KAPITEL 10

Mir verschlägt es die Sprache. Mein Koffer enthält – oder besser: enthielt – Wörterbücher und Nachschlagewerke, die ich unbedingt brauche für die geplante Untersuchung (seltsam, daß ich nicht einmal vor mir selbst das Wort Madrapour auszusprechen wage). Aber im Moment berührt mich ein ganz anderer Aspekt dieser Entdeckung.

»Blavatski«, sage ich und halte ihn am Arm zurück (er bleibt sofort stehen und sieht mich mit gerunzelten Brauen über die Schulter an), »sagen Sie noch nichts zu unseren Reisegefährten, sonst sind sie wieder beunruhigt; sie werden früh genug erfahren, daß sie ohne ihr Gepäck abgeflogen sind.«

Massig steht Blavatski vor mir und ist doch gleichzeitig quirlig: eine Tonne, die sich um ihre Achse dreht. Er fixiert mich mit seinen stechenden grauen Augen. Ich weiß nicht, ob das mit seinen dicken Brillengläsern zusammenhängt, aber seine Augen wirken auffällig klein, zwei Dolchspitzen, die seinem Blick das Stechende geben. Er sagt nichts, kein einziges Wort, aber an seiner überheblichen Miene erkenne ich sofort, daß er meinen Vorschlag zurückweisen wird – mit einer salbungsvollen kleinen Moralpredigt. Ich glaube, daß ich alles in allem diesem Predigerton, auf den Blavatski bei großen Anlässen zurückgreift, seinen vulgären Jargon vorziehe, obwohl er mir ebenso affektiert erscheint, oder gar das dritte seiner Register – die kindlich-naive Aufgeräumtheit. Sein salbungsvolles Gewäsch ist um so unerträglicher, als es meistens egoistische Beweggründe verbrämt. In diesem Falle liegen sie klar auf der Hand: nachdem Blavatski entdeckt hat, daß unsere Koffer in Roissy geblieben sind, wird er nicht versäumen, sich bei unseren Reisegefährten mit dieser Entdeckung zu brüsten, und damit seinen Führungsanspruch, den er von Anfang an erhoben hat, bekräftigen.

Vorläufig läßt er mich in meiner Entrüstung schmoren. Kein Sterbenswörtchen. Schweigen. Unausgesprochene Mißbilligung. Ein stechender Blick wie ein Skalpell, der mich zerteilt. Die kräftigen weißen Zähne in einem verächtlichen Lächeln entblößt. Das kantige Kinn kampflustig vorgeschoben und das Grübchen darin auf dramatische Weise tief eingefurcht. Selbst sein störrisches Haar scheint sich zu wehren gegen einen Einfall, der von mir stammt und der immer nur der Gedanke eines Slawen ist – kapriziös und unzuverlässig, kein solider »angelsächsischer« Gedanke wie der seine. Denn er, Blavatski, handelt wenigstens, macht Front, kämpft, rückt von Entdeckung zu Entdeckung vor, greift in den Lauf der Dinge ein …

»Ich will doch hoffen, Sergius, daß das nicht Ihr Ernst ist«, sagt er bedeutungsvoll. (Aber gewiß doch, ich bin verantwortungslos!) »Es steht außerhalb jeglicher Diskussion, daß ich unseren Reisegefährten meine Entdeckung vorenthalte. Ich habe eine andere Vorstellung von Verantwortung (na bitte!); unsere Reisegefährten haben das Recht, genau zu erfahren, woran sie sind, und ich würde meiner Pflicht nicht genügen, wenn ich es ihnen verschwiege.«

»Ich sehe nicht recht ein, was das an den Dingen ändert«, erwidere ich. »Bei der Ankunft erfahren sie ohnehin, daß ihr Gepäck in Roissy geblieben ist! Warum dem vorausgreifen? Diese Reise war für sie schon beschwerlich genug!«

»Es steht Ihnen frei«, sagt Blavatski im Ton moralischer Entrüstung und fuchtelt mir mit seinem feisten Zeigefinger vor der Nase herum, »Ihre Reisegefährten zu belügen oder wie Kinder zu behandeln, die man vor der Wahrheit beschützen muß … Vielleicht darf ich nebenbei bemerken, daß die Stewardess diese Methode seit Beginn der Reise praktiziert hat. (Das im Tone böswilliger Unterstellung.) Ich dagegen halte meine Reisegefährten für erwachsene Menschen und habe nicht die Absicht, ihnen die Tatsachen vorzuenthalten.«

»Gut«, sage ich, verärgert über die Anspielung auf die Stewardess. (Denn in seinem Gesicht steht deutlich geschrieben: nicht genug damit, daß ich mich törichterweise in sie verliebt habe, ahme ich sie obendrein sklavisch nach.) »Sie teilen unseren Reisegefährten mit (ich senke die Stimme), daß sich ihr Gepäck nicht im Frachtraum befindet. Und dann? Was passiert dann? Nichts! Absolut nichts!«

»Was heißt hier nichts?« fragt Blavatski entrüstet. »Sie wissen dann Bescheid, das reicht doch!«

»Und was nützt es ihnen, Bescheid zu wissen? Können sie umkehren und ihre Koffer holen? Reklamieren? Den BODEN bitten, ihre Habseligkeiten mit dem nächsten Flugzeug nach Madrapour zu befördern? Schon jetzt ihre Versicherungsgesellschaft benachrichtigen? Sie selber sind unseriös, Blavatski.« Und in meiner Wut füge ich hinzu: »Sie scheinen sich einzubilden, daß dies eine Reise wie jede andere ist. Sind Sie dessen sicher? Und glauben Sie, daß wir zwangsläufig ankommen müssen, weil wir abgeflogen sind?«

Blavatski sieht mich sprachlos an, und ich bin selbst erstaunt über meine Worte, denn mir war nicht bewußt, daß ich bei meinen Überlegungen schon bis an diesen Punkt gelangt war.

Blavatskis Blick hinter den dicken Brillengläsern wird stumpf und verlischt; sein Körper, dieser zylindrische Block (ohne Taille, der Bauch so rund und massig wie der Oberkörper), scheint zu wanken.

Aber es ist nur eine momentane Schwäche. Eine Sekunde später ist er wieder da, fest auf seinen dicken Beinen stehend, mit angriffslustigem Kinn und stechendem Blick.

»Sie reden dummes Zeug, Sergius«, sagt er heftig und fügt wie zur Erklärung hinzu: »Übrigens sehen Sie heute morgen erbärmlich aus. Sind Sie krank?«

»Nein, nein«, sage ich hastig. »Ich fühle mich sehr gut, danke.«

Doch während ich diese Lüge über die Lippen bringe, kann ich es kaum erwarten, daß das Gespräch ein Ende findet, so mächtig ist mein Wunsch, mich zu setzen.

Mit Nachdruck, aber auch mit einer gewissen Hast, als ob er meinem Skeptizismus keine Zeit lassen wollte, das Terrain zu besetzen, fährt Blavatski fort: »Aber sicher werden wir ankommen, Sergius! Sie werden doch nicht annehmen, daß wir hundert Jahre in der Luft bleiben! Was hätte das für einen Sinn!«

Vielleicht ist es lediglich die Müdigkeit, daß mir unaufhörlich die Beine zittern, aber Blavatskis Vertrauen in die Logik der Dinge verursacht mir plötzlich Übelkeit, und ich rufe mit tonloser Stimme: »Hat vielleicht unser Leben auf der Erde einen Sinn?«

»Wie! das sagen Sie, Sergius? Sie, ein gläubiger Mensch?« Blavatski ist selbstverständlich kein gläubiger Mensch, würde aber um keinen Preis der Welt wagen, sich zu seinem Atheismus zu bekennen, zumindest nicht in seinem eigenen Land, aus Furcht, für einen Roten zu gelten.

Er kehrt mir den Rücken und geht in die erste Klasse zurück – ich folge ihm schwankend und lasse mich erleichtert in meinen Sessel fallen.

Ich habe noch mein Reisenecessaire unterm Arm und presse es unbewußt an mich wie meinen wertvollsten Besitz (der einzige, der mir verblieben ist). Und ich habe nicht einmal die Kraft zu lächeln, als sich die Stewardess mit ihren sanften, beunruhigten Augen über mich beugt und mir das Necessaire abnimmt, um es in meiner Reisetasche zu verstauen. Nachdem ich meinen Tee getrunken und die zwei Zwiebäcke gegessen habe, die sie mit Butter bestrichen hat, ist mir besser; trotzdem bleibt ein Gefühl der Schwäche und – wie soll ich es ausdrücken? – der Distanz gegenüber dem, was um mich herum geschieht.

Denn Blavatski verlangt gebieterisch Ruhe und berichtet inmitten allgemeiner Bestürzung und Konsternation mit wichtiger Miene von seiner »Entdeckung«. Die alte Mrs. Boyd bricht wie ein kleines Mädchen in Schluchzen aus und lamentiert wegen der Kleider, die sie im Vier-Sterne-Hotel von Madrapour nicht wird tragen können.

Auch ich bin niedergeschmettert. Aber mich trifft es nicht unvorbereitet. Ich erinnere mich an meine Besorgnis, als in Roissy die Stewardess meine Koffer, die ich irrtümlicherweise nach oben gebracht hatte, mit dem Lift wieder nach unten beförderte, durch Druck auf einen Knopf die Gepäckträger veranlassend, wie sie mir sagte, das Weitere zu besorgen: Gepäckträger, von denen ich unten nicht die geringste Spur gesehen hatte, deren Anwesenheit sie mir aber ausdrücklich bestätigte.

Hat sie sich getäuscht? Hat sie mich getäuscht? Wenn ja, in welcher Absicht? Und wie könnte ich sie der »Komplizenschaft« bezichtigen, da ich sie doch ohne irgendeine Tasche an Bord gehen sah, da sie hier neben mir sitzt und das uns bestimmte Schicksal teilt? Ich betrachte ihr zartes Profil, die Zeichnung ihres kindlichen Mundes. Ich brächte es niemals über mich, ihr dazu auch nur die geringste Frage zu stellen, obwohl mich der Verlust meines Gepäcks aufs empfindlichste trifft.

Wenn man jedoch, wie Blavatski, der Logik der Dinge vertraut, ist er nicht irreparabel. Sollten meine Koffer in Roissy geblieben sein, werde ich sie bei meiner Rückkehr dort wieder vorfinden. Und vorausgesetzt, daß wir wirklich nach Madrapour fliegen, braucht meine Reise nicht unbedingt ergebnislos zu sein. Bei meinen Forschungen über die Sprache Madrapours werde ich gewiß meine Lexika, meine Nachschlagewerke und mein Tonbandgerät vermissen, aber ich kann zumindest hören, Aufzeichnungen machen und versuchen, diese unbekannte Sprache einer bekannten Sprachgruppe zuzuordnen.

Solche Überlegungen kommen mir freilich nicht. Ich sitze schwach und mutlos in meinem Sessel und gebe mich der Verzweiflung hin. Ich werde den schrecklichen Eindruck nicht los, daß ich mit meinen Lexika für immer meinen Beruf als Linguist verloren habe, an dem ich so leidenschaftlich hänge, daß ich mein Leben lang hinter den Sprachen her gewesen bin wie ein Kapitalist hinter seinen Profiten.

Als ob es nicht möglich wäre, mir neue Lexika zu kaufen, wenn ich erst wieder auf der Erde bin! Es ist absurd, das spüre ich, aber meine Gedanken bewegen sich nur noch im Irrationalen. Ich stelle sogar eine Beziehung her zwischen dem Augenblick, als Blavatski mir mitteilte, daß der Frachtraum leer sei, und dem Augenblick, da mich die körperliche Schwäche überfallen hat.

Der Kreis steht an der Klagemauer, nur daß das Ritual fehlt. Aus dem Chor von Wehklagen hört man eine Oktave höher das Lamento der Verzweifeltsten heraus: Mrs. Boyd, Madame Edmonde, Chrestopoulos. Den Griechen kann man nicht ansehen. Schwitzend, weinerlich, übelriechender als sonst, scheint er einen Anfall von Selbstzerstörung zu haben. Er hämmert mit beiden Händen auf seinen Kopf ein und stößt scheußliche Flüche gegen sich und seine Vorfahren aus.

Madame Edmonde mit wogendem Busen und flammendem Blick ist zwischen Wut und Kummer hin und her gerissen. Aber sie ist wahrscheinlich weniger zu bedauern als Chrestopoulos, denn sie hat Robbie an ihrer Seite, der sie tröstet, während der Grieche, durch seinen Körpergeruch und seinen – möglicherweise unbegründeten – Ruf als Rauschgiftschmuggler isoliert, niemanden findet, der ihn tröstet, und kaum jemanden, der mit ihm spricht.

Was Mrs. Boyd betrifft, so sind ihre guten Manieren einer Bostoner Großbürgerin wie weggeblasen. Jedes einzelne Kleid beschreibend, das sie verloren hat, flennt sie hemmungslos unter dem kalten, verächtlichen Blick Mrs. Banisters, die sie gereizt mit spitzen Lippen tröstet. Denn selbstredend fühlt sich die Tochter des Herzogs von Boitel über solche Vorfälle erhaben, sosehr der Verlust ihrer Garderobe sie trifft. Und während sie an die Adresse von Mrs. Boyd Höflichkeiten herunterhaspelt, wirft sie dem links von ihr sitzenden Manzoni ironisch-komplizenhafte Blicke zu, als sollte er bezeugen, daß kein Kleid der Welt über den kleinen Wuchs, das Bäuchlein und die schlaffen Brüste ihrer Begleiterin hinwegtäuschen könnte. Da Mrs. Boyd aber hartnäckig ihrem Schmerz nachhängt, sagt Mrs. Banister schließlich in gleichermaßen liebenswürdigem wie hochmütigem Tonfall:

»Aber Margaret, nun verzweifeln Sie doch nicht! Sie sind doch nicht die einzige, die ihre Sachen verloren hat! Und dieser Verlust ist auch nicht unwiederbringlich!«

»Meinen Sie?« fragt Mrs. Boyd, inmitten ihrer Tränen ungeniert schniefend. »Mein Geld! Mein Schmuck! Meine Kleider! Man hat mir alles genommen!«

»Aber nicht doch«, sagt Mrs. Banister mit leichtem Spott, aus ihren japanischen Augen einen Einverständnis heischenden Blick auf Manzoni werfend, »man hat Ihnen nicht alles genommen! Ich kenne etliche Leute, die ganz gut zurechtkämen mit dem, was Ihnen bleibt! Nach der Ankunft in Madrapour rufen Sie Ihren Bankier in Boston an, und spätestens am Tag darauf erhalten Sie eine kleine telegraphische Anweisung.« (Bei diesem »klein« deutet sie einen Flunsch an.)

»Und was soll ich mir dafür kaufen? In diesem Land von Wilden!« sagt Mrs. Boyd, immer noch weinerlich, aber mit einem Anflug von Humor, weil sie wohl doch hinter der liebenswürdigen Fassade den Hohn wittert.

»Dasselbe wie ich!« erwidert Mrs. Banister. »Saris! Die sind wirklich entzückend und so weiblich. Ich bin sicher«, fährt sie mit einem an Manzoni gerichteten Lächeln fort, der seinerseits das Spiel mitspielt und zurücklächelt, »daß die Saris Ihnen sehr gut stehen werden: sie sind sexy und vornehm zugleich.« Mrs. Banister bedient sich ihrer Ironie in zweifacher Absicht: um ihre Freundin lächerlich zu machen und um Manzoni die Vorstellung von ihrem in indische Seide gehüllten schönen Körper einer reifenden Frau aufzuzwingen.

Mrs. Boyd wirft ihr einen spitzen Blick zu und hört auf zu weinen, ihr rundes Gesichtchen wird hart.

»Ich nehme an, ein Sari wird Ihnen vor allem in dem Moment nützlich sein, da Sie sich seiner entledigen«, sagt sie boshaft.

Gar nicht so dumm, diese Mrs. Boyd, und bei passender Gelegenheit imstande, trotz ihrer Apathie den Tomahawk zu schwingen. Ich rechne damit, daß Mrs. Banister ihr eine gehörige Abfuhr erteilen wird, aber keineswegs, sie schweigt: entweder hat sie ihre Gründe, mit Mrs. Boyd schonend zu verfahren, oder sie zieht es vor, ihren eigenen Skalp für die Attacke auf Manzoni zu verwenden, dem sie unvermindert ihr einladendstes Lächeln schenkt – mit oder ohne Sari.

Bei den Franzosen ist der erschöpfte, leichenhafte Bouchoix nicht mehr im Rennen, und alles spielt sich zwischen Pacaud und Caramans ab, im typisch französischen Ton der récrimination, wütend bei Pacaud, gemäßigt bei Caramans. Im übrigen mit unterschiedlicher Zielrichtung. Caramans in seiner förmlichen, entschiedenen Art hält es für »unzulässig«, daß Air France, wenn sie die Einrichtungen ihres Flughafens einer Chartergesellschaft zur Verfügung stellt, nicht auch folgerichtig für die Sicherheit des Gepäcks aufkommt. Pacaud fällt mit rotem Schädel und hervorquellenden Augen über die Gepäckträger von Roissy-en-France her. Wahrscheinlich haben sie auf Weisung einer roten Gewerkschaft unter Mißachtung der elementaren Rechte der Reisenden einen ungesetzlichen Streik vom Zaun gebrochen. Pessimistisch, wie die Franzosen von einer bestimmten Einkommensstufe ab sind, schlußfolgert Pacaud, daß sich in Frankreich die »Canaille« austobt und daß es mit dem Land »abwärtsgeht«.

»Sie werden Ihre Koffer schon wiederbekommen!« sagt Blavatski herablassend angesichts der Erregung der Franzosen. »Oder Sie erhalten eine Entschädigung! Machen Sie sich also nicht soviel Kopfzerbrechen! Das ist doch alles nicht so wichtig!«

»Wichtig ist es als Symptom«, sagt Robbie. »Es fügt sich so gut zu dem übrigen.«

Blavatski wirft ihm einen durchdringenden Blick zu.

»Wollen Sie sagen, daß es Absicht ist?«

»Und ob!« antwortet Robbie. »Und ob es Absicht ist! Der Verlust unseres Gepäcks ist Bestandteil der Prüfung, der wir unterzogen werden.«

Blavatski zuckt die Achseln, und Caramans hält mißgestimmt dagegen: »Das ist reine Phantasterei. Ihre Hypothese kann sich auf keinerlei Beweis stützen.«

In diesem Moment steht die Murzec auf, durchquert steif den linken Halbkreis und flüstert der Stewardess etwas ins Ohr. Letztere wirkt erstaunt, überlegt und sagt schließlich zögernd: »Ja, aber unter der Bedingung, daß Sie nichts anrühren.«

»Ich verspreche es«, sagt die Murzec.

Sie richtet sich auf und verschwindet hinter dem Vorhang zur Pantry.

»Wo geht sie denn hin?« frage ich verwundert.

»Sie hat mich gebeten, eine Weile im Cockpit allein sein zu dürfen.«

»Und Sie waren einverstanden!« ruft Blavatski mit funkelnden Augen.

»Gewiß doch. Was ist Schlimmes dabei?« fragt die Stewardess sanft. »Sie stört keinen.«

»Ich gehe zu ihr«, sagt Blavatski und hievt elastisch seinen schweren Körper aus dem Sessel.

»Nun lassen Sie doch Madame Murzec in Ruhe!« ruft Robbie mit unerwarteter Heftigkeit. »Sie hat genug gelitten! Sie sind unverbesserlich, Blavatski! Sie fallen in Ihre interventionistische Manie zurück! Immer spionieren Sie den Leuten nach, manipulieren sie, erheben Beschuldigungen oder üben Druck aus! Lassen Sie uns doch ein für allemal in Frieden!«

Allseits beifälliges Murmeln, und Blavatski, den Biedermann spielend, sagt katzenfreundlich: »Ich will sie ja nicht stören. Ich will nur sehen, was sie anstellt. Schließlich steht unsere Sicherheit auf dem Spiel.«

Leise verschwindet er auf seinen dicken Kreppsohlen hinter dem Vorhang.

Als er wenige Sekunden später zurückkommt, setzt er sich mit undurchdringlicher Miene auf seinen Platz, faltet die Hände und schließt die Augen, als wollte er schlafen. Für jemand, der seinesgleichen gerne anrät, »sich wie erwachsene Menschen zu benehmen«, finde ich dieses Theater ziemlich kindisch. Damit soll unsere Mißbilligung bestraft und unsere Neugierde geweckt werden. Aber Blavatski erlebt eine Enttäuschung. Denn niemand stellt ihm eine Frage. Und wenig später packt unser Bulle unaufgefordert aus.

»Ich bin jetzt beruhigt«, sagt er und läßt seinen Blick voller Ironie über uns schweifen. »Was sie da tut, ist harmlos. Madame Murzec kniet im Cockpit auf dem Boden und hält die Augen auf die kleine rote Lampe des Instrumentenbretts gerichtet …«

Er unterbricht sich, als hätte er schon zuviel gesagt, und Caramans fragt ungeduldig: »Und was macht sie?«

»Sie betet.«

»Ach so«, sagt Caramans, und die beiden Männer tauschen befriedigte Blicke.

Kein Zweifel: wenn die Murzec von einem mystischen Wahn befallen ist, wird die Schilderung, die sie von ihrem kurzen Aufenthalt auf dem Boden gegeben hat, suspekt.

 

»Betet sie leise oder laut?« fragt Robbie erwartungsvoll.

Blavatski sieht ihn mit stählernem Blick unfreundlich an: Dieser kleine Schwule erlaubt sich, ihm Fragen zu stellen, nachdem er sich erdreistet hatte, ihn anzuschnauzen. Blavatski antwortet trotzdem: das beinahe krankhafte Bedürfnis, sich mitzuteilen, siegt über seinen Ärger.

»Mit lauter Stimme«, sagt er, und seine Augen funkeln. »Nicht etwa gestottert. Im Gegenteil. Mit sorgfältiger Betonung und sehr deutlich.«

Er amüsiert sich sichtlich darüber, aber Robbie lächelt nicht.

»Was sind das für Gebete?« fragt er.

»Na, das Übliche.« Blavatski macht eine verächtliche Handbewegung. Und da Madame Murzec Französin ist, fährt er auf französisch fort: »Vater unser, der Du bist im Himmel, und so weiter.«

»Ach«, sagt Robbie, »sie hätte lieber beten sollen: Vater unser, der Du bist auf dem BODEN …«

Ich bin darauf gefaßt, daß er dieser Bemerkung sein gewohntes schrilles, unbeherrschtes Lachen folgen läßt. Aber nichts dergleichen. Sein Gesicht bleibt ernst und nachdenklich. Und da die Religion tabu ist, hat niemand Lust, zu diesem Thema noch etwas zu sagen. Der Kreis zieht sich ins Schweigen zurück.

Mir fallen die Augen zu. Ohne irgendwo Schmerzen zu spüren und ohne das geringste Symptom einer Krankheit, fühle ich mich so schwach, als hätte man mir die Hälfte meines Blutes abgenommen. Ich weiß auch, daß ich kein Fieber habe, und doch fiebert mein Hirn, bei aller Klarheit. Ununterbrochen geht mir Robbies Satz durch den Kopf: Vater unser, der Du bist auf dem BODEN. Nein, das ist kein Scherz. Ich spüre die Unruhe unter den hingeworfenen Worten.

Seit dem Augenblick, da der BODEN die Maschine hat landen lassen, zwingt sich mir eine Erkenntnis auf: alles, was wir sagen und tun, ist ihm sofort bekannt. Wie, über welche Mikrophone oder Abhörgeräte, ist unwichtig. Aber der BODEN weiß über alles Bescheid, über unsere Worte, unser Tun, unsere Gebärden, vielleicht sogar über unsere Gedanken. Er nimmt in unserem Flugzeug nach Madrapour (und er allein weiß, wohin wir wirklich fliegen) den Platz eines unsichtbaren, allwissenden Gottes ein.

Für einen gläubigen Menschen wie mich ist dieser Gedanke überaus verwirrend. Denn der Gott, zu dem ich seit meiner Kindheit bete, bedient sich nicht der Technik, des Fernsehens, der Abhörgeräte. Er verwendet keinen Computer, vier Milliarden menschliche Wesen zu erfassen (und später zu entlohnen). Außerdem hat er sich durch seine Propheten und durch seinen Sohn offenbart. Wir wissen von ihnen, daß ER uns liebt und uns retten wird, sofern wir IHM gehorchen. Aber was wissen wir, die wir hier im Kreis sitzen, möglicherweise für immer Gefangene im Flugzeug nach Madrapour, was wissen wir vom BODEN und seinen Absichten? Der BODEN hat sich niemals offenbart.

Man kann wohl vermuten, daß der BODEN das Leben Michous retten wollte, als er den Piraten gestattete, das Flugzeug zu verlassen. Aber der Inder selbst hat uns vor dieser beruhigenden Interpretation gewarnt. Bevor er ausstieg, hat er uns ausdrücklich nahegelegt, dem »Wohlwollen« des BODENS nicht zu sehr zu vertrauen. Und es ist tatsächlich möglich, daß der BODEN ihn und seine Gefährtin nicht Michous wegen an Land gesetzt hat, sondern weil ER sich darüber klargeworden war, daß die Anwesenheit des indischen Paares in der Maschine einen »Irrtum« darstellte, wie es der Inder selbst formuliert hat.

Wie dem auch sei, der wichtigste, niederschmetterndste Punkt bleibt für mich, daß sich der BODEN uns gegenüber nicht offenbart hat.

Dabei nimmt mit der Offenbarung alles seinen Anfang. Gott gibt sich dem Menschen zunächst zu erkennen und schließt dann mit ihm einen Bund. Solcherart können wir seinen Wünschen willfahren, ihn fürchten und ihn zweifelsohne auch lieben. Aber der BODEN, der uns unter dem Vorwand einer immer unwahrscheinlicher werdenden Reise nach Madrapour in dieses Flugzeug brachte, schweigt hartnäckig.

Da wir nicht wissen, ob ER uns liebt oder ob ER uns haßt, ob ER unser Überleben will oder ob ER uns den Tod bestimmt hat, lastet auf uns fortwährend seine stumme Tyrannei.

Zu ihm beten wie die Murzec? Aber was für ein Gebet soll es sein? Wir kennen nicht das uns von IHM bestimmte Schicksal. Und können wir uns denn in unseren Gebeten in aller Demut seinem Willen unterwerfen, wenn wir gar nicht wissen, was ER will? Ich frage mich im übrigen, ob wir, wie es die Murzec tut, den BODEN als einen Gott verehren sollen, nur weil er allmächtig, allwissend und unsichtbar ist. Sollte der BODEN nicht das Gute, sondern das Böse wollen, würden wir uns einer sträflichen Ketzerei schuldig machen, wenn wir ihn als Rivalen jenes Gottes anerkennten, den wir immer verehrt haben.

Während ich darüber nachdenke, beugt sich die Stewardess über mich, ergreift meine Hand und sieht mich mit ihren grünen Augen an. Je nachdem, was sie ausdrücken, wirken ihre Augen heller oder dunkler, als ob ihre Empfindungen zu jeder Zeit die Fähigkeit besäßen, die Intensität ihrer Augenfarbe zu verändern. Obwohl jetzt die Sonne durch die Kabinenfenster scheint, wirken ihre Augen fast schwarz.

»Geht es Ihnen besser?« fragt sie leise und beunruhigt. »Wo haben Sie Schmerzen?«

»Nirgends. Ich fühle mich schwach. Das ist alles.«

»Waren Sie denn schon vor dem Abflug krank?«

»Nicht im geringsten. Ich habe in meinem ganzen Leben außer einer gelegentlichen Grippe nichts gehabt.«

Sie lächelt mit mütterlicher Sanftheit, und ich vermute, daß ihr Lächeln die Besorgnis verbergen soll.

»Ich kann Ihnen außer Aspirin nichts geben. Wollen Sie eine Tablette?«

»Nein«, sage ich und zwinge mir ein Lächeln ab. »Danke, es wird schon besser werden.«

Aber ich weiß bereits, daß dem nicht so sein wird. Die Stewardess wendet sich ab. Sie hat gemerkt, daß dieses Gespräch mich angestrengt hat.

Ich folge der Richtung ihres Blicks: sie beobachtet Bouchoix, der mit geschlossenen Augen in seinem Sessel lehnt. Sein erschreckend abgezehrtes Gesicht hat eine wächserne, leichenhafte Färbung angenommen. Vor allem beeindrucken mich seine mageren gelblichen Hände, die sich auf der Decke verkrampfen, nicht weil Bouchoix leidet – sein Gesicht wirkt friedlich –, sondern auf Grund eines Reflexes, der sich bereits seinem Bewußtsein entzieht.

Die Stewardess begegnet meinem Blick. Sich zu mir beugend, daß sie mich fast berührt, sagt sie hastig: »Ich mache mir Sorgen um diesen armen Mann. Er scheint ziemlich am Ende seiner Kräfte zu sein.«

Mit gewohnter Geste schiebe ich meine linke Manschette hoch und erinnere mich im selben Moment daran, daß ich keine Uhr mehr besitze. Obwohl sich die Stewardess vorsichtig ausgedrückt hat, »er scheint ziemlich am Ende seiner Kräfte zu sein«, fürchtet sie offensichtlich, daß Bouchoix an Bord stirbt.

»Beunruhigen Sie sich nicht«, sage ich. »Nach dem Stand der Sonne zu schließen, können wir von unserem Ziel nicht mehr weit entfernt sein. Vier oder fünf Stunden höchstens.«

»Glauben Sie das?« fragt sie zweifelnd.

Aber sie bedauert auf der Stelle, solchen Einblick in ihre geheimsten Gedanken gewährt zu haben, denn sie blinzelt, errötet, steht unversehens auf und verschwindet in der Pantry. Ich wende mühsam den Kopf und schaue ihr nach. Wie immer, wenn sie sich entfernt, habe ich eine unangenehme Empfindung von Kälte.

Ich lasse meinen Blick über den Kreis schweifen. Obwohl ich jetzt zwischen meinen Reisegefährten und mir eine gewisse Distanz spüre, ist mein lebhaftes Interesse, ihr Tun zu beobachten, nicht geschwunden, im Gegenteil. Es mischt sich darein sogar eine gewisse Begierde, als ob allein durch die Beobachtung ihrer Vitalität, ihrer Gespräche, ihrer Liebesbeziehungen das Blut in mich zurückströmte, das ich verloren habe.

Manchen gegenüber hatte ich Feindseligkeit empfunden. Damit ist es endgültig vorbei. Auch mit den Werturteilen. Ah, die Moral! die Moral! Man sollte ihr mißtrauen! Sie ist das beste Mittel, nie etwas vom menschlichen Wesen zu begreifen.

Zum Beispiel Madame Edmonde: ich betrachte zu meiner Rechten diese prächtige Stute, deren üppige Formen beinahe das grüne Kleid mit dem großen schwarzen Rankenmuster platzen machen. Ich finde sie trotz ihres scheußlichen Berufs immer sympathischer – ihre Leidenschaft für Robbie ist überaus rührend. Am Anfang hat sie sich für ihn vielleicht nur deshalb interessiert, weil er neben Michou am meisten Ähnlichkeit mit einem jungen Mädchen hatte. Mit ihren blauen Augen sieht sie ihn unentwegt so verliebt an, als wollte sie ihn jeden Augenblick in die Touristenklasse entführen, ihm die Hosen herunterziehen und ihn vergewaltigen. Aber ich bin sicher, daß sie ihn über das Begehren hinaus auf robuste, vitale Weise ohne Umschweife zu lieben beginnt. Und er, der feine, zarte Robbie mit all seinen Raffinements der Kultur, die ihm einst als Rechtfertigung seiner Homosexualität dienten, ist fasziniert von dieser ungehobelten Liebe, die ihn beinahe von seinem Narzißmus befreit. Diese Liebe, in die er sich immer mehr hineinziehen läßt, muß für ihn auf paradoxe Weise pervers sein.

Zu meinem großen Erstaunen schlägt Bouchoix die Augen auf. Seine rechte Hand, eben noch auf der Decke verkrampft, unternimmt eine lange, zögernde, tastende Reise bis zu seiner Jackentasche. Nicht ohne Mühe holt er sein Kartenspiel heraus. Ein Ausdruck von Zufriedenheit breitet sich auf seinem abgezehrten Gesicht aus, auf seinen Wangen zeigt sich wieder etwas Farbe. Mit äußerst schwacher Stimme sagt er zu Pacaud:

»Wollen wir … pokern?«

»Geht’s dir denn besser, Emile?« fragt Pacaud, sogleich rot anlaufend, und seine Augen quellen hervor unter dem Eindruck einer absurden Hoffnung.

»Gut genug … um zu pokern«, antwortet Bouchoix mit dünner, abgehackter Stimme, die von sehr weit zu kommen scheint.

Im Kreis verstummen die Gespräche. Man könnte meinen, daß alle sogar vorsichtiger atmen, weil Bouchoix’ Stimme so zerbrechlich klingt.

»Aber du weißt doch, daß ich nicht gerne pokere, Emile«, sagt Pacaud verlegen. »Außerdem hab ich kein Glück. Ich verliere immer.«

»Du verlierst … weil du … schlecht spielst«, sagt Bouchoix.

»Ich kann nicht lügen«, sagt Pacaud, immer noch rot und bemüht, unbeschwert zu erscheinen – was ihm nicht völlig gelingt.

»Außer … in deinem … Privatleben.«

Schweigen. Betroffen sehen wir Bouchoix an, der seinen Groll offenbar mit ins Grab nehmen will. Pacaud schweigt stoisch mit hochroter Stirn, Michous Hand fest in der seinen haltend.

»Sie sind gemein!« sagt Michou, ohne jedoch Bouchoix anzusehen, als bezöge sich ihre Bemerkung allgemein auf die Welt der Erwachsenen.

Wiederum Schweigen.

»Spielst du nun?« fragt Bouchoix ungeduldig.

»Aber wir haben doch kein Geld!« sagt Pacaud. Und weil die Verlegenheit ihm die Zunge löst, fährt er fort: »Eigenartig, daß ich mich so nackt fühle, wenn ich keine Brieftasche in meiner Jacke habe. Ja, nackt. Und, wie soll ich sagen? (er sucht nach Worten) in meiner Männlichkeit beeinträchtigt.«

»Interessant!« sagt Robbie. »Soll das heißen, daß Ihnen der Druck der Brieftasche gegen Ihre Brust das Gefühl gab, ein Mann zu sein?«

»Genau«, sagt Pacaud, froh darüber, so gut verstanden worden zu sein.

Robbie lacht mit spitzem Mund.

»Wie sonderbar! Müßte nicht vielmehr das Gewicht Ihrer Hoden zwischen den Beinen Ihnen diese Empfindung geben?«

»Aber Süßer!« ruft Madame Edmonde, wieder schamhaft geworden, seit sie verliebt ist.

»Monsieur Pacaud«, sagt plötzlich Chrestopoulos, »zum Pokern braucht man nicht unbedingt Geldscheine. Sie nehmen ein Stück Papier, schreiben darauf: Bon für 1000 Dollar, und unterzeichnen.«

»Mademoiselle, haben Sie Papier?« fragt Pacaud die Stewardess, die gerade aus der Pantry zurückkommt.

»Nein, Monsieur«, antwortet sie.

»Wer hat Papier?« fragt Pacaud und läßt seinen Blick über den Kreis schweifen.

Offensichtlich hat sich niemand mit Papier versehen, mit Ausnahme von Caramans, in dessen Tasche sich unter den Akten ein unbenutzter Notizblock befindet, wie ich gesehen habe. Aber Caramans, die Augen halb geschlossen, die Lippe hochgezogen, rührt sich nicht. Entweder will er nichts rausrücken, oder er hat was gegen Glücksspiele, so wie ich.

»Das braucht kein besonderes Papier zu sein«, fährt Chrestopoulos lebhaft fort und beschreibt mit seinem kurzen Arm einen schwungvollen Bogen. »Mademoiselle, haben Sie unter Ihren Vorräten Toilettenpapier? Einzelne Blätter. Keine Rolle.«

»Ich glaube, ja«, antwortet die Stewardess und geht in die Pantry.

Pacaud lacht, halb jovial, halb verlegen, und sogar Bouchoix lächelt, aber bei seiner wächsernen Haut treten die Kieferknochen durch das Lächeln nur noch gespenstischer hervor. Das Vergnügen, das er bei diesem Kartenspiel – vielleicht seinem letzten – finden wird, flößt mir Entsetzen ein.

Die Stewardess kommt zurück und reicht Pacaud gleichgültig eine Packung Toilettenpapier.

»Damit wollen Sie spielen?« fragt Mrs. Banister mit spitzen Lippen.

“My dear”, sagt Mrs. Boyd, “don’t talk to these men!”1

»Notgedrungen«, antwortet Pacaud. »Und was soll ich jetzt machen?« fragt er, während er einen Kugelschreiber aus seiner Tasche zieht.

»Mademoiselle«, wendet sich Chrestopoulos mit schmieriger Höflichkeit an Michou, »würden Sie mir gestatten, mich neben Monsieur Pacaud zu setzen?«

»Bitte, Michou«, sagt Pacaud.

»Bitte, Michou«, äfft Michou ihn nach, ihre Locke im Gesicht, ohne aus ihrer Verärgerung ein Hehl zu machen. »Mir ist es doch schnuppe, neben wem ich sitze«, fügt sie mit kindlichem Trotz hinzu und setzt sich auf den Sessel, den zuvor der Inder eingenommen hatte. In ihrer Wut läßt sie den Kriminalroman (und Mikes Foto, an dem sie beim Lesen herumknabbert) fallen.

»Es ist nur für eine Sekunde, mein Engelchen«, sagt Pacaud, gerührt und auch beunruhigt über die kleine Szene, die sie ihm macht.

»Ich bin nicht Ihr Engelchen, Sie dicker Plumpsack.« Michou spricht in einem Ton, daß ich fast erwarte, sie wird ihm die Zunge zeigen. Aber sie steckt die Nase und die Locke in ihr Buch und schweigt, eine Ecke von Mikes Foto zwischen den Zähnen.

»Wenn Sie gestatten, Monsieur Pacaud«, sagt Chrestopoulos und beugt sich vor, so daß Pacaud mit angehaltenem Atem sofort zurückweicht, »Sie schreiben auf jedes Blatt: Bon für 1000 Dollar, datieren den Bon und unterzeichnen.«

»Nein«, sagt Pacaud lachend mit einem Seitenblick auf Blavatski. »Keine Dollar! Das wäre nicht seriös! Schweizer Franken oder Mark! Wie viele Zettel soll ich machen?«

»Dreißig für den Anfang«, sagt Chrestopoulos lächelnd mit fliehendem Blick und unglaublich hinterhältiger Miene. »Sie werden unser Bankier sein, Monsieur Pacaud«, fügt er mit geschwätziger Liebenswürdigkeit hinzu. »Sie geben jedem von uns zehn Scheine, und am Ende des Spiels zahlen wir Ihnen die Summe entsprechend unserem Gewinn oder Verlust zurück.«

»Bon für 1000 Schweizer Franken«, sagt Pacaud und beginnt mit leichter Hand zu schreiben.

In das folgende Schweigen hinein sagt Caramans kalt, jedoch ohne die Stimme zu heben: »An Ihrer Stelle, Monsieur Pacaud, würde ich meine Unterschrift nicht auf einen solchen Schein setzen.«

»Aber es ist doch Toilettenpapier!« meint Pacaud mit kurzem Auflachen.

»Das Papier tut nichts zur Sache«, sagt Blavatski.

Pacauds hervorquellende große Augen wandern von Caramans zu Blavatski. Beide zum erstenmal einer Meinung zu sehen scheint ihn zu beeindrucken. Aber im selben Moment fragt Bouchoix mit schwacher, vorwurfsvoller Stimme ungeduldig: »Worauf … wartest du denn noch?«

Der Tonfall besagt deutlich genug, daß sein Schwager ihn aus Egoismus des letzten Vergnügens in seinem Leben beraubt.

»Nun machen Sie schon, Monsieur Pacaud! Was befürchten Sie?« sagt Robbie plötzlich, wie immer voller Anspielungen. »Schreiben Sie, was Sie wollen! Datieren Sie! Unterzeichnen Sie! Das hat alles keine Bedeutung! Auch wenn Monsieur Chrestopoulos und die anderen Herren vom Gegenteil überzeugt sind.«

Pacaud begreift offenbar gar nicht, was Robbie damit sagen will. Von Bouchoix gedrängt, von Robbie beruhigt (den Madame Edmondes Enthüllungen über Pacaud nicht davon abhalten konnten, sich ihm gegenüber freundschaftlich zu verhalten), entschließt er sich, die dreißig Scheine in aller Eile auszufertigen. Er unterschreibt, gibt Bouchoix zehn, Chrestopoulos zehn und behält den Rest.

Ich schließe die Augen. Mir ist es zuwider, diesem Spiel zu folgen. Ich finde es absurd, deplaciert und letzten Endes demütigend für alle – auch für die unfreiwilligen Zuschauer. In diesem Moment von Bouchoix’ Reise, meiner Reise, unserer Reise, hätte ich weniger Nichtigkeit erwartet. Übrigens gibt es bei dieser Partie nicht den geringsten »suspense«: Das Ergebnis steht von vornherein fest.

Plötzlich kommt es zu einem kurzen Wortgeplänkel, das mich veranlaßt, die Augen wieder zu öffnen. Mit seiner samtigen Stimme sagt Manzoni lispelnd:

»Zwischen Ihnen und Monsieur Chrestopoulos ist ein Sessel frei: gestatten Sie mir, dort Platz zu nehmen?«

»Nein«, sagt Michou mit gestrengem Blick. »Ich brauche Sie nicht mehr, danke«, fügt sie mit einer Grausamkeit hinzu, die ihr wahrscheinlich gar nicht bewußt ist.

»Mein Engelchen!« sagt Pacaud vorwurfsvoll.

»Im Moment eine unverdiente Benennung«, meint Robbie.

»Kümmern Sie sich um Ihre dreckigen Karten«, sagt Michou und sieht Pacaud trotzig an, »und lassen Sie mich in Ruhe!«

Manzoni ist ein wenig bleich geworden, verzieht aber nicht das Gesicht; nur seine Finger verkrampfen sich auf den Sesselarmen. Er würde noch blasser werden, wenn er den Blick sehen könnte, den seine Nachbarin ihm durch die halbgeschlossenen Lider zuwirft – abermals bin ich betroffen, wieviel Ähnlichkeit diese Lidspalten mit Schießscharten haben. Gleicher Verwendungszweck: sehen, ohne gesehen zu werden; schießen, ohne getroffen zu werden …

Im selben Augenblick streckt Robbie seinen grazilen langen Arm aus, legt seine zarte Hand auf Manzonis Knie und läßt sie dort wie unbeabsichtigt liegen. Diese Geste, die ihn trösten soll, kommt einer Liebkosung sehr nahe, aber Manzoni duldet sie, vielleicht wegen ihrer Zweideutigkeit, vielleicht weil er in seiner Sensibilität – eine Eigenschaft, die zumindest ebenso wie seine Schönheit seinen Erfolg bei Frauen erklärt – den Freund nicht kränken will. Madame Edmonde jedoch reagiert ohne Verzug. Sie beugt sich zu Robbie vor und fährt ihn mit leiser Stimme wütend an. Wenn ich richtig höre, droht sie, ihm »ein paar Ohrfeigen zu verpassen«, und da sie ihn dabei grob am linken Arm packt, verzieht Robbie vor Schmerz das Gesicht und nimmt die schuldige Hand von Manzonis Knie. Letztendlich scheint er mit solcher Mißhandlung, Zurechtweisung und Bestrafung gar nicht unzufrieden zu sein, ohne indes die herrlichen Träume aufzugeben, die in den Windungen seiner Hirnhaut schlummern, den Italiener betreffend.

Im rechten Halbkreis hat sich unterdessen das Pokerspiel belebt, Bouchoix’ Augen glänzen in seinem starren Gesicht, obwohl er nur mit Mühe die Karten halten kann. Da teilt sich der orangefarbene Vorhang zur Pantry, und Madame Murzec taucht wieder auf, den Blick gesenkt, das gelbe Gesicht entspannt, dank der Andacht in ihrer Selbstsicherheit gefestigt. Sie plaziert sich bescheiden in einen Sessel, aber als sie schließlich aufblickt, strahlen ihre im Gebet sanfter gewordenen Augen dennoch ein unerträgliches Stahlblau aus, und sie bemerkt erstaunt das zu ihrer Rechten in Gang befindliche Spiel.

»Wie!« sagt sie entrüstet mit leiser Stimme, »haben sie den Kranken trotz seines Zustands zum Spielen verleitet?«

»Nein, nein«, gibt Mrs. Banister zur Antwort, »ganz im Gegenteil. Der Kranke hat die anderen verleitet«, setzt sie flüsternd mit heimtückischer Ironie hinzu.

»Und womit setzen sie, wenn sie doch kein Geld haben? Was sollen diese Zettel?« fragt die Murzec.

Weder Mrs. Banister noch Mrs. Boyd lassen sich herab zu antworten. Erst nach einer ganzen Weile beugt sich Robbie mit lebhaftem Blick so weit vor, daß er die Murzec sieht, und klärt sie auf.

»Jeder dieser Zettel ist dank einer von Hand vorgenommenen Aufschrift tausend Schweizer Franken wert. Es ist Toilettenpapier.«

»Wie abscheulich!« sagt die Murzec.

»Oh, Sie wissen doch, Geld stinkt nicht. Das ist sogar der stärkste Vorwurf, den man dem Kapitalismus machen kann.«

Dieser harmlose Angriff auf die Errungenschaften des Westens trägt Robbie einen mißtrauischen Blick Blavatskis ein. Das Angenehme an einem Bullen ist – und sei er noch so intelligent –, daß man förmlich sehen kann, wie sein Gehirn funktioniert. In dieser Minute könnte ich fast mit Sicherheit sagen, was Blavatski von Robbie denkt. Aber er irrt sich, denn Robbie ist zu sehr auf sich selbst ausgerichtet, um einer politischen Überzeugung zu folgen, sei es auch nur als Mitläufer und für kurze Zeit.

Wenn ich mich nicht bewege, spüre ich meine Schwäche, außer in den Beinen, nicht gar so sehr. Wie es ist, wenn einem die Knie weich werden, habe ich schon erfahren. Aber darin liegt eben der Unterschied: ich habe keine Grippe hinter mir und kann nicht auf eine allmähliche Besserung meines Zustandes hoffen. Mit wachsender Angst spüre ich, wie eine Krankheit von mir Besitz ergreift, von der ich nichts weiß und die weder Fieber noch Schmerzen noch sonst ein benennbares Unwohlsein mit sich bringt, sondern lediglich unendliche Schwäche und grenzenlose Müdigkeit. Ich vermute, daß schwerkranke Anämiker und sehr alte Menschen Tag und Nacht diese quälende Empfindung haben müssen, ihre Kräfte zusehends schwinden zu sehen.

Gleichzeitig spüre ich, vielleicht auf Grund meiner Erschöpfung, eine Reizbarkeit, der ich nur schwer Herr zu werden vermag. Alles ärgert mich, alles geht mir auf die Nerven, vor allem dieses Poker im rechten Halbkreis zwischen dem Sterbenden, dem Drogenhändler und dem Liebhaber »falscher Gewichte«. Nur mit Mühe ertrage ich ihre ernsten Gesichter, ihr Schweigen, das besessene Kartenmischen, ihre dramatischen Ansagen, das Rascheln der Zettel, die ihnen als Geld dienen. Ich schließe die Augen und sehe sie trotzdem, Gefangene ihres Rituals, bangend dem Köder ihres lächerlichen Gewinns nachjagend. Und ich spüre beinahe körperlich ihren beschleunigten Herzrhythmus, wenn einer von ihnen feierlich »zu sehen« verlangt und eine volle Sekunde verrinnt, ehe der Gegner seine Karten auf den Tisch legt. Obwohl ich von Natur aus tolerant bin, empfinde ich Ekel. Das menschliche Herz sollte für anderes als für Klopapier schlagen, scheint mir.

Je länger das Spiel andauert, um so mehr fühle ich Ekel in mir aufsteigen angesichts der Verlogenheit dieses stupiden Kults, der in aller Öffentlichkeit mit dem Zufall, dem Betrug und dem Geld betrieben wird.

»Schade, daß Sie nicht mehr Ihre Ringe haben«, sagt plötzlich Blavatski zu Chrestopoulos, während Pacaud, dessen Zettelvorrat immer kleiner wird, lange die Karten mischt. »Die hätten Sie setzen können.«

»Ich setze nie meine Ringe!« erwidert Chrestopoulos, als ob sie noch seine Finger schmückten.

»Ja gewiß, das wird nicht nötig sein«, meint Blavatski. »Sie verlieren wahrscheinlich nicht oft!«

»In der Tat«, entgegnet Chrestopoulos selbstsicher. »Ich gewinne. Und ich gewinne nicht, weil ich falschspiele, wie Sie, Monsieur Blavatski, mir unterstellen wollen. Ich gewinne, weil ich spielen kann.« Er fährt sich mit der Hand über die Stirn, um sich den Schweiß abzuwischen, und sagt dann nicht ohne Würde: »Als griechischer Bürger bedaure ich den rassistischen Charakter Ihrer Unterstellung.«

Blavatski antwortet mit keinem Wort, weder zu seiner Verteidigung noch zur Entschuldigung. Er sitzt da wie ein Klotz, die Lippen zusammengekniffen, die Augen hinter den Brillengläsern verborgen.

Daraufhin seufzt die Murzec und sagt betrübt: »Der Inder hat den großen Weg eingeschlagen, und wir schlagen den kleinen ein.«

Dieser geheimnisvolle Satz wäre ohne Echo geblieben, wenn Robbie ihn nicht aufgegriffen hätte.

»Was verstehen Sie unter dem ›großen Weg‹, Madame?« fragt er mit echter oder gespielter Ehrerbietung (ich lasse es dahingestellt). »Und woraus schließen Sie, daß der Inder ihn eingeschlagen hat?«

»Er hat es doch selbst gesagt: ›Ich bin ein Mann des großen Weges.‹«

Ihr Irrtum ist so offensichtlich und für mich als Linguisten so unerträglich, daß ich mich verpflichtet fühle einzugreifen.

»Verzeihen Sie mir, Madame«, sage ich auf französisch, »Sie machen einen kleinen Übersetzungsfehler. Der Inder hat zwar gesagt: I am a highwayman, aber das Wort hat im Englischen eine ganz andere Bedeutung, als Sie ihm geben. In Wirklichkeit bedeutet der Satz: Ich bin ein Wegelagerer.«

»Und Sie glauben wirklich, daß der Inder ein Bandit gewesen ist?« fragt Madame Murzec mit entrüstetem Blick.

Ich habe keine Zeit zu antworten, Madame Edmonde kommt mir zuvor.

»Das ist doch völlig klar!« schreit sie laut. »Er hat alles mitgehen lassen, dieser Schurke, sogar unsere Uhren! Und vergessen Sie nicht, daß er uns mit der Pistole in Schach gehalten hat und die Kleine beinahe abgeknallt hätte. Stimmt’s, mein Süßer?« Bei den letzten Worten legt sie ihre kräftige Faust auf Robbies zarte Finger.

Sie erfährt indessen von dieser Seite keine Ermutigung. Robbie lächelt ihr liebenswürdig zu, schüttelt aber den Kopf.

»Das kannst du doch nicht abstreiten, Süßer«, sagt Madame Edmonde mit heftig wogendem Busen. »Ich sehe den Typ noch vor mir, er hat in seiner Kunstledertasche alles mitgenommen!«

Die Murzec stößt einen Schrei aus, und alle Augen richten sich auf sie.

»Ah, jetzt erinnere ich mich!« sagt sie. Sie hat die Augen geschlossen, ihr Gesicht ist verkrampft.

»Woran erinnern Sie sich?« fragt Robbie sanft.

Sie schlägt die Augen auf.

»An die Inder, wie sie an dem See entlanggehen.«

Sie schweigt.

»Aber ja«, sagt Robbie sanft.

Er sieht Blavatski an und hebt beschwörend die Hand, um seinem möglichen Eingreifen zuvorzukommen. Dann fährt er fort, leise und behutsam, als fürchtete er, den Faden zu zerreißen, der die Murzec mit ihren Erinnerungen verbindet.

»Die Inder gehen vor Ihnen. Sie sehen sie von hinten, nicht wahr? Im Schein der Taschenlampe zeichnen sich schwarz ihre Umrisse ab. Sie sehen deutlich den Turban des Inders und die Kunstledertasche in seiner Hand. Er geht am Ufer des Sees entlang.«

»Es ist aber kein gewöhnliches Ufer«, sagt die Murzec, deren gelbliches Gesicht völlig erstarrt ist. »Es ist ein Quai.«

»Und in einem bestimmten Moment hat der Inder die Taschenlampe nach rechts geschwenkt, und Sie haben das Wasser gesehen?«

»Ich habe das Wasser und den Quai gesehen. Das Wasser war schwarz.«

Sie schweigt erneut.

»Und weiter?« fragt Robbie leise.

»Er ging dicht am Wasser entlang.«

»Am Rande des Quais?«

»Ja, am Rande des Quais. Er ließ die Kunstledertasche über dem Wasser pendeln.«

Wieder Schweigen. Chrestopoulos mit seinen Karten in der Hand hebt den Kopf und erstarrt.

»Was dann?« fragt Robbie.

»Dann hat er den Arm ausgestreckt und die Hand aufgemacht. Die Tasche ist hinuntergefallen.«

»Ins Wasser?«

»Ja, ins Wasser.«

»Das stimmt nicht! Das stimmt nicht!« brüllt Chrestopoulos und springt mit den Karten in der Hand auf. »Sie lügen! Sie haben das alles nur erfunden!«