Im nächsten Moment erheben sich der Inder und seine Frau mit majestätischer Langsamkeit (beide sind sehr groß) und nehmen, das Gesicht uns zugewendet, hinter ihren Sitzen Aufstellung; zuvor hat der Mann seinen Turban auf seinen Sessel gelegt. Ihre Gesichter sind edel und ernst, so daß man meinen könnte, sie seien im Begriff, zu unserer Erbauung einen religiösen Gesang anzustimmen.
Mrs. Boyd stößt einen Entsetzensschrei aus, und der Inder sagt höflich und in vollendetem Englisch:
»Ich bitte Sie, haben Sie keine Angst. Ich habe nicht die Absicht zu schießen, zumindest nicht im Augenblick. Ich will das Flugzeug nur entführen.«
Jetzt sehe ich, daß beide einen Revolver auf uns gerichtet halten. Meine Hände fangen an, leicht zu zittern. Seltsamerweise spüre ich aber in diesem Augenblick noch keine Angst: Mein Körper reagiert schneller als mein Verstand.
Nein, was ich empfinde, ist eher Neugierde. Alle meine Sinne sind hellwach. Augen und Ohren gespannt, liege ich auf der Lauer. Äußerlich jedoch unterscheidet sich meine Haltung von der meiner Reisegefährten überhaupt nicht. Ich rühre mich nicht und bin wie erstarrt. Ich sehe in die runden Öffnungen der Revolverläufe und sage nichts, warte.
Wir warten lange, denn offensichtlich hat der Inder keine Eile … Man hätte annehmen können, daß er nach seiner Erklärung mit Geschrei und dramatischen Gebärden ins Cockpit stürzen würde. Nichts dergleichen. Auch er rührt sich nicht, sieht uns mit seinen großen schwarzen Augen der Reihe nach stumm an und scheint zu meditieren. Übrigens scheint er, nach seinem Äußeren zu urteilen, eher für die Meditation als für die Aktion geschaffen.
»Wie? Was? Was ist los?« fragt Pacaud und verdreht seine Augen.
»Siehst du denn nicht, was los ist?« antwortet Blavatski auf französisch. Er muß früher im Quartier Latin verkehrt haben, denn in seiner Aufregung duzt er Pacaud, wie es unter Studenten üblich ist. Und er fährt fort: »Die Herrschaften dort halten ihre Kanonen auf uns gerichtet. Reicht dir das nicht? Brauchst du eine Zeichnung?«
»Aber das ist ja schändlich! Schändlich«, sagt Mrs. Boyd im Tone moralischer Entrüstung und führt ihre rundlichen Hände zum Mund. »So etwas müßte verboten sein!«
»Es ist verboten«, sagt der Inder sanft.
Bei diesen Worten war kein Schatten eines Lächelns in seinem Gesicht, aber seine Augen funkelten.
»Wenn Sie selbst zugeben, daß es verboten ist«, fährt Mrs. Boyd mit unglaublicher Naivität fort, »warum tun Sie es dann?«
»Leider habe ich keine andere Wahl, Madame«, erwidert der Inder.
Wieder Schweigen, und der Inder unternimmt nichts, es zu verkürzen; möglicherweise will er uns an unser Schicksal gewöhnen.
Am erstaunlichsten dabei ist die Schönheit des indischen Paares. Beide sind groß, stattlich, haben rassige Gesichtszüge. Sie sind auch sehr elegant gekleidet. Der Mann sieht gleichsam wie ein britischer Caramans aus, nur trägt er nicht anthrazitfarbenen, sondern hellgrauen Flanell. Unter dem schillernden Sari der Frau zeichnen sich sehr weibliche Formen ab. Sie ist ausgesprochen füllig, aber daran stoßen sich die Weißen nicht bei einer farbigen Frau. Ganz im Gegenteil.
Caramans hustet. Deutet er die Untätigkeit des Inders als Zögern? Ich weiß nicht, aber ich spüre, daß er versuchen wird, die Initiative zu ergreifen. Ich sehe ihn an. Alles in allem würde er, wenn er so wie der Inder gekleidet wäre, auch wie ein Brite wirken. Nur daß er völlig humorlos ist.
»Ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß die Entführung eines Flugzeuges mit schweren Strafen geahndet wird«, sagt er gewichtig.
»Ich weiß, Monsieur, vielen Dank«, antwortet der Inder ernst, aber mit demselben Schimmer in den Augen.
Wunderbar! Wenn man uns umbringt, dann geschieht es wenigstens durch die Hand eines vollendet höflichen Mörders.
Allerdings muß ich sagen, daß mich vor allem die Frau in Schrecken versetzt. In den Augen des Inders ist außer hervorstechender Intelligenz ein bestimmter Grad von menschlicher Anteilnahme erkennbar. Aber die starren, glänzenden, leicht hervortretenden Augen der Frau, die mit fanatischem Haß auf uns gerichtet sind, jagen mir Schauer über den Rücken. Man hat den Eindruck, für die Frau wäre es mehr als eine Pflicht, das Magazin ihrer Waffe zu leeren: ein Vergnügen.
“My dear!” sagt Mrs. Boyd mit klagender Stimme zu Mrs. Banister. »Daß ausgerechnet mir so etwas zustoßen muß!«
Hier grinst die Murzec. Ich wage zu behaupten, daß die Murzec keinerlei Angst empfindet, so sehr ist sie damit ausgefüllt, unsere Angst zu genießen.
»Aber Margaret«, sagt Mrs. Banister gereizt, »Sie sind doch nicht als einzige betroffen! Das sehen Sie doch!«
Nach diesen Worten lächelt sie dem Inder zu. Unsere Dame von Welt zittert nicht. Möglicherweise verbietet ihr das herzogliche Blut, Angst zu haben. Oder glaubt sie, auf Grund ihres Ranges nicht ernsthaft bedroht zu sein? Verdrängt sie ihre Angst, indem sie sich die in Grenzen gehaltenen Gewalttätigkeiten ausmalt, die der schöne Inder ihr antun könnte?
Diese Empfindung scheint, mit unterschiedlichen Nuancen, im linken Halbkreis weit verbreitet zu sein. Madame Edmonde vervielfacht ihre Lockrufe mit Augen und Mund. Michou scheint seiner Faszination bereits ziemlich verfallen zu sein. Robbie ebenfalls.
»Also, Monsieur, was sollen wir tun?« fragt Mrs. Boyd mit wehleidiger Miene, aber im Tonfall einer mondänen Plauderei.
»Tun?« fragt der Inder mit gerunzelten Brauen.
»Na ja, ich weiß nicht, die Hände heben?« Und um ihren rührend guten Willen zu beweisen, hebt Mrs. Boyd ihre rundlichen Hände. Es flimmert erneut in den Augen des Inders, und er sagt höflich:
»Nehmen Sie die Hände runter, Madame, ich bitte Sie, das ist eine so anstrengende Haltung. Legen Sie die Hände gut sichtbar auf die Seitenlehnen Ihres Sessels. Das gilt für alle«, fügt er hinzu.
Wir gehorchen. Unsere Wartezeit ist anscheinend zu Ende, aber ich weiß nicht, welchen Zweck sie erfüllt hat. Vielleicht wollte der Inder unsere Reaktionen abschätzen. In diesem Falle kann er beruhigt sein. Wir sind nicht zum Kämpfen aufgelegt. Nicht einmal Blavatski, der doch eine Waffe bei sich haben müßte! Daß Blavatski sein Eingreifen nicht für angebracht hielt, zeigt indessen, wie gefährlich dieses Paar ist.
Obwohl meine Hände nicht mehr zittern, bemächtigt sich meiner eine ziemliche Bestürzung. Die Augen dieser Frau gefallen mir immer weniger. Sie sieht uns mit einer gierigen Grausamkeit an, die mich lähmt.
Endlich setzt sich der Inder in Bewegung. Mit elastischem, hoheitsvollem Schritt nähert er sich der Stewardess und flüstert ihr ein paar Worte ins Ohr. Sie steht auf und postiert sich in etwa anderthalb Meter Entfernung vom Vorhang zur Bordküche (oder Pantry, wie sie selbst sagen würde). Die Inderin stellt sich hinter sie und hält sie, den Arm um ihren Hals gelegt, umklammert, nicht ohne Brutalität. Die Inderin ist so groß, daß sie die Stewardess um Kopfeslänge überragt und also völlig ungehindert ihre Waffe auf alle Passagiere im Kreis richten kann.
»Meine Assistentin spricht die europäischen Sprachen nicht«, sagt der Inder. »Hingegen hat sie sehr scharfe Augen und wird ohne Warnung auf jeden schießen, der die Unbesonnenheit begehen sollte, seine Hände zu bewegen. Ich selbst werde mich jetzt der Besatzung bemächtigen.«
Doch vorläufig unternimmt er nichts. Er rührt sich nicht. Er zögert noch. Man könnte meinen, daß es ihm widerstrebt, uns mit seiner furchteinflößenden Gefährtin allein zu lassen. Er fürchtet wohl, daß sie in seiner Abwesenheit zu schnell den Finger am Abzug haben könnte. Er geht zu ihr hin und sagt ihr leise etwas ins Ohr. Ich verstehe nicht, was er sagt, aber er scheint ihr zu raten, sich zu mäßigen. Sie hört unbewegt zu, ohne daß ihre Augen auch nur im geringsten ihren wilden Ausdruck verlieren.
Er stößt einen leichten Seufzer aus, zuckt die Achseln, läßt den Blick über uns schweifen und sagt liebenswürdig, aber mit jenem high-class-Akzent, der seinen Worten etwas Spöttisches verleiht: “Good luck!”
Dann geht er an seiner »Assistentin« vorbei, schiebt den Vorhang zur Bordküche beiseite, bückt sich und verschwindet. Ich rutsche in meinem Sessel hin und her, und die Stewardess sagt ruhig:
»Seien Sie unbesorgt, Mr. Sergius. Niemand ist in Gefahr. Es wird überhaupt nichts passieren.«
Ich sehe sie erstaunt an. Ich erkenne sie nicht wieder. Ich habe sie blaß, zitternd und verkrampft gesehen, als sie die Fragen der Murzec nicht beantworten konnte, und jetzt lächelt sie, scheint ausgeglichen und selbstsicher zu sein. Ich begreife auch nicht, wie sie behaupten kann – im Ton eines Erwachsenen, der Kinder beruhigen will –, daß überhaupt nichts passieren wird, obwohl zwei bewaffnete Fanatiker uns als Geiseln genommen haben.
Nichtsdestoweniger gibt mir die Haltung der Stewardess etwas von meiner Kaltblütigkeit wieder. Ohne meine Hände zu bewegen – die Antwort, dessen bin ich sicher, käme auf der Stelle –, ergreife ich eine Initiative: ich wende mich auf Hindi an die Frau.
»Was bezwecken Sie eigentlich?« frage ich so gelassen wie möglich. »Wollen Sie politische Gefangene befreien oder ein Lösegeld bekommen?«
Die Frau zuckt zusammen, runzelt dann die Brauen, schüttelt langsam den Kopf und gebietet mir, ohne den Mund aufzumachen, mit ihrem Revolver Schweigen. In ihren großen schwarzen Augen lodert ein so mächtiger Haß, daß ich es mir gesagt sein lasse. Ich weiß im übrigen nicht, was ich von ihrer Verneinung halten soll. Sie scheint völlig sinnlos zu sein, weil sie ja die beiden Möglichkeiten, die ich nannte, in Bausch und Bogen verwirft.
Schließlich sage ich mir, daß das Mienenspiel der Inderin nur eine Bedeutung haben kann: sie verweigert das Gespräch mit Leuten, die sie möglicherweise niederzuschießen hat. Der Schweiß rinnt mir über den Rücken. Ich habe die unsinnige, aber niederschmetternde Vorstellung, daß die Wahl auf mich fallen wird, wenn die Inderin in der Folge eine Geisel töten soll.
Ich kann es kaum abwarten, bis der Inder zurückkommt und wieder Herr der Situation ist. Ich glaube, diese Empfindung wird rundum geteilt. Die Spannung im Kreis ist unerträglich geworden, seit er uns mit dieser Fanatikerin allein gelassen hat.
Das runde Gesicht von Mrs. Boyd nimmt plötzlich einen verzweifelten Ausdruck an, und sie sagt mit zitternder, kindlicher Stimme: »Mr. Sergius, da Sie ja die Sprache dieser Leute sprechen, könnten Sie diese … farbige Person fragen, ob ich eine Hand bewegen darf, um mich an der Nase zu kratzen?«
Die Inderin zuckt mit den Brauen und sieht Mrs. Boyd und mich drohend an, die Waffe abwechselnd auf einen von uns beiden richtend.
Ich bleibe stumm.
»Ich bitte Sie, Mr. Sergius«, sagt Mrs. Boyd, »meine Nase juckt schrecklich.«
»Es tut mir leid, Mrs. Boyd. Sie sehen selbst, die Inderin duldet nicht, daß man sie anspricht oder daß wir untereinander reden.«
Der Blick der Inderin flammt erneut auf, und sie stößt mehrere unartikulierte kehlige Laute aus. Aber mehr als der Klang erschreckt mich der Blick. Ich habe solche Augen nie gesehen. Groß, glänzend und von intensiver Schwärze, strahlen sie grenzenlose Bösartigkeit aus.
Es ist wieder still, und ich halte den Zwischenfall schon für abgeschlossen, als Mrs. Boyd mit der ängstlichen Stimme eines kleinen Mädchens abermals zu jammern anfängt.
»Ich bitte Sie, Mr. Sergius, fragen Sie sie. Das Jucken wird unerträglich. Ich fühle, daß ich mich nicht zurückhalten kann«, fügt sie hinzu, den Tränen nahe oder einem Nervenzusammenbruch.
Ich werfe einen Blick auf die Inderin und schweige.
»Ich bitte Sie, Mr. Sergius!« drängt Mrs. Boyd. Die Tränen rinnen ihr über die Wangen, und ihre Stimme wird plötzlich unnatürlich schrill. »Ich fühle, daß ich mich nicht zurückhalten kann! Ich werde die Hand heben, um mich an der Nase zu kratzen! Sie wird schießen, und durch Ihre Feigheit werden Sie meinen Tod verschulden!«
»Madame, ich bin nicht feige!« sage ich, entrüstet über diese Anschuldigung, die sie noch dazu in Gegenwart der Stewardess erhebt. »Sie haben kein Recht, so etwas zu sagen! Ihr Egoismus ist nicht zu überbieten! Es gibt noch anderes auf der Welt als Ihre Nase! Was mich betrifft, mir ist mein Leben nicht weniger wert als Ihre Nase!«
»Mr. Sergius, bitte«, sagt sie so flehentlich und so kindlich, daß ich sogleich besänftigt bin.
»Um die Wahrheit zu sagen«, fahre ich ruhiger fort (und dieses Eingeständnis, muß ich zugeben, kostet mich sogar in einer solchen Situation Selbstüberwindung, weil ich auf mein ausgezeichnetes Gedächtnis sehr stolz bin), »ich erinnere mich nicht mehr, wie ›kratzen‹ auf Hindi heißt.«
In diesem Moment richtet die Inderin ihre Waffe auf mich, so langsam und entschlossen, daß ich wirklich glaube, sie wird jetzt schießen.
Ich erstarre förmlich unter ihrem Blick.
Aber anstatt zu schießen, fragt die Inderin ruhig und hoheitsvoll auf Hindi: »Was will diese alte Sau?«
Ich antworte und bin erstaunt, so schnell das mir entfallene Wort wiederzufinden. (Aber ich vermute, daß Freud zu dieser »Gedächtnislücke« sein Wörtchen zu sagen hätte.)
»Sie möchte sich die Nase kratzen.«
»Soll sie es tun!« sagt die Inderin mit abgrundtiefer Verachtung.
Darauf ich: »Mrs. Boyd, die Frau gestattet Ihnen, Ihre Hand zu bewegen.«
»Ach, danke, danke!« sagt Mrs. Boyd, ausschließlich an die Inderin gewandt.
Man könnte meinen, ich hätte in dieser Angelegenheit gar keine Rolle gespielt. Mrs. Boyd sieht mich nicht einmal an. In der Folge wird sie mir wegen meines Eingreifens unverständlicherweise sogar grollen. Ich höre buchstäblich auf, für sie zu existieren. Kein Wort mehr. Kein Blick.
Während nun Mrs. Boyd endlose Dankesbezeigungen herunterhaspelt, die irgendwie schon der Würde entbehren, hebt sie ihre mit Ringen geschmückte kleine weiße Hand und reibt sich lange und genußvoll die Nase.
Ich sehe die Stewardess an. Nicht allein, daß sie ihrem Angreifer keinen Widerstand leistet – die gelöste Haltung ihres Körpers verrät auch keinerlei Anzeichen von Verhärtung oder Furcht. Sie scheint der Inderin voll zu vertrauen, als ob dieser Griff von hinten um den Hals – der doch sehr schnell zu einem Würgegriff werden könnte – lediglich eine scherzhafte Umarmung durch die ältere Schwester wäre. Sie fühlt sich so behaglich wie in ihrem Sessel und ist entsprechend unbekümmert. Und sie schafft es sogar, mir zuzulächeln.
Der Vorhang zur Pantry teilt sich, und der Inder taucht wieder auf, das Gesicht verschlossen, den Revolver in der Hand. Er spricht leise mit seiner Begleiterin. Diese läßt ihre Gefangene frei. Höflich und stumm bedeutet der Inder der Stewardess, sich wieder zu setzen. Auch er selbst setzt sich wieder an seinen Platz, nachdem er seinen Turban achtlos auf die Erde geworfen hat. Dann stützt er die Hand, die den Revolver hält, auf sein Knie, ohne jemanden aufs Korn zu nehmen.
Seine Assistentin bleibt mit der Waffe im Anschlag stehen, die fanatischen Augen auf uns gerichtet, auf uns alle zugleich, mit beängstigender Allgegenwart des Blicks.
Die Situation scheint in Stillschweigen und Abwarten zu erstarren. Dann sagt der Inder, auf dem aller Blicke ruhen, in seinem vollendeten Englisch:
»Ich bin froh, daß während meiner Abwesenheit alles gut gegangen ist. Da ich die Empfindungen meiner Assistentin kenne, hatte ich gewisse Bedenken, sie mit Ihnen allein zu lassen.«
Alles ist perfekt: das Englisch, der Akzent, der Inhalt seiner Worte, die geistige Haltung. Der Inder erweist sich als vollendete Karikatur jenes etwas abgetakelten Typs: des britischen Gentleman. Gleichzeitig kann man in seinen Imitationen eine parodistische Absicht erkennen.
Er läßt eine vielsagende Stille folgen, um dann fortzufahren: “I am annoyed.”
Übersetzt heißt das »ich bin sehr verärgert«, wobei die englische Wendung ziemlich oft eine euphemistische Nebenbedeutung hat, die über die wörtliche Bedeutung hinausgeht. Was mich verblüfft, ist die königliche Art, wie der Inder dieses Wort ausspricht, als ob wir alle anfangen müßten zu zittern, weil er annoyed ist.
Er läßt seinen Blick über unseren Kreis schweifen und fährt ohne jede Hast mit sorgfältiger Betonung und einer gewissen Resignation fort: »Ich werde meine Pläne ändern müssen auf Grund eines unvorhergesehenen Umstandes: es befindet sich niemand im Cockpit.«
Die Verblüffung in unserem Kreis äußert sich zunächst in Schweigen, dann in einem Wortschwall, der sich von allen Seiten gleichzeitig ergießt und Unglauben, Angst, Bestürzung widerspiegelt. Der Inder beobachtet dieses Durcheinander schweigend und mit verächtlicher Miene, die mir ziemlich heuchlerisch erscheint: er ist gut zwei Minuten im Cockpit gewesen, hat also genug Zeit gehabt, sich von dem Schock zu erholen, daß er keine Besatzung vorgefunden hat. Unter solchen Umständen ist es kein Kunststück, sich einfach als annoyed zu bezeichnen, während wir in unserem Kreis die Fassung verlieren.
»Aber das ist unglaublich!« sagt Blavatski so laut, daß Schweigen eintritt. »Ich habe schon vom Boden aus ferngelenkte Militärflugzeuge gesehen, aber niemals Langstreckenmaschinen, die auf solche Weise gesteuert wurden!«
»Ich auch nicht«, sagt der Inder. »Aber vielleicht möchten Sie, Gentlemen, jemanden aus Ihrer Mitte zur Besichtigung des Cockpits entsenden?«
»Ich wäre dazu bereit«, sagt Pacaud. »Ich habe während des Krieges bei den Fliegern gedient.«
»In welcher Qualifikation?« fragt der Inder.
»Ich war Funker.«
»Ausgezeichnet. Gehen Sie, Mr. Pacaud. Ich habe nämlich keine Spur einer Funkanlage im Cockpit gefunden.«
Pacaud, der seine Hände nicht zu bewegen wagt, sieht abwechselnd die beiden Piraten an. Der Inder sagt leise ein paar Worte zu seiner Assistentin. Dann bedeutet er Pacaud durch ein Zeichen, daß er aufstehen darf.
Pacaud verschwindet hinter dem Vorhang zur Pantry, und der Inder fragt seine Assistentin auf Hindi, wie wir uns verhalten haben.
»Vorsicht«, sagt sie, »sprich nicht Hindi. Dieses Schwein versteht alles«, fährt sie fort und deutet mit dem Lauf ihrer Waffe auf mich.
Sie sagt es selbstverständlich auf Hindi, zu meiner Erbauung. Ich bin also ein Schwein, und Mrs. Boyd ist eine alte Sau.
»Oh«, sagt der Inder auf englisch mit ziemlich boshaftem Lächeln. »Der Gentleman versteht Hindi?«
Aber er legt so viel Ironie in das Wort »Gentleman«, daß der von seiner Gefährtin verwendete Ausdruck vergleichsweise freundschaftlich klingt.
Und während mich der Inder mit unverhohlener Feindseligkeit ansieht, fährt er spöttisch fort: »Wie liebenswürdig von Ihnen, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, die Sprache von Farbigen zu erlernen!« Er sagt es mit spitzen Lippen ohne jeglichen Humor.
»Ich habe doch gar nicht gesagt, daß die Inder Farbige sind«, erwidere ich voller Erstaunen darüber, daß ich so schlecht behandelt werde, weil ich seine Sprache spreche.
»Sie denken es«, sagt er anklagend.
»Gewiß unterscheiden wir uns in der Hautfarbe, aber ich messe dem keine Bedeutung bei.«
»Wie nett von Ihnen«, sagt der Inder in feindseligem Ton und sieht weg.
Ich starre ihn fassungslos an. Obwohl Indien seit Ende des letzten Weltkrieges ein unabhängiges und geachtetes Land ist, leidet dieser junge Inder in einem solchen Maße an den Folgen der Kolonisation (die er nicht kennengelernt hat), daß er gegenüber den Europäern einen militanten Gegenrassismus entwickelt hat.
Da taucht Pacaud wieder auf, rot vom Kinn bis zum Hinterkopf, setzt sich auf seinen Platz und sagt atemlos: »Im Cockpit ist tatsächlich niemand, und ich habe auch keine Spur einer Funkanlage klassischer Art gefunden.«
»Wollen Sie damit sagen, daß eine Funkanlage vorhanden ist, jedoch ein Typ, den Sie nicht kennen?« fragt der Inder.
»Ganz gewiß«, antwortet Pacaud, »denn es muß eine Verbindung zwischen dem Boden und der Maschine bestehen, sonst könnte sie nicht fliegen.«
»Sie sind zu den gleichen Schlußfolgerungen wie ich gelangt, Mr. Pacaud«, fährt der Inder fort. »Man könnte glauben, daß der BODEN« – er betont dieses Wort, und in der Folge bedienen auch wir uns dieses Begriffs, um die Leute zu benennen, die unseren Flug von der Erde aus steuern –, »man könnte glauben, daß der BODEN jeglichen Dialog mit uns verweigert, gleichzeitig aber alles hören kann, was wir sagen.«
Der Inder spricht jetzt völlig gelöst, ohne Ironie und Verachtung, ganz so, als wäre er einer von uns. Darüber könnte man fast vergessen, daß er eine Waffe in der Hand hält und seine Assistentin auf uns angelegt hat.
»Ich bin nicht einverstanden«, sagt Blavatski mit zitternder Stimme. »Es gibt keinen Beweis dafür …« Er unterbricht sich. Seine stechenden grauen Augen hinter den dicken Brillengläsern nehmen einen unruhigen Ausdruck an. Er schluckt und fährt mühsam fort: »Es gibt keinen Beweis dafür, daß der BODEN unsere Gespräche hört.«
Während ich Blavatski beobachte, gewinne ich den Eindruck, daß er schneller als sonst jemand von uns – auf jeden Fall schneller als ich – herausgefunden hat, worauf der Inder hinauswill. Und genau wie der Inder sagt er der Boden, wobei ich nicht recht zu präzisieren vermag, worin das Besondere dieser Art liegt.
»Es gibt im Augenblick keinen Beweis dafür«, sagt der Inder im Tone einer höflichen Konversation. »Aber wir werden darüber bald Gewißheit haben.«
Blavatski zuckt zusammen, und der Inder sieht uns an, als wüßte er weit mehr. In seiner Stimme war ein kleiner Peitschenhieb, doch ich begreife nicht, warum Blavatski seine Worte als so bedrohlich empfindet. Der Inder wendet sich an Pacaud.
»Erschien Ihnen im Cockpit, von der Funkanlage abgesehen, alles normal?«
»Ich weiß nicht«, entgegnet Pacaud, über dessen glänzenden Schädel wieder Schweißtropfen rinnen. »Ich weiß nicht, wie das Cockpit in einem ferngesteuerten Flugzeug normalerweise beschaffen ist. Das Instrumentenbrett kam mir sehr kahl vor, aber das ist letztendlich erklärlich, da es vermutlich von niemandem abgelesen wird. Was ich mir dagegen nicht erklären kann, ist das kleine rote Licht, das ständig in der Mitte des Instrumentenbrettes leuchtet.«
»Eine Kontrollampe?« fragt der Inder. »Ein Alarmsignal?«
»Aber Alarm für wen?« sagt Pacaud. »Es ist doch kein Pilot da.«
»Auch ich habe das kleine rote Licht gesehen«, sagt der Inder.
Seine regelmäßigen braunen Züge scheinen ihre Starrheit zu verlieren und ein gewisses Unbehagen zu verraten. Aber das ist Momentsache, und er kehrt sogleich wieder zu seiner Gelassenheit zurück, wie man eine Maske überstreift.
Drückendes Schweigen breitet sich aus und wird, je länger es anhält, um so unerträglicher. Sicher fehlt es uns nicht an Bereitschaft, unser Schicksal zu kommentieren, aber die Augen des Inders zwingen uns, stumm zu bleiben. Im Gegensatz zu seiner Gefährtin, die ihren ganzen Haß mit einem Schlag offenbart, ist er imstande, wie ein Rheostat die Intensität seines Blicks nach Belieben zu steigern. Und mein Vergleich stimmt nur zur Hälfte, denn auch der Ausdruck seines Blicks verändert sich mit der Intensität.
»Ich kenne die Geheimnisse des BODENS nicht«, sagt der Inder, »und ich weiß deshalb nicht, wohin er Sie bringen will.«
»Nach Madrapour doch wohl«, sagt Caramans.
Caramans ist bleich, wie ich vermutlich auch, wie wir alle außer Pacaud mit seinem puterroten Schädel. Aber in seinem Äußeren ist er immer noch untadelig – ordentlich frisiert, korrekte Krawatte – und zieht auch weiter seinen Flunsch.
»Ich bin in Bhutan geboren, mein Verehrtester«, sagt der Inder. »Ich bin also durchaus berufen, Ihnen zu sagen, daß es östlich von Bhutan nicht die Spur eines Staates gibt, der sich Madrapour nennt. Madrapour ist das Produkt der blühenden Phantasie eines Witzboldes. Es gibt keine PRM. In diesem Gebiet gibt es auch kein Erdöl. Ebensowenig ein Vier-Sterne-Hotel am Ufer eines Sees, was mir für die Damen außerordentlich leid tut.«
Am meisten leid tut es indes den Damen selber. So absurd es klingen mag, der Verlust ihres Vier-Sterne-Hotels scheint ihnen näherzugehen als der Verlust des Staates, in dem sich das Hotel befinden sollte.
Ich erkenne an den japanischen Augen von Mrs. Banister, daß die Aussicht, in einer Holzhütte zu schlafen und »sich in einem Tümpel zu waschen«, für sie plötzlich kein Gedankenspiel mehr ist und daß sie sich von diesem letzten Schlag viel härter getroffen fühlt als von der Flugzeugentführung.
»Aber das ist doch unmöglich!« sagt sie und sieht den Inder flehentlich an, ohne dabei zu versäumen, mit ihrem aristokratischen Charme aufzuwarten. »Solche Scherze treibt man nicht mit den Leuten! Das ist abscheulich! Was soll nun aus uns werden?«
»Ich bin es doch nicht, der solche Scherze mit Ihnen treibt, Madame«, sagt der Inder mit der einstudierten verächtlichen Höflichkeit, deren er sich gegenüber Frauen bedient. »Ich begnüge mich, festzustellen: kein Madrapour und kein Hotel, das steht außer Frage.«
Aber Mrs. Boyd weigert sich, diesen Sachverhalt hinzunehmen. Ihr rundes Leckermaulgesicht wird rot, und sie ruft erbittert aus: »Ich habe doch Fotos von diesem Hotel auf einem Prospekt gesehen! So wie ich Sie jetzt sehe! Auch das Restaurant war abgebildet!«
»Sie haben die Fotos eines Hotels gesehen«, sagt der Inder, ohne sie eines Blickes zu würdigen, »und haben, auf einen Reiseprospekt vertrauend, geglaubt, daß sich dieses Hotel in Madrapour befände.«
Die Passagiere begehren auf, ungläubige Ausrufe werden laut, die der Inder durch ein Handzeichen einzudämmen versucht.
Am meisten überrascht mich die Haltung der Stewardess. Sie ist reglos und stumm, doch im Gegensatz zu der Ruhe, die sie eben noch an den Tag gelegt hat, spiegelt sich in ihrem Gesicht äußerste Bestürzung. Eine einfache Verneinung bringt zuwege, was weder die auf uns gerichteten Waffen noch der muskulöse Arm der Inderin, der ihren zarten Hals umklammerte, vermochten. Als der Pirat die geographische Existenz des Staates Madrapour leugnet, also noch bevor er das Vier-Sterne-Hotel zu einem Mythos erklärt, erbleicht sie und verzerrt sich ihr Gesicht. Ich gestehe, daß ich ihre Verwirrung in diesem Augenblick ebensowenig begreife wie ihre Ruhe zuvor. Es ist zwar völlig natürlich, daß sie fest auf die Existenz des Zielortes ihrer Maschine vertraut … Aber daß ein Pirat – der sich auf keinen Fall nach Madrapour begeben will, wenn er das Flugzeug entführt – sie mit seiner Skepsis in Verzweiflung stürzt, ist eine übertriebene oder zumindest mir unverständliche Reaktion.
Obwohl der Inder die Hand gehoben hat, hält die Unruhe der Passagiere an. Er beeilt sich nicht, sich Gehorsam zu verschaffen. Mit sardonischer Miene beobachtet er das Durcheinander, das er verursacht hat, und genießt ohne Zweifel unsere Heuchelei, denn schon vor seinem Eingreifen waren in unserem Kreis ernsthafte Zweifel über Madrapour aufgetaucht und eingehend erörtert worden.
»Gentlemen, Gentlemen!« sagt er schließlich und hebt erneut die Hand (er wendet sich nicht an die Frauen, obwohl er ihnen gegenüber sonst eine förmliche Höflichkeit wahrt). Und sobald es wieder ruhig geworden ist, fährt er mit eiskaltem Hohn fort: »Es steht Ihnen durchaus frei, meine Meinung nicht zu teilen. Wenn es Ihnen tröstlich ist, an die Existenz von Madrapour zu glauben, habe ich nichts dagegen.«
»Mir scheint, daß sich Ihr Standpunkt letzten Endes nicht sehr von dem der indischen Regierung unterscheidet, die die politische Existenz Madrapours nicht anerkennen will«, sagt Caramans.
Der Inder macht eine anmutige Gebärde der Verneinung.
»Keineswegs. Ich habe mit der indischen Regierung nichts zu schaffen (kurzes Auflachen). Meine Position ist grundverschieden: ich leugne die physische Existenz von Madrapour.«
»Und dennoch gibt es einen Reisebericht aus dem Jahre 1872, in welchem die Verfasser – vier Brüder namens Abbersmith – behaupten, auf Einladung des Maharadschas in Madrapour gewesen zu sein«, sagt Caramans nicht ohne Heftigkeit.
Der Inder zuckt die Brauen.
»Oh, ein Reisebericht!« sagt er spöttisch. »Hundert Jahre alt! Von vier Engländern geschrieben, die sich einen Scherz erlaubt haben! Snobistisch genug, um fiktive Verbindungen zu einem indischen Fürsten zu erfinden! Ich habe diesen Text gelesen, Monsieur Caramans. Er strotzt von Widersprüchen und Unwahrheiten. Das ist reinste Phantasterei!«
»Die Fachleute sind anderer Meinung«, sagt Caramans pikiert.
»Was für Fachleute?« fragt der Inder.
Diesmal heftet er seine Augen so intensiv auf Caramans, daß dieser verstummt. Aber er schweigt mit einer gewissen diplomatischen Würde, als wäre er einem Zwang gewichen. Und sein rechter Mundwinkel zittert, auch wenn er nicht spricht. Ebenso wie Blavatski scheint er, nicht ohne Schrecken, verstanden zu haben, wohin die Dialektik des Inders uns führt.
»Fachleute!« fährt der Inder fort, und obwohl sein Gesicht beherrscht bleibt, beginnt seine Stimme plötzlich vor Wut zu zittern. »Fachleute, die ein zweifelhaftes Dokument losgelöst von der indischen Realität prüfen! Ja, losgelöst von der indischen Realität: den Legenden! den Lügen! den Wundern! den Seilen, die sich frei in der Luft halten! den Pflanzen, die man wachsen sehen kann!«
Zu meiner Rechten spüre ich gleichsam einen Schlag, und als ich die Augen von dem Inder abwende – was mir sehr schwerfällt –, sehe ich, daß Blavatskis linke Hand zittert. Er muß die Richtung meines Blicks wahrgenommen haben, denn er krampft seine Finger mit solcher Kraft um die Sessellehne, daß sie weiß werden.
Ich fühle mich ein wenig verloren. Ich folge dem Gespräch von Anfang an mit größter Aufmerksamkeit, aber es gelingt mir nicht, zu begreifen, worum es sich wirklich handelt und warum Blavatski so ein entsetztes Gesicht macht. Gleichzeitig spüre ich Panik in mir aufsteigen.
Es ist Schweigen eingetreten, und Pacaud macht sich durch einige »Ah, äh« bemerkbar, die die Aufmerksamkeit auf seine hervorquellenden Augen und seinen puterroten Schädel lenken. Seine Erregung scheint jedoch unvergleichlich geringer zu sein als die Angst, die von Caramans und Blavatski Besitz ergriffen hat.
»Sie meinen also, daß es in Madrapour kein Furnierholz gibt?« fragt er auf französisch und sieht den Inder an.
Der Inder zieht fragend die Brauen hoch, und ich dolmetsche, erstaunt darüber, daß ein intelligenter Mann wie Pacaud in solcher Situation eine derart lächerlich egozentrische Frage stellen kann.
Natürlich lacht der Inder, wobei aber sein Lachen nichts weniger als fröhlich ist.
»Furnierholz oder Rauschgift«, sagt er mit einem verächtlichen Blick auf Chrestopoulos, »finden Sie überall in Indien, Monsieur Pacaud, jedoch nicht in Madrapour, weil es Madrapour nicht gibt. Offen gestanden, ich finde Sie nicht sehr seriös. Sie sollten ein für allemal auf Ihren Traum verzichten, für ein Butterbrot Rohstoffe aus unterentwickelten Ländern zu importieren oder auch, was auf dasselbe hinausläuft, auf Ihren Traum von minderjährigen indischen Mädchen, die von hungernden Eltern spottbillig vermietet werden.«
Bouchoix lächelt haßerfüllt, und obwohl der Inder keine Beweise für seine beleidigende Unterstellung hat, schenken wir ihm sofort Glauben, hätten es auch ohne das heimtückische Lächeln des Schwagers getan.
Die Wirkung auf Pacaud ist niederschmetternd. Er krümmt sich wie eine Spinne, die unter einen kochendheißen Wasserstrahl gerät.
Aber der Inder läßt nicht locker. Sein peitschender Blick ruht erbarmungslos auf Pacaud, und er sagt nach einer kurzen Pause: »Ich verstehe nicht, daß Sie sich noch für so nichtige Dinge interessieren, Monsieur Pacaud, wo es für Sie doch hier um Leben oder Tod geht.«
»Um Leben oder Tod?« Pacaud, der wieder etwas zu sich kommt, läßt seine großen entsetzten Augen in alle Richtungen schweifen, die des Inders ausgenommen. »Aber mir geht es doch gut! Ich bin völlig gesund!«
»Es geht um Leben oder Tod«, sagt der Inder achtlos und setzt leise mit einem angedeuteten Lächeln, diesmal ohne jemand anzusehen, hinzu: »Und nicht nur für Sie.«
Schweigen bricht herein, und das »Hereinbrechen« ist in diesem Falle keine Metapher, denn ich habe die Empfindung eines Sturzes, eines schrecklichen Sturzes, wie man ihn im Traum durchlebt, wenn einem der Boden unter den Füßen entgleitet und das Herz stockt.
Ich werfe einen Blick auf Caramans. Er ist starr und bleich. Und zu meiner Rechten umklammern Blavatskis Finger immer noch die Sessellehne. Chrestopoulos schwitzt aus allen Poren, den Mund aufgerissen, aber stumm, ebenso gelb wie seine Schuhe. Pacaud fällt zusehends in sich zusammen. Nur der ausgezehrte, leichenhafte Bouchoix, der an seinen Spielkarten fingert, wirkt ruhig, vielleicht weil ihm der Gedanke an den Tod zu vertraut ist, als daß er ihn sonderlich erschüttern könnte.
Der linke Halbkreis ist, bis auf Robbie und die Stewardess, gegenüber unseren Reaktionen noch sehr im Rückstand. Die Frauen sind nur irgendwie unruhig und hören sich alles an, was gesagt wird, jedoch mehr als Zuschauerinnen, als stumme Zeugen, so als wäre der strittige Punkt reine »Männersache«, von der sie sich ausgeschlossen fühlen.
Robbie setzt mich in Erstaunen. Die lebhaften, sprühenden Augen auf den Inder gerichtet, ist er anscheinend allem gefolgt und hat alles verstanden. Und ohne die geringste Besorgnis zu verraten, strahlt er beinahe vor Freude.
Mit seinem aprikosenbraunen Teint, mit den goldblonden Locken, die ihm in den Nacken fallen, den hellgrünen Hosen, dem azurblauen Hemd mit orangefarbenem Halstuch und, nicht zu vergessen, den nackten Füßen in den roten Sandalen – die Fußnägel rot lackiert – sieht er aus wie eine Maiwiese. Er ist offensichtlich nicht nur frei von Angst, sondern scheint an dem Gedanken, in den Tod zu gehen, sogar Vergnügen zu finden. Irgendwann nimmt er sein orangefarbenes Halstuch ab, glättet mit einer koketten, herausfordernden Gebärde die Spitzen seines Hemdkragens und sieht dabei den Inder trotzig an. Man könnte ihn für einen jungen französischen Aristokraten während der Schreckensherrschaft halten, der seinen schönen Kopf lächelnd zur Guillotine trägt.
Der Inder sieht uns an, und an einem leichten Zittern seiner Pupille spüre ich, daß er zuschlagen wird. Obwohl er englisch spricht, jenes high-class-Englisch, das in seinem Munde so unerträglich klingt, wie eine Parodie, scheint seine Assistentin im voraus zu begreifen, was er sagen wird, denn ihre fanatischen Augen bekommen einen zufriedenen Glanz.
»Ich möchte Ihnen meine Entscheidung erläutern, damit sie Ihnen nicht wie Willkür erscheint«, sagt der Inder. »Wenn Sie sie erst einmal begriffen haben«, fährt er mit verschleiertem Sarkasmus fort, »werden Sie, glaube ich, ihre Logik erkennen und sie vielleicht bereitwilliger akzeptieren, so unangenehm das für Sie sein mag.«
Bei dem Wort »unangenehm« deutet er ein höfliches Lächeln an, wie ein Chirurg, der an seinem Patienten eine kleinere Operation ohne Narkose vornehmen wird. Er fährt fort:
»Ich vermag nicht zu sagen, wohin der BODEN, dessen Absichten ich nicht durchschaue, Sie unter dem Vorwand einer Reise nach Madrapour bringt. Darüber weiß ich nichts. Das ist Sache des BODENS. Und natürlich auch die Ihre.«
Er sagt das halb ironisch, halb mitleidig (aber auch sein Mitleid ist grausam), als ob er uns das Lächerliche unserer Lage bewußtmachen wollte.
Was mich betrifft, gelingt ihm das. Ich habe den Eindruck, zu einem Insekt herabgewürdigt worden zu sein, das der Jäger achtlos unter seinem Stiefel zertritt. Ich fühle mich in einen schwindelerregenden Prozeß der Erniedrigung hineingerissen, den ich nicht zu schildern vermag. Ich sehe mich unsäglich schnell auf ein moralisches Nichts zusteuern. Man könnte meinen, daß die ganze schöne menschliche Würde, die im Verlauf so vieler Jahrhunderte zurechtgezimmert und mit Hilfe so vieler Legenden aufrechterhalten wurde, zusehends verfällt und daß allem, was unser Leben ausmacht, der Stempel der Bedeutungslosigkeit aufgedrückt wird.
»Sie verstehen, daß ich unter diesen Bedingungen nicht die Absicht habe, mich Ihrem Kreis einzugliedern«, fährt der Inder fort. »Meine Absicht ist es im Gegenteil, so schnell wie möglich das Rad zu verlassen, an das Sie gekettet sind. Ich weigere mich, für den BODEN einen Blankoscheck zu unterschreiben und mich blindlings an das von ihm bestimmte Ziel bringen zu lassen, sofern es überhaupt ein Ziel gibt und Ihre Reise einen Sinn hat.«
Er sieht uns an und mäßigt oder mildert dabei die Intensität seines Blicks.
Das Mitleid in seinen Augen ist diesmal offensichtlich nicht gespielt.
»Gentlemen«, fährt er fort, »als ich allein im Cockpit war, habe ich den BODEN aufgefordert, mich und meine Assistentin auf einem befreundeten Flughafen abzusetzen. Zur Klarstellung möchte ich sagen, daß meine Aufforderung auf zwei Hypothesen beruht: So wie Monsieur Pacaud nehme auch ich an, daß der BODEN mich gehört hat, obwohl es im Cockpit keine erkennbare Funkanlage gibt. Meine zweite Hypothese ist, daß der BODEN für Sie, die Passagiere, ein gewisses Interesse bezeigt, da er ja Ihre Reise in die Wege geleitet hat …«
»Nichts, absolut nichts gibt Ihnen das Recht, das zu unterstellen!« sagt Blavatski mit entsetzten Augen, zitternden Lippen und zitterndem Kinn.
Er vergißt sich so weit, daß er die Hand vom Sessel hebt. Als jedoch die Inderin ihre Waffe auf ihn richtet, legt er die Finger wieder an ihren Platz zurück und bleibt starr und steif sitzen. Desungeachtet fährt er mit der größten Heftigkeit fort:
»Ihre Annahme, daß der BODEN für uns Sorge trägt, ist völlig aus der Luft gegriffen! Und Sie, der Sie sich soviel auf Ihre Logik zugute halten, sollten der erste sein, das zuzugeben! Wenn der BODEN uns mit Madrapour getäuscht hat, wer wollte dann behaupten, daß er uns gegenüber wohlwollende Absichten hat? Und wie können Sie einfach sagen, daß der BODEN uns schützt, wo er uns doch belogen hat!«
Wenn man seine belegte Stimme hört – die fast klagend wirkt durch sein Bemühen zu überzeugen –, spürt man, daß er sich klar darüber ist, wie vergeblich alle seine Worte sind. Ich begreife nicht recht, worauf er hinauswill, aber meine Kehle schnürt sich bei dem Gedanken an das unvermeidliche Scheitern seines Versuchs beängstigend zusammen.
Ich weiß nicht, ob Blavatskis Einwand den Inder in Verlegenheit gebracht hat. Jedenfalls antwortet er nicht, und wer weiß, wie lange sein Schweigen noch gedauert hätte, wenn nicht ein unerwarteter Verbündeter ihm zu Hilfe gekommen wäre: Caramans richtet sich in seinem Sessel auf. Zuerst war er blaß, jetzt wird er puterrot. Er beugt sich leicht vor, um Blavatski sehen zu können, und sagt auf englisch in schneidendem, entrüstetem Ton:
»Ich kann nicht hinnehmen, daß Sie, Monsieur Blavatski, so etwas sagen! Das ist Ihrer und der öffentlichen Ämter, die Sie bekleiden, unwürdig! Wir haben absolut keinen Beweis, daß Madrapour nicht existiert und daß der BODEN uns belogen hat; vor allem kann überhaupt nicht die Rede davon sein, daß er uns gegenüber gleichgültig oder nachlässig wäre. Und es ist beschämend, daß Sie derlei öffentlich aussprechen!«
»Schweigen Sie, Caramans!« schreit Blavatski äußerst aufgebracht, während er sich in seiner Wut fast im Sessel aufrichtet. »Sie verstehen davon nichts! Also mischen Sie sich gefälligst auch nicht ein! Lassen Sie mich alleine machen! Mit Ihren idiotischen Reden verderben Sie alles! Und Ihre Ergebenheit gegenüber dem BODEN können Sie sich in den Arsch stecken!«
»Im Gegenteil, ich verstehe sehr gut«, sagt Caramans mit eiskaltem Zorn. »Ich verstehe, daß Sie im Begriff sind, zynisch eine ganze Gesellschaft zu verleugnen! Eine ganze Weltanschauung!«
»Eine Afteranschauung!« schreit Blavatski auf französisch.
»Gentlemen, Gentlemen!« sagt der Inder mit einer anmutigen, beschwichtigenden Gebärde. »Obwohl Ihr Streit für mich von höchstem Interesse ist und ich alle seine Widersprüche genieße, bitte ich Sie, da mich die Zeit etwas drängt, ihn auf später zu vertagen und mich meine Erklärung beenden zu lassen.«
»Aber das ist ungerecht!« sagt Blavatski verzweifelt. »Sie sind auf meinen Einwand gar nicht eingegangen! Lassen Sie mir wenigstens die Zeit, ihn zu entwickeln!«
»Ich gehe im Gegenteil ausführlichst darauf ein«, sagt der Inder. »Sie werden es sehen.« Er wendet sich uns zu, läßt seinen Blick über den Kreis schweifen und sagt in seinem Oxford-Englisch: »Ich erinnere Sie daran, was ich vom BODEN gefordert habe: mich und meine Assistentin auf einem befreundeten Flughafen abzusetzen. Ich habe dem BODEN eine Stunde Zeit gegeben, meiner Forderung nachzukommen. Wenn diese Frist verstrichen ist, werde ich mich zu meinem großen Bedauern gezwungen sehen, eine Geisel hinzurichten … Einen Augenblick bitte, ich bin noch nicht fertig. Wenn nach Hinrichtung der ersten Geisel eine zweite Stunde verstrichen ist, ohne daß wir gelandet sind …«
Er bricht den Satz ab, macht eine lässige Handbewegung, läßt die Lider zur Hälfte über seine dunklen Augen sinken und blickt uns so kalt an, als wären wir gar keine Menschen.