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Sarah«, begrüßte mich George, als ich zurück in
den Club kam. »Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.«
Ich blickte zu Amy, die sich auf der Tanzfläche
immer noch um eine ungelenke Version von »Running Man auf
Highheels« bemühte. »Das sieht man.«
»Amy kann ihre Besorgnis nur gut kaschieren. Wo
bist du gewesen?«
Habe heimlich Thierry getroffen. Habe versucht,
einen unschuldigen, aber schlecht gekleideten Zögling zu retten.
Bin in Blutrausch verfallen und habe aus dem Zögling beinahe eine
Modeleiche gemacht. Und bin dafür vom Roten Teufel zusammengefaltet
worden.
Alles auf einmal.
»Ich war auf der Toilette«, fasste ich die
Ereignisse zusammen.
»Zwanzig Minuten?«
Ich legte eine Hand auf meinen Bauch. »Die
Einzelheiten willst du nicht hören. Glaub mir.«
Er verzog angewidert das Gesicht. »Vergiss, dass
ich gefragt habe.«
Ich werde nie wieder meine Kette abnehmen. Nie.
Versprochen. Ich wickelte das absolut notwendige Schmuckstück um
meinen Finger.
George sah mich besorgt an. »Jetzt, wo du es
sagst, du siehst gar nicht gut aus.«
»Ach echt?«, fragte ich trocken. »Mir geht es
aber blendend.«
Er verschränkte die Arme. »Vielleicht liegt es
an der miesen Beleuchtung. Willst du gehen? Hast du genug vom
Feiern für heute?«
Ich stieß langsam die Luft aus und erschauderte.
»Um es milde auszudrücken.«
Ich fühlte mich schlecht und schämte mich für
das, was geschehen war. Außerdem war ich verschwitzt und elend. Und
schrecklich verlegen. Und ängstlich. Und … okay, das war es im
Großen und Ganzen.
Das war ein ganz schönes Sammelsurium an
Gefühlen, mit denen ich auf einmal klarkommen musste, und mir war
klar, dass man mir das offenbar ansah.
Amy tippelte von der Tanzfläche und kam
geradewegs auf uns zu. »He! Da bist du ja wieder. Willst du
tanzen?«
Ich sah sie müde an. »Keine Chance.«
»Du bist ja so poetisch!« Sie grinste und zog
ein Mobiltelefon aus ihrer kleinen, mit Perlen bestickten
Handtasche. »Das habe ich mir vorhin von dir ausgeliehen. Meins war
leer, und ich musste Barry anrufen. Du hast eine SMS erhalten. Von
jemandem mit dem Anfangsbuchstaben G?«
Sie konnte ihre Neugierde kaum verbergen. »Wer ist G, Sarah? Hmmm?
Jemand Scharfes?«
Ich nahm ihr das Telefon ab. Ich hatte noch
nicht einmal bemerkt, dass es weg war. Als ich auf den Bildschirm
sah, rutschte mein Magen noch ein Stück über die Kniekehlen
hinunter. »G steht für Gott, wenn du es unbedingt wissen willst.
Ich bin in letzter Zeit ziemlich gläubig geworden. Das muss mein
täglicher Bibelspruch sein.«
Ja klar. Das glaubte sie ganz bestimmt!
»Gibst du es zu?«, forschte sie. »Vielleicht
Gary? Geoffrey? Gerard? Greg? Gaston? Sag stopp, wenn ich nah dran
bin.«
Gideon.
Ich umklammerte das rosa Telefon so fest, dass
meine Knöchel ganz weiß waren.
»Ich wollte es eigentlich nicht lesen«, erklärte
sie mit Unschuldsmiene. »Aber er will dich sofort sehen, und
anscheinend weißt du, was er von dir will.«
Ich lächelte gezwungen. »Super. Danke, dass du
es mir gesagt hast.«
»Und? Was will er? Ein mitternächtliches
Rendezvous? Ein kleines Techtelmechtel?« Sie lächelte mich mit
strahlend weißen Zähnen an. »Sarah, ich bin ja so beeindruckt. Ich
hatte fast wirklich den Eindruck, als würdest du immer noch an dem
dummen Thierry hängen. Du hättest es mir sagen sollen, statt so ein
Geheimnis um den neuen Leckerbissen zu machen. Dann hätte ich mich
doch nicht erst bemüht, dich mit Jeremy zusammenzubringen.«
»Offensichtlich bin ich ein wahres Rätsel.« Ich
seufzte resigniert. »Wenn es um den Leckerbissen geht.«
»Einzelheiten! Ich will Einzelheiten
wissen!«
George hob die Brauen. »Da sind wir schon zu
zweit. Ich wohne mit dir zusammen, und selbst ich wusste nichts
davon. Du hast Geheimnisse vor deinen besten Freunden,
Sarah?«
Wenn die wüssten.
Ich ließ das Telefon in meine Tasche gleiten.
»Richtig. Nun, ich glaube, ich mache Schluss für heute.«
Amy und George tauschten einen Blick.
»Na schön«, sagte sie schmollend. »Wie du
willst. Aber ich finde schon noch raus, wer dieser geheimnisvolle
neue Mann in deinem Leben ist. Du wirst schon sehen.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Du bist jetzt
ja unsterblich. Also nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
Dann schnappte ich mir meinen Mantel und verließ
den Club, wobei ich versuchte, Amys bösen und Georges neugierigen
Blick nicht zu beachten. Keiner von beiden versuchte mir zu folgen,
was angesichts meiner schlechten Laune und vor allem meines Ziels
sehr gut war.
»Hast du meine Nachricht erhalten?«
Gideons tiefe Stimme begrüßte mich in seiner
verdunkelten Suite im vierten Stock des Madison Manor. Wenn ich
überhaupt einen Lichtblick in diesem ganzen finsteren Szenario
entdecken konnte, dann dass das luxuriöse kleine Hotel in Spadina
und Bloor, in dem Annex genannten Teil von Toronto, nur ein paar
Blöcke vom Darkside entfernt lag. Sein
Zimmer in dem restaurierten viktorianischen Herrenhaus war sogar
mit einem Kamin ausgestattet, der allerdings nicht brannte, obwohl
es ziemlich kühl war. Soweit ich wusste, ging Gideon nicht aus.
Wozu auch,
wenn er mir nur eine SMS schicken musste, damit ich alle Aufgaben
für ihn erledigte?
Einzig im Bad brannte Licht. Der Wohnraum der
Suite lag im Dunkeln, und die Vorhänge waren zugezogen. Links von
mir führte eine zweiflügelige Glastür auf den schneebedeckten
Balkon, der zur Madison Avenue hinausging.
»Ganz offensichtlich«, erwiderte ich gereizt.
»Schließlich bin ich hier, oder etwa nicht?«
»Allerdings.«
»Kann ich das Licht anschalten?« Ich tastete an
der Wand nach dem Schalter.
»Mir wäre lieber, wenn du das nicht tun
würdest.«
Aber es war schon zu spät, denn ich hatte
bereits das Deckenlicht angeknipst. Gideon starrte mich aus dem
Sessel in der Ecke an. Er hob zunächst aus einem Reflex heraus die
Hand, um die Narben in seinem Gesicht zu bedecken, umklammerte dann
aber stattdessen die Armlehne.
Ich hatte ausreichend Bilder von Gideon aus
seiner Zeit vor dem Unfall gesehen und wusste, dass er äußerst
attraktiv gewesen war. Diese Zeiten waren vorbei. Eine Seite seines
Gesichts war zwar immer noch attraktiv und makellos, die andere
Hälfte jedoch war von hässlichen, entstellenden Narben
übersät.
Als ich ihm zum ersten Mal begegnet war, bevor
ich wusste, wer er wirklich war, hatte er sein Gesicht mit einem
Schal bedeckt, um seine Identität und sein entstelltes Gesicht vor
mir zu verbergen, und sich als der Rote Teufel ausgegeben. Jetzt
verließ er vermutlich nicht einmal mehr dieses Zimmer. Die Narben
waren nicht alles; er litt auch
schreckliche Schmerzen, denn das Höllenfeuer brannte nach wie vor
in ihm. Er war, vorsichtig ausgedrückt, alles andere als ein
glücklicher Mensch.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
»Genauso wie ich aussehe.«
»So schlimm, ja?«
Er hob eine Braue. »Eher noch schlimmer.«
»Das geschieht dir ganz recht. Hast du jemals
etwas von Karma gehört? Vielleicht ist das die Strafe dafür, dass
du so viele Vampire umgebracht hast.«
»Vielleicht.« Er holte Luft und atmete dann
langsam aus. »Hast du es?«
»Ja.« Natürlich wusste ich, was er meinte. Ich
griff in meine Tasche und zog ein kleines Päckchen hervor. Ich
wusste nicht, was es war, sondern hatte nur erfahren, wo ich es
abholen sollte. Der Mann hinter dem Verkaufstresen in dem
New-Age-Laden hatte es mir heute mit einer Miene überreicht, als
wüsste er genau, wer ich war und was ich wollte. Er hatte keinerlei
Fragen gestellt.
»Gib es mir.«
Als ich mich Gideon näherte, wandte er das
Gesicht ab, damit ich seine Narben nicht erkennen konnte. Ich hätte
fast die Augen verdreht. Gideon war wirklich übertrieben eitel. Er
fand es furchtbar, wie er jetzt aussah, und wollte nicht, dass
irgendjemand das bemerkte. Vorwerfen konnte ich ihm das allerdings
nur schwer, denn er sah wirklich höllisch aus. Und zwar im
wörtlichen Sinn.
Die Narben schienen sich auszubreiten und
schlimmer zu werden und bereiteten ihm offenbar zunehmend stärkere
Schmerzen. Bei der Vorstellung verkrampfte sich unwillkürlich
mein Magen. Er hatte mich mit dem Leben der Leute erpresst, die
mir etwas bedeuteten, um mich so dazu zu bringen, ihn zu zeugen. Er
hatte mit einem Knoblauchpfeil auf mich geschossen, um mich zu
betäuben – zweimal! Er hatte mich
gezwungen, mich von dem Mann zu trennen, den ich liebte.
Gideon Chase war böse, keine Frage.
Aber ihn direkt anzusehen erinnerte mich daran,
wie schwer ich es ertragen konnte, jemand dauerhaft leiden zu
sehen, egal wer er war oder was er getan hatte.
Ich war wirklich schrecklich weichherzig.
»Ist das etwa Sorge, die ich da in deinem
Gesicht sehe?«, fragte er mit einem kleinen Lächeln in seinen
grünen Augen, als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Sorge? Um dich? Wohl kaum. Ich hasse dich. Und
in drei Tagen, wenn das alles vorbei ist, will ich dich nie wieder
sehen.«
Er schüttelte seinen vernarbten Kopf. »Ich
glaube kaum, dass du mich nur halb so viel hasst, wie du mich gern
hassen würdest.«
Nach allem, womit er mir gedroht hatte, nach
allem, wofür er stand, wäre es vollkommen verrückt und unlogisch,
irgendetwas anderes als Hass für ihn zu empfinden.
Richtig?
Klar.
»Nein, glaub mir«, versicherte ich ihm. »Ich
verachte dich.«
Er spitzte spöttisch die Lippen. Nur an einer
Stelle, an der das Narbengewebe zu dick war, rührte sich nichts.
»Ganz ehrlich, ich glaube, du solltest mir dankbar sein,
dass ich dir geholfen habe, diese Affäre mit dem Meistervampir zu
beenden.«
Ich verschränkte die Arme. »Ich diskutiere mit
dir nicht über Thierry.«
»Das brauchst du auch gar nicht.« Er legte das
Päckchen, das ich mitgebracht hatte, auf den kleinen Tisch neben
sich und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich sage ja nur,
dass er dich nicht zu schätzen wusste.«
»Kann ich jetzt gehen?« Ich warf einen Blick zur
Tür.
»Gleich. Ich glaube, du hast mich vollkommen
falsch verstanden, Sarah. Du redest dir ein, dass ich ein böser
Mann bin …«
»Du bist ein böser
Mann«, erinnerte ich ihn.
»Wenn ich wirklich böse wäre, hätte ich dich
dann in jener Nacht davor bewahrt, erstochen zu werden? Wenn es
mich nicht gäbe, wärst du jetzt tot. Ich habe dir auch diese
besondere Goldkette besorgt, die du jetzt um den Hals
trägst.«
Ich tastete unwillkürlich nach der Kette. »Das
hast du doch alles nur getan, damit ich mache, was du
willst.«
Er seufzte. »Ich verstehe einfach nicht, wieso
die Atmosphäre zwischen uns so unerfreulich sein muss. Wir können
doch Freunde sein.«
»Freunde?«, wiederholte
ich. »Du bist ein Jäger, und ich bin ein Vampir.«
»Na und?« Er sah mich belustigt an.
»Ich gehe jetzt. Ich habe dir dein … was auch
immer das ist, gebracht. Viel Spaß noch.« Ich drehte mich um und
wollte gehen.
»Willst du nicht bleiben und sehen, was es
ist?«
Eigentlich schon. Ich war überaus neugierig,
Asche auf mein Haupt. Ich hatte mich entschieden, das Päckchen
nicht zu öffnen, als ich es erhalten hatte, denn schließlich ist
Neugierde gefährlich und dergleichen. Ich war dem Tod in letzter
Zeit häufig genug begegnet und wollte gern jedes weitere Risiko
meiden.
Es knisterte, als er das Päckchen von dem
braunen Packpapier befreite. Ich drehte mich auf dem Absatz um, als
er eine schwarze Box hervorholte und sie öffnete.
»Eine Armbanduhr?«, fragte ich wenig
beeindruckt. »Die sollte ich für dich abholen? Ich muss schon
sagen, das ist nicht gerade aufregend.«
»Das ist eine ganz besondere Uhr. Sie ist zwar
nicht so besonders wie deine Kette, aber fast.« Er fuhr mit der
Spitze seines Zeigefingers über das Glas der schlichten Uhr. Dann
strich er über die Narben in seinem Gesicht. »Es ist ein
Schönheitsbann, der in einen tragbaren Gegenstand eingearbeitet
wurde. Ich habe sie extra anfertigen lassen. Du glaubst ja nicht,
was so etwas kostet. Zum Glück habe ich keine Geldprobleme. Ich
hatte wohlweislich eine Menge Geld zur Seite gelegt, für den Fall,
dass ich jemals untertauchen muss.«
Ich wusste, dass ein »Schönheitsbann« jemandem
auf magische Weise dazu verhalf, schön auszusehen oder sein Äußeres
zu verändern. Wenn jemand eine lange Nase hatte und er oder sie
einen Schönheitsbann anwandte, sah die Nase plötzlich ganz klein
aus. Es war so etwas wie eine ziemlich lebensechte Illusion. Sie
änderte zwar nichts an der Realität dahinter, aber manchmal reichte
es ja, wenn die Erscheinung sich veränderte.
Ohne ein weiteres Wort legte er die Uhr um sein
Handgelenk und schloss das Armband. Im nächsten Augenblick glitt
ein dünner Lichtstrahl über ihn hinweg. Wo immer das Licht ihn
berührte, verschwanden Gideons Narben.
Ich riss verblüfft die Augen auf.
»Wie sehe ich aus?«, fragte er und tastete nach
seinem nun narbenlosen Gesicht.
Ich schluckte schwer. »Du siehst … anders
aus.«
Anders traf es nicht wirklich. Er sah genauso
aus wie auf den Bildern, die ich von ihm kannte. Seine Haare waren
beinahe so dunkel wie Thierrys, und aus seinen durchdringenden
grünen Augen sprach eine beunruhigende, fast herzliche Intelligenz.
Es war das vollkommene Gesicht eines Filmstars. Natürlich trug er
nach wie vor die schlichte Kleidung von vorher – eine schwarze,
weite Hose und ein ausgebeultes blaues T-Shirt -, aber die Narben
auf seinem muskulösen linken Bizeps und dem Unterarm waren jetzt
vollkommen verschwunden.
Er strahlte mich an. »Anders ist gut.«
Ich war fassungslos. »Was heißt das? Bist du
einfach so geheilt?«
Sein Grinsen verschwand. »Nein. Es ist nur ein
Schönheitsbann. Der ändert nichts wirklich. In drei Nächten ziehen
wir wie geplant das Ritual durch.«
»Bei dem ich meine Reißzähne in deinem Hals
versenke und das Leben aus dir heraussauge? Ich freue mich
schon.«
Er lächelte über meine gespielte Coolness.
»Klar.«
»Ja. Ich meine, wie viele Vampire können schon
von
sich behaupten, sie hätten mit seiner vollen Erlaubnis auf Gideon
Chase herumgekaut? Ich hätte Werbepostkarten verschicken sollen
oder so etwas Ähnliches.«
Er presste einen Augenblick die Lippen zusammen.
»Es gibt da allerdings etwas, das mir Sorgen bereitet.«
»Die Tatsache, dass ich für einige Minuten meine
Reißzähne in deinem Hals versenken muss, bevor ich dich zum Vampir
mache? Findest du diese Vorstellung ein bisschen gruselig,
Gideon?«
»Nein. Es ist die Tatsache, dass du nur das Blut
von zwei Meistervampiren getrunken hast. Meine Recherchen haben
ergeben, dass das vermutlich nicht ausreicht, um mich vollkommen zu
heilen.«
Ich nickte. »Gut, in dem Fall tu dir keinen
Zwang an, und such dir jemand anderen für den Job.«
»Es wird sicher alles gut, aber ich habe ein
bisschen Angst.«
»Gideon Chase hat Angst? Wo ist meine
Kamera?«
Er erhob sich aus seinem Sessel, um die Vorhänge
zurückzuziehen. Auch ohne seinen Ruf war er eine imposante
Erscheinung. Angeblich hatten schöne Frauen auf der ganzen Welt in
der Vergangenheit scharenweise darauf gewartet, mit ihm zusammen zu
sein, und das nicht nur, weil er ein Milliardär war.
Scharenweise.
Er drehte sich um und kam auf mich zu.
Ich wich einen Schritt zurück.
»Ich habe etwas für dich«, sagte er.
Ich wich noch einen Schritt zurück, bis ich
gegen die Tür stieß.
Er hob beschwichtigend die Hand. »Keine Panik.
Es ist nichts Bedrohliches. Versprochen.«
»Wieso fällt es mir nur so schwer, das zu
glauben?«
Er ging zu dem Tisch neben dem extrabreiten
Bett, griff einen kleinen Stoffbeutel und brachte ihn mir. »Ein
Geschenk für dich.«
Ich zögerte, dann nahm ich es, öffnete es und
entdeckte darin ein Paar Ohrringe. Diamantohrringe. Große
Diamantohrringe.
»Was ist das?«
Er hob eine Braue. »Das sind
Diamantohrringe.«
»Das sehe ich. Aber warum schenkst du sie
mir?«
»Als Zeichen meiner Dankbarkeit für alles, was
du bislang ertragen hast. Ich weiß, dass es nicht leicht für dich
war. Ich kann ein ziemlicher …«
»Kranker, boshafter Schuft sein?«, beendete ich
den Satz.
»Ich wollte ›Nervensäge‹ sagen, aber nenn es,
wie du willst.« Das Lächeln ließ sein attraktives Gesicht
erstrahlen, ein Lächeln, mit dem er in der Vergangenheit sicher
zahlreichen Damen der Gesellschaft die Höschen ausgezogen
hatte.
»Das kann ich nicht annehmen.« Mit leisem
Bedauern – he, es waren schließlich Diamantohrringe! – gab ich sie
ihm zurück.
Er nickte. »Dann muss ich wohl etwas anderes
finden, das du nicht so einfach ablehnen kannst, was?«
Es ertönte ein Brummgeräusch, woraufhin Gideon
in seine Tasche griff und einen BlackBerry hervorzog. Er blickte
auf den Bildschirm und steckte ihn wieder ein.
Das Gerät nahm meine Aufmerksamkeit gefangen.
Ich
fragte mich, ob die Namen und Telefonnummern seiner Kontakte darin
zu finden waren. Das wäre sehr hilfreich.
»Und, Sarah, war es schön mit George und Amy im
Nachtclub?«, fragte Gideon.
Mir lief ein Schauder den Rücken hinunter. Hatte
gerade ein Spion berichtet, wo ich mich heute Abend aufgehalten
hatte? Und wenn ja, was hatte er noch beobachtet? Bei dem Gedanken,
dass man Thierry und mich zusammen gesehen hatte, verkrampfte sich
mein Magen. Gideon gab sich jetzt zwar großzügig und liebenswert,
aber ich wusste, dass ich ihn nicht provozieren durfte.
»Ich habe mich gut amüsiert«, erwiderte ich.
»Amy hat ein Blind Date für mich organisiert. Aber du musst nicht
eifersüchtig sein. Er arbeitet in der Personalabteilung. Und es ist
gut möglich, dass er eher auf Männer steht.«
»Wie ist der Rote Teufel?«, fragte er
gleichgültig. »Er hat verhindert, dass du deinem
Nachtwandlerinstinkt verfällst, stimmt’s?«
Ich sehe was, was du nicht siehst … und zwar
jemanden, der am Arsch ist.
»Er ist einfach toll.« Ich berührte meine Kette.
»Wenn eine Dame ihre dunkle Seite in Schach halten will, sollte sie
das Haus wohl nie ohne ihre Accessoires verlassen, nicht
wahr?«
»Was will er hier?«
»Er ist nicht sehr gesprächig.«
»Wie sieht er aus?«
Ich kaute auf meiner Unterlippe. »Er trägt eine
Maske. Außerdem hatte ich zu dem Zeitpunkt mit meiner Blutlust
zu kämpfen, so dass mein Blick etwas getrübt war. Er ist ziemlich
groß, mehr weiß ich nicht.«
»Du solltest ihm gegenüber sehr vorsichtig
sein.«
Das überraschte mich. »Ihm gegenüber? Diesen Rat gibt mir der Mann, der
sämtliche Holzpflockkarrieren Amerikas finanziert?«
»Wenn es der echte Rote Teufel ist, dann ist er
ziemlich gefährlich. Vollkommen unberechenbar. Ich weiß eine ganze
Menge über ihn. Und das lässt mich glauben, dass er jedem
gefährlich werden kann, der ihm über den Weg läuft.«
»Genau wie ich, wenn ich meine Kette nicht
trage.«
»Das ist etwas anderes. Der Rote Teufel, wer
auch immer er wirklich ist, hat im Laufe seines langen Lebens
sowohl eine ganze Menge Jäger wie auch Vampire getötet. Wir alle
wären wesentlich sicherer, wenn er nicht wieder aufgetaucht wäre.«
Als er meinen skeptischen Blick sah, schüttelte er den Kopf. »Ich
weiß, dass du Jäger, mich eingeschlossen, für böse hältst, aber ich
glaube, du weißt sehr genau, dass das nicht immer der Fall ist. Es
gibt eine Menge Jäger, die die Welt wirklich nur vor den Bösen
schützen wollen.«
»Der Rote Teufel ist nicht böse«, erklärte ich
mit Nachdruck.
»Bist du dir da so sicher?« Er ging auf die
andere Seite des Zimmers, um an dem Balkon vorbei aus dem Fenster
zu sehen. Sein neuerdings perfektes Spielbild tauchte in dem Glas
der Tür auf.
Ich trat von einem Fuß auf den anderen,
erwiderte jedoch nichts. Eigentlich kannte ich den Roten Teufel
überhaupt nicht. Ich wusste nur, dass Thierry ihm vertraute.
Thierry. Wenn der
wüsste, dass ich ganz allein mit Gideon
auf seinem Hotelzimmer plauderte, würde er wahrscheinlich einen
hysterischen Anfall bekommen.
»Ich habe noch etwas anderes für dich«, sagte
Gideon. »Ich habe es bislang nicht erwähnt, aber da du meine
Ohrringe nicht wolltest …«
»Nur zu deiner Information. Ich möchte auch
nicht, dass du mir etwas anderes kaufst.«
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hast du
recht. Außerdem ist es kein richtiges Geschenk. Nur das Zauberbuch
der Hexe, die dich verflucht hat. Das Buch, in dem sie alle ihre
Zaubersprüche festgehalten hat, inklusive dem, den sie bei dir
angewendet hat.«
Ich stieß vernehmlich die Luft aus. Das war das
Letzte, womit ich gerechnet hatte. »Du meinst, die Hexe, die du
umgebracht hast.«
»Sie war böse«, sagte er nachdrücklich.
»Wie großartig, dass du dich selbst zum Richter,
Geschworenen und Vollstrecker ernannt hast.«
»Du hast ein Recht auf deine eigene Meinung.
Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass ich ihr Zauberbuch
besitze. Und darin findet sich der Zauberspruch, der dich von
diesem nervigen kleinen Fluch erlöst.«
Mein Herz schlug schneller. »Du machst dich über
mich lustig.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wo ist es?« Ich ließ den Blick durch den Raum
gleiten.
»An einem sicheren Ort. Du kannst es haben, wenn
du mir dafür etwas anderes besorgst.«
Ich musterte ihn ebenso skeptisch wie
hoffnungsvoll. »Was willst du?«
»Den Roten Teufel.«
Mein Magen schien einen olympiareifen Salto
rückwärts zu schlagen. »Was willst du von ihm?«
»So naiv bist du doch wirklich nicht,
Sarah.«
Ich hob meine Brauen. »Offensichtlich
überschätzt du mich.«
»Ich will ihn abschlachten. Ich will ihn davon
abhalten, anderen etwas anzutun, nachdem er sich entschieden hat,
in die Öffentlichkeit zurückzukehren.«
»Du gibst mir das Zauberbuch also nur, wenn ich
dir helfe, den Roten Teufel umzubringen?« Ich wollte sichergehen,
dass ich ihn richtig verstanden hatte.
»Das ist richtig.«
Mein schmaler Hoffnungsstreif am Horizont löste
sich in Nichts auf. »Hast du denn nichts Wichtigeres zu tun?«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Etwas
Ablenkung würde mir gut bekommen. Ich brauche eine neue
Herausforderung. Wenn ich den Roten Teufel besiege, einen Vampir
mit einem beinahe mythischen Ruf, wäre das mein größter Triumph.«
Er blinzelte. »Abgesehen von dem Dämon in Vegas natürlich. Wie du
dir vermutlich vorstellen kannst, denke ich daran nicht gern
zurück.«
Das Zauberbuch. Die Antwort auf all meine
Nachtwandlerprobleme. »Ich weiß nicht, Gideon …«
»Verdammt.« Er stöhnte, taumelte ein paar
Schritte rückwärts und umklammerte sein Gesicht. »Wieso musste ich
das erwähnen?«
Bevor ich etwas erwidern konnte, schrie er auf
und fiel auf dem Plüschteppich der Suite auf die Knie nieder. Es
war das Höllenfeuer. Gideon wand sich vor Schmerzen,
während er mit den unsichtbaren Flammen kämpfte, die nur er fühlen
konnte.
Ich erstarrte und fühlte mich unwohl, ihn so
leiden zu sehen. Ich drückte mich gegen die Tür, wollte gehen,
hatte aber Schwierigkeiten, mich zu bewegen.
»Was soll ich tun?«, fragte ich.
»Nichts.« Seine Stimme brach, und er wurde von
einem Schauder erfasst. Er hatte die Zähne zusammengebissen. Ich
hätte meinen letzten Dollar darauf verwettet, dass noch niemand
Gideon je so gesehen hatte. So schwach und bedürftig und armselig.
Bei dem Gedanken fühlte ich mich kein Stück besser.
»Vielleicht sollte ich einen Arzt rufen …«, bot
ich halbherzig an.
Er sah mich aus glasigen Augen an. »Ich will
nicht, dass du mich so siehst.« Als ich mich nicht rührte, erhob er
die Stimme. »Verschwinde! Sofort!«
»Kein Problem.« Ich drehte mich um, öffnete die
Tür und ließ Gideon alleine leiden.
Es war mir egal, ob er Schmerzen hatte. Das war
der Mann, der mein Leben in seinen Händen hielt und mich zu tun
zwang, was er wollte.
Ich hasste ihn.
Aber noch mehr hasste ich den kleinen Teil in
mir, der ihn nicht hasste. Das war das
eigentlich Unangenehme.