dich.« Sie zögerte.
»Obwohl er auch perfekt zu George passen würde, wenn du weißt, was
ich meine. Hättest du nicht gern einen Mann, der flexibel ist, was
gewisse Dinge angeht?«
Das klang wie eine billige Reality-Soap.
»Der Gedanke gefällt mir, aber ich brauche jetzt
etwas Zeit für mich.«
Sie nickte traurig und tätschelte meinen Arm.
»Dein
Herz ist in tausend Stücke zerbrochen. Manchmal ist es das Beste,
einfach wieder auf das Pferd zu steigen und mit einem neuen,
perfekten Mann hinaus in den Sonnenuntergang zu reiten.« Sie legte
den Kopf auf eine Seite, während sie über ihren Vorschlag
nachdachte. »Wahrscheinlich würde auch ein One-Night-Stand mit
einem superscharfen Typen Wunder wirken.«
»In Einsamkeit zu schwelgen ist ein genauso
sinnvoller Zeitvertreib nach einer Trennung. Da braucht man keine
One-Night-Stands.«
Sie seufzte. »Glaubst du nicht, dass es
vielleicht noch eine Chance gibt, dass du und Thierry wieder
zusammenkommt?«
Ich kaute auf meiner Unterlippe und schüttelte
den Kopf. »Es ist aus. Er und ich haben von Anfang an überhaupt
nicht zueinander gepasst. Es ist das Beste so.«
Es klang einstudiert. Kein Wunder, denn das war
es auch.
Amy nickte. »Sehr gut, du hast ganz recht.
Thierry ist ein aufgeblasener Idiot und hat dich nicht verdient.
Ich habe von Anfang an gewusst, dass du mit ihm nur deine wertvolle
Zeit verschwendest.«
Ich blinzelte. »Sicher. Bis auf die kurze Zeit
natürlich, in der du total in ihn verknallt warst.«
Sie erblasste bei der Erinnerung daran. »Ich
dachte, das wollten wir vergessen.«
»Leider hat sich das Bild, wie du ihn hinter
seinem Rücken angehimmelt hast, unauslöschlich in mein Gehirn
eingebrannt.«
Ihre Wangen erröteten. »Bitte hör auf.«
Ich unterdrückte ein Lächeln. »Hör zu, mach dir
keine Sorgen um mich. Ehrlich. Es geht mir von Tag zu Tag ein
bisschen besser. Ich denke kaum noch an Thierry.«
Hah! Jeden Morgen, wenn ich allein in meinem
Bett aufwachte, erzählte ich das der Stuckdecke über meinem Kopf,
die wenigstens nichts an meinen schauspielerischen Fähigkeiten
auszusetzen hatte.
»Hast du in letzter Zeit etwas von Veronique
gehört?«, fragte Amy. »Ich frage mich, ob sie vorhat, sich auf
Thierry zu stürzen und sich ihn zu schnappen. Jetzt, wo du aus dem
Spiel bist.«
»Ich habe sie in letzter Zeit nicht gesehen.
Keine Ahnung, was sie so treibt.«
Veronique war Thierrys Ehefrau. Genau. Der Mann,
auf den ich mich eingelassen hatte, war seit Jahrhunderten mit
einer Frau verheiratet, die der Inbegriff von Vollkommenheit war –
schön, charmant, reich und mächtig.
Ihre Ehe bestand allerdings nur noch auf dem
Papier. Als ich Thierry begegnete, lebten sie bereits seit über
einem Jahrhundert getrennt. Veronique traf sich häufig und ganz
selbstverständlich mit deutlich jüngeren Männern. Sie genoss ihr
Leben, das sie überwiegend in Europa verbrachte, und kam nur
gelegentlich zu Besuch nach Nordamerika. Die beiden liebten sich
einfach nicht mehr.
Thierry hatte kürzlich versucht, über
Vampirkontakte direkt im Vatikan eine Annullierung der Ehe zu
erreichen – anscheinend war das bei einer so langen Ehe die einzige
Möglichkeit, sie aufzulösen -, aber Veronique hatte sich geweigert,
die Papiere zu unterzeichnen. Sie war nicht wirklich bösartig,
sondern schlichtweg nur egoistisch. Sie
sah keinen Vorteil darin, ihre Ehe zu beenden, wieso sollte sie
also unterschreiben?
Ihre mit einem französischen Akzent untermalte
Weigerung brummte noch immer in meinen Ohren wie ein Schwarm Gucci
tragender Bienen.
»Liebe hat sehr wenig mit
dem Erfolg einer Ehe zu tun, Liebes.«
Bei der Erinnerung an ihre Worte geriet mein
Blut vor Wut und Enttäuschung auch jetzt noch in Wallung.
Amy und ich kehrten zur Bar zurück, und ich ließ
Jeremy so freundlich wie möglich abblitzen. Er nahm es ziemlich
männlich hin.
»Ruf mich einfach an, wenn du irgendwann Lust
haben solltest, mit jemandem auszugehen.« Er reichte mir eine
Visitenkarte und wandte sich noch mal an George. »War echt nett,
mit dir zu plaudern.«
»Ja, fand ich auch.« George ließ Jeremy gehen.
Dann sah er mich vorwurfsvoll an. »Das war ein großer Fehler,
Sarah. Der Kerl war echt heiß. So wie er redete, hörte es sich an,
als würde selbst die Arbeit in der Personalabteilung richtig Spaß
machen. Obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen kann.«
»Das klingt, als hätte er dir gefallen.«
»Nun … irgendwie haben wir uns gut
verstanden.«
Ich gab ihm Jeremys Visitenkarte. »Bitte. Er
gehört dir.«
»Danke!« Er lächelte mich an. »Jetzt vergebe ich
dir, dass du gestern dein widerliches Billigshampoo auf meinem
Teppich verteilt hast.«
Ich runzelte die Stirn und kratzte
gedankenverloren meinen Kopf. Was konnte ich denn dafür, dass ich
sparen
musste, weil die Überreste meiner kläglichen Ersparnisse schmolzen
wie alte Vampire mit einem Pflock im Herzen? Meine Haare wurden
schließlich nicht von allein sauber.
Zum Glück gingen die Getränke heute Abend auf
Amys Rechnung. Ich konnte zwar keine feste Nahrung zu mir nehmen,
ohne mich zu übergeben, aber Cocktails machten mir aus irgendeinem
Grund überhaupt nichts aus. Zusammen mit dem fehlenden Spiegelbild,
das mir an meinem neuen Leben eindeutig am wenigsten gefiel,
speicherte ich das unter der Rubrik »Unerklärliche Phänomene«
ab.
In den vergangenen Wochen habe ich in einer Art
Intensivkurs so viel wie möglich über Vampire gelernt. Mich auf die
Anleitung anderer Leute zu verlassen, war bestenfalls
unzuverlässig, schlimmstenfalls gefährlich. Das hatte ich auf
brutale Weise lernen müssen. Das Internet jedoch stellte eine
unerschöpfliche Informationsquelle dar. Nachdem ich mich durch eine
Schicht populärer Mythen gearbeitet hatte, fand ich alles, was ich
über echte Vampire wissen musste, direkt vor meiner Nase.
Ich würde vielleicht ein Karpaltunnelsyndrom
bekommen und mich zu einem Computerfreak mit Reißzähnen entwickeln,
aber wenigstens bildete ich mich. Besser spät als nie.
Ich schlürfte den letzten Schluck von meinem
Drink, bis nur noch Eiswürfel übrig waren.
Im nächsten Moment tauchte ein frischer Tequila
Sunrise vor mir auf.
Ich blickte den Barkeeper an. »Du musst
übersinnliche Kräfte besitzen.«
Er schüttelte den Kopf. »Der kommt mit
Empfehlung des Herren dahinten in der Ecke.«
Ich schwang auf dem Barhocker herum, um zu
sehen, wen er meinte. Abgesehen von zwei schlampig aussehenden
Vampiren, die auf der Tanzfläche herumtanzten, war niemand zu
sehen.
»Was hast du gesagt, von wem kommt das?«, fragte
ich den Barkeeper.
»Er muss gegangen sein. Ein großer Kerl. Gut
aussehend, aber irgendwie finster und unglücklich.«
»Genau Sarahs Typ«, stellte George fest und
stupste gegen meine Schulter. »Ich muss tanzen. Lass uns tanzen.
Ich liebe dieses Lied.«
»Ich bin nicht in Stimmung.«
»Ich komme mit.« Amy ließ sich von ihrem
Barhocker gleiten und wankte bedenklich auf ihren hohen
Plateausohlen. Sie sah mich spitz an. »Irgendjemand muss sich heute
Abend ja schließlich amüsieren.«
Nun, das war ein bisschen unhöflich. Zutreffend, aber unhöflich.
Ich beobachtete, wie die zwei sich aufmachten,
um zu Madonna und Justin herumzuzappeln, die von der Rettung der
Welt in vier Minuten sangen. Ich drehte gedankenverloren die
Goldkette um meinen Hals, bis sie die Blutzufuhr zu meinem
Zeigefinger abschnitt.
Die Kette war hässlich. Sie sah billig und
klobig aus und passte überhaupt nicht zu meiner Garderobe. Wenn es
nach mir ginge, würde ich sie niemals tragen.
Nur ging es leider nicht nach mir.
Es hing mit meinem Nachtwandlerfluch zusammen,
dass mich nur die Kette davon abhielt, Leuten den Hals aufzureißen
und sie aus Spaß umzubringen. Nachtwandler hatten vor einigen
Jahrhunderten gelebt. Ihr böser Charakter beruhte auf einer
seltenen Mutation des Virus, durch das sich Menschen in Vampire
verwandelten. Sie waren der Grund für all diese unwahren
Geschichten, in denen verbreitet wurde, dass Vampire böse wären.
Sie waren die eigentliche Ursache für die Existenz der Jäger.
Diese Jäger hatten die Nachtwandler ausgelöscht,
um redliche Menschen und andere Vampire zu
beschützen.
Das hieß, dass ich derzeit der einzige Vampir
auf der ganzen Welt war, der eine Veranlagung zum Nachtwandler
hatte, was bedeutete, ohne die Kette überkam mich das
unkontrollierbare Verlangen, mich von Menschen oder anderen
Vampiren zu ernähren, als stünden sie auf dem »So viel Sarah essen
kann«-Menü. Außerdem konnte ich tagsüber nicht vor die Tür gehen,
weil ich ansonsten von der Sonne gegrillt wurde. Trug ich die Kette
nicht, konnte kein Sonnenschirm der Welt verhindern, dass ich mich
in ein knuspriges Hühnchen verwandelte.
Die Hexe, die mich verflucht hatte, war
inzwischen tot und konnte den Fluch bedauerlicherweise nicht mehr
rückgängig machen.
Also musste ich selbst eine Lösung finden.
Sollte ich je die Kette verlieren, die allein mich davon abhielt,
mich in eine echte Kreatur der Nacht zu verwandeln, hatte ich ein
ernsthaftes Problem. Und außerdem jeder, der mir über den Weg lief
und auch nur annähernd appetitlich aussah.
Bei dem Gedanken schüttelte ich mich und zwang
mich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Ich rührte mit einem Cocktailstab in dem Getränk
vor mir und starrte auf die orangefarbenen Tiefen, drückte die
Kirsche nach unten, hielt sie unter der Oberfläche fest, als wollte
ich sie ertränken, und ließ sie ein paar Sekunden später wieder an
die Oberfläche schnellen.
Finster und
unglücklich.
Genau mein Typ.
Ich schob das Getränk weg. Bei meinem Glück
hatte Mr. Finster und Unglücklich es vergiftet.
»He, kann ich einen B-Positiv bekommen?«, fragte
ich den Barkeeper.
Sofort stellte er ein Schnapsglas mit der
vertrauten roten Flüssigkeit vor mir ab.
Man muss sich davor nicht ekeln. Es ist wirklich
gar nicht so schlimm.
Läden wie das Darkside
beziehen das Blut von professionellen Blutlieferanten. Die wiederum
bekommen das Blut von freiwilligen Spendern, die gut dafür bezahlt
werden. Es ging alles ganz zivilisiert zu. Je seltener die
Blutgruppe, desto teurer war das Getränk.
Ich stand auf B-Positiv. Es war mein Favorit.
Wegen des Namens redete ich mir ein, dass es mich
aufheiterte.
Ich schob das Glas weg und wartete darauf, dass
sich ein euphorisches Gefühl einstellte.
Ein paar Minuten später wartete ich noch
immer.
Das Gratisgetränk stand auf einem Bierdeckel des
Darkside. Abgesehen von dem Logo des Clubs
bemerkte ich jetzt noch etwas anderes auf dem dicken runden Karton.
Etwas Handgeschriebenes. Mit blauer Tinte.
Sarah -
Ich erschauderte, holte tief Luft und ließ
meinen Blick einmal durch den vollbesetzten Club wandern, wobei ich
die Ecke besonders gründlich kontrollierte, in der angeblich der
Mann gesessen hatte, der mir den Cocktail ausgegeben hatte. Sie war
effektiv leer.
Mit plötzlich schweißnasser Hand hob ich den
Bierdeckel hoch und drehte ihn um, um zu prüfen, ob auf der anderen
Seite noch mehr geschrieben stand.
Komm hinter das Gebäude. Ich
muss dich sehen.
Ich ließ den Bierdeckel unauffällig in meiner
Handtasche verschwinden. Ohne Amy und George Bescheid zu sagen, die
sich noch die Seele aus dem Leib tanzten, verschwand ich auf der
anderen Seite der Tanzfläche in der Dunkelheit, ging an dem
Türsteher vorbei und trat in die kühle Nachtluft hinaus. Ich spähte
kurz über meine Schulter zurück, um sicherzugehen, dass mir niemand
gefolgt war, lief schnell um die Ecke des Gebäudes herum und weiter
zur Rückseite, wo es still und finster war. Es war fast Vollmond,
und in die verlassene Gasse fiel etwas Licht.
»Hallo?«, flüsterte ich so leise, dass ich mich
selbst kaum hören konnte. »Wo bist du?«
Abgesehen von den zu erwartenden Müllcontainern
und Schneeverwehungen war nichts zu sehen. Mit meinen äußerst
empfindlichen Vampirohren nahm ich entfernt die Bässe der Tanzmusik
aus dem Innenraum wahr. Ich schlang fest die Arme um mich. Die
Temperatur machte mir nicht mehr viel aus, aber heute Nacht schien
es ganz besonders kalt zu sein.
Ich ging noch ein paar Schritte in die
Dunkelheit hinein. »Mach dir keine Sorgen. Wir sind allein.«
Als Antwort folgte noch mehr Schweigen, also
ging ich auf die andere Seite des Gebäudes und spähte um die Ecke.
Es würde nicht lange dauern, bis meine Freunde sich fragten, wo ich
geblieben war. Obwohl sie mich in Anbetracht der vielen Drinks, die
ich getrunken hatte, wahrscheinlich auf der Toilette
vermuteten.
Als ich Schritte hinter mir vernahm, erstarrte
ich. Im selben Moment legte jemand seine starken Arme um mich und
drückte mich mit dem Rücken gegen die Backsteinmauer. Eine Hand
schloss sich über meinen Mund, denn spontan wollte ich mir die
Lungen aus dem Hals schreien.
Zum Glück war es die Person, die ich erwartet
hatte.
Thierry nahm seine Hand von meinem Mund, beugte
sich vor und küsste mich so leidenschaftlich, dass mir die Luft
wegblieb. Ich keuchte an seinen Lippen, erwiderte seinen Kuss dann
jedoch genauso leidenschaftlich, schlang meine Arme um seinen Hals
und ließ meine Finger durch seine dunklen Haare gleiten. Sein
glühender Körper wärmte mich in der kalten Nacht.
Dies war nicht unser erstes geheimes Treffen,
seit alle dachten, wir hätten Schluss gemacht, aber heute Nacht
hatte ich nicht damit gerechnet. Alle anderen glaubten, er wäre
gerade erst von einer Frankreichreise zurückgekehrt, doch in
Wahrheit war er überhaupt nicht weg gewesen. Da es
überlebenswichtig war, dass uns niemand zusammen sah, war es
schwierig gewesen, Zeit und Ort für unser heimliches Treffen zu
finden. Ich hatte ihn so sehr vermisst.
Als er den Kuss beendete und mein Herz langsam
wieder in normalem Tempo schlug, sah ich zu ihm hoch und
hob fragend eine Braue. »Eine Nachricht auf einem Bierdeckel? Ist
dir ernsthaft nichts Besseres eingefallen?«
»Ich wusste nicht, ob du dich loseisen könntest.
Wenn ich dich anrufe oder dir eine Nachricht auf dein Handy
spreche, kann man das zurückverfolgen.«
»Und wenn du dabei entdeckt wirst, wie du mir in
einem Nachtclub einen Cocktail spendierst, findest du das weniger
gefährlich?«
»Ich bin sehr diskret.«
Ich lächelte. »Deine Handschrift ist übrigens
nahezu unleserlich.«
Er verzog den Mund. »Trotzdem hast du offenbar
entziffern können, was dort stand.«
»So gerade.« Ich zog ihn an seinem schwarzen
Hemd nahe an mich heran und küsste ihn schnell noch einmal. Wir
standen sehr romantisch zwischen zwei Müllcontainern, aber ich war
trotzdem beunruhigt, dass uns jemand entdecken könnte. »Was machst
du hier?«
»Ich musste dich sehen.« Er musterte mich mit
seinen silberfarbenen Augen von Kopf bis Fuß.
Er war genau wie der Barkeeper meinen Gönner
beschrieben hatte. Thierry de Bennicoeur war groß und sah so gut
aus, dass man weiche Knie bekam – das sind meine Worte, nicht
seine. Er hatte dunkle Haare, breite Schultern, volle Lippen, eine
gerade Nase und strenge schwarze Brauen über grauen Augen, die
manchmal silberfarben schimmerten. Man würde nie auf die Idee
kommen, dass er bereits siebenhundert Jahre auf dem Buckel hatte.
Er war ein Vampir, der während der Pest im 14. Jahrhundert gezeugt
worden war.
Noch nicht einmal meine engsten Freunde durften
merken, dass wir immer noch zusammen waren. Amy und George waren
unverbesserliche Plappermäuler. Da ich selbst ebenfalls nicht
gerade die beste Geheimnishüterin der Welt war, war es für mich die
reinste Qual, den Mund zu halten.
Ich musste weiterhin eine ganze Menge für mich
behalten.
Auch Thierry gegenüber hatte ich so meine
Geheimnisse.
Er wäre beispielsweise nicht sehr glücklich,
wenn er wüsste, dass ich im Laufe der vergangenen anderthalb Wochen
die persönliche Assistentin, sozusagen das Mädchen für alles, von
Gideon Chase geworden war.
Und das war noch untertrieben.
Thierry hielt Gideon für den gefährlichsten Mann
der Welt, von dem ich mich zu meiner eigenen Sicherheit so weit wie
möglich fernhalten sollte. Aber wenn der höllenfeuergeschädigte
Anführer der Vampirjäger etwas wollte, konnte er äußerst … nun,
hartnäckig sein.
Gideon durfte nicht herausfinden, dass Thierry
und ich noch zusammen waren, und Thierry durfte nicht herausfinden,
dass ich momentan von Gideon herumkommandiert wurde.
Normalerweise kontrollierte Gideon mich täglich.
Tatsächlich hatte er mich auch heute auf die andere Seite der Stadt
geschickt, um dort ein Päckchen für ihn abzuholen. Ich hatte den
Eindruck, dass er stets wusste, wo ich und mit wem ich zusammen
war. Es machte mich äußerst nervös, und ich war paranoider als
gewöhnlich, als ich jetzt
mit Thierry heimlich in dieser Gasse stand. Und das sollte schon
etwas heißen.
»Hast du Gideons angeheuerte Killer gefunden?«,
erkundigte ich mich.
Thierry wirkte angespannt. »Nein. Das ist einer
der Gründe, weshalb ich dich heute Abend sehen musste.«
»Um mir zu sagen, dass ich vorsichtig sein
soll?«
»Auch.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich
finde es schrecklich, mich im Hintergrund zu halten und dich
heimlich zu treffen. Das muss aufhören.«
»Das wird es.«
»Nicht, solange wir nicht sein Geheimnis
herausfinden. Er hat im Augenblick zu viel Macht, selbst wenn er
sie nur verbalen Drohungen verdankt. Wenn er dir etwas antut
…«
»Das hat er aber nicht.« Ich streichelte
Thierrys angespanntes Gesicht. »Gideon wird mir nichts
antun.«
»Nicht, bis er bekommen hat, was er will.«
»Genau.« Ich runzelte die Stirn. Moment mal.
Irgendwie fühlte ich mich jetzt nicht gerade besser.
»Ich bringe ihn um«, erklärte er finster. »Wenn
er dir irgendetwas antut, wird er sich nach den Qualen des
Höllenfeuers zurücksehnen.«
»Vielen Dank für dein Folterangebot. Ehrlich.
Aber es ist am besten, wenn wir uns ruhig verhalten und nicht die
Fassung verlieren.«
»Du wirkst ruhig und gefasst genug für uns
beide.«
»Ich übe mich in Zen. Ich mache jetzt Yoga,
weißt du?«
Er hob eine Braue. »Ach, wirklich?«
»Jedenfalls habe ich mir einen Yogakurs auf
einer DVD besorgt. Bei all den Dramen in letzter Zeit bin ich nur
noch
nicht dazu gekommen, sie anzusehen, aber ich freue mich schon
darauf.«
»In drei Tagen müssen wir eine Lösung gefunden
haben. Du kannst ihn nicht zeugen.«
Für Thierry war die Welt in beinahe jeder
Hinsicht schwarz-weiß. Wenn er einmal ein Urteil über jemanden
gefasst hatte, war es für alle Ewigkeit in Stein gemeißelt, und das
galt ebenso für Gideon. Für ihn war Gideon die Inkarnation des
Bösen. Deshalb machte ich ihm keine Vorwürfe. Schließlich war
Gideon der Anführer der Jäger. Und die machten aus unserem Leben
nicht gerade ein Musical in Technicolor. Nach allem, was ich von
Gideon wusste, hatte er kein Problem damit, sich die Hände
schmutzig zu machen, um jemanden abzuschlachten. Er war wie Buffy,
die legendäre Dämonenbesiegerin – das heißt, wenn Buffy ein großer
milliardenschwerer Playboy mit entstellenden Narben vom Höllenfeuer
wäre, die sie sich zugezogen hätte, als sie einen Dämon
abgeschlachtet hätte. Und wenn sie dazu neigen würde, Leute
umzubringen, die überhaupt nicht böse waren.
Also war er eigentlich ganz anders als
Buffy.
»Ich muss wieder zurück«, sagte ich, »und so
tun, als wäre alles in Ordnung …«
Ein weiterer Kuss schaffte es nur allzu leicht,
meine Worte und Gedanken zu vertreiben. Thierry konnte vielleicht
küssen! Doch sechshundert Jahre Übung mussten einen schließlich zum
Experten machen. Ich dachte lieber nicht darüber nach, wie viele
Frauen er vor mir gehabt hatte. Wir hatten beide unsere romantische
Vergangenheit. Seine war eben nur etwas länger als meine. Das war
alles.
Schlappe 650 Jahre.
Es fiel mir wirklich schwer, mich wieder von ihm
zu trennen. Die ganze Situation nervte ziemlich. Kaum hatte ich
einen Mann gefunden, nach dem ich trotz unserer vielen Differenzen
ganz verrückt war und der mich ebenfalls liebte, konnten wir uns
nur heimlich treffen.
»Du solltest nicht versuchen, mich noch einmal
zu sehen, bis alles vorbei ist.« Ich versuchte den Kloß in meinem
Hals zu ignorieren. »Ich habe Angst, dass Gideon es
herausfindet.«
»Vielleicht hättest du dich auf das Blind Date
einlassen sollen, das Amy für dich organisiert hat.«
Ich musterte ihn. »Gideon ist wohl nicht der
Einzige, der mir hinterherspioniert?«
Er lächelte. »Wenn einer von uns jemand Neuen
hätte, würde Gideon doch keinen Verdacht mehr schöpfen,
oder?«
»Gutes Argument. Aber versuchst du mir
beizubringen, dass du dich mit anderen Leuten treffen willst? Ich
bin nämlich heute Abend in der Laune, jemanden in den Hintern zu
treten. Deiner käme mir da gerade recht.«
Sein Blick bekam einen amüsierten Ausdruck. »Ich
rede nur davon, dass der Schein trügt, weiter nichts. Ich glaube
wirklich, dass es eine ziemlich gute Idee ist.«
»Du willst, dass ich mit jemand anderem
ausgehe?«
»Ungewöhnliche Zeiten verlangen ungewöhnliche
Maßnahmen. Und wo wir gerade dabei sind …« Er schwieg einen
Augenblick. »Du solltest etwas Wichtiges wissen.«
Das klang verdächtig. »Was?«
»Ich habe Kontakt mit dem Roten Teufel
aufgenommen.
Er ist gerade in der Stadt, und ich dachte, wir könnten seine
Hilfe gebrauchen.«
Ich riss die Augen auf. »Wirklich?«
Er nickte ernst.
Der Rote Teufel war ein heldenhafter Vampir, der
ungefähr eintausend Jahre gelebt hat, vielleicht ein oder zwei
Jahrhunderte mehr oder weniger. Er verhinderte, dass unschuldige
Vampire von Jägern abgeschlachtet wurden. Er trug eine Maske, so
dass niemand wusste, wer er war, und die meisten hielten ihn
tatsächlich nur für eine Legende. Legende hin oder her, er ist vor
ungefähr einhundert Jahren verschwunden, und seither hat ihn
niemand mehr gesehen.
Gideon Chase hatte sein vernarbtes Gesicht
hinter einem Schal verborgen und mir weisgemacht, dass er der Rote
Teufel wäre. Er hatte mir auch tatsächlich das Leben gerettet, als
mich jemand erstechen wollte und mich damit übertölpelt. Aber der
wahre Rote Teufel war jetzt in Toronto? Das
konnte nicht stimmen.
»Wer ist er?«, fragte ich.
»Seine Identität ist ein Geheimnis.«
»Du weißt also nicht, wer er ist? Wie hast du
dann Kontakt zu ihm aufgenommen?«
»Er hat sich bei mir gemeldet.«
»Wer ist er?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Du kannst mir vertrauen.«
»Weiß ich«, sagte er, verriet mir jedoch
trotzdem keine weiteren Einzelheiten.
Ich schob meine Enttäuschung über seine
ausweichenden
Antworten beiseite. Jedenfalls versuchte ich es irgendwie. »Was
macht er hier? Oder ist das auch ein Geheimnis?«
»Ich wollte wissen, wie er die Lage mit Gideon
einschätzt, und fand es wichtig, dass er dich im Auge behält. Er
war einverstanden.«
Ich war fassungslos. »Versuchst du mir etwa zu
sagen, dass der Rote Teufel mein heldenhafter neuer Leibwächter
ist?«
»Er hat versprochen, sehr diskret zu sein. Du
wirst nicht einmal merken, dass er in der Nähe ist.«
Ich lehnte mich an die kalte Mauer hinter mir
und versuchte, die Information zu verarbeiten. Der legendäre,
öffentlichkeitsscheue Rote Teufel war mein
Leibwächter? Und Thierry tat so, als wäre das das Normalste von der
Welt?
»Vertraust du dem Kerl?«, fragte ich.
»Vollkommen.«
Er klang ziemlich überzeugt. Aber wie konnte er
jemandem vertrauen, der über ein Jahrhundert vom Erdboden
verschwunden war? Jemand, der dank eines Telefonats zum richtigen
Zeitpunkt wieder aufgetaucht war?
»Wo ist er jetzt?«
»In der Nähe. Es ist besser, wenn du so wenig
wie möglich weißt, Sarah. Es ist sicherer so.«
»Für ihn oder für mich?«
»Für euch beide.« Er schob einen Finger unter
meine Goldkette. Er wusste, wozu sie gut war und was sie bewirkte.
Als ich sie einmal nicht angelegt hatte und mich mörderisch und
verführerisch aufgeführt hatte, hatte Thierry alles
in seiner Macht Stehende getan, um eine Lösung zu finden. Aber ich
glaube, dass ihm der verführerische Teil
eigentlich gefallen hatte.
»Sobald ich irgendetwas Neues erfahre, nehme ich
so schnell es geht Kontakt zu dir auf«, erklärte er.
»Ich auch.« Mein schlechtes Gewissen, weil ich
ihm nichts von meinem seltsamen neuen Job als Gideons Assistentin
gesagt hatte, quälte mich. Es lag mir auf der Zunge, aber ich
wollte nicht, dass er sich noch mehr Sorgen um mich machte. »Ich
liebe dich, Thierry.«
Er berührte zärtlich mein Gesicht und ließ den
Daumen über meine Unterlippe gleiten. »Ich dich auch.«
Ein letzter Kuss – und weg war er.
Okay, er löste sich nicht in Luft auf, aber er
konnte wirklich schnell gehen. Ich beobachtete, wie seine dunkle
Gestalt in der Dunkelheit verschwand.
Dann trottete ich an dem Gebäude entlang zurück,
bis ich den Haupteingang erreicht hatte. Der bullige Türsteher warf
gerade eine Frau hinaus.
»Geh nach Hause, und komm ja nicht wieder!«,
rief er ihr barsch hinterher. »Wir wollen dich hier nicht.«
Sie schleuderte ihm eine Litanei von
Kraftausdrücken entgegen, wandte ihm den Rücken zu und stakste in
ihrem roten Minikleid und silbernen Pumps die dunkle Straße
hinunter.
»Nettes Mädchen«, bemerkte ich.
»Eine junge Vampirin, die ihren Erzeuger dabei
erwischt hat, dass er sie betrügt«, erklärte der Türsteher. »Sie
ist erst vor ein paar Nächten verwandelt worden. Sie hat ihm eine
Riesenszene gemacht und das Mädchen fast gebissen, mit
dem der Kerl heute hier war.« Er ließ den Blick prüfend über mich
gleiten. »Du bist die Schlächterin der Schlächter, stimmt’s?«
Oh, Mann. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ein
Verehrer.
Ich schüttelte den Kopf. »Das passiert mir
gerade ständig. Wir haben beide braune Haare und sehen uns flüchtig
ähnlich. Ich habe sie nur einmal gesehen, aber sie ist irgendwie
hässlich. Wahrscheinlich von der ganzen Abschlachterei.«
»Wenn du das sagst.« Der Türsteher zuckte mit
den Schultern. »Willst du wieder rein?«
»Ja.« Ich blickte in Richtung des Zöglings, dem
man den Laufpass gegeben hatte, und bemerkte, dass einen Block
weiter zwei Männer aus einer dunklen Gasse hervortraten und der
ahnungslosen Vampirin heimlich folgten. »He, guck mal. Meinst du,
das sind Jäger?«
Er folgte meinem Blick. »Könnte sein.«
Ich sah ihn an. »Willst du nicht irgendetwas
unternehmen? Sie ist ein hilfloser Zögling, der ganz auf sich
allein gestellt ist. Die bringen sie doch um.«
»Was sollte ich denn deiner Meinung nach
tun?«
»Sie retten?«
Er lachte. »Auf keinen Fall. Ich glaube nicht,
dass sie gesehen haben, wo sie herkam, und ich lasse mir keinen
Pflock durch die Brust bohren, weil ich versucht habe, diese dumme
Schlampe zu retten.«
»Oh, das ist wirklich charmant.«
Er lächelte dünn. »Für fünfzehn Dollar die
Stunde muss ich nicht charmant sein. Wieso rettest du sie nicht?«
Ich kniff die Augen zusammen. »Vielleicht mache
ich das.«
»Viel Glück.« Er drehte sich um und verschwand
wieder im Club. Die Tür fiel schwer hinter ihm ins Schloss, und ich
stand allein in der kalten Nacht.
Ich musterte wieder die Straße. Dort war niemand
mehr zu sehen. Es war noch nicht lange her, da war ich ein unglückseliger Zögling gewesen und hatte
mich an dunklen einsamen Orten herumgetrieben, an denen ich mich
besser nicht aufgehalten hätte.
Seither war ich gealtert. Gereift. Ich würde bis
in alle Ewigkeit wie achtundzwanzig aussehen, aber in den letzten
drei Monaten hatte ich genügend Stress gehabt, um davon graue Haare
zu bekommen. Natürlich bildlich gesprochen. Zum Glück hatte ich
keine grauen Haare, und wenn ich sie tatsächlich bekam, würde ich
sie färben.
Aber das tat im Moment nichts zur Sache.
Ich folgte der Richtung des Mädchens und ihrer
Verfolger. Vielleicht bildete ich mir nur ein, dass sie in Gefahr
war. Wahrscheinlich gingen sie nur zufällig dieselbe Straße
entlang, und es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Die
Paranoia war in letzter Zeit eine enge Freundin von mir, obwohl sie
mich normalerweise nur befiel, wenn es um mich selbst ging.
Es war so ein Gefühl im Bauch. Ich musste es
herausfinden. Irgendetwas fühlte sich nicht richtig an.
Ich würde der Sache nachgehen und mich davon
überzeugen, dass dem Mädchen nichts geschah, dann würde ich zurück
zum Club gehen und so tun, als würde ich mich amüsieren.
Auf einmal hörte ich einen Schrei: von einer
Frau. Und ein Lachen: von einem Mann.
Mist!
Ich beschleunigte meinen Schritt, mein Atem ging
schneller, und ich verfluchte diesen Türsteher, weil er nicht hatte
helfen wollen. Denn ich hatte recht. Das Mädchen war in
Schwierigkeiten. Was nun?
Den Zögling retten, die Welt retten. Sah ich
etwa aus wie eine Superheldin?
So gern ich stark gewesen wäre und mich mutig
jemandem in den Weg gestellt hätte, um einen anderen zu schützen,
ich wusste, dass ich gegen die Jäger keine Chance hatte. Es waren
zwei große, muskulöse Kerle, und ich war … nun, eben ich. Und ich hätte wetten mögen, dass die beiden
das, was sie da taten, schon oft getan hatten.
Leider blieb mir keine Zeit, zum Club
zurückzugehen und Verstärkung zu holen. Dem kläglichen Wimmern nach
zu urteilen, das jetzt aus der Gasse drang, in die die Jäger den
Zögling getrieben hatten, blieben mir nur Sekunden zu entscheiden,
was ich als Nächstes tun würde.
Vielleicht hätte ich mich umdrehen und weglaufen
sollen. Seit ich gezeugt worden war, hatte es eine Menge Vampire
gegeben, die sich mit einem Pflock in der Brust wiedergefunden
hatten. Aber das … das hier war etwas anderes. Es war hier, es war
jetzt, und ich konnte nicht einfach weggehen und so tun, als wäre
es nie geschehen.
Das Mädchen stieß einen weiteren verängstigten
Schrei aus, und die Entscheidung war gefallen. Es gab einen Weg,
wie ich ein bisschen stärker sein konnte, als ich eigentlich
war. Wenn ich es nur einmal tat, war es doch nicht so schlimm,
oder?
Jedenfalls hoffte ich das inständig.
Ich fluchte leise, griff nach hinten und löste
mit zitternden Händen den Verschluss meiner Goldkette. Sie glitt
von meinem Hals und ich ließ sie in meiner Tasche verschwinden, wo
sie in Sicherheit war.
Es war ein bisschen wie bei Diana Prince, die
sich dreimal um die eigene Achse drehte, bevor sie sich in Wonder
Woman verwandelte, nur dass ich nicht plötzlich einen glänzenden
rot-weiß-blauen Turndress mit einem magischen goldenen Lasso und
einer Tiara trug. Meine Verwandlung ging etwas subtiler
vonstatten.
Seit die Goldkette in meinem Besitz war, hatte
ich ein paarmal versucht, sie abzunehmen. Zu Beginn hatte es etwas
gedauert, bis sich meine Nachtwandlersymptome in all ihrer
Schrecklichkeit gezeigt hatten. Aber jetzt traten sie fast sofort
ein. Es war gefährlich, vor allem für andere Leute, also spielte
ich nicht viel damit herum.
Es fing damit an, dass sich mein Blickfeld
verengte, so dass ich meine Beute im Auge behalten konnte. Keine
Ablenkung mehr. Ein klarer Raubtierblick. Mein Herz hörte auf zu
schlagen. Zumindest beinahe. Das Herz eines
Vampirs schlägt langsamer als das eines Menschen, aber ohne die
Kette schlug mein Herz jetzt etwa viermal die Stunde. Nachtwandler
waren keine Lebewesen wie normale Vampire. Normale Vampire
verdankten den Nachtwandlern ihren Ruf, Untote zu sein. Deren Herz
schlug kaum, und sie mussten nicht wirklich atmen.
Sie hatten nur das Verlangen, sich zu
ernähren.
Es war wie ein Horrorfilm. Das erste Bild: ein
gedeckter Tisch für eine Person.
Es war verdammt gruselig, ein Nachtwandler zu
sein, aber das waren die Worte der vernünftigen Sarah. Ohne die
Kette war ich überhaupt nicht vernünftig. Aber noch hatte ich die
Kontrolle.
Zumindest für kurze Zeit.
Hoffentlich würde es nicht so lange
dauern.