»Sie konnten nicht?« fragt die Murzec.
»Nein, Madame«, sagt die Stewardess.
Schweigen. Ich nehme an, die Murzec wird hartnäckig bleiben und die Stewardess barsch zur Rede stellen, warum sie ihre Fragen nicht stellen konnte.
Nichts dergleichen geschieht. Und doch ist die Murzec mit ihrer eigensinnigen Stirn und ihren stahlblauen Augen die Verbissenheit in Person. Man kann sich nicht vorstellen, daß sie ihre Krallen einzieht, wenn sie sie erst einmal ausgestreckt hat.
Niemand schaltet sich ein. Weder der stets so selbstsichere Blavatski noch Caramans, der so auf seine Rechte pocht; weder der unverschämte Chrestopoulos noch die viudas, die sich in ihrer mondänen Rolle sonnen, und auch nicht Robbie, dem die Unverschämtheiten auf der Zunge liegen. Man könnte meinen, daß uns die Antworten auf die Fragen der Murzec nicht betreffen.
Zugegeben: an sich haben diese Fragen keine große Bedeutung. Aber das Ausbleiben einer Antwort stimmt bedenklich. Jedenfalls kann man die Haltung der Stewardess nicht hinnehmen.
Das aber ist der Fall. Wir schweigen alle, ich auch. Wir blicken auf die Murzec. Wir erwarten von ihr, daß sie nicht nachgibt. Unser Warten besagt: sie hat den Hasen aufgescheucht, soll sie ihn jetzt auch fangen!
Madame Murzec erfaßt sehr wohl die durchtriebene Feigheit unserer Haltung. Und sie schweigt. Vielleicht ist ihre Reaktion eine Art erbitterter Herausforderung: Ah, jetzt wollt ihr, daß ich rede! Schön, ich sage nichts!
Chrestopoulos bricht das Schweigen, aber nicht mit Worten, sondern durch Geräusche. Er stößt einen tiefen Seufzer aus und schlägt sich mehrmals mit seinen Patschhänden auf die dicken Schenkel. Ich weiß nicht, was diese Geste bedeutet: Ungeduld oder Unruhe.
Chrestopoulos, der immer schwitzt und der nie still sitzt und der sich höchst unwohl zu fühlen scheint in seiner Hose, die Falten wirft über seinem dicken Bauch und weiter unten über einem riesigen Gemächt, das ihn mit breit gespreizten Beinen zu sitzen zwingt. Er ist keineswegs ärmlich gekleidet. Man könnte ihm sogar übertriebenen Luxus vorwerfen, vor allem was Schmuck und Ringe betrifft, sämtlich aus Gold. Gelb sind auch die breite Seidenkrawatte auf seiner Brust und seine Schuhe. Man kann nicht einmal sagen, daß er schmutzig wirkt, trotz seines Körpergeruchs. Er gehört vielmehr zu jener Kategorie von Männern, auf denen nach zwei Stunden jedes Hemd zweifelhaft und jedes Jackett zerknittert erscheint: ihre Haut und ihr Körper sondern einfach zuviel Schweiß, Feuchtigkeit und Schleim ab. Sein runder Kopf trägt dichtes Haar in einer Farbmischung von Pfeffer und Salz, seine stechenden Eichelhäheraugen sind unruhig, seine buschigen schwarzen Brauen sind zusammengewachsen, und unter einer Nase von obszöner Form und Länge trägt er den dichten Schnurrbart eines türkischen Janitscharen.
Chrestopoulos schlägt sich ein letztes Mal auf die Schenkel und steht auf, nachdem er einen verstohlenen Seitenblick auf Blavatski geworfen hat. Er durchquert den rechten Halbkreis, hebt den Vorhang und betritt die Touristenklasse. Mit der verfliegenden Dunstwolke verschwindet der goldfarben glänzende Fleck seiner Schuhe. Wenige Sekunden später hört man, wie er völlig ungeniert die Toilettentür öffnet und schließt.
Blavatski schnellt hoch, durchquert den rechten Halbkreis in entgegengesetzter Richtung und holt zur allgemeinen Verblüffung unter dem Sitz von Chrestopoulos dessen Reisetasche hervor. Er stellt sie auf den Sitz, öffnet sie und fängt an, sie zu durchsuchen.
Das indische Paar, das rechts von Chrestopoulos sitzt und bisher durch seine Zurückhaltung auffiel, äußert Anzeichen von Erregung. Vielleicht wäre die Frau eingeschritten, wenn der Mann nicht sehr nachdrücklich seine Hand auf ihren Arm gelegt und sie mit seinen glänzenden schwarzen Augen angesehen hätte: sollte das indische Paar ebenfalls Veranlassung haben, Blavatskis Initiativen zu fürchten?
Die anderen Passagiere verhalten sich unterschiedlich. Und der erste, der lautstark reagiert – sogar noch vor Caramans –, ist ein glatzköpfiger Franzose mit hervorquellenden Augen, der links von Chrestopoulos sitzt.
»Was fällt Ihnen ein, Monsieur, Sie haben kein Recht, so was zu tun!« sagt er entrüstet.
»Das meine ich auch«, sagt Caramans auf englisch, mit gezielter diplomatischer Besonnenheit.
Blavatski ignoriert Caramans, wendet vielmehr seinen mit störrischem Haar bewachsenen Schädel kampfbereit dem Glatzkopf zu. Und während er weiterhin die Tasche des Griechen durchsucht, fragt er mit herablassender Arroganz: »Was veranlaßt Sie zu der Annahme, daß ich nicht das Recht habe?« Er spricht ein hervorragendes Französisch, aber mit starkem amerikanischem Akzent.
»Sie sind doch kein Zollbeamter«, erwidert der Franzose. »Und selbst wenn Sie es wären, hätten Sie nicht das Recht, die Tasche eines Reisenden in seiner Abwesenheit zu durchsuchen.«
»Mein Name ist Blavatski«, sagt Blavatski mit einem breiten Lächeln, bei dem er die Zähne entblößt, und mit kindlich-naivem Stolz. »Ich bin Agent des Narcotic Bureau.«
Er holt einen Ausweis aus seiner Tasche und zeigt ihn von weitem mit nachlässiger Geste dem Franzosen.
»Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, das Gepäck eines griechischen Passagiers in einem französischen Flugzeug zu durchsuchen«, sagt der Glatzkopf aufgebracht.
»Ich habe Ihnen meinen Namen genannt«, sagt Blavatski im Tone moralischer Überlegenheit. »Sie aber haben mir Ihren nicht genannt.«
Den Glatzkopf macht die Unschuldsmiene dieses Amerikaners, den er auf frischer Tat ertappt hat, wütend. Seine hervorquellenden Augen laufen rot an, und er sagt lauter als vorher: »Mein Name hat damit nichts zu schaffen!«
Blavatski, der sich entschlossen hat, den Inhalt von Chrestopoulos’ Tasche auf dem Sitz auszubreiten, ist dabei, das Futter der Kunstledertasche abzutasten. Ohne den Kopf zu heben, sagt er ermahnend: »Könnten wir uns nicht in aller Ruhe wie Erwachsene unterhalten?«
Der linke Nachbar des Glatzkopfes, eine furchtbar magere, fast abgezehrte Gestalt, beugt sich zu diesem und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der Glatzkopf, der schon explodieren wollte, faßt sich wieder und sagt trocken:
»Wenn Ihnen soviel daran liegt, stelle ich mich vor. Ich bin Jean-Baptiste Pacaud. Ich leite eine Firma, die Furnierholz importiert. Monsieur Bouchoix hier links neben mir ist meine rechte Hand und mein Schwager.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Pacaud und Mr. Bouchoix«, sagt Blavatski mit liebenswürdiger Herablassung. »Haben Sie einen Sohn, Mr. Pacaud?« Während er diese Frage stell, packt Blavatski seelenruhig die Gegenstände aus Chrestopoulos’ Tasche einzeln wieder ein.
»Nein, warum? Was hat das damit zu tun?« fragt Pacaud, dem die hervorquellenden Augen, wenn er ruhig ist, einen Ausdruck pausenlosen Staunens verleihen.
»Wenn Sie einen Sohn hätten«, fährt Blavatski mit der Würde eines Predigers fort, »sollten Sie sich wünschen, daß die großen und kleinen Rauschgifthändler unschädlich gemacht werden. Sehen Sie, Mr. Pacaud«, er schiebt Chrestopoulos’ Tasche wieder unter den Sessel, »wir haben Grund, anzunehmen, daß Madrapour eine der Hochburgen des Rauschgifthandels in Asien und Mr. Chrestopoulos ein wichtiger Mittelsmann ist.«
Caramans runzelt seine dichten schwarzen Brauen und sagt, den rechten Mundwinkel hochziehend, mit seiner scharfen Stimme auf englisch: »In diesem Falle hätten Sie Chrestopoulos’ Tasche auf dem Rückflug untersuchen müssen.«
Blavatski nimmt wieder mir zur Rechten Platz, beugt sich vor und lächelt Caramans mit leutseliger Überlegenheit an.
»Selbstverständlich suche ich hier kein Rauschgift«, sagt er in seinem schleppenden Tonfall. »Sie haben mich nicht ganz verstanden, Caramans. Chrestopoulos ist kein Schmuggler, sondern ein Mittelsmann.«
»Auf jeden Fall ist es ungesetzlich, das Gepäck eines Mitreisenden auf einfachen Verdacht hin zu durchsuchen«, sagt Caramans, während er wieder demonstrativ seine verächtliche Grimasse schneidet.
»Und ob! Und ob es ungesetzlich ist!« Blavatski lächelt gutgelaunt mit seinen kräftigen weißen Zähnen und wechselt übergangslos vom zynischen zum moralisierenden Ton. »Aber ich ziehe es vor, im Kampf gegen das Rauschgift der Gesetzlichkeit ein paar Stiche mit dem Taschenmesser zu versetzen, als Waffen an ein unterentwickeltes Volk zu verkaufen.«
Caramans runzelt die Brauen und zieht den rechten Mundwinkel hoch.
»Sie wollen sagen, daß die Vereinigten Staaten keine Waffen an unterentwickelte Völker verkaufen?«
»Ich weiß genau, was ich sagen will«, entgegnet Blavatski.
Der Ton zwischen den beiden Männern ist plötzlich so unerfreulich geworden, daß ich beschließe einzugreifen. Ich kann es mir leisten, weil die beiden – Caramans links und Blavatski rechts von mir – gleichsam über meinen Kopf hinweg die Kugeln wechseln.
»Meine Herren«, sage ich mit neutraler Stimme, »sollten wir diese Diskussion nicht lieber beenden?«
Aber Caramans kocht vor verhaltenem Zorn, obwohl er sehr ruhig wirkt. Er sagt leise und zähneknirschend: »Sie haben sich verraten, Blavatski. Sie sind nicht Angehöriger des Narcotic Bureau.«
Wie mir scheint, kommt das indische Paar in Bewegung. Aber das ist nur mein flüchtiger Eindruck, denn ich sehe in diesem Moment Blavatski an. Was für ein erstaunliches Gesicht! Alles Abwehr und Tarnung. Der Helmbusch seines Kopfhaars, seine dicken Brillengläser, die kein feindlicher Blick zu durchdringen vermag, und schließlich seine kräftigen weißen Zähne, die seinen Mund wie eine Panzerung verschließen. Ich gebe mich im übrigen keiner Täuschung hin. Im Schutze dieser Befestigung ist alles Angriff und Aggression der Blick, das Lachen, die Sprache, die arrogante Haltung und erstaunlicherweise auch die Aufgeräumtheit. Denn dieser massige Mann mit dem harten Blick besitzt gleichzeitig Charme. Und er setzt ihn bald für, bald gegen seinen Gesprächspartner ein.
»Langsam, langsam, Caramans«, sagt Blavatski und zeigt seine kräftigen Zähne, während die kleinen grauen Augen hinter der Brille funkeln, »Sie müssen nicht alles glauben, was Chrestopoulos Ihnen über mich gesagt hat! Dieser alte Halunke bildet sich ein, daß Sie gute Beziehungen zur PRM, zur Provisorischen Regierung von Madrapour, haben, und bemüht sich um Ihre Protektion. Ich habe mit dem CIA wirklich nichts zu schaffen. Natürlich«, fährt er fort und kneift die Augen zusammen, »mußte ich Erkundungen über meine Reisegefährten einziehen, was nicht schwierig war; dies ist eine Chartermaschine, meines Wissens die erste auf der Route Madrapour.«
Caramans gibt keine Antwort. Wenn ein Diplomat schweigt, hat es den Anschein, als ob er doppelt schwiege. Caramans greift nicht wieder nach Le Monde, die auf seinen Knien liegt. Er sitzt regungslos da, hält die Augen gesenkt, als betrachtete er seine Nase, und zeigt sich Blavatski in seinem strengen, geleckten Profil, das Haar frisch geschnitten und tadellos frisiert. Mir fällt auf, daß sein rechter Mundwinkel sogar im Ruhezustand leicht nach oben gezogen ist, als wäre sein Verachtung ausdrückender Tick nach und nach erstarrt.
Caramans bedauert sichtlich, zuviel gesagt zu haben, und er muß Gründe haben für seinen Wunsch, Blavatski möge nicht noch mehr auspacken. Aber Blavatski, das spüre ich, gedenkt nicht zu schweigen. Nach meinem anfänglichen Erstaunen, daß ein angeblicher Geheimagent in der Öffentlichkeit so viele Indiskretionen begeht, frage ich mich allmählich, ob das alles nicht Berechnung ist. Und ich bin dessen sicher, als Blavatski mit seiner schleppenden Stimme und gespielter Unschuldsmiene fortfährt.
»Glauben Sie mir, Caramans, ich habe mit dem CIA nichts zu schaffen. Ich interessiere mich nur für Rauschgift. Und Ihre Erdölgeschichten, Ihre Waffengeschäfte und Ihr tatsächlicher oder mutmaßlicher Einfluß auf die PRM, das schert mich den Teufel.«
Caramans springt auf, wirft rasch einen angstvollen Blick auf die übrigen Passagiere und sagt mit zusammengepreßten Lippen: »Jedenfalls vielen Dank, daß Sie soviel Reklame für mich machen.«
Blavatski bricht in kindlich-naives Lachen aus, doch dahinter verbirgt sich ein Frohlocken, das nach meinem Empfinden alles andere als liebenswürdig ist. Caramans vertieft sich aufs neue in Le Monde. Sein Gesicht ist durch die Anstrengung, sich zu beherrschen, versteinert. Der Zwischenfall ist erledigt, zumindest hat es den Anschein.
Schweigen. Da taucht Chrestopoulos auf, voran die gelben Schuhe und im Gefolge die Wolke billigen Parfums, und nimmt wieder seinen Platz zwischen dem Inder und Pacaud ein. Er war so lange weg, daß man sich fragen kann, ob er nicht hinter dem Vorhang der Touristenklasse gestanden und den ganzen Wortwechsel zwischen Blavatski und Caramans oder einen Teil davon belauscht hat.
An Bord dieser Maschine überrascht mich nichts mehr. Hat nicht Blavatski indirekt eingestanden, daß auch er, vielleicht auf dieselbe Weise, vielleicht mit einem raffinierten Gerät, mit angehört hat, wie Chrestopoulos wenige Minuten zuvor Caramans vor ihm warnte?
Die Stewardess kommt aus der Bordküche zurück und setzt sich am äußersten Ende des linken Halbkreises auf ihren Platz. Sie hält die Hände über den Knien gekreuzt und verharrt regungslos mit abwesendem Blick. Mir kommt ein seltsamer Gedanke. Ich habe den Eindruck – aber vielleicht hat man meinen Hang zum Mystizismus schon bemerkt –, daß eine Offenbarung von erheblicher Tragweite die Stewardess bedrückt: zum Beispiel das Verschwinden Gottes.
Ich weiß, was man mir entgegenhalten wird: daß es ebenso schwierig ist, Gott zu verlieren, wenn man ihn hat, wie ihn zu finden, wenn man ihn nicht hat. Durchaus einverstanden.
Darf ich jedoch an dieser Stelle von den Vorkehrungen sprechen, die ich treffe, um ihn mir zu bewahren? Da der Glaube ein Akt des Vertrauens ist, halte ich dafür, daß man blind vertrauen sollte. Eine himmlische List, wie jeder errät. Denn sobald der Zweifel auftaucht, ist er a priori verdächtig. Außerdem ist er unbequem und »macht sich nicht bezahlt«, wie die Engländer sagen. Ohne etwas zu gewinnen, verliere ich durch ihn alles – zumindest alles das, woran mir liegt: ein väterlicher Gott, ein Universum, das einen Sinn hat, und ein tröstliches Jenseits.
Eine Bemerkung noch zu diesem Thema: ohne mich als Beispiel hinzustellen, möchte ich sagen, wie ich mir meinen Frieden bewahre. Ich habe meinen Verstand in Schubladen verteilt, und in das kleinste, unzugänglichste, dunkelste Fach habe ich meine Zweifel eingeschlossen. Sobald einer wagt, den Kopf zu heben, stoße ich ihn mitleidlos ins Dunkel zurück.
Im Moment fühle ich beim Anblick der Stewardess, die Anzeichen ihrer Verzweiflung gewahrend, einen leidenschaftlichen Elan in mir. Ich habe Lust, aufzustehen, sie in die Arme zu nehmen, sie zu beschützen.
Ehrlich gesagt: mich selbst erstaunt es am meisten, in meinem Alter und bei meinem Äußeren so jugendlich zu sein. Aber sie fasziniert mich. Und ich sehe sie ohne jede Hemmung an, ich bin geblendet; Begierde, Zärtlichkeit und natürlich auch Mitleid ob ihrer tödlichen Angst überwältigen mich. Seit sie ihr Käppi abgenommen hat, trägt sie ihr schönes goldblondes Haar aufgesteckt, was ihren zarten Hals und ihre Züge viel besser zur Geltung bringt. Ihre fast meergrünen Augen kommen mir schöner vor, seit sie traurig sind. Unersättlich sehe ich sie an. Wenn das Auge Besitz ergreifen könnte, wäre sie schon meine Frau. Denn meine Absichten ihr gegenüber sind ehrenhaft, selbst wenn meine Hoffnung, Gehör zu finden, gering ist.
Nach einigen Minuten halte ich es nicht mehr aus. Es drängt mich nach einem Kontakt mit der Stewardess, sei er noch so bedeutungslos.
»Mademoiselle, würden Sie so freundlich sein und mir ein Glas Wasser bringen?«
»Aber gewiß, Mr. Sergius«, sagt sie. (Ich stelle erfreut fest, daß ich hier der einzige bin, den sie beim Namen nennt.)
Sie verschwindet in der Bordküche und kommt mit einem vollen Glas zurück. Sie trägt es auf einem Tablett, was unnötig ist, weil sie das Glas mit der anderen Hand festhält; vermutlich ist es einfach Vorschrift, das Tablett zu benutzen. Aber bei ihr rührt mich sogar diese bedeutungslose Geste.
»Bitte, Mr. Sergius«, sagt sie, und während sie sich, zwischen Blavatski und mir stehend, zu mir beugt, umfängt mich ihr frischer Mädchenduft.
Ich nehme das Glas, und weil sie Anstalten macht, sich abzuwenden, wage ich in meiner panischen Angst, daß sie sich so schnell entfernen könnte, eine unerhörte Vertraulichkeit: ich strecke den Arm aus, ich halte sie an der Hand zurück.
»Warten Sie bitte«, sage ich hastig. »Sie können das Glas gleich wieder mitnehmen.«
Sie lächelt, sie wartet, sie unternimmt nichts, sich zu befreien, und während ich voller Verwirrung trinke, betrachte ich heimlich ihre kleine Hand in meiner behaarten Pranke. Blavatski kehrt die Stewardess den Rücken zu, aber die Murzec hat verächtlich geschnauft, als sie meine Geste sah, und mein linker Nachbar Caramans zog seinen Mundwinkel etwas höher, ohne indes die Lektüre von Le Monde zu unterbrechen. Ich finde Caramans mit seinem korrekten Haarschnitt und mit seinem biederen Enarchenkopf1 plötzlich sehr unsympathisch.
Ich kann jedoch keine Ewigkeit damit zubringen, ein Glas Wasser zu trinken oder das leere Glas zu halten, auf das die Stewardess wartet, die in ihrer Melancholie dem Verkündigungsengel Leonardo da Vincis gleicht. Ich sehe wieder ihre traurigen Augen und frage leise: »Haben Sie Sorgen?«
»Wie sollte ich jetzt keine haben!« entgegnet sie, und ihre Anspielung, die zuviel oder zuwenig aussagt, bestürzt mich.
»Wissen Sie«, fahre ich fort, »was mich die Erfahrung gelehrt hat? Wenn man Probleme hat, braucht man nur lange genug zu warten, und die Probleme lösen sich von selbst.«
»Wollen Sie sagen, durch den Tod?« fragt sie angstvoll.
Ich bin betroffen.
»Nein, nein«, sage ich mit unsicherer Stimme. »Nein, nein, ich denke nicht so weit in die Zukunft. Ich will einfach sagen, daß sich mit der Zeit Ihr Blickwinkel verändert und Ihre Sorgen die Schärfe verlieren.«
»Nicht alle«, sagt sie.
Ihre Hand bewegt sich in der meinen wie ein kleines gefangenes Tier; ich lasse sie sofort los, gebe ihr das Glas zurück, und sie entfernt sich mit einem letzten Lächeln, mehr denn je eine geknickte Blume. Ich hatte den gewünschten Kontakt, doch von der Unruhe, die an ihr nagt, hat sie mir nichts gesagt. Ich bin noch nie einem so anziehenden und gleichzeitig so unerreichbaren Menschen begegnet.
Ich möchte auf die kreisförmige Anordnung der Sitze zurückkommen und zur Verdeutlichung eine Skizze anfertigen, welche zeigt, »wer neben wem sitzt«, wie die Engländer sagen würden.
Ich habe mein Vergnügen an dieser Skizze. Sie erinnert mich an die herrlich aufregenden kleinen Pläne der englischen Kriminalromane vom Anfang des Jahrhunderts. Nur mit dem Unterschied – ich sage es auf die Gefahr hin, von vornherein jegliche »Spannung« zu zerstören –, daß hier aller Wahrscheinlichkeit nach niemand ermordet wird, so gut »angelegt« Chrestopoulos in der einen oder anderen Rolle auch sein mag.
Meine Zeichnung zeigt deutlich die außergewöhnliche Sitzverteilung in der ersten Klasse, während die Anordnung der Sitze in der Touristenklasse herkömmlich ist. Die Einbuße an Plätzen ist augenfällig; die erste Klasse ist viel länger als zum Beispiel in einer DC 9, wo jedoch zwölf Sessel Platz finden, während wir hier nur sechzehn auf einer viel größeren Fläche haben. Daher Blavatskis Spitze: »Die Franzosen haben keine Ahnung von der Rentabilität eines Flugzeugs.«

Aber das ist natürlich der reinste Unsinn. Denn es wäre durchaus vorstellbar, daß ein Staatschef die Inneneinrichtung dieser Maschine so in Auftrag gegeben hat, um mit seinen Mitarbeitern während des Fluges beraten zu können. In einem solchen Falle hätte die Chartergesellschaft die Maschine aus zweiter Hand gekauft und sich einfach die Kosten eines Umbaus gespart.
Mich persönlich berührt diese Anomalie nicht übermäßig. Viel bestürzender finde ich, daß die Touristenklasse leer ist, daß der Flughafen Roissy-en-France verödet war, daß meine Koffer dort in einem Aufzug verschwunden sind; bestürzend finde ich die Anweisungen, die die Stewardess bezüglich der Pässe und des Bargeldes erhalten hat, und den im Sande verlaufenen Zwischenfall wegen der Bordinformation.
Ich fasse einen klugen Entschluß: ich will das alles vergessen während des fünfzehnstündigen Fluges, ich will mich nicht von vermutlich wenig begründeten Ängsten quälen lassen, ich will meinem ruhelosen Charakter nicht gestatten, mir die Reise zu verderben. Ich mache es mir in meinem Sessel bequem und suche Ablenkung, indem ich mir mit halbgeschlossenen Augen meine Reisegefährten ansehe.
Dabei mache ich eine amüsante Beobachtung: in der Art, wie die Leute Platz genommen haben, zeigt sich eine gewisse Geschlechtertrennung. Bis auf die Inderin findet man im rechten Halbkreis nur Männer: Geschäftsleute mittleren Alters und hohe Funktionäre. Im linken Halbkreis sieht man dagegen nur Frauen; Ausnahmen sind hier Manzoni, der sie sehr zu lieben scheint, und Robbie, der sie wohl weniger mag, sich aber Manzoni angeschlossen hat. Männer und Frauen dieser Seite scheinen – nach ihrer Kleidung und ihrem Auftreten zu urteilen – der Kategorie der reichen Touristen anzugehören.
Ich hatte es nicht sofort gemerkt, weil mich der Wortwechsel zwischen Blavatski und Caramans in Anspruch genommen hatte, aber auch der linke Halbkreis ist von Spannungen erfaßt, die zwar anderer Art, indes nicht minder stark sind als im rechten Halbkreis.
In der Tat kann ich beobachten, wie die Leidenschaften hin und her wechseln. Mrs. Banister, diejenige unserer beiden viudas, die nicht auf die Vergnügungen dieser Welt verzichtet hat, fühlt sich zu dem schönen Manzoni hingezogen, von dem sie leider durch Robbie getrennt wird. Dieser teilt, wie ich schon sagte, die Neigung seiner Nachbarin zur Rechten für seinen Nachbarn zur Linken; obwohl er jedoch taktisch besser plaziert ist, um Manzoni den Hof zu machen, hat er keine nennenswerte Aussicht auf Erfolg. Manzoni unterliegt, zumindest im Augenblick, dem Zauber der unreifen Frucht und konzentriert sich auf die junge Michou. Eine Locke im Gesicht, ist letztere in die Lektüre eines Kriminalromans vertieft und schenkt dem Italiener nicht die geringste Aufmerksamkeit. Michou ist gleichsam der Prellbock, wo dieser ganze Zug von Begierden zum Stehen kommt.
Weil Manzoni Michou ansieht, sehe ich sie auch an. Das ist besser, als wieder an meine Koffer zu denken oder die Ohren zu spitzen, um die Flugzeugmotoren zu hören.
Mir gefällt Michou ebenfalls, obwohl sie nichts von dem hat, was mich gewöhnlich an einer Frau reizt: weder Busen noch Hüften noch Po; eine niedrige Stirn und nicht viel dahinter. Trotzdem charmant. Zarte Züge in einem hübschen ovalen Gesicht und trotz ihrer Verschmitztheit naive Augen. Im 18. Jahrhundert wäre das eine rührende Schönheit gewesen, von Volants umrahmt. Im 20. Jahrhundert ersetzen verwaschene Jeans und ein Rollkragenpullover die Falbeln. In solcher Aufmachung könnte man sie für eine Arbeiterin in Papas Fabrik halten – nur daß der proletarische Pullover aus Kaschmirwolle ist. Und wenn ich ihr in den Mund schaute – aber das überlasse ich Manzoni –, bekäme ich ein von einem Luxus-Stomatologen unauffällig korrigiertes Gebiß zu sehen.
»Verzeihen Sie, Mademoiselle«, sagt Manzoni sotto voce in einem leicht lispelnden Französisch, »ich möchte Sie etwas fragen.«
Michou wendet den Kopf und sieht ihn durch ihre hellbraune Locke hindurch an.
»Fragen Sie«, sagt sie kurz angebunden.
»Eben haben Sie den Roman da zu Ende gelesen, und nun fangen Sie schon wieder von vorne an. Sie sind ein sehr geheimnisvolles Mädchen.«
»Ich bin überhaupt nicht geheimnisvoll«, sagt Michou. »Wenn ich zum Schluß komme, erinnere ich mich nicht mehr an den Anfang.«
Nachdem sie gesprochen hat, vertieft sie sich wieder in ihre Lektüre. Ich weiß nicht, ob es Absicht war, doch in der gegebenen Situation ist das eine gute Antwort: Manzoni weiß nicht, ob sie es ernst meint oder ob sie sich über ihn lustig macht.
Er entschließt sich nach kurzem Überlegen zu einem liebenswürdigen kleinen Lachen.
»Aber ist es nicht ärgerlich, ein so schlechtes Gedächtnis zu haben, wenn man einen Roman liest?«
»Das stimmt«, sagt Michou gleichmütig und ohne den Kopf zu heben. »Ich habe gar kein Gedächtnis.«
Erneut kurzes Auflachen Manzonis, immer noch liebenswürdig und neckend.
»Das spart auch viel«, sagt er. »Schlimmstenfalls könnten Sie immer dasselbe Buch lesen.«
»So weit geht es nicht«, sagt Michou in einem Tonfall, der es damit bewenden lassen will.
Die erste Offensive ist zurückgeschlagen. Manzoni schweigt. Aber er wird dennoch nicht aufgeben. Manzoni kennt die Tugenden der Beharrlichkeit, wenn es sich um Verführung handelt.
Ich sehe ihn mir an. Groß, kräftig, die Maske eines römischen Imperators, samtige Augen und eine Eleganz, die zwischen der Caramans’ und Robbies liegt.
Caramans ist unsäglich korrekt und badet in den Tönen Grau, Anthrazit und Schwarz. Robbie gestattet sich eine Orgie von Pastellfarben: hellgrüne Hosen und ein azurblaues Hemd; eine gewagte, jedoch etwas kalte Zusammenstellung, die nur durch das orangefarbene Tuch, das um seinen biegsamen Hals geschlungen ist, etwas Wärme bekommt. Der konventionellere Manzoni trägt einen hellen, fast weißen Anzug, dazu ein malvenfarbenes Hemd und eine marineblaue gewirkte Krawatte. Das ist weniger exzentrisch als Robbie, gesuchter als Caramans und, wie mir scheint, auch teurer. Manzoni hat sichtlich viel Geld, und ich bin sicher, daß er keinen einzigen Tag gearbeitet hat, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, was ich von Robbie nicht unbedingt sagen würde.
Es fällt mir schwer, Manzoni gegenüber objektiv zu sein. Sie werden mir entgegenhalten, daß ich bei meinem Äußeren gute Gründe habe, schöne Männer nicht zu mögen.
Das ist aber nicht meine Motivation. Vielmehr verabscheue ich an Manzoni die Frauenfeindlichkeit eines Don Juan. Man spürt genau: wenn er Michou »haben« könnte, würde er unverzüglich zur Stewardess, dann zu Mrs. Banister, die ihn durch ihre Raffinesse beeindruckt, und schließlich zu der Inderin überwechseln. Danach würde er sie alle verachten und kaum die Ankunft in Madrapour abwarten können, um die örtlichen Reserven auszubeuten.
Seine mit Verachtung des schwachen Geschlechts gekoppelte Unersättlichkeit bringt mich auf den Gedanken, daß Manzoni sich nicht grundsätzlich von Robbie unterscheidet, obwohl er das ganze Gegenteil zu sein scheint. Er muß Gründe haben – die er vielleicht selbst nicht kennt –, Robbies Huldigungen zu dulden, selbst wenn er vorgibt, sie zurückzuweisen. Er weist sie zurück, setzt ihnen aber kein Ende.
Manzonis erste Offensive in Richtung Michou hat Reaktionen im linken Halbkreis zur Folge. Madame Murzec, noch gelber als sonst, schnauft durch die Nase, was für sie eine verkürzte Form darstellt, ihre moralische Entrüstung auszudrücken. Die beiden viudas tuscheln miteinander, und die Mimik von Mrs. Banister verrät, daß es dabei zumindest von ihrer Seite nicht an Bissigkeit fehlt. Madame Edmonde, Michous linke Nachbarin – auf sie werde ich später zurückkommen –, scheint sehr aufgebracht zu sein, weiß der Teufel warum, denn sie sieht wahrhaftig nicht nach einer Puritanerin aus. Robbie nimmt Manzonis Offensive anscheinend mit einer gewissen Nachsicht auf. Seine lebhaften, funkelnden Augen wandern von einem Gesicht zum anderen; er sitzt anmutig in seinem Sessel und lächelt.
Seltsam, daß er nicht groß wirkt, sondern lang. Man könnte fast sagen, daß seine Männlichkeit sich in der Länge seiner Glieder aufgelöst hat. Mit seinen Beinen, die kein Ende nehmen und ständig ineinander verwickelt sind, und mit seinen langen, schmalen, an den zarten Gelenken abgewinkelten Händen wirkt er wie eine erschlaffte Blume auf einem zu hohen Stengel.
Man hätte erwarten können, daß Manzoni nach angemessener Zeit bei Michou einen neuen Vorstoß wagen würde, aber Michou wird selbst aktiv, und zwar wendet sie sich – was noch überraschender ist – an Pacaud.
»Monsieur Pacaud«, fragt sie unvermittelt, »was ist eigentlich Furnierholz?«
Von unserer »rührenden Schönheit« über sein Metier befragt, ist Pacaud dermaßen verwirrt, daß sein kahler Schädel rot anläuft. Den kräftigen Hals in die breiten Schultern gezogen, beugt er sich vor und sagt mit verächtlichem Lächeln:
»Das ist ein Holz, aus dem man Sperrholzplatten herstellen kann.«
»Und gibt es das nicht in Frankreich?«
»Das gibt es schon, aber wir importieren auch welches, vor allem Okumé, Mahagoni und Limbo.«
»Verzeihen Sie«, sagt Caramans förmlich, »aber ich glaube, man sollte besser Limba sagen.«
»Sie haben recht, Monsieur Caramans«, sagt Pacaud.
»Und wie werden die Platten hergestellt?« fragt Michou.
»Na ja«, sagt Pacaud mit einem kleinen Lächeln in seinen hervorquellenden großen Augen, »das ist ein ziemlich komplizierter Vorgang. Zuerst werden die Holzstämme getrocknet …«
Er zieht seinen Satz in die Länge. Robbie wendet sich an Michou und sagt:
»Lohnt es sich überhaupt, daß Sie das alles erfahren, wo Sie doch kein Gedächtnis haben?«
Rundum Gelächter, so sehr fürchtete man eine Abhandlung über Furnierholz. Robbie, der seine blonden Locken schüttelt und nach allen Seiten lächelt, scheint entzückt darüber, daß er mit Erfolg den kleinen Schelmen spielen konnte.
»Wie groß ist Ihr Unternehmen?« fragt Caramans mit hochgezogenem Mundwinkel und mit einer Miene, als wollte er dem Gespräch wieder eine ernsthafte Wendung geben.
»Tausend Arbeiter«, sagt Pacaud mit nicht sehr gut gespielter Bescheidenheit.
»Tausend Ausgebeutete«, sagt Michou.
Pacaud hebt die Arme hoch, wobei auffällt, daß seine Ärmel viel zu kurz sind. Wie viele Franzosen mittleren Alters scheint er dicker geworden zu sein, seit sein Anzug angefertigt worden ist.
»Eine Gauchistin!« sagt er, und seine Augen übertreiben den gespielten Zorn. »Sie selbst, Mademoiselle, rechnen sich gewiß zu den Ausgebeuteten?«
Michou schüttelt den Kopf.
»Nicht im geringsten. Ich habe niemals gearbeitet. Weder auf dem Lyzeum noch zu Hause. Ich bin der Typ des Parasiten. Ich lebe auf Papas Kosten.« Sie fügt nach kurzer Überlegung hinzu: »Allerdings ist Papa selber ein Parasit. Er ist Generaldirektor, so wie Sie. Übrigens haben Sie viel Ähnlichkeit mit ihm, Monsieur Pacaud. Derselbe Kopf, dieselben großen Augen. Als ich Sie sah, bin ich zusammengezuckt.«
Pacauds Schädel läuft erneut rot an, und er sagt mit einer Erregung, die er vergeblich unter einem feierlichen Ton zu verbergen sucht: »Glauben Sie mir, daß ich sehr glücklich gewesen wäre, eine Tochter wie Sie zu haben.« Und nach kurzem Zögern fügt er schroff und leiser hinzu: »Ich habe keine Kinder.«
Michou lächelt ihm sehr nett zu, und wir alle begreifen, daß Pacaud soeben eine Tochter gefunden hat, zumindest für die Dauer der Reise. Irgendwie bin ich froh darüber, denn Pacaud ist mir trotz einiger typisch französischen Fehler, mit denen er behaftet zu sein scheint, sympathisch. Madame Edmonde dagegen wirft Pacaud, der es geflissentlich vermeidet, sie anzusehen, einen höhnischen Blick zu. Und Madame Murzec verhärtet sich.
Noch bevor sie den Mund aufmacht, weiß ich, daß sie zum Angriff übergehen wird. Sie beginnt mit sanfter Stimme, der jegliche Schärfe fremd zu sein scheint.
»Glauben Sie nicht, Mademoiselle, daß Sie Ihre Faulheit etwas übertreiben?«
»Nicht im geringsten. Zu Hause hab ich nicht mal mein Bett gemacht. Ich konnte nicht. Ich lag drauf.«
»Aber doch nicht die ganze Zeit«, sagt Madame Murzec mit derselben gefährlichen Sanftmut und als wollte sie mit ihren Antennen vorsichtig den Punkt aufspüren, wo sie zuschlagen kann.
»Seit Mikes Abreise nach Madrapour, ja. Ich verbrachte meine Tage mit Kriminalromanen, ich lag dazu auf dem Bett und rauchte Zigaretten.«
»Aber sehen Sie, Kind«, entgegnet die Murzec in einem gütigen Ton, der ihre Kritik erheblich mildert, »ein solcher Müßiggang ist doch unentschuldbar.«
»Ich war nicht müßig. Ich wartete.«
»Worauf warteten Sie?«
»Ich wartete auf Mike. Als Mike mich vor sechs Monaten verließ, ist er in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, und von dort hat er mir geschrieben, daß er für eine Gesellschaft, die Gold sucht, nach Madrapour geht.«
»Gold in Madrapour?« fragt Blavatski erstaunt. »Wußten Sie das, Caramans?«
»Ich habe nie davon gehört.«
Sie sehen einander an, dann Michou, und als sie feststellen, daß ihr kurzer Wortwechsel das Mädchen in ziemliche Verwirrung gestürzt hat, schweigen sie wie auf Verabredung.
Die unerbittlichen blauen Augen der Murzec beginnen zu funkeln. In honigsüßem Ton sagt sie: »Hat Mike …« Sie unterbricht sich und fragt mit tückischem Wohlwollen: »Ich nehme an, daß Mike Ihr Verlobter ist?«
»In gewissem Sinne, ja«, sagt Michou.
»Hat Mike Ihnen aus Madrapour geschrieben?« fährt die Murzec fort, und ein sanftes Lächeln entblößt ihre nikotingebräunten Zähne.
»Nein«, sagt Michou, plötzlich ängstlich geworden, als ahnte sie den Hieb, den die Murzec gegen sie im Schilde führt. »Mike schreibt sehr selten«, fügt sie schuldbewußt hinzu.
Die Murzec fährt sich mit der Zunge über die Lippen.
»Mike hat Ihnen also nicht geschrieben, daß Sie zu ihm nach Madrapour kommen sollen?«
»Nein.«
Die Murzec richtet sich auf, ihre Augen funkeln, und sie stößt ihren gelben Kopf in Michous Richtung vor.
»Wie wollen Sie dann wissen, ob er noch dort ist, wenn Sie ankommen?« fragt sie mit sanfter, pfeifender Stimme.