9
Finsternis war in Begleitung einer rothaarigen Frau mittleren Alters, die seinen Oberarm so fest umklammerte, dass es selbst aus der Ferne schmerzhaft wirkte.
Ich ging die Auffahrt hoch und musterte die beiden wachsam und zugleich neugierig. Woher wusste der Kerl, wo ich wohnte?
»Willst du mich besuchen?«, fragte ich.
Die Frau schüttelte den Jungen. »Sag es ihr schon.«
»Ist ja gut. Ist ja schon gut, okay? Mom, lass mich endlich los.«
Sie gab ihn frei. »Ich sage es nicht noch einmal.«
Der Junge stieß vernehmlich die Luft aus und sah mich an. »Es war falsch von mir, dass ich gestern dein Geld genommen habe. Es tut mir wirklich leid. Ich bin nur gekommen, um es dir zurückzugeben.«
Nachdem seine Mutter ihm noch einmal einen Schubs gegeben hatte, streckte der Junge mir die tausend Dollar Anzahlung von gestern entgegen. Ich näherte mich den beiden, suchte dabei misstrauisch nach irgendwelchen Anzeichen für eine Falle und nahm schließlich das Geld.
»Danke.«
»Schon gut. Ich habe einen anderen Auftrag, der deutlich besser bezahlt wird.«
»Toll für dich.«
Der Junge kratzte abwesend an seinem Kinn. Unter dem bedeckten Himmel wirkte seine teigige Gruftihaut ziemlich kränklich. War das wirklich die Person, auf die ich meinen Plan B aufgebaut hatte? Sein Anblick führte mir noch einmal deutlich vor Augen, wie verzweifelt ich war.
»Okay, Steven, wir müssen gehen.« Die Stimme seiner Mutter klang streng.
»Ich muss aufs Klo. Ich habe so viel getrunken, und wenn ich es den ganzen Nachhauseweg über anhalten soll, platze ich.«
»Du kannst gern mein Badezimmer benutzen«, sagte ich. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«
Sie folgten mir ins Haus. George saß vor dem Fernseher auf der Couch und sah uns an.
Stevens Mutter runzelte die Stirn. »Wir haben mehrmals geklingelt.«
»Ja, habe ich gehört«, erklärte George. »Aber Ihr Sohn macht mich nervös.«
Steven presste sich die Hände auf den Schritt und wirkte nicht sonderlich glücklich. Ich zeigte ihm den Weg, und er verschwand in dem kleinen Flur.
»Ich muss mich für meinen Sohn entschuldigen.« Die Frau streckte die Hand aus. »Ich bin Meredith Kendall.«
Ich schüttelte ihr die Hand. »Kein Problem.«
Es war zwar ein Problem, aber ich wollte nicht genauer werden, denn ich hatte keine Ahnung, wie viel sie von den Fähigkeiten ihres Sohnes wusste. Herauszufinden, dass der eigene Sohn ein Hexenmeister war und schwarze Magie praktizierte, schockte Eltern sicher etwas mehr, als wenn sie ihren Sprössling beim Rauchen erwischt hätten.
»Es ist nicht das erste Mal, wissen Sie«, erklärte sie. »Und es ist nicht immer so glimpflich ausgegangen. Es hat … Probleme gegeben.«
Kann ich mir denken.
»Wirklich«, fuhr sie fort. »Es ist doch eigentlich selbstverständlich, dass man Kindern keine größeren Geldsummen überlässt, aber Vampire haben offenbar andere Moralvorstellungen als normale Leute.«
Ach? Scheinbar wusste sie, was ich war, schrie aber nicht hysterisch auf und zückte auch keinen Holzpflock. Abgesehen von der versteckten Beleidigung in ihren Worten stimmte mich das zuversichtlich.
»Sie kennen sich mit diesen Sachen offensichtlich gut aus.« Ich beschloss, über ihre Unwissenheit hinwegzugehen, anstatt sie zu belehren, wie Vampire wirklich waren. Der Tag hatte nicht unendlich viele Stunden. »Wie haben Sie herausgefunden, wo ich wohne?«
»Steven hat einen Lokalisierungsspruch angewandt. Ein bisschen Zauberei habe ich ihm durchgehen lassen, weil er dadurch etwas lernen sollte.« Sie rang ängstlich die Hände. »Ich dachte, dass ihn ein Umzug ins Ausland vielleicht von seinem Hang zum Okkulten abbringen würde, aber so einfach ist es vermutlich doch nicht. Er erinnert mich zunehmend an seinen Vater.«
»Er sagte, dass sein Vater gestorben sei«, erwiderte ich.
Sie schnaubte verächtlich. »Er wurde bezwungen, das trifft es wohl eher.«
Daraufhin richtete George sich kerzengerade auf und wandte ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. »Bezwungen? Wollen Sie damit etwa sagen, dass sein Vater ein … ein … Dämon ist?«
Sie nickte ernst. »Ich fürchte, daher bezieht Steven seine magischen Fähigkeiten, diese dämonische Energie, die schon von Geburt an in ihm steckt. Deshalb ziehen wir um.«
»Sie verlassen das Land, damit…?«
»Damit uns sein Vater nicht findet. Er will das gemeinsame Sorgerecht.« Sie wirkte verbittert. »Aber das kriegt er nur über meine Leiche. Ich werde alles tun, um meinen geliebten Sohn vor diesem Verrückten zu schützen.«
»Ich kann mir vorstellen, dass es nicht besonders angenehm ist, wenn man einen Dämon zum Vater hat«, überlegte George laut. »Dieses ständige Pendeln zwischen Toronto und der Hölle in der Hauptverkehrszeit ist bestimmt die … nun ja, die Hölle
»Unsere Trennung hatte nichts damit zu tun, dass er ein Dämon ist. Dieser widerliche Kerl hat mich betrogen, als wir zusammen waren, und dafür soll er auf ewig büßen.« Ihre Unterlippe bebte. »Ich hätte es als viel zu milde empfunden, ihn einfach nur in die Hölle zurückzuschicken.«
Ich hörte die Toilettenspülung, und kurz darauf stieß Steven zu uns. Ich sah ihn jetzt mit etwas anderen Augen.
Dämonenbrut.
Ich würde auf jeden Fall wieder in die Kirche eintreten. So bald wie möglich. Und zwar nicht nur wegen Ostern und Weihnachten.
»Lass uns gehen, Steven«, sagte seine Mutter scharf. »Wir müssen weiterpacken.«
Ich öffnete ihnen die Tür. Meredith ging zuerst hinaus und sah mich dabei kaum an. Steven zögerte und streckte mir die Hand entgegen.
Nachdem er vorher so mürrisch gewesen war, wirkte diese Geste plötzlich sehr höflich. Ich nahm es als gutes Zeichen und hoffte nur, dass er sich die Hände gewaschen hatte, nachdem er auf der Toilette gewesen war.
Ich schüttelte ihm die Hand. Ich hätte gern unter vier Augen mit ihm über meine Ausrottungsoptionen gesprochen, ob dämonisch oder anders. »Was hast du noch gesagt, wann ihr nach Deutschland fahrt?«
Er antwortete nicht. Seine Hand fühlte sich kalt an, und er hielt meine Hand so fest, dass es wehtat.
Ich verzog das Gesicht. »He, du kannst mich jetzt loslassen.«
Steven hob den Blick zu mir, und ich schnappte vor Überraschung unwillkürlich nach Luft. Seine Augen hatten sich wieder rot gefärbt, dunkelrot. Nicht das geringste Weiß war zu sehen.
»Lass die nette Vampirdame los«, zischte seine Mutter. »Sofort
»Wir sind fast fertig«, sagte Steven. »Und wenn du nicht zur Seite trittst, wenn das Blut zu fließen beginnt, wird es dich vollkommen verschlingen.«
Seine Stimme klang jetzt nicht mehr wie die eines Teenagers. Sie war tief und heiser und ganz finster.
»Lass mich los«, stieß ich hervor. Meine Finger waren weiß geworden.
Doch er ließ mich nicht los. Er packte mein anderes Handgelenk und sah mir unverwandt in die Augen. »Du hättest schon längst sterben sollen, direkt nachdem du gezeugt worden bist. Aber das Schicksal hat sich in jener Nacht gewendet.«
Für mich war offensichtlich, dass es nicht mehr Steven war, der da sprach, es war ein Dämon. Klar, es war nur eine Vermutung, aber eine wohlbegründete. Kalte Angst ergriff mich.
»Huh.« George trat zu uns. »Was ist denn hier los?«
Steven richtete seine schmalen roten Augen auf George, der aus der Tür taumelte, als wäre er von einer riesigen, unsichtbaren Hand gestoßen worden. Schließlich fing er sich und blieb neben Stevens Mutter auf dem Treppenabsatz stehen.
Dann schlug die Tür zu.
»Okay …« Mein Herzrhythmus hatte sich verdoppelt. »Die Party ist vorbei. Wenn du jetzt gehst, gibt es keine Probleme.«
Der Dämon, der von Steven Besitz ergriffen hatte, legte den Kopf auf die Seite und musterte mich aus diesen verrückten Augen. »Du machst nur Schwierigkeiten, Vampir. Deine bloße Existenz ist schon ein Problem.«
»Du bist nicht der Erste, der das sagt. Du kennst nicht zufällig einen Barry?« Ich versuchte, das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken, was mir leider überhaupt nicht gelang.
Der Dämon beugte sich vor, bis sein Gesicht dicht vor meinem war, und fuhr mit der Nase an meinem Hals entlang. »Dein Blut ist voller Kraft. Ich glaube, das gefällt mir nicht.«
»Dir nicht und mir ebenso wenig.«
»Du bist von einer Hexe berührt worden. Sie hat eine Spur von ihrem Zauber auf deiner Haut hinterlassen.«
»Bei dir klingt das erheblich angenehmer, als es eigentlich gewesen ist.«
Er richtete seinen Blick auf meine Goldkette. »Du hast deine dunkle Seite kaum im Griff. Vielleicht wäre es leichter, wenn du deine wahre Natur einfach akzeptieren würdest.«
Ich versuchte alles, um mich irgendwie von ihm loszureißen, aber er war – Überraschung! – übernatürlich stark. »Ich bin von Natur aus kein Nachtwandler, wenn du das meinst.«
»Dann hat dieses zerbrechliche Objekt, das du da trägst, am Ende überhaupt nichts zu bedeuten.« Er lächelte, und ich spürte, wie ich innerlich zu Eis erstarrte. »Wir sollten herausfinden, ob die Dunkelheit oder das Licht in dir die Oberhand gewinnt.«
»Wer bist du?«, keuchte ich.
»Jemand, der ein großes Interesse an deinen Entscheidungen hat.«
»Wie wäre es mit einem kleinen Hinweis, was ich tun soll? Bitte mit Feuer und Rauchzeichen?«
»Sehr gern.« Das kalte Lächeln wurde breiter. »Der, der deinesgleichen tötet, dir aber Diamanten schenkt, hält einen Hinweis in seiner Hand – einen flüchtigen Hinweis auf einen Betrug, den du niemals erwartest. Einer ist den Flammen bereits zu nah gekommen, und es hängt von deiner Entscheidung ab, ob sie ihn verbrennen.«
»Was zum Teufel soll das heißen?«, fragte ich, dann senkte ich meine Stimme. »Sprichst du von Gideon? Etwas, das er in Händen hält? Er hat im Höllenfeuer geschmort.«
Dieses Scheusal verzog den einen Mundwinkel zu einem Lächeln. »Dein Schicksal und seins sind jetzt miteinander verbunden.«
»Ich liebe ihn nicht. Ich liebe Thierry.«
Die Augen des Dämons leuchteten intensiv, und ich hätte schwören können, dass ich darin Flammen aufflackern sah. »Liebe allein reicht nicht, um dich zu retten.«
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, verschwand das Lächeln aus seinem pickeligen Gesicht, und er schloss blitzschnell seine Hände um meinen Hals. Er drückte fest zu.
George hämmerte gegen die Tür und versuchte, hineinzukommen. Stevens Mutter schrie seinen Namen.
Ich klammerte mich an seine Hände und versuchte, mich von ihm loszureißen. Es war alles andere als eine freundschaftliche Umarmung. Ich war stark genug, einige seiner Finger wegzubiegen, bis er mich schließlich ganz losließ und ich nach Luft schnappte.
Ich hielt mit einer Hand meinen empfindlichen Hals. »Was machst du da?«
»Ich versuche zu helfen.«
Er schlug mich so heftig, dass ich herumwirbelte und mit dem Kopf gegen die Wand krachte. Mir wurde schwarz vor Augen.
 
Dass es nur ein Traum war, hieß nicht, dass ich es nicht genoss.
Schließlich war das überwältigende Hochzeitskleid, das ich trug, von Vera Wang. Ich stand vor der großen Scherbe – ein teurer Spiegel, speziell für Vampire – und musterte mich vom Kopf bis zu den Designerpumps.
»Du siehst hinreißend aus«, sagte eine vertraute Stimme. Ich blickte nach links und sah George. »Ich hätte nicht gedacht, dass Weiß dir steht, aber ich habe mich getäuscht.«
»Es ist ein gebrochenes Weiß. Genau wie meine Tugend. Außerdem trage ich einen schwarzen BH, damit alles im Gleichgewicht bleibt.«
Er grinste. »Bist du bereit für deinen großen Tag?«
Ich nickte und konnte mir ein Lachen kaum verkneifen. »Ich bin seit Langem bereit.«
»Komm schon, du hast ihn schon sehr lange warten lassen.« George hielt mir seinen Arm hin, und ich hakte mich ein. Er führte mich hinaus in eine Halle, in der sich eine Brüstung befand, über die man direkt in die Kirche hinuntersehen konnte.
Am Eingang zur Kirche stand Thierry in einem Smoking und sah zum Anbeißen aus.
»Sollte ich nicht dort unten sein? Ich werde es noch verpassen.«
George schüttelte den Kopf. »Vertrau mir, hier oben ist es sicherer.«
Eine Frau mit schulterlangen braunen Haaren und einem wunderschönen weißen Kleid, das genauso aussah wie mein eigenes, schritt den Gang hinunter. Sie blickte über ihre Schulter zurück, und jetzt bemerkte ich, dass … ich … diese Frau war.
Ein seltsames Gefühl der Bedrohung überkam mich.
Das andere Ich sah hoch zu mir. Ihre Augen waren pechschwarz. Ihr Hals war nackt, sie trug keine Goldkette.
Dann ließ die Nachtwandlerin ihren Brautstrauß fallen, packte Thierry und versenkte ihre Reißzähne tief in seinem Hals. Er versuchte noch nicht einmal, sich zu wehren. Ich schrie, brachte jedoch keinen Ton heraus.
Der Rote Teufel mit der Maske stand jetzt neben mir.
»Wieso hast du nicht versucht, das zu verhindern?«, fragte er wütend mit leiser heiserer Stimme. Er schüttelte enttäuscht den Kopf.
Als ich nach unten blickte, sah ich, dass das Nachtwandler-Ich Thierry auf den Boden fallen ließ, wo sein Körper sich augenblicklich auflöste.
An seine Stelle trat nun ein anderer Bräutigam – es war Gideon. Die Nachtwandlerin hakte sich bei ihm ein, und sie und Gideon begannen die Zeremonie und gaben sich dann das Jawort. Ich starrte voller Entsetzen hinunter, als Gideon das Nachtwandler-Ich küsste, nachdem man uns zu Mann und Frau erklärt hatte. Er schaute zur Brüstung hoch und winkte mir mit einem breiten Lächeln zu, so dass ich seine brandneuen Reißzähne sehen konnte.
»Ich danke dir für alles, Sarah«, rief er. »Es tut mir leid, dass wir so ein Chaos angerichtet haben. Es ging nicht anders. Aber wir sind jetzt zusammen. Für immer.«
»Ich liebe dich, Gideon«, erklärte die Nachtwandlerin.
Er küsste die Braut, und ich bemerkte, dass er jetzt mich küsste. Ich tat nichts, um ihn aufzuhalten, ich hatte sogar meine Arme um ihn gelegt und zog ihn dichter an mich.
Dort, wo ich jetzt neben Gideon vor dem Altar stand, war auch der Rote Teufel verschwunden. Seine rote Maske, das einzige Zeichen, dass er jemals existiert hatte, lag neben den Leichen all meiner Freunde.
Ich begann zu schreien.