19
Ich lief zum Darkside, denn schließlich hatte ich den milliardenschweren Vampirjäger dort zum letzten Mal gesehen.
Es war niemand da. Der Club hatte geschlossen und war verlassen.
Dreimal klingelte mein Telefon, und ich erkannte am Klingeln, dass es Thierry war. Ich hob nicht ab. Vermutlich war er wütend auf mich, weil ich gegangen war. Vermutlich? Eher ganz bestimmt. Ich verstand ihn, es war nicht gerade die beste Idee, in meinem kettenfreien Zustand auf der Straße herumzulaufen.
Noch eine Untertreibung.
Wen interessiert schon, was der denkt?, schaltete sich meine Nachtwandlerin ein. Dieser Kerl ist ein solcher Langweiler. Der gönnt dir keinen Spaß.
»Stimmt das?«, fragte ich laut. »Nicht, dass ich von dir irgendeinen Ratschlag annehmen würde.«
Ich bin du, du dumme Gans. Und ich weiß, was du willst.
»Und das wäre?«
Frei sein. Spaß haben. Du hattest Spaß, aber seit du Thierry begegnet bist, bist du unglücklich.
»Das hat nichts mit Thierry zu tun. Das hat mit meinem Vampirdasein zu tun.«
Weißt du, mit wem du Spaß haben kannst? Mit Gideon. Der ist so sexy und aufregend, und das Leben mit ihm wäre schrecklich schön.
»Schrecklich schön?« Meine böse innere Stimme hörte sich fast an wie eine echte Tussi.
Ja. Gideon hat dir doch gefallen, oder? Er hat dir leidgetan. Mehr als nötig. Und da war noch etwas anderes – ein Funken von etwas anderem. Sind deine Gefühle denn auf einmal alle weg?
Ich biss die Zähne zusammen. »Sie sind weg. Er hat mich benutzt, er hat versucht, mich zu manipulieren.«
Und es hat perfekt funktioniert. Du hast deine »große Liebe« bewusstlos auf dem Boden liegen lassen, um zu Gideon zu rennen. Du tust genau das, was er will.
»Nur, um Amy zu retten.«
Mmmh, mmmh. Ja, ja, du kannst mir viel erzählen. Ein Vampirvamp.
Ich biss die Zähne zusammen. »Es ist mir egal, was du denkst.«
Nun, das sollte es nicht. Sobald ich die Gelegenheit dazu bekomme, werde ich die Entscheidungen treffen, Schätzchen. Ich habe es so satt, dass du hier das Sagen hast. Ich will endlich meinen Auftritt im Sonnenlicht haben. Natürlich im übertragenen Sinn. Kein echtes Sonnenlicht. Das brennt nämlich höllisch, stimmt’s?
»Halt endlich den Mund.«
Großartig. Jetzt diskutierte ich schon mit meiner Nachtwandlerin. Das war kein gutes Zeichen. Die Situation machte ihr überhaupt keine Angst. Sie war glücklich, meiner dunklen Seite die gesamte Kontrolle zu überlassen. Sie suchte Gideon aus ganz anderen Gründen als ich. Amy bedeutete ihr nichts.
Empfand ein Teil von mir wirklich so? Oder war meine Nachtwandlerin eine eigenständige Identität, die sich vollkommen von mir unterschied?
Ich schätze, das werden wir bald herausfinden, was?, sagte sie in meinem Kopf.
Tussi war eine ziemliche Zicke.
He, das ist kein Grund, unhöflich zu werden.
Ich sollte in meinem Zustand nicht auf der Straße herumlaufen. Es war wie Alkohol am Steuer – riskant, gefährlich und unglaublich dumm. Aber ich klammerte mich nur an einen Gedanken: Amy. Es war, als würde man erst noch den Valentinstag abwarten, bevor man mit jemandem Schluss machte. Ich musste mich davon überzeugen, dass es ihr gut ging, bevor meine Nachtwandlerin vollkommen die Kontrolle übernahm.
Sie schien es leider auf einen frühen Start anzulegen. Wann immer sie ihr hässliches Gesicht zeigte, drängte ich sie zurück.
Thierrys Worte von vorhin klangen in mir nach. »Gideon schätzt deine dunkle Seite, während ich sie bekämpfe. Du musst wohl selbst entscheiden, wer von uns recht hat.«
War er nur eifersüchtig wie damals bei Quinn? Ich wusste schon, wer recht hatte. Ich war nicht hin- und hergerissen, für welche Seite ich mich entscheiden sollte. Ich liebte Thierry. Ich hasste Gideon. So einfach war das.
Ja, richtig, ergriff meine innere Stimme das Wort.
»Halt die Klappe.«
Wo zum Teufel steckte Gideon? Und wie sollte ich ihn in einer Stadt mit zweieinhalb Millionen Einwohnern finden?
Wie wäre es mit einem Lokalisierungsspruch?, schlug meine Nachtwandlerin hilfsbereit vor.
»Als ich es das letzte Mal versucht habe, war ich noch ein Vampir, keine Hexe.«
Ich lief zügig die Front Street hinunter. Einige Leute sahen mich stirnrunzelnd an, während ich wie eine Verrückte Selbstgespräche führte.
Ein Lokalisierungsspruch. Wenn man jemanden kannte, der ein bisschen Hokuspokus beherrschte, konnte man den genauen Aufenthaltsort einer Person feststellen. Wie hieß er noch? Hexenmeister Steven, auch Finsternis genannt, hatte doch mit einem Lokalisierungsspruch herausgefunden, wo ich wohnte. Kurz bevor ihn ein Dämon ergriffen und mich gegen die Wand geschleudert hatte, versteht sich.
Vielleicht lohnte es sich, ihn zu suchen.
Aber wie sollte ich ihn finden? Ich hatte keine Telefonnummer von ihm. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn erreichen konnte. Und die Zeit raste.
Versuch es, forderte mich meine Nachtwandlerin auf. Eine Sternschnuppe. Wieso wünschst du dir nichts, du Verliererin?
Meine böse innere Stimme war alles andere als höflich.
Ich sah zu dem dunklen, aber klaren Himmel hinauf, an dem der Mond leuchtete und die Sterne wie Diamanten funkelten.
Normalerweise hätte ich mir eine Million Dollar gewünscht. Heute Abend machte ich eine Ausnahme.
»Ich wünsche mir, Gideon Chase zu finden«, sagte ich laut zu dem hellsten Stern, den ich sah. »Bitte, bitte.«
Der Stern bewegte sich, und mir wurde klar, dass ich mir soeben etwas von einem Flugzeug gewünscht hatte.
Oh, das nervt, bemerkte meine Nachtwandlerin.
Zumindest in diesem Punkt waren wir uns einig.
»He, Lady.« Jemand stieß mich an. Ich drehte mich herum, um meinen Angreifer mit einem finsteren Blick zu strafen. »Interesse an Konzertkarten?«
»Konzertkarten?«, wiederholte ich. »Die brauche ich jetzt wirklich nicht.«
»Komm schon. Die sind billig. Das Konzert hat bereits angefangen. Du kannst sie für fünfzig Dollar das Stück haben.«
Der Atem des Mannes roch nach kubanischen Zigarren und Mülleimer. Nicht gerade angenehm.
»Ich bin nicht interessiert«, erklärte ich ihm.
»Death Suck ist die schärfste Heavy Metal Band überhaupt. Du siehst aus, als ob du eine kleine Ablenkung vertragen könntest.«
Er hob und senkte die Brauen. »Vierzig für jede. Komm schon. Nimm sie mir ab.«
Ich hatte bereits den Mund geöffnet, um ihm zu erklären, wo er sich die Karten hinschieben konnte, da erstarrte ich.
Hatte er Death Suck gesagt?
Kannte ich nicht den größten Death-Suck-Fan der gesamten nördlichen Hemisphäre?
Na klar. Death Sucks größter Fan war zufällig ein jugendlicher Hexenmeister, der sich gern mit Finsternis anreden ließ und ganz scharf auf das Konzert heute Abend war.
Ich blickte nach oben zu dem Flugzeug, dem ich meinen Wunsch anvertraut hatte und dankte ihm im Stillen. Sich bei Sternen etwas zu wünschen, wurde offensichtlich überschätzt.
»Gib mir die Karten«, sagte ich.
»Vierzig für jede.«
Ich zog die Augen zusammen, streckte die Hand aus, griff ein bisschen in meine Nachtwandlerkiste, als würde ich in einer vollen Handtasche wühlen und kramte die Bewusstseinskontrolle hervor. »Gib sie mir
Schlagartig nahmen seine Augen einen seltsamen Glanz an. »Klar«, erwiderte er und reichte mir widerstandslos die Karten. »Viel Spaß.«
Ich nahm sie ihm ab. Mir war ganz entfallen, dass die Bewusstseinskontrolle zweifellos das Beste an meinem Nachtwandlerdasein war.
Nicht dass an dem Fluch irgendetwas gut war. Aber wenn es doch etwas gäbe, dann wäre es die Bewusstseinskontrolle. Die wunderbare, fantastische Bewusstseinskontrolle.
Ich machte mich auf den Weg in das Rogers-Centre-Stadion, passierte den Sicherheitsdienst, dem es nicht verdächtig vorkam, dass ich erst über eine Stunde nach Beginn ein Heavy-Metal-Konzert besuchte. Der Geruch von Bier, Brezeln und Popcorn schlug mir zusammen mit dem milden Geruch von Gras entgegen.
Vampirnase voll im Einsatz. Check.
Ich wurde von zwanzigtausend kreischenden Jugendlichen empfangen, und während ich in dem Sitzbereich umherwanderte und mich ganz auf ein Zeichen des Hexenmeisters konzentrierte, traf mich das Heulen der Gitarren und Synthesizer bis ins Mark.
»Death suck!«, schrie der Frontsänger ins Mikrofon.
»Tötet sie! Erstecht sie! Lasst ihr Blut fließen!
»Reißt ihnen das Herz heraus, DANN KÖNNEN WIR SIE GENIESSEN!
»Suck! Death! DEATH! SUUUUCCKKK!«
Toller Ohrwurm.
Mein außerordentlich scharfes Vampirgehör war momentan nicht gerade von Vorteil.
Eine kurze Überprüfung des Ladens brachte nichts Brauchbares. Das dauerte viel zu lange. Wie sollte ich ihn zwischen Tausenden von Jugendlichen finden?
Ich suchte weiter, bis mir ein Blick auf meine Armbanduhr verriet, dass es bereits nach zehn war. Ich irrte schon viel zu lange ziellos auf dem Konzert herum.
Es blieben mir nur noch zwei Stunden.
Ich bahnte mir einen Weg durch den Gang, versuchte, die Musik zu ignorieren, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte, und mich auf die Suche nach Steven zu konzentrieren. Ich konnte ihn nicht auf herkömmliche Art und Weise finden. Es würde ewig dauern, alle Gesichter zu prüfen. Also entschied ich mich, etwas Riskantes zu tun.
Da haben wir es wieder, dachte ich.
Nein, ich konnte damit umgehen. Wirklich. Ich würde nur ein bisschen in meine Nachtwandlerhülle schlüpfen, so wie man mit dem großen Zeh die Wassertemperatur testet. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er mich berührt. Ich erinnerte mich lebhaft an seine Hand um meinen Hals, als er versucht hatte, mich zu erwürgen. Irgendwie hatten wir doch alle unsere finstere Seite, oder?
»Wir nähern uns dem Ende«, hatte mir der rotäugige gruselige Dämon in Gestalt von Steven gestern erklärt. »Und wenn du nicht aufpasst, wenn das Blut zu fließen beginnt, wird es dich verschlingen
Wenn das Blut zu fließen beginnt?
Ganz schön verrückt. Und dennoch, seltsam appetitanregend. Ein überaus beunruhigender Gedanke.
Oh, wie ich die Tage mit chinesischem Essen und Schokoladenkuchen vermisste. Damals waren die einzigen Opfer meine Oberschenkel gewesen.
Jedenfalls musste ich den gruseligen, verrückten, kleinen Steven finden. Ich war total davon überzeugt, dass er sich irgendwo auf diesem Konzert befand. Wenn es nicht funktionierte, würde ich mich mit Hilfe der Bewusstseinskontrolle an den Sicherheitsleuten vorbeidrängen, dem Sänger, der aussah, als hätte er einen Tag Ausgang aus dem Gefängnis, das Mikrofon aus der Hand reißen und seinen Namen hinausbrüllen. In meinem Vor-Vampir-Leben hatte ich bereits einmal Karaoke gesungen. Wenn es die Situation verlangte, konnte ich etwas von Bonnie Raitt schmettern, kein Problem.
Ich umfasste das Geländer vor mir, schloss die Augen und konzentrierte mich auf Stevens Hand um meinen Hals. Den warmen Geruch seiner Haut. Das Blut, das darunter durch seine Adern floss.
Nach einem Augenblick wurde das Stadion auf einmal irgendwie spürbarer, lebendiger. Ich konnte neben dem schwachen Geruch von eingeschmuggelten Drogen, verschwitzten Achselhöhlen und teuren Snacks noch etwas anderes spüren. Das Schlagen von zwanzigtausend Herzen, die Blut durch die jungen Körper pumpten.
Zwanzigtausend Köstlichkeiten.
Wie glitschige eklige Algen, die vor mir herunterhingen, schob ich den Gedanken beiseite, damit ich in der Lage war, mich auf einen speziellen Jugendlichen zu konzentrieren.
Konzentrieren. Ich bahnte mir den Weg durch die Menge, streckte meine Sinne aus und strich mit ihnen wie mit Fingern über die Menge, suchte und suchte noch einmal, und ich spürte, dass er in der Nähe war. Sehr nah …
»He«, sagte jemand.
Ich schlug die Augen auf und blickte zur Seite.
Dort stand ein Mann und musterte mich. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit einem riesigen weißen Totenkopf und dem Logo der Band.
»He, Baby«, sagte er. »Coole schwarze Kontaktlinsen. Echt scharf.«
»Ach ja?«
»Ja. Sie machen mich genauso an wie Death Suck!« Er stieß die Fäuste in die Luft. »Woooo! Death Suck!«
»Setz dich«, zischte ich.
»Okay«, sagte er mit glänzenden Augen und ließ sich schwer mitten auf die Treppe fallen.
Ich kämpfte mit dem Nebel, der sich über meine Sinne legte.
Ich hatte heute bereits von zwei Meistervampiren getrunken. Ich brauchte nicht noch mehr Blut. Ich konnte meine fiese kleine Nachtwandlerin noch eine Weile in Schach halten.
Ich musste. Ich hatte keine andere Wahl.
Entweder das oder ich würde sterben.
Wortwörtlich.
Ich schlug die Augen auf und stellte fest, dass mich jemand anstarrte, jemand anders als der Megafan mit dem lahmen Anmachversuch. Direkt auf der anderen Seite des Gangs, wo der Fan jetzt herumlümmelte, stand die Person, die ich suchte.
»Hi«, sagte Steven. »Ich habe mich schon gefragt, wann du wohl auftauchst.«
Er trug genau das gleiche T-Shirt wie der andere Fan, nur dass das von Steven signiert war. Außerdem klemmte unter seinem Arm ein Konzertprogramm.
Ich kämpfte mit dem Nebel in meinem Kopf und nahm ihn nur undeutlich wahr. »Du hast dich gefragt, wann ich auftauche?«
Er nickte. »Ich habe gespürt, dass du in der Nähe bist.«
»Ach, wie praktisch, nicht?« Ich holte unnötigerweise Luft und spürte eine Welle der Erleichterung. Er war hier. Alles würde gut werden. »Du musst mir helfen.«
»Ach ja?«
»Ja. Du musst jemanden für mich finden. Mit einem Lokalisierungsspruch.«
»Mensch«, neben Steven tauchte ein weiterer Jugendlicher auf. »Was haben wir denn da für ein schwarzäugiges Baby?«
Ich hatte immer noch schwarze Augen? Das war nicht gut. Zum Glück passte ich hier wohl ganz gut rein. Wenn mich jemand nervte, musste ich nur mit den Fäusten in der Luft herumfuchteln und »Death Rock!« schreien.
Oder ihnen den Hals aufreißen und in ihrem köstlichen Blut baden, schlug meine Nachtwandlerin vor.
Oh, warte. Nein, nein, nein, das war kein guter Gedanke. Vorsichtig ausgedrückt. Bleiben wir bei der ersten Variante. Ausschließlich bei der ersten.
»Sie ist eine Kundin«, erklärte Steven.
»Eine Kundin?«
»Es geht um diesen Zauberkram.«
»Du bist wirklich der Größte.« Der Freund musterte mich. »Wie heißt du, Süße?«
Ich musterte ihn voller Missachtung aus meinen schwarzen Augen. »Wie alt bist du? Zwölf? Lass mich in Ruhe.«
»Das ist okay«, erwiderte er. »Ich steh auf reife Frauen. Damit kann ich umgehen. Und nur fürs Protokoll, ich bin fast fünfzehn.«
Ich beachtete ihn nicht weiter und sah Steven an. »Kannst du mir helfen?«
»Oh, ja.« Sein Freund grinste mich anzüglich an. »Er hilft dir sofort. Er hilft dir die ganze Nacht, Baby. Oh ja.«
Vielleicht konnte ich heute Nacht zumindest einen Hals aufreißen. Ich würde es auch kurz machen. Versprochen.
Moment… nein. Gar keinen.
»Hör auf«, sagte Steven. »Sie könnte deine Mutter sein.«
Das riss mich aus meinem widerlichen Nachtwandlermodus. »Wohl kaum.«
»Steve, Mensch, ich kann mit älteren Frauen umgehen. Da stehe ich drüber.«
»Ich habe dir gesagt, du sollst mich Finsternis nennen.«
»Sei kein Würstchen.«
Steven sah ihn mit finsterem Blick an. »Ein Würstchen? Ich bin kein Würstchen. Du bist hier das Würstchen!«
Ich seufzte. Das Schicksal meiner besten Freundin lag gerade in den Händen von diesem Würstchen.
Es ging nicht gerade bergauf.
Ungefähr drei Sekunden später beendete Death Suck sein fantastisches Konzert, und die Lichter gingen an. Tausende von Jugendlichen mit trübem Blick und geschädigtem Gehör strömten zu den Ausgängen.
»Komm mit«, forderte Steven mich auf.
Sein Freund kicherte. »Ja, Baby. Dann kannst du bei mir kommen. Kapiert? Hä, hä.«
Ich musterte den Kerl und setzte meine Bewusstseinskontrolle ein. »Geh nach Hause, Jüngelchen.«
»Okay, tschüss.« Seine Augen glänzten. Er drehte sich um und verschwand wortlos.
Ich folgte Steven und ließ seinen strähnigen Hinterkopf nicht aus den Augen, während wir uns durch die Menge kämpften. Schließlich schaffte ich es, ihn an der Schulter zu fassen, damit er kurz stehen blieb.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich. »Machst du den Lokalisierungsspruch für mich?«
»Vielleicht. Folge mir.«
Er lief weiter.
»Wegen gestern«, hob ich erneut an. »Als du besessen warst …«
Er sah mich mit etwas größeren Augen an. »Ja. Ich habe dir ja gesagt, dass du schon mit der schwarzen Magie in Kontakt warst. Ich schätze, dass sie dich wiedererkannt hat.«
»Wärst du in der Lage, die Ausrottung notfalls zu wiederholen?«, fragte ich. »Du hast so gewirkt, als ob das möglich wäre.«
»Vergiss es. Auf keinen Fall.« Er schüttelte sich. »Ich will sowieso nie wieder so weit gehen. Keine Vampirkunden mehr. Beinahe hätte ich heute Abend nicht zum Konzert kommen können, weil mir von dieser widerlichen Dämonenenergie so elend war. Ich habe einen neuen Auftraggeber. Der Kerl zahlt mir jede Menge für meine schrägen Fähigkeiten.«
Die warme Menge strömte hinaus, und ich zwang mich, an etwas anderes als den verlockenden Geruch von knackigen Teenagern zu denken, die alle so verletzlich und appetitlich wirkten.
Alles in allem war ich bislang heute Abend ziemlich stolz auf meine Selbstbeherrschung. Es war schwierig, aber eventuell nicht unmöglich, meine Nachtwandlerin auf Dauer in Schach zu halten. Es war wie ein Muskel, den ich nicht häufig benutzt hatte. Vielleicht konnte ich mit diesen neuen Muskeln finstere Gedanken einfach wie dicke, klebrige Spinnweben zur Seite zu schieben.
Wenn es hart auf hart kam, konnte ich wie ein Drogenabhängiger auf dem Weg der Besserung das Gelassenheitsgebet zitieren.
Gott gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.
Den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann …
Und … und so weiter.
Das musste ich ein anderes Mal auswendig lernen.
Ich lief weiter hinter Steven her. Die Menge löste sich langsam auf, und jeder machte sich entweder auf den Weg zu einem öffentlichen Verkehrsmittel oder einem nahe gelegenen Parkplatz. Oder sie suchten ein Restaurant oder eine Bar auf, um sich von dem Angriff auf ihren Gehörgang zu erholen. Der CN Tower ragte neben uns wie ein extrem hoher, spitzer, kultischer Gegenstand in den Himmel.
Lustig. Mir war vorher nie aufgefallen, dass er an einen riesigen Holzpflock erinnerte. Bei dem Gedanken erschauderte ich.
Das Brummen und Summen der Menge verklang. Die frische Luft half mir, mich auf andere Dinge als den Geruch von Menschen zu konzentrieren.
Findest du nicht, dass es erstaunlich leicht war, Steven zu finden?, drängte sich meine Nachtwandlerin in meine Gedanken. Ein bisschen zu einfach vielleicht. Da wundert man sich doch schon ein bisschen, oder?
Ich runzelte die Stirn. »Eigentlich schon. Jetzt wo du es sagst …«
»Hier entlang.« Steven drehte sich nicht um, als er eine kurze Treppe hinunter und durch einen kleinen schneebedeckten Park am Fuße der pflockförmigen Sehenswürdigkeit lief, in dem Bänke aufgestellt waren.
»Ich kann nicht glauben, dass ich dich heute Abend dort gefunden habe«, sagte ich zu seinem Hinterkopf. »Das ist fantastisch. Wirklich. Ich habe mir etwas von einem Stern gewünscht… oder eigentlich von einem Flugzeug… und dann stehe ich zufällig direkt vor dem Konzert. So etwas nennt man Schicksal.«
»Das hat nichts mit Schicksal zu tun«, erwiderte Steven. »Ich habe dich herbeigerufen.«
Für eine Sekunde blieb ich schockiert stehen und musste daraufhin etwas rennen, um ihn wieder einzuholen. »Du hast mich herbeigerufen? Wovon redest du?«
»Mein neuer Kunde wollte, dass ich dich finde. Also habe ich ein bisschen gezaubert, um dich herzulocken. Und, he, es hat funktioniert. Das ist gut, denn ich möchte diesen Kerl wirklich nicht verärgern.«
Als Steven um eine Ecke bog, die zu einer Straße führte, schluckte ich. »Wie heißt … dieser Kunde?«
»Mr. Chase«, antwortete er schlicht. »Du kennst ihn, oder? Er hat mir erzählt, dass er auf mich gekommen wäre, weil du neulich bei mir warst und er von meinen Zauberkünsten beeindruckt war. Der Kerl zahlt mir fünf Riesen für heute Abend.«
»Deshalb hast du mich gesucht? Weil du dafür bezahlt wirst?«
Steven räusperte sich. »Er hat meine Mutter entführt, aber er hat versprochen, ihr nichts anzutun. Er hat mich sogar zu dem Konzert gehen lassen. Anscheinend ist er ziemlich cool. Gruselig, aber cool.«
Die Hintertür eines schwarzen Lincoln Navigator, der im Leerlauf am Straßenrand stand, öffnete sich, und ein großer Mann stieg heraus. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte um sein jetzt wieder vernarbtes Gesicht einen schwarzen Schal gewickelt. Als er beobachtete, wie ich auf ihn zukam, konnte ich in seinen grünen Augen lesen, dass er Schmerzen hatte.
»Siehst du, Sarah?«, sagte Gideon. »Ich habe doch gesagt, dass ich dich finde.«
Meine Nachtwandlerin war entzückt, ihn zu sehen.
Der Rest von mir hasste Überraschungen. Ich mochte sie früher, als es um Geburtstagspartys, Geschenke und Kuchen ging. Das kam nicht mehr häufig vor.
»Bitte entschuldige den Schal«, bat er. »Er wirkt ein bisschen zu dramatisch, ich weiß. Aber ich muss wohl heute Nachmittag meine Armbanduhr verloren haben, nicht wahr?«
»Schön, dass du mich gefunden hast«, sagte ich gleichgültig, obwohl meine Stimme etwas zitterig klang. »Ich habe dich gesucht. Ich will das hinter mich bringen.«
»Tatsächlich?« Das schien ihn zu überraschen. »Ich dachte, du würdest es mir schwer machen. Ich war sicher, dass dein Meistervampirliebhaber dich nicht mehr aus den Augen lässt.«
»Das hat er auch nicht. Ich bin buchstäblich von zu Hause fortgelaufen, um dich zu suchen.«
Ich konnte seinen Gesichtsausdruck wegen des Schals zwar nicht erkennen, aber ich hatte den Eindruck, dass er lächelte.
»Faszinierend. Wenn ich nicht wüsste, dass du mit mir nicht mehr so glücklich bist, würde ich von einer ziemlich abgedrehten Amour fou sprechen.«
Ich verspannte mich. »Es ist, als hättest du übersinnliche Kräfte oder so etwas.«
»Wirst du mich immer noch zeugen? Obwohl du mich neuerdings hasst?«
»Das ist nicht neu.«
»Vielleicht kann ich es wiedergutmachen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
Um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen, und diesmal wusste ich, dass er lachte. »Ich habe dir einen Nachtclub gekauft.«
»Stimmt. Nun, wenn das okay ist, schreibe ich dir später eine Karte, um mich zu bedanken. Momentan will ich wirklich nur meine Reißzähne in deinem Hals versenken, Gideon. Ich habe das Gefühl, dass du nichts dagegen hast.« Ich blickte zu dem Wagen. »Lass uns gehen.«
»Ich weiß deinen Enthusiasmus zu schätzen. Aber ich fürchte, ich darf kein Risiko eingehen. Bitte entschuldige, dass ich einige Vorkehrungen getroffen habe.«
»Vorkehrungen?«, wiederholte ich, doch dann spürte ich ein schmerzhaftes Brennen. Ich blickte hinunter auf meine Brust und zog einen kleinen Knoblauchpfeil heraus.
Die Sterne erloschen, als sich die Bewusstlosigkeit über mich stülpte.