KAPITEL 14

Die Stewardess serviert den Imbiß, und obwohl ich außerstande bin zu sagen, ob ich gegessen habe oder nicht, fühle ich mich sofort viel besser, vielleicht einfach deshalb, weil das Oniril zu wirken beginnt. Nicht daß meine Schwäche auch nur im geringsten nachgelassen hätte, aber wie soll ich es sagen? wenn ich mich nicht anstrenge – meinen Kopf zum Beispiel nicht wende und im Sessel mich nicht aufrichte –, vergesse ich sie und habe im Gegenteil ein belebendes Gefühl von Unbeschwertheit und Freiheit. Mir ist, als könnte ich wieder im lauen Abendwind am Strand entlanglaufen, springen und, wenn ich nur wollte, auch in den Lüften schweben. Dieses Gefühl einer gewissen Schwerelosigkeit geht mit dem neuen, berauschenden Eindruck einher, daß ich die Stewardess für mich habe, für mich allein, als ob eine lange währende Bindung (deren Anfänge ich vergessen habe) sie mir für alle Zeit zu eigen machte.

Diese Nacht war, wenigstens an ihrem Beginn, »die glücklichste meines Lebens«: ein absurder Superlativ, den man logischerweise nur in den allerletzten Atemzügen anwenden dürfte, sofern man dann noch Muße hätte, Bilanz zu ziehen.

Was ich jetzt erzählen will, kann ich im übrigen nicht für absolut sicher ausgeben. Wenn man die Euphorie in Rechnung stellt, zu der mir das Oniril verholfen hatte – vor der Episode, die ich berichten werde, in einen Glückszustand mich versetzend, der eigentlich ihr Ergebnis hätte sein müssen –, kann man sehr wohl denken, daß ich meinen Sessel nicht verlassen habe und alles sich in meiner von der Droge überreizten Phantasie abgespielt hat.

Damit das Gegenteil bewiesen wäre, müßte sich das Ereignis wiederholen. Leider habe ich die Gewißheit, daß es eine Wiederholung nicht geben wird. In Anbetracht dessen stelle ich mir unaufhörlich die Frage: Worin unterscheidet sich eine einmalige Erinnerung von einem Traum?

Ich kann es nicht eindeutig entscheiden, weil bestimmte Träume durch ihren zusammenhängenden Verlauf, durch ihre Anschaulichkeit, ihre innere Logik und die Fülle der Details einen Eindruck von wirklichem Geschehen vermitteln, der selbst beim Erwachen nicht völlig verfliegt. Hat man umgekehrt in bitteren Augenblicken der Einsamkeit und des Scheiterns nicht das Gefühl, daß die Erinnerungen, die uns bedrängen – zum Beispiel eine »große Liebe«, von der wir Monate oder Jahre glaubten, daß sie erwidert würde –, eher Träume als wirkliche Erlebnisse gewesen sind?

Kurz nach dem Imbiß (aber ich habe jedes Zeitempfinden beinahe verloren) sehe ich das bezaubernde Gesicht der Stewardess über mich gebeugt. Ihre grünen Augen ruhen mit einem so sanften, so zärtlichen, so vielversprechenden Ausdruck auf mir, daß ich abermals, nur hundertfach verstärkt, das Gefühl zu fliegen habe, mit dem ich eingeschlafen bin. Ich nehme an, sie steht, aber ich sehe ihren Körper nicht, nur wie in Großaufnahme das Gesicht über mir. Ich sehe sie ganz nahe, als läge sie in voller Länge auf mir, in jener Position, die eine Frau wie sie wohl leiden mag, wissend, daß ihr Körper ihrem Partner so rührend schlank und leicht erscheinen wird.

In Wirklichkeit kann die Stewardess diese Position nicht eingenommen haben. Der Sessel, in dem ich halb ausgestreckt liege, macht sie unmöglich, und außerdem spüre ich nicht ihr Gewicht. Sie berührt mich nicht, sie ergreift nicht einmal meine Hand: Ihr Gesicht scheint wenige Zentimeter über meinem zu schweben, und es wäre unbewegt gewesen, hätten ihre Augen nicht gesprochen.

Auch ihr Mund lebt. Nein, er ist nicht »zu klein«, wie ich unbesonnenerweise sagte, denn was ihm an Größe fehlt, wird mehr als wettgemacht durch ihre geschwungenen kindlichen Lippen und die Besonderheit ihres Lächelns, bei dem er sich kaum öffnet. Eine Doppeldeutigkeit liegt in ihrem Gesichtsausdruck, so zärtlich er sein mag. Der Blick ist ernst, der Mund verspielt.

Der Kopf der Stewardess – allein der Kopf, weil ich den Körper nicht sehe – bleibt lange über mir wie in der Schwebe, während mich Wärme in konzentrischen Wellen bis in die Hände und Füße durchströmt. Ihre Augen ruhen fast starr auf den meinen, aber die Lippen bewegen sich unmerklich wie die eines knabbernden, zuschnappenden Kätzchens.

Der Moment, auf den ich warte, kommt endlich. Leise, jedoch mit einer gewissen Feierlichkeit sagt die Stewardess: »Heute ist der 15. November.« Und drückt ihre kindlichen Lippen auf die meinen, als wäre es schon lange so zwischen uns vereinbart.

Ich bin erstaunt, daß der Kreis diesen Kuß sieht und trotzdem in keiner Weise reagiert, nicht einmal leise kommentiert, was insbesondere den viudas als schockierender Verstoß gegen die Etikette erscheinen müßte.

Im Augenblick fühle ich mich nicht ertappt, denn ich sehe den Kreis ebensowenig wie den Körper der Stewardess. Bis auf ihr Gesicht scheint alles von Nebel umhüllt zu sein. Und auch das Gesicht verschwindet, als ihre warmen, frischen Lippen mit den meinen verschmelzen.

Wieder einmal lassen mich meine Sinne im Stich. Ich bin außerstande, gleichzeitig den Anblick und die Berührung zu genießen. Im selben Moment, wo ich die Lippen der Stewardess spüre, empfinde ich einen kurzen dumpfen Schmerz: Ich bin ihr zu nahe, ich kann sie nicht mehr sehen.

Ich habe mich gefragt – im nachhinein –, warum die Stewardess mich aufgefordert hat, diesen 15. November als Anlaß künftigen Gedenkens in Erinnerung zu behalten, obwohl wir alle, wie Robbie sagt, »so wenig Zukunft vor uns haben«. Ich habe nicht die Zeit, mir weitere Fragen zu stellen.

»Kommen Sie«, flüstert die Stewardess. Ihre Finger umschließen die meinen, und sie zieht mich hoch.

Ich stehe auf meinen Beinen. Ich wanke nicht einmal. Ich habe überhaupt keine Empfindung von Schwäche.

Meine Hand haltend, zieht mich die Stewardess in den Mittelgang der Touristenklasse, ich folge ihr fast im Laufschritt und fühle mich außerordentlich beschwingt, meine Füße berühren kaum den Boden. Im Heck bleibt die Stewardess stehen, zieht einen kleinen Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnet eine niedrige, schmale Tür, die ich nur gebückt passieren kann.

Es ist eine Kabine. Zunächst setzt mich ihre ungewöhnliche Größe nicht in Erstaunen, und doch hätte ich mir als erstes die Frage stellen müssen: Wie hat man eine so weitläufige Kabine im Heck der Maschine unterbringen können?

Der unangemessene Stil der Möbel hätte ebenfalls meine Aufmerksamkeit erregen müssen, vor allem ein mächtiger Plüschsessel in Altgold, der keineswegs am Boden befestigt ist; die Stewardess schiebt ihn vom Bett ab, um sich einen Weg zu bahnen, bevor sie mich in dem Sessel Platz nehmen läßt. Erstaunlicher noch an einem solchen Ort ist das Bett, ein riesiges Doppelbett, und ich frage mich sofort, wie es durch die Türöffnung oder durch die Einstiegsluke am Heck gelangen konnte. Auf keinen Fall durch das Kabinenfenster, wo die Stewardess den kleinen Vorhang zuzieht, ebenfalls in Altgold. Sie schließt ihn mit solcher Sorgfalt, als ob uns jemand aus dem nächtlichen Wolkenmeer beobachten könnte. »So ist es gemütlicher«, sagt sie und sieht mich lächelnd an.

Ihre zarten Finger gleiten über meinen Hals. Sie geht an mir vorbei und schiebt an der Tür – die mir jetzt so klein erscheint, daß ich auf allen vieren kriechen müßte, um nach draußen zu gelangen – den vergoldeten Riegel vor.

Bis auf die Trennwand hinter dem Bett ist die ganze Kabine mit altgoldenem Samt ausgeschlagen, auch die Decke und ein Wandschrank, dessen Tür die Stewardess öffnet. Darin ist eine Kleiderablage, unten rechts entdecke ich einen kleinen Kühlschrank. Die Stewardess hängt ihre Uniformjacke auf einen Bügel, wendet sich dann zu mir und sagt mit einem freundschaftlichen Lächeln: »Hier ist es schön. Sie sollten Ihre Jacke ausziehen.«

Aber sie läßt mir dazu nicht die Zeit. Die Knie gegen meine Knie gepreßt, beugt sie sich vor und hilft mir, die Arme aus den Jackenärmeln zu ziehen.

Sie hängt meine Jacke sorgfältig auf einen der Bügel. Ich sehe sie an. Ohne Uniformjacke wirkt sie noch kleiner, ihr Busen noch fülliger.

Die Stewardess öffnet den kleinen Kühlschrank unter der Kleiderablage, holt eine Flasche Whisky heraus, schraubt den Verschluß ab und gießt den Inhalt in ein Glas, das sie mir reicht.

»Aber ich trinke keinen Alkohol«, sage ich.

»Trinken Sie«, sagt sie mit einem Lächeln. »Das wird Ihnen sehr guttun.«

Ich gehorche. Das große geriffelte Glas faßt sich kühl an in meiner rechten Hand und behagt mir; sobald ich zwei, drei Schluck getrunken habe, scheint mein Körper aufzuleben. Ich bin überrascht. Ich habe nie eine solche Wirkung des Alkohols gespürt. Mir kommt der absurde, romantische Gedanke, daß sie mir einen Liebestrank einflößt, und ich frage halb im Scherz, halb im Ernst: »Was gibst du mir zu trinken, Circe?«

Sie antwortet nicht. Und ich bemerke mit Erstaunen, daß sie vor mir kniet und dabei ist, meine Krawatte zu lösen: ich glaubte, sie stünde noch an der Kleiderablage und glättete ihre Bluse auf dem Bügel.

In diesem Moment habe ich den Eindruck, daß jemand uns zwei beobachtet. Mich in dem Plüschsessel sitzend, das halbgefüllte geriffelte Glas in der Hand, und die Stewardess kniend zu meinen Füßen, die Krawatte, die sie mir abgebunden hat, um den Hals und mit ihren zarten Fingern, deren leichte Berührung mir unendlich wohltut, die ersten Knöpfe meines Oberhemdes öffnend.

Ich drehe den Kopf nach rechts und ertappe mich, wie ich uns, sie und mich, in dem Spiegel beobachte, der die gesamte Wand hinter dem Bett einnimmt, das Bett und die ganze Kabine in der Länge verdoppelnd. Und ich stelle wiederum fest, daß ich sehr, sehr liebevolle Augen habe, deren treuer Hundeblick eine Frau erweichen könnte. Aber noch immer fühle ich dieselbe Überraschung und denselben Schmerz in mir: es geschieht kein Wunder, meine untere Gesichtspartie ist affenähnlich geblieben. Glücklicherweise sieht die Stewardess mich nicht an. Sie hat ihre schlanke Hand in mein Oberhemd gleiten lassen und streichelt sanft mein Brusthaar.

Ich trinke ein paar Schluck und lasse das leere Glas zu meinen Füßen niedergleiten, ich verliere jegliches Schweregefühl. Ich sitze nicht mehr in dem schweren Plüschsessel, ich finde mich auf dem riesigen Bett ausgestreckt, die Stewardess liegt nackt in meinen Armen, den Kopf in Höhe meiner Brust, an die sie ihr zartes blondes Gesicht drückt. Mit ihren grünen Augen sieht sie zu mir auf. Ich weiß, worum sie mich bittet: ihr hinterher die gleiche Zärtlichkeit zu bezeigen wie vorher. Ich bin bestürzt bei dem Gedanken, daß ein so schönes Mädchen meine Kälte fürchten könnte. Im Spiegel sehe ich, wie meine mit animalischer Aufrichtigkeit leuchtenden Augen ihr das geforderte Versprechen geben. Ein schweigendes Gelöbnis, das Gott weiß warum eine unermeßliche Zukunft einzuschließen scheint.

Aus Ehrfurcht vor ihrer Schönheit und aus Dankbarkeit für ihre unglaubliche Großmut wage ich nicht die geringste Bewegung zu machen, obwohl ich vom Kopf bis zu den Füßen zittere. Sie spürt es, glaube ich. Ihre zarten Finger gleiten über mein Brusthaar. Ja, du Schöne, ich bin dein Tier, für immer. Die Augen zur Decke gerichtet, will mir scheinen, ich sei fern der bösen Blicke mit dir in ein schalldichtes Gehäuse eingeschlossen, das plötzlich auf die Maße unserer beiden Körper geschrumpft ist.

 

Das Ende ist grauenvoll. Die Stewardess verschwindet. Das schalldichte Gehäuse schließt sich über mir, und ich liege allein in einem Sarg. Mit meinen kraftlosen Armen bemühe ich mich vergeblich, den Deckel zurückzustoßen.

In Schweiß gebadet, öffne ich die Augen. Im Flugzeug ist es bereits Tag geworden. Ich wende den Kopf zu den Kabinenfenstern, wo die Sonnenstrahlen hereinfluten. Diese einfache Bewegung erschöpft mich. Ich versuche, in meinem Sessel ein Stück zu rücken, und stelle fest, daß ich schwächer bin als am Abend zuvor. Überall bricht mir der Schweiß aus, auf der Stirn, im Rücken, unter den Achseln, und die Angst, von der ich mich befreit hatte, reißt mich erneut widerstandslos mit sich fort. Wahnsinnige Panik bemächtigt sich meiner. Wie jene Sterbenden, die das Bettzeug von sich werfen und mit den Augen ihre Kleider suchen, suche ich den Kreis ab, um einen Platz zu finden, wohin ich flüchten könnte. Ein schwarzer, bodenloser Abgrund scheint sich zu meinen Füßen aufzutun, mich zu verschlingen. Mein Herz hämmert. Meine Eingeweide krampfen sich zusammen. Meine Beine zittern. Endlos wiederhole ich mir den einen Satz, der mein ganzes Bewußtsein ausfüllt: »Diesmal ist es soweit. Diesmal ist es soweit. Diesmal ist es soweit.« Ich schwitze aus allen Poren, die Zunge klebt mir am Gaumen. Ich kann kein einziges Wort hervorbringen. Das entsetzliche Gefühl der Erschöpfung verschlimmert sich von Minute zu Minute. Mir ist, als entwiche meine ganze Kraft unaufhaltsam durch eine offene Wunde, die nichts und niemand schließen kann. Mein Kopf ist leer. Ich bin mir nicht mehr bewußt, ich selbst zu sein. Ich bin nur noch dieses abstoßende Entsetzen, das mich schüttelt.

»Hier ist Ihr Oniril«, sagt die Stewardess, und da ich nicht die Hand bewegen kann, schiebt sie mir das kleine Dragee in den Mund und hält mir ein Glas Wasser an die Lippen, damit ich trinke.

Ich sehe sie ganz aus der Nähe und blicke sie unverwandt an. Sie steht neben mir. Ihr Bild erscheint mir wie am Tag zuvor, in demselben Licht, aber nicht mit demselben Ausdruck.

Es trifft mich wie ein furchtbarer Schlag, und ich kann es zuerst gar nicht glauben: in ihren Augen ist keine Spur mehr von Zärtlichkeit. Während ich unter Schwierigkeiten trinke, denn auch das verlangt mir Kraft ab, sehe ich sie weiterhin an. Sie reagiert nicht darauf. Was ist geschehen? Bei aller Zurückhaltung, die sie in der Öffentlichkeit wahren muß, ist ihr Verhalten unerklärlich, denn gerade an solcher Zurückhaltung war ihr nie gelegen: seit dem Abgang der Inder durfte ich ihr in die Bordküche folgen, ihr beim Servieren helfen, mich neben sie setzen, ihre Hand nehmen.

Ich trinke, ich sehe sie an, ich kann in ihren grünen Augen nichts mehr lesen. Ihre Lippen sind in einem distanzierten, unpersönlichen Lächeln erstarrt. Mich überkommt ein Gefühl der Verlassenheit, das mir tausendmal schlimmer erscheint als die Todesangst beim Erwachen.

Sie entfernt sich. Vermutlich bringt sie das Glas in die Pantry zurück. Ich habe die schreckliche Vorstellung, daß man im Morgengrauen die sanfte, zärtliche Person der Stewardess gestohlen und nur ihre Hülle in der Chartermaschine zurückgelassen hat.

Eine Fremde setzt sich neben mich, die nichts mit mir verbindet. Um den Preis einer enormen Anstrengung – mir droht bereits die Ankylose – gelingt es mir, den Kopf zu drehen. Ich erkenne ihr goldblondes Haar, ihr zartes Gesicht, die kindliche Linienführung ihres Mundes. Aber sie ist es nicht, dessen bin ich jetzt sicher, denn auf das stumme Flehen meiner Augen hin hätte sie sich mir bereits zugewandt. Ihre Lider bleiben gesenkt, ihre Hände ruhen auf ihren Knien. In ihrem Gesicht steht ein Ausdruck professioneller Langeweile, wie ihn die Stewardessen der Langstreckenflugzeuge zur Schau tragen, deren Aufgabe zur Hälfte aus endlosem Warten besteht.

Sie ist mir so nahe, daß ich sie anfassen könnte, wenn ich die Hand ausstreckte, aber ich spüre, daß ich es nicht tun werde: Ich bekomme allmählich Angst vor ihren Reaktionen. Ihr Körper, dessen Zierlichkeit und Biegsamkeit ich so bewundert habe, erscheint mir plötzlich steif und hart; unvorstellbar, daß ihre Arme sich um meinen Hals schlingen könnten. Ich starre sie an, und die Kehle schnürt sich mir zu. Wenn mir, wie Robbie meint, nur mehr wenig Zeit zu leben bleibt, so ist das wenige noch zuviel, den Schmerz über ihren Verlust zu ertragen.

»Mademoiselle«, sagt Madame Murzec, »ich glaube, Mr. Sergius möchte Sie um etwas bitten.«

Die Stewardess wendet mir den Kopf zu. Und abermals trifft mich ein furchtbarer Schlag. Ihre Augen sind leer. Höflich, aber leer.

»Brauchen Sie etwas, Mr. Sergius?« fragt sie beflissen. Ich öffne den Mund und stelle fest, daß ich kaum Kraft zum Sprechen habe.

»Sie sehen«, sage ich ziemlich undeutlich.

»Gehen?«

»Sie sehen.«

Sie wirft einen flüchtigen Blick in die Runde und deutet ein verlegenes Lächeln an, gefolgt von einem nachsichtigen Flunsch.

»Bitte, Mr. Sergius«, sagt sie mit einer Munterkeit, die nicht echt klingt, »Sie sehen mich.«

Ihr Mienenspiel, das unter der gespielten Anteilnahme soviel Gleichgültigkeit verrät, durchbohrt mich wie ein Dolch. Unmöglich, sie kann sich in so kurzer Zeit nicht so verändert haben. Ich stelle mir erneut dieselbe verzweifelte Frage: Ist sie es wirklich, die so spricht?

Ich mache einen letzten Versuch.

»Mademoiselle, würden Sie … meine Hand halten?«

Mehr dem Kreis zugewandt als mir, zeigt sie wieder dieses verlegene Lächeln, zuckt unmerklich die Schultern und sagt leichthin in herablassendem Ton: »Gewiß doch, Mr. Sergius, wenn es Ihnen Freude macht.«

Der Ton besagt, daß die Launen eines Schwerkranken durchaus entschuldbar sind. Die Stewardess läßt eine Sekunde verstreichen und ergreift dann mit Vorbedacht meine Hand. Bei dieser Berührung erwacht in mir neue Hoffnung, die aber sofort verlischt. Ich erkenne die Finger der Stewardess nicht wieder. Sie bleiben gefühllos, reglos, ohne Zärtlichkeit. Sie halten meine Hand wie irgendeinen bedeutungslosen Gegenstand, den man genausogut auf ein Möbelstück legen und dort vergessen könnte. Eine unmenschliche Berührung, von Zärtlichkeit so weit entfernt wie die Geste des Arztes, der Ihnen den Puls fühlt.

Dieser Augenblick ist schrecklich. Ich tauche auf den Grund jener Verzweiflung, bei der man ungläubig vor einer Situation steht, die man nicht begreift. Denn selbst wenn ich mir eingestehe, daß die Szene in der Kabine nur eine Halluzination war, wie soll ich deuten, was ich von Anbeginn für ein zärtliches Einvernehmen zwischen der Stewardess und mir gehalten habe? Da war ich noch bei guter Gesundheit, befand mich in einem normalen Zustand, hatte keinerlei Drogen zu mir genommen.

Ich lasse ihre Hand los, schließe die Augen, versuche nachzudenken, was nicht leicht ist, denn gleichzeitig hält mich die Todesangst umklammert.

Ich ziehe eine Möglichkeit in Betracht: Die Stewardess hat wirklich Zärtlichkeit für mich empfunden, aber der BODEN hat sie auf mir unbekanntem Wege wissen lassen, daß ich ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig sei. So hat sie mich auf den Platz eines einfachen »Passagiers« unter vielen verwiesen. Selbst auf der Erde kann eine keimende Neigung zerstört werden, wenn sich ein Mädchen seiner »besten Freundin« anvertraut, die den Verehrer herabsetzt und verspottet.

Aber es gibt auch eine andere Möglichkeit, die ich nicht ausschließen kann, obwohl sie mich schaudern macht. Habe ich mir vielleicht von Anfang an, nicht unter Drogeneinfluß, sondern allein durch meine eigene Leidenschaft vergiftet, die Blicke, das Lächeln, den wechselnden Tonfall der Stimme, die Finger in meiner Hand – »liebevolle kleine Lebewesen« – nur eingebildet?

Wenn ich das alles wirklich geträumt habe, wenn die Stewardess von Anfang an nur eine Fremde für mich war, wenn diese unermeßliche Liebe nichts anderes gewesen ist als eine Ausgeburt meiner Phantasie, dann gibt es nichts mehr auf der Welt, dessen ich sicher wäre. Nichts von alledem, was ich erzählt habe, wäre verbürgt. Ich bin der einzige, anfechtbare Zeuge einer Geschichte, über die niemand die Wahrheit zu erfahren vermag.

 

Meine Beklemmung legt sich allmählich. Ich fühle mich besser. Aber diesmal weiß ich, daß es das Oniril ist, das seine Wirkung tut. Egal. Wichtig ist, daß ich zu dem Ereignis und zu meinem eigenen Schicksal einen wunderbaren Abstand gewinne. Man könnte sagen, daß mich das alles nicht mehr betrifft. Ich beobachte es beinahe belustigt aus der Ferne, aus großer Ferne. Alles verflüchtigt sich. Ich falle nicht länger auf meine eigene Geschichte herein. Ich merke endlich: alles, was mit diesem Flugzeug zusammenhängt, ist von beängstigender Falschheit. Die Chartermaschine fliegt nicht nach Madrapour, das Oniril ist kein heilendes Medikament. Meine Krankheit ist ein vorgetäuschter Irrtum. Die Stewardess liebt mich nicht.

Aber was liegt mir schon daran! Mit einem Gefühl unglaublicher Leichtigkeit löse ich mich zusehends vom Rad der Zeit. Als ob ich gar nicht mehr unter ihnen wäre, lasse ich meinen Blick über die Passagiere schweifen. Diese doppelzüngigen Brüder lächeln mir ermutigend zu, als wollten sie mich ebenfalls glauben machen, daß meine tödliche Schwäche ein »Irrtum« sei, der im Handumdrehen behoben werden kann. Mich berührt diese kleine Komödie nicht. Ich bin nicht einmal entrüstet. Mir ist alles einerlei. Sogar der heftige Streit, der in diesem Moment ausbricht. Ich höre dem nichtigen Wortwechsel gelassen zu.

Nach dem Frühstück, bei dem ich nur einige Schluck Tee getrunken habe, hat sich die Murzec ins Cockpit zurückgezogen. Blavatski macht sich über sie lustig, die viudas tauschen Blicke; Caramans hat die Lider halb geschlossen und trägt seine steife, blasierte Miene zur Schau: für ihn kommt zum Beten nur eine katholische Kirche in Frage, und der einzige Gott, an den man sich wenden könnte, ist der aus dem Neuen Testament.

Als die Murzec von ihrer Andacht zurückkehrt, leuchten ihre blauen Augen in der Hoffnung auf ein »anderswo, wo es vielleicht schön ist«, wie Robbie sagt. Gleichzeitig strömt sie über vor unverbrauchter Hilfsbereitschaft für ihre leidenden Brüder, und bevor sie wieder ihren Platz einnimmt, versäumt sie nicht, neben meinem Sessel stehenzubleiben und mich mit honigsüßer Miene zu fragen: »Wie geht es Ihnen denn heute, Mr. Sergius?«

»Danke, viel besser«, sage ich mit schwacher Stimme.

Die Murzec lächelt mir aufmunternd zu.

»Sie werden sehen, bald sind Sie wieder gesund …«

»Aber sicher, aber sicher«, sage ich leichthin.

»Außerdem hat der BODEN durchblicken lassen, daß Ihre Krankheit ein Irrtum war. Der BODEN kann sich nicht täuschen.«

»Mich kann er auch nicht täuschen.«

»Ganz gewiß nicht«, beteuert sie. »Das ist völlig ausgeschlossen.«

Trotz der Distanz, die ich jetzt gewonnen habe, mißfallen mir diese gutgemeinten Worte. Ich schließe die Augen, um deutlich zu machen, daß mich die Unterhaltung ermüdet.

»Indessen beten wir alle für Ihre baldige Genesung«, fährt die Murzec fort und bezieht den Kreis mildtätig in ihre Aufwallung von Barmherzigkeit ein.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, sage ich, ohne die Lider zu heben.

Schweigen. Ich spüre genau, daß die Murzec glaubt, ihren verbalen Verpflichtungen noch nicht Genüge getan zu haben. Soll sie ihnen Genüge tun! Aber ohne mich! Ich halte die Augen geschlossen.

»Wenn ich etwas für Sie tun kann, sagen Sie es mir«, fügt sie hinzu.

Ja. Zum Beispiel mich in Ruhe lassen! Aber das sage ich nicht, die eingeschliffene Höflichkeit obsiegt, und ich murmle mit hartnäckig gesenkten Lidern: »Danke, Madame, aber die Stewardess tut alles, was nötig ist. Wie Sie gesehen haben, hat sie mir sogar die Hand gehalten.«

Dieser letzte Satz ist mir gegen meinen Willen entschlüpft, als ob sich in meinen neuen Seelenfrieden etwas Bitterkeit eingeschlichen hätte.

»Die Stewardess ist über jedes Lob erhaben«, sagt die Murzec, deren Wohlwollen sich wie die Sonne über alle breitet.

Schweigen.

»Also gut, ruhen Sie sich jetzt aus«, sagt die Murzec mit verspätetem Taktgefühl.

 

Sein Reisenecessaire in der Hand, kommt Robbie aus der Toilette zurück. Mit seinen karminroten Zehennägeln, dem orangefarbenen Halstuch, der hellgrünen Hose und dem azurblauen Hemd ist er eine so malerische Erscheinung, daß er keinen Schritt unbemerkt tun kann. Die goldblonden Locken fallen ihm auf die Schultern, und er ist so glatt rasiert, daß seine Haut bartlos erscheint. Während er den Kreis durchquert, sehen wir ihn alle an – mit den so unterschiedlichen Empfindungen, die er gewöhnlich in jedem von uns weckt, die aber heute morgen dem Erstaunen und der Beunruhigung weichen.

Denn seine strahlende Jugendlichkeit ist nur noch eine Hülle. Bei genauem Hinsehen ist Robbie bleich, seine Züge sind schlaff, seine Augen eingefallen, über Nacht scheint er die Rundungen seiner Wangen eingebüßt zu haben. Sein Teint hat nicht mehr diese aprikosenfarbene Tönung. Er ist aschgrau. Und sein sonst so beschwingter Gang hat etwas Zögerndes, Schwankendes, wie ich es seit gestern früh nur zu gut kenne. Ich kann genau nachempfinden, wie Robbie in diesem Augenblick zumute ist. Seine Beine können ihn nicht mehr tragen. Und er geht tatsächlich in die Knie, bevor er seinen Sessel erreicht, und wäre vielleicht sogar gestürzt, wenn Madame Edmonde ihn nicht rechtzeitig mit ihren kräftigen Armen aufgefangen hätte.

»Was ist los?« sagt sie mit zärtlicher Grobheit. »Geht’s dir nicht gut? Schläfst du noch?«

»Danke«, sagt Robbie und läßt sich schwer in seinen Sessel fallen.

Der Kreis sieht Robbie an, dann wendet er den Blick ab. Niemand sagt ein Wort. Nichts sehen und nichts hören! Sich keine Fragen stellen! Robbie ausklammern! Aber da ist die Rechnung ohne den Eifer der Murzec gemacht, die eitel Liebe und Hilfsbereitschaft ist.

»Monsieur Robbie«, sagt sie, ohne zu wissen, daß diese Verkleinerungsform kein Familienname ist (die Stewardess wird denselben Fehler machen), »entschuldigen Sie, aber Sie sehen heute völlig zerknittert aus. Sind Sie krank?«

Keine Antwort. Robbie wendet nicht einmal den Kopf.

»Das stimmt, mein Kleiner«, sagt Madame Edmonde verstört und aufgeregt, »du siehst gottsjämmerlich aus! Fehlt dir was, Süßer?«

Robbie, der ihr seinen linken Arm überlassen hat, bleibt stumm. Steif und mit erhobenem Kopf sitzt er in seinem Sessel und starrt mit seinen hellbraunen Augen vor sich hin.

»Monsieur Robbie«, sagt die Murzec, »ich erlaube mir, meine Frage zu wiederholen. Sind Sie krank?«

»Nicht im geringsten«, sagt Robbie, ohne seine starre Position zu wechseln. Aber zum erstenmal höre ich, wie sich in seine einwandfreie französische Aussprache der deutsche Akzent einschleicht.

Überrascht von dieser Fehlleistung, sehe ich ihn an. Er erwidert meinen Blick, und seine Augen strafen seine Worte Lügen, sagen mir mit aller Deutlichkeit: Du siehst, nach dir bin ich an der Reihe. Mit seinen seltsam blutleeren Lippen lächelt er mir zu.

Der Kreis hat unsere Blicke verstanden, denn die Gespräche verstummen, drückendes Schweigen breitet sich aus. Ein Schweigen, das die Wahrheit, die sich plötzlich so augenscheinlich und für alle so beängstigend offenbart, verdrängen soll.

»Mademoiselle«, fährt die Murzec fort, »ich glaube, Sie sollten auch Monsieur Robbie ein Dragee Oniril geben.«

»Kommt nicht in Frage«, sagt Robbie. »Ich will kein Oniril. Außerdem bin ich, wie jeder sehen kann, völlig gesund«, fügt er mit schwacher Stimme hinzu und läßt einen herausfordernden Blick über den Kreis schweifen.

»Aber nein, Monsieur Robbie«, erwidert die Murzec. »Es hat keinen Sinn, uns etwas vorzumachen. Sie sind krank.«

»Angenommen, ich wäre krank, Madame«, Robbies Stimme ist unverändert, aber seine Augen blitzen, »was könnten Sie für mich tun?«

»Beten«, sagt die Murzec ohne Zögern.

»Aber Sie haben Ihre Gebete doch schon heute früh verrichtet.«

»Ich bin bereit, noch einmal zu beten.«

»Jetzt?« fragt Robbie ganz ernst.

»Jetzt, wenn Sie es wünschen.«

»Ich wäre Ihnen dafür überaus dankbar.«

Die Murzec geht mit steifem Schritt bis zu dem Vorhang, schiebt ihn zur Seite, bleibt stehen, dreht sich um und richtet ihre blauen Augen auf Robbie.

»Monsieur Robbie, wollen Sie nicht von Ihrem Platz aus meine Gebete in Gedanken begleiten?«

»Gern, Madame«, antwortet Robbie.

Die Murzec verschwindet hinter dem Vorhang, und Robbie sagt sehr leise, aber mit dem Schimmer eines Lächelns: »Ich werde beten, damit Ihre Gebete helfen.«

»Robbie«, sage ich, »Sie sollten Oniril nehmen. Die moralische Wirkung ist ausgezeichnet.«

»Nein, ich verzichte darauf.«

An dieser Stelle hustet Caramans.

»Außerdem ist es wohl nicht angebracht, das Oniril als Allheilmittel zu betrachten«, sagt er mit jenem unnachahmlichen Gesichtsausdruck, mit dem er zu jedem Problem die Stimme der Vernunft erschallen läßt. »Es eignet sich wahrscheinlich nicht für alle Fälle.«

»Darin bin ich nicht Ihrer Meinung«, entgegnet Robbie spöttisch. »Das Oniril ist durchaus für alle Fälle geeignet, die hier auftreten.«

Wieder Schweigen. Die Stewardess sagt mit sanfter Bestimmtheit: »Selbst wenn Monsieur Robbie die Dragees nehmen wollte …«

»Aber Robbie nimmt sie nicht«, sagt Robbie.

»… könnte ich sie ihm schwerlich geben. Außer der Packung, die ich für Mr. Sergius geöffnet habe und die ich für ihn reserviere (ich bin ihr dankbar für diesen Satz und auch für den dazugehörigen Blick – oder ist es wieder eine Illusion?), habe ich keine mehr! Die anderen sind verschwunden!«

 

»Verschwunden!« ruft Blavatski mit funkelnden Augen. »Und wann haben Sie das bemerkt?«

»In dem Augenblick, als ich Mr. Sergius sein Oniril gegeben habe. Ich hatte neun Packungen gezählt. Geblieben ist mir davon nur die eine, die ich für Mr. Sergius geöffnet habe.«

Sie zieht sie aus der Tasche ihrer Uniform. Wir sehen verblüfft die Schachtel und dann uns gegenseitig an.

»Wenn acht Schachteln Oniril verschwunden sind«, sagt plötzlich Mrs. Banister in schneidendem Ton, »dann muß sie jemand gestohlen haben.«

Diese hochherrschaftliche Direktheit packt das Problem auf eine Art an, die aus mir noch unverständlichen Gründen Blavatski in Verlegenheit zu bringen scheint. Aber Robbie läßt ihm keine Zeit, sich zu äußern.

»Wieviel Dragees befinden sich in einer Schachtel?« fragt er die Stewardess.

Die Stewardess öffnet die unansehnliche graue Schachtel, die weder ein Etikett trägt noch eine Gebrauchsanweisung enthält, schüttet den Inhalt in die hohle Hand und zählt laut achtzehn Dragees. Da sie mir gestern abend ein Dragee und ein zweites heute früh gegeben hat, ist die Rechnung einfach.

»Zwanzig«, sagt sie.

»Neun Schachteln mit je zwanzig Dragees, das macht 180«, sagt Robbie und vertieft sich in eine Rechnung, deren Bedeutung niemand versteht.

Blavatski schweigt währenddessen. Unser Superbulle ist plötzlich sehr passiv und sehr diskret. Da stiehlt jemand in seinem Beisein acht Schachteln einer zweifellos sehr starken Droge, und er unternimmt nichts, leitet nicht die geringste Untersuchung ein. Er verhört niemanden. Er äußert nicht den geringsten Verdacht – nicht einmal den naheliegendsten …

Ein schnappendes Geräusch. Mrs. Boyd, die sich mit ihrem Toilettenwasser besprühen mußte, hat ihre Krokodilledertasche wieder zugemacht und legt sie auf ihre Knie. Die runden Augen gereizt auf Chrestopoulos gerichtet, sagt sie in ihrem Bostoner Dialekt:

»Mr. Blavatski, warum fragen Sie nicht Mr. Chrestopoulos, was er früh um zwei in der Pantry gemacht hat, nachdem die Stewardess Mr. Sergius ins Flugzeugheck entführt hatte?«

Ich starre sie sprachlos an. Nicht daß sie den Griechen beschuldigt, setzt mich in Erstaunen, sondern daß sie meinen Traum bekräftigt. Mein Blick fällt auf die Stewardess. Sie rührt sich nicht. Ihr Gesicht ist eine Maske. Wie aber kann sich im Heck der Maschine eine Kabine befinden, und wie soll ich die Kraft gehabt haben, mich dorthin zu begeben, selbst wenn die Stewardess mich stützte?

Chrestopoulos reagiert lebhaft, aber spät.

»Halten Sie den Mund, Sie verrücktes Weib!« schreit er, aufgeregt, schwitzend und einen starken Geruch verbreitend. »Ich habe mich die ganze Nacht nicht vom Fleck gerührt!«

Seine dicken, wulstigen Finger zittern, tasten nach seiner gelben Krawatte, nach seinem Hosenschlitz und nach den nicht mehr vorhandenen Ringen.

»Sie lügen, Monsieur«, sagt Mrs. Banister schneidend. »Auch ich habe Sie gesehen. Ich dachte, Sie hätten Hunger und wollten die lange Abwesenheit der Stewardess nutzen, um sich in der Pantry etwas zu essen zu stehlen. Aber ich begreife jetzt, daß die Wahrheit ganz anders aussieht. Sie haben sich das Oniril geholt! Das einzige Medikament, das wir an Bord haben! In ausreichender Menge, damit es notfalls an alle verteilt werden kann!«

»Sie gehen entschieden zu weit, Madame«, sagt Caramans, während Blavatski unerklärlicherweise stumm und passiv bleibt. »Es ist nicht ungewöhnlich, einige wichtige Medikamente an Bord eines Flugzeugs zu haben. Das bedeutet nicht, daß eine generelle Verteilung vorgesehen wäre.«

Dieser Bemerkung folgt Schweigen, weil allen klar ist, daß Caramans die Diskussion vom eigentlichen Thema ablenkt.

Seine These wird außerdem sofort von einer Seite widerlegt, von der er es am wenigsten erwartet hätte.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagt die Stewardess, »aber das Oniril war ausdrücklich dazu bestimmt, nötigenfalls an alle Passagiere verteilt zu werden.«

»Woher wissen Sie das?« fragt Blavatski, der plötzlich gegenüber der Stewardess wieder aggressiv wird.

Die Stewardess bewahrt Ruhe.

»Das gehörte zu meinen Instruktionen.«

»Die auf dem kleinen Zettel standen, den Sie verloren haben«, höhnt Blavatski.

»Ja«, erwidert die Stewardess ohne Zögern.

Lügt sie oder lügt sie nicht? Ich kann es nicht sagen. Ich erinnere mich an verschiedene Einzelheiten und frage mich, ob die Stewardess nicht von Anfang an in mündlicher Verbindung mit dem BODEN gestanden hat, vielleicht über einen in der Pantry versteckten Sender.

»Wenn es so war, hätten Sie uns das sagen müssen«, wirft Mrs. Banister ein.

»Keineswegs«, sagt die Stewardess mit einem scharfen Unterton. »Ich hatte die Anweisung, mit Ihnen erst dann über das Oniril zu sprechen, wenn der BODEN mir grünes Licht gibt.«

Der Kreis verfällt in Schweigen. Caramans rührt sich nicht. Blavatski verschanzt sich hinter Reglosigkeit. Er sieht Chrestopoulos überhaupt nicht an und wirkt traurig und niedergedrückt.

»Sie Gauner!« schreit Pacaud plötzlich, an den Griechen gewandt. »Nicht genug, daß Sie Ihre Reisegefährten durch sogenannte Spielschulden betrügen wollen! Jetzt stehlen Sie auch noch die Medikamente! Los, geben Sie der Stewardess die Schachteln, oder es geht Ihnen an den Kragen!«

»Das stimmt nicht! Ich hab sie nicht!« schreit Chrestopoulos, wild mit den Händen fuchtelnd. »Und an den Kragen wird es Ihnen gehen!«

»Meine Herren, meine Herren«, sagt Caramans ohne die geringste Überzeugungskraft.

»Manzoni«, sagt Mrs. Banister im Tonfall einer Lehnsherrin, die einem Vasallen eine ritterliche Mission überträgt, »helfen Sie doch Monsieur Pacaud, von diesem Strolch das Oniril zu bekommen.«

»Ja, Madame«, sagt Manzoni, ein wenig bleich.

Es ist komisch oder rührend, je nachdem: Manzoni steht auf, drückt den Brustkorb heraus und geht in seinem untadeligen weißen Anzug wie der Würgeengel auf Chrestopoulos zu. Ich weiß nicht, ob Manzoni handgreiflich werden kann, aber seine Größe, seine breiten Schultern und seine entschlossene Haltung wirkten Wunder.

Chrestopoulos springt auf, blickt gehetzt um sich, dreht sich um die eigene Achse, kehrt Pacaud und Manzoni den Rücken, rennt auf seinen dicken Beinen in Richtung Bordküche, schiebt den Vorhang beiseite und verschwindet.

Pacaud und Manzoni stehen wie angewurzelt. Fragend sieht Manzoni Mrs. Banister an, als erwartete er ihre Anweisungen.

»Durchsuchen Sie seine Tasche«, befiehlt ihm Mrs. Banister.

Blavatski sagt kein Wort und rührt keinen Finger. Er beobachtet die Szene mit abwesendem Blick, als beträfe sie ihn nicht.

Widerstrebend öffnet Manzoni Chrestopoulos’ Reisetasche.

»Ist es das hier?« fragt er die Stewardess und hält eine kleine graue Schachtel hoch. Anstatt sie ihr zu geben, reicht er sie Pacaud, der sie dann der Stewardess gibt. Zweifellos fürchtet Manzoni, daß Mrs. Banister ihn verdächtigen könnte, er hätte die Hand der Stewardess berühren wollen. Die Zähmung schreitet gut voran.

»Das ist es«, antwortet die Stewardess. »Sie müssen noch sieben weitere finden.«

Eine nach der andern holt Manzoni sie aus Chrestopoulos’ Tasche, und Pacaud gibt sie der Stewardess.

Die Passagiere verfolgen schweigend und mit einem gewissen Respekt diesen Vorgang. Die kleinen grauen Schachteln sind ihnen plötzlich unendlich kostbar geworden, Gott weiß warum. Dabei brauchten sie mich nur anzusehen, um sich zu überzeugen, daß die heilende Wirkung des Onirils gleich Null ist – selbst wenn es die verrinnenden Augenblicke erträglicher macht.

Der Vorhang wird zur Seite geschoben, und die Murzec taucht auf, gefolgt von Chrestopoulos, der sie um einen Kopf überragt, sich aber hinter ihr zu verstecken scheint. Sein schwarzer Schnurrbart zittert, sein verzerrtes Gesicht ist schweißüberströmt.

»Monsieur Chrestopoulos hat mir alles erzählt«, sagt die Murzec. »Ich bitte Sie, ihm nichts anzutun.«

»Das räudige Schaf unter dem Schutz des Sündenbocks«, sagt Robbie so leise, daß nur ich ihn hören kann.

»Was soll nun mit ihm geschehen?« fragt die Murzec sanftmütig herausfordernd.

Ihre Worte werden mit gereiztem Schweigen aufgenommen.

»Selbstverständlich nichts«, sagt schließlich Mrs. Banister, die sich wundert, daß Blavatski passiv bleibt und alles sie entscheiden läßt.

Manzoni geht an seinen Platz zurück, Chrestopoulos ebenfalls.

»Mademoiselle«, fährt Mrs. Banister hochmütig fort, »schließen Sie die Schachteln ein und geben Sie Monsieur Manzoni den Schlüssel.«

Die Stewardess antwortet nicht. Manzoni setzt sich und fingert an seiner Krawatte herum, die sich gar nicht gelöst hat. Chrestopoulos läßt sich in den Sessel fallen, senkt die Lider und murmelt, um wenigstens noch eine Spur von Gesicht zu wahren, irgendwelche Worte in seinen Bart; ich weiß nicht, ob es Drohungen oder Entschuldigungen sind.

»Es genügt nicht, Monsieur Chrestopoulos wieder in unsere Mitte aufzunehmen«, sagt die Murzec und richtet ihre unerbittlichen blauen Augen auf den Kreis. »Man muß ihm auch verzeihen.«

»Schon geschehen, schon geschehen«, sagt Robbie mit kraftloser Stimme. »Madame«, fährt er fort (er spricht »Matame«), »haben Sie denn Ihre Gebete für mich beendet?«

»Nein, Monsieur Robbie.«

»Dann können Sie Chrestopoulos unter meinem Schutz zurücklassen. Ich werde mich seiner annehmen.«

Ich fürchte schon, die Murzec werde aus dem ernsthaften Ton, mit dem Robbie sie fortschickt, den Spott heraushören, aber mitnichten. Offenbar hat sie außer ihrer Boshaftigkeit auch einen Teil ihres Scharfsinns verloren.

»Ich danke Ihnen, Monsieur Robbie«, sagt sie mit bestürzender Einfalt.

Stramm wie ein Soldat macht sie kehrt und verschwindet wieder hinter dem Vorhang zur Bordküche.

Sobald sie draußen ist, läßt Robbie seinen Blick über den Kreis schweifen. Müde in seinen Sessel zurückgelehnt, ringt er nach Luft und sagt:

»Monsieur Chrestopoulos verdient um so mehr unsere Nachsicht, als er einer uns wohlbekannten Illusion aufgesessen ist. Wie jeder von uns hat er geglaubt, der einzige zu sein, der überleben wird.«

»Aber was reden Sie denn da!« schreit Caramans, der seinen Zorn diesmal nicht zurückhalten kann. »Das ist absurd! Sie sind im Delirium, Monsieur! Und Sie haben kein Recht, uns Ihre Fieberträume aufzuzwingen!« Seine Lippen zittern, er preßt seine Hände so kräftig gegeneinander, daß die Gelenke weiß hervortreten. Aufgebracht fährt er fort: »Das ist unzulässig! Sie wollen Panik unter den Reisenden säen!«

»Ich will gar nichts«, sagt Robbie sehr leise, ohne einen Fußbreit Boden aufzugeben. »Ich sage meine Meinung.«

»Aber die nützt uns nichts!« schreit Caramans.

»Das kann nur ich allein beurteilen«, erwidert Robbie kaum hörbar, aber mit einer Würde, gegen die Caramans nicht ankommt, denn er schweigt, senkt die Lider und spannt alle Kräfte an, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen.

Diese Szene ist für uns alle sehr peinlich. Niemals hätte man von seiten eines Caramans soviel Heftigkeit erwartet, schon gar nicht gegenüber einem Kranken, dessen Stimme kaum noch ausreicht, sich zu verteidigen.

»Ich werde jetzt das Oniril wegschließen«, sagt die Stewardess nach einer Weile, vielleicht um abzulenken.

Aber ihr Ablenkungsmanöver ist ziemlich unglücklich gewählt, denn es führt Robbie auf den Weg seiner »Fieberträume« zurück.

»Nicht nötig«, sagt Robbie und hebt mit unsicherer Gebärde die rechte Hand, um Aufmerksamkeit zu erbitten. »Verteilen Sie die ersten Dragees gleich jetzt an die Passagiere, die es wünschen.«

Er spricht so leise und zögernd, daß wir alle, auch Caramans, auch Blavatski (noch immer schweigsam und niedergedrückt), unser Gehör äußerst anspannen, um zu verstehen, was er sagt; niemandem kommt in den Sinn – eine solch erstaunliche Autorität übt er jetzt aus –, ihn zu unterbrechen oder seine Worte zu übertönen.

»Aber wir sind doch nicht krank«, wirft Mrs. Banister ein.

»Und was ist … die Angst?« fragt Robbie mit einem blassen Lächeln.

 

Schweigen. Zu meinem großen Erstaunen fängt Madame Edmonde zu weinen an. Ohne Robbies Arm loszulassen, weint sie still vor sich hin, die Tränen rollen über ihre Wangen und verwischen ihr Make-up.

Pacaud, der in seiner behaarten Pranke eine von Michous Händen hält, sagt mit erstickter Stimme: »Wir sind aber doch nicht im gleichen Sinne krank wie zum Beispiel Monsieur Sergius oder … Sie selbst. Angesichts dessen wäre es beinahe Vergeudung, das Oniril an alle zu verteilen.«

»Es ist keine Vergeudung«, entgegnet Robbie mit unendlich schwacher Stimme, aber mit dem Schatten eines Lächelns auf seinem fahlen Gesicht. »Ich habe nachgerechnet. Die Menge ist so bemessen, daß jeder Passagier für die Dauer von dreizehn Tagen täglich zwei Dragees erhalten kann – wenn jede Nacht ein Passagier das Flugzeug verläßt, was ich für wahrscheinlich halte.«

»Das ist heller Wahnsinn!« schreit Caramans wie von Sinnen. »Nichts, absolut nichts ermächtigt Sie, eine so unsinnige Hypothese aufzustellen! Sie haben dafür nicht die Spur eines Beweises!«

Robbie, der starr in seinem Sessel sitzt, die Hände schlaff auf den Seitenlehnen, sieht Caramans mit seinen hellbraunen Augen durchdringend an, und obwohl sein Blick kein Quentchen Bosheit enthält, bringt dessen Intensität Caramans zum Schweigen.

»Es gibt keinen Beweis, aber Indizien«, sagt Robbie kaum hörbar. »Beweiskräftige Indizien. Zum Beispiel die Anzahl der Dragees. Ob Sie es glauben oder nicht, Monsieur Caramans, man hat sogar berücksichtigt, daß einer der Passagiere seinen Anteil ablehnen wird. Deshalb sind es 180 Dragees und nicht 182, wie bei genauer Rechnung erforderlich wären.«

»Sie phantasieren, Monsieur«, sagt Caramans, nachträglich auffahrend. »Ich glaube Ihnen kein Sterbenswörtchen!«

Wieder breitet sich Schweigen aus, und mit kraftloser Stimme sagt Robbie lächelnd:

»Hören Sie, Monsieur Caramans, warum wollen Sie, der Sie soviel Vernunft besitzen, sich nicht in das Unvermeidliche fügen? Die Dinge sind jetzt völlig klar. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, aus diesem Flugzeug herauszukommen: wie Bouchoix.«

 

Laut protestierend, daß sie gar nicht krank seien, nehmen bis auf Robbie schließlich alle Passagiere das Oniril. Dieses »Beruhigungsmittel«, meint Caramans, der die Wirkung von vornherein herunterspielt, werde ihm helfen, seine Ungeduld ob der »etwas langen Reise« zu bezähmen. Wie jedermann schluckt er sein Dragee, und um seinen unerschütterlichen Glauben an unser Reiseziel unter Beweis zu stellen, holt er seine Akten aus der Tasche und vertieft sich darin, mit einem goldenen Kugelschreiber Randglossen kritzelnd. Blavatski begnügt sich, eine witzige Bemerkung über die Tatsache zu machen, daß er selbst eine Droge nimmt, während doch der Kampf gegen die Droge seine Aufgabe ist. In meinen Ohren klingt diese Fröhlichkeit unecht. Es ist der Galgenhumor der unerschrockenen amerikanischen Filmhelden, die den Tod vor Augen haben.

Seine gute Laune hat indessen zur Folge, daß die Verteilung des Onirils, die ein makabrer Vorgang hätte sein können, von den Passagieren auf die leichte Schulter genommen wird.

Pacaud geht ebenfalls, und nicht als letzter, auf das Spiel ein. Lachend fragt er die Stewardess, ob sie auch wirklich sicher sei, daß das kleine Dragee keine Aphrodisiaka enthalte. Und Madame Edmonde, die ihre Tränen getrocknet und sich wieder zurechtgemacht hat, läßt sich mit ihm auf ein Geplänkel von zweifelhaftem Geschmack ein.

Zu vornehm, um an solcher Belustigung teilzunehmen, schlucken die viudas ihr Oniril mit einer gewissen Resignation, als ob sie sich gnädig zur Erfüllung einer bedeutungslosen Formalität herabließen, der sie sich nicht einmal dank ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung entziehen können.

Wenn ich nicht selbst unter der Wirkung des Onirils gestanden und nicht gewußt hätte, daß ich noch vor Abend eine weitere Dosis bekommen würde, wäre mir diese ganze Szene wohl sehr erbärmlich vorgekommen. Vielleicht habe ich sie auf Grund meines Zustandes nicht aufmerksam genug verfolgt, manche Einzelheiten werden mir entgangen sein. Tatsächlich quälte mich die ganze Zeit ein einziger Gedanke: Robbies erstaunliche Weigerung, das Oniril zu nehmen.

Nachdem die Droge hinreichend auf meine Reisegefährten gewirkt hat und nicht mehr zu befürchten ist, daß ich sie beunruhigen könnte, frage ich Robbie nach dem Grund seiner Haltung. Obwohl er so viele Beweise eines festen Charakters geliefert hat, gibt er mir keine eindeutige Antwort.

»Ich weiß nicht«, sagt er. »Ich bin nicht sicher, alle meine Gründe zu verstehen. Möglich, daß ich meiner Angst aus eigener Kraft gegenübertreten will.«

»Aber ist das nicht ein überflüssiger Heroismus? Zumal bei Ihnen, da für Sie der Ausgang dieses Abenteuers feststeht?«

»Das sage ich mir auch.«

»Und?«

»Ich habe einen starken Hang zum Narzißmus. Vielleicht liegt in meiner Weigerung eine gewisse Koketterie.«

»Das würde heißen, Sie messen der Wirkung auf die anderen eine viel zu hohe Bedeutung bei?«

»Ja, Sie haben recht.« Er überlegt einen Augenblick und fügt hinzu: »Vielleicht will ich auch nur die Geschenke des BODENS zurückweisen.«

Er begleitet das Wort »Geschenke« mit einem höhnischen Lächeln.

Die Murzec, die aus dem Cockpit zurückgekehrt ist und gefügig ihr Dragee entgegengenommen hat, sieht uns so entrüstet an, daß ich einer Moralpredigt aus dem Wege gehen will und das Gespräch abbreche. Es hat mich außerdem erschöpft. Bei aller Klarheit der Gedanken fällt mir das Sprechen nicht leicht.

Was ich jetzt noch erzählen will, spielt sich irgendwann am Nachmittag ab. Die Sonne war gleich nach Tagesanbruch hinter den Wolken verschwunden, und »Nachmittag« sage ich, weil es »eine Weile« her ist, seit die Stewardess uns eine Mahlzeit gebracht und die Tabletts weggeräumt hat.

Woher die Stewardess weiß, wann sie uns etwas zu essen geben soll, weiß ich nicht. Sofern ihr nicht, wie ich schon vermutet habe, die Anweisung vom BODEN gegeben wird. Jedenfalls sind – außer dem Stand der Sonne – die Mahlzeiten unsere einzigen Möglichkeiten, die Zeit einzuteilen. Vielleicht sind das falsche Anhaltspunkte: wenn ich Appetit hätte, könnte ich es besser beurteilen. Aber ich bekomme nichts hinunter. Es ist ein Teufelskreis: ich fühle mich zu schwach, um zu essen, und je weniger ich esse, um so mehr schwinden meine Kräfte.

Ich weiß, daß meine Kräfte schwinden, doch dank dem Oniril spüre ich es nicht. Für uns zählt bekanntlich weniger die Krankheit, an der wir leiden, als die Vorstellung, die wir von ihr haben. Insofern ist die Wirkung des Onirils wirklich unübertrefflich. Es versetzt uns in eine glückliche Sorglosigkeit, wo wir nur im gegenwärtigen Augenblick leben und der Gedanke an die Zukunft uns nicht im geringsten berührt.

Gewöhnlich begnügt sich das Rad der Zeit nicht, sich einfach zu drehen und uns in seiner Kreisbahn mitzureißen. Es ist gezahnt und zerrt uns endlos von Sorge zu Sorge. Man lebt nicht. Man rotiert pausenlos in denselben Ängsten und in denselben Zwangsvorstellungen. Außer im zartesten Alter lastet die Zukunft auf unserer Gegenwart, zerrt sie in ihren Strudel und erstickt sie.

Deshalb macht uns das Oniril so beschwingt. Wir verdanken ihm den Eindruck – und dieser Eindruck ist wahr, weil wir ihn so erleben –, daß das Rad stillsteht und uns in der Gegenwart leben läßt, herausgelöst aus der Kreisbewegung, die uns zur Verzweiflung bringt.

So brauchen uns die Stunden wenig zu kümmern, und ob sie uns dem Ende, das Robbie für alle vorausgesagt hat, näher bringen oder nicht. Nur das Rad ist unerbittlich. Losgelöst von ihm, spüren wir nicht, daß die Zeit verrinnt und daß das gefürchtete Ende Zahn um Zahn auf uns zurückt.

Ich messe die Zeit jetzt einzig an den einprägsamen Augenblicken meiner Sensibilität. Vielleicht ist der Plural zu hochtrabend, und vielleicht ist der Augenblick, den ich erlebe, der letzte, ich weiß es nicht. Auch wenn es so ist, spüre ich es nicht. Mir will scheinen – wie den heranwachsenden Jungen, wenn die Lebenssäfte in ihnen gären –, ich könnte noch über unermeßliche Möglichkeiten verfügen. Es ist mir gleichgültig, ob meine Empfindung mit Illusionen beladen ist. Entscheidend ist, daß ich diese Empfindung habe.

Aus eigenem Antrieb, ohne daß mein Blick oder mein stummes Flehen sie gerufen hätte, ergreift die Stewardess meine Hand, und ich spüre zu meiner unbeschreiblichen Freude, daß sie mir wieder nahe ist. Ihre Finger leben und verraten mir wie zuvor Zärtlichkeit und Komplizenschaft. Ich wende ihr den Kopf zu. Ich begegne wieder ihren grünen Augen, die die Gemütsbewegung dunkler zu machen scheint. Es springt wie eine Flut in mir auf. Ich fühle mich über alle Maßen glücklich.

Da sie weiß, wie schwer mir jede Anstrengung fällt, beugt sie ihren Kopf so weit zu mir herüber, daß sie fast mein Gesicht berührt, und ich frage sie leise: »Mrs. Boyd hat gesehen, wie Sie mich im Morgengrauen mit ins Heck genommen haben. Also war es kein Traum?«

»Pst!« sagt sie. »Sprechen Sie nicht darüber. Man hört uns.«

Ich weiß nicht, wer »man« ist. Der Kreis? Oder der BODEN? Aber gemessen an der Ungewißheit, die mir zu schaffen macht, erscheint mir das unwichtig.

»Geben Sie mir eine aufrichtige Antwort: lieben Sie mich oder nicht?« frage ich.

Ihre Augen werden erneut dunkler, und sie antwortet wohlüberlegt, als würde sie in ihrem Innern jedes Wort abwägen: »Ich glaube, Sie zu lieben.«

»Wann werden Sie dessen sicher sein?«

»Wenn wir getrennt sein werden.«

Anlaß genug zum Nachdenken und zu neuen Zweifeln. Aber ich schiebe beides vorläufig beiseite und bleibe beim Dringlichsten.

»Heute früh haben Sie mich wie einen Fremden behandelt. Warum?«

Sie beugt sich noch näher zu mir herüber und sagt ganz leise: »Ich stand unter dem Einfluß des BODENS.«

»Hat er Sie wegen dieser Nacht getadelt?«

»Nein. Das ist nicht seine Art. Er hat mich wissen lassen, daß meine Empfindung für Sie keine Zukunft hat.«

»Weil mir so wenig Zeit bleibt, bis man mich an Land setzt?«

»Ja.«

»Aber wenn Ihnen selbst eines Tages …«

Ich spreche nicht weiter. Ich habe nicht den Mut, diesen verschämten Euphemismus auf sie anzuwenden.

»Das ist nicht vergleichbar«, sagt sie, als ob ihr Überleben nach Jahren und nicht nach Tagen zählte.

Ich bin zu verwirrt, und vor allem liebe ich sie zu sehr, um sie darauf aufmerksam zu machen. Lieber bitte ich sie, einen Punkt zu erhellen, der mir dunkel erscheint.

»Was ist dieser BODEN eigentlich, daß er Ihre Empfindungen in solchem Maße zu beeinflussen vermag? Ein Gott?«

»Oh, nein!«

Sie überlegt. Ihre Nasenflügel beben, ihr Blick ist ernst, ihr Mund kindlich. So liebe ich sie. Ich verspüre ein großes Bedürfnis, sie in die Arme zu schließen. Aber selbst wenn ich die Kraft dazu hätte, was würde der Kreis sagen? Und würde ich nicht dem BODEN abermals Gelegenheit geben, sie zu tadeln, und sei es nur andeutungsweise?

Die Stewardess taucht endlich aus ihren Gedanken auf und sagt mit einer Zaghaftigkeit, die mir nicht recht zu ihrem sonstigen Wesen passen will: »Ich habe Angst vor dem Urteil, das der BODEN über mich fällen könnte.«

Das ist alles. Mehr wird sie nicht sagen, das spüre ich. Und ich muß mich mit diesen Antworten bescheiden, so wenig zufriedenstellend sie für mich sein mögen. Ein ganzer Bereich ihres Wesens hat sich mir offenbart, und ich bin sehr überrascht! Diese Ehrfurcht vor der Meinung des BODENS! Ich kann es kaum glauben! Wenn sie aus eigenem Antrieb handelt, wieso hütet sie dann nicht eifersüchtiger die Autonomie ihrer Empfindungen?

Um mich zu trösten, sage ich mir, daß man niemals ein Wesen, das man liebt, richtig verstehen kann. Nicht daß es undurchschaubarer wäre als andere. Aber man stellt sich über ein solches Wesen mehr Fragen.

Mehr noch als mein kurzer Dialog mit Robbie hat mich dieses Gespräch erschöpft. Ich weiß, daß es das letzte sein wird, daß ich bis zum Ende nicht mehr den Mund öffnen werde. Aber es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß mich das Gefühl, für immer stumm zu sein, in Verzweiflung stürzt. Mitnichten.

Bei Einbruch der Nacht hat mir die Stewardess ein zweites Dragee Oniril gegeben. So klein es ist, ich konnte es erst beim zweiten Versuch hinunterschlucken. Die Stewardess hat ihre frischen Lippen auf die meinen gedrückt, und ich bin in eine Art Traum geglitten, wo alles unendlich leicht geworden ist. Meine Sessellehne ist so weit wie nur möglich zurückgeschoben. Da ich mich über die Kälte beklagte, hat die Stewardess Bouchoix’ Decke über meine Beine gelegt. Und jetzt fühle ich mich wohl. Ich habe den Eindruck, rückwärts in einem lauen Meer zu treiben. Kleine Wellen tragen mich empor, und auf meinem Körper spüre ich die doppelte Liebkosung von Sonne und Wind. Obwohl ich für »lange« Augenblicke die Lider senke – was glauben machen könnte, daß ich schliefe –, bin ich mir all dessen bewußt, was um mich her geschieht, und höre alles. So stelle ich fest, daß der Kreis über meinen Zustand keine solchen Bemerkungen macht wie am Abend zuvor über Bouchoix. Er hat gelernt, wahrscheinlich unter der Wirkung des Onirils, den Worten zu mißtrauen. Er hat recht.

In meiner Euphorie macht es mich froh zu spüren, wieviel Freundschaft ich für den Kreis empfinde. Ja, ich liebe sie alle, sogar Chrestopoulos, ungeachtet seiner scheußlichen Vergangenheit. Ich denke daran, wie sehr er leiden und schwitzen wird, der Ärmste, wenn die Reihe an ihn kommt. Er gehört zu jenen robusten Leuten, die noch unterm Galgen protestieren, man dürfe sie nicht hängen, weil sie bei guter Gesundheit sind. Ich sehe ihn an. Ihm ist zu heiß. Er ist unruhig. Er schmort bereits. Er zieht sein Jackett und seine Weste aus, lockert den Kragen, kann sich aber nicht entschließen, die Krawatte aus gelber Seide anzutasten: der einzige Luxus, der ihm geblieben ist.

Unter der Wirkung des Onirils oder der unterschwelligen Angst, die es nicht zu zerstreuen vermag, ist unter den Passagieren ein deutliches Sichgehenlassen zu beobachten. Auch Pacaud hat sein Jackett ausgezogen. Blavatski sitzt in Hemdsärmeln da und zeigt ungeniert seine malvenfarbenen Hosenträger. Madame Edmonde hat sich das Kleid aufgeknöpft. Sogar Caramans, mit der Hand vor den Augen meditierend, hat heimlich unter der Weste den ersten Knopf seiner Hose aufgemacht. Als einzige bleiben die viudas korrekt. Zumindest nach außen. Denn Mrs. Boyd mit ihren untadeligen metallischen Locken auf ihrem runden kleinen Schädel, die Krokodilledertasche säuberlich auf den Knien, die runden Augen unverwandt geradeaus gerichtet (die Leere in Betrachtung der Leere), erlaubt sich kleine Blähgeräusche, die zwar geruchlos sind, die sie aber nicht einmal durch Hüsteln zu übertönen versucht.

Sie zu trösten, hat Mrs. Banister, die eine halbe Stunde nach Einnahme des Onirils erneut gesprächig geworden ist, zunächst ihre Ankunft im Vier-Sterne-Hotel von Madrapour heraufbeschworen. (Mit Ausnahme von Mrs. Boyd und Manzoni sind wir alle vergessen, sie kommt allein dort an.) Beim Kapitel über das erste warme Bad, bei dem sie ihren hübschen Körper reinigen wird, wechselt sie dann den Gesprächspartner, wendet sich Manzoni zu, ergreift seine Hände, taucht ihren Blick in seine Augen, beugt sich über ihn und verschlingt seine Lippen, nicht so keusch und verschämt wie die Stewardess, sondern mit der ruhigen Sicherheit einer großen Dame.

Oh, ich tadle sie nicht! Soll sie sich beeilen! Ich habe nur einen einzigen Tag gehabt, den 15. November, um eine große Liebe zu erleben. In diesen vierundzwanzig Stunden, die man mir gegeben und die ihrem Ende zugehen, muß ich so viele Jahrzehnte zusammendrängen, wie ich nur vermag. Aber Stunden, Tage, Jahre: was ist das letztlich angesichts der Millionen Jahre, in denen wir nicht mehr sein werden – einer nach dem anderen an Land gesetzt, auch die Stewardess, die in ihrer Naivität glaubt, soviel mehr Zukunft vor sich zu haben als ich. Dabei habe ich eben bemerkt, daß sich um ihre Augen kleine Falten eingegraben haben, als wäre sie seit vorgestern um zehn Jahre älter geworden. Die Zeit drängt sich in doppeltem Sinne zusammen, scheint mir.

Ich habe die Augen aufgeschlagen. Durch das Kabinenfenster sehe ich die Sonne sehr niedrig über dem Wolkenmeer stehen – über jenen Wolken, wo ich zu baden träumte. Im Grunde habe ich von dem Augenblick an, als ich den Fuß in dieses Flugzeug setzte, gewußt, daß es dahin kommen würde. Und ich habe eigentlich großes Glück gehabt. Dank der Stewardess habe ich mein eigenes Oniril abgesondert. Die Angst zu lieben hat mir die andere beinahe verborgen.

Ich spüre die warmen Finger der Stewardess in meiner Hand. Um die Wahrheit zu sagen: Ich spüre sie jetzt ein bißchen weniger. Aber noch immer quillt dieselbe Zärtlichkeit in mir empor. Ich habe aufgehört, die Wechselseitigkeit als wichtig zu empfinden. Das betrifft die Stewardess, nicht mich. Und für sie ist es vielleicht ein wenig bedauerlich, daß sie wegen ihrer Ehrfurcht vor der Meinung des BODENS warten muß, bis ich nicht mehr bin, um die Wahrheit über ihre eigenen Gefühle zu erfahren.

Ich werde jetzt die Augen schließen und sie aus Furcht, nichts mehr zu sehen, nicht mehr öffnen. Der schon getrübte Blick, den ich vorher noch der Stewardess zuwerfe, ist mein letzter. Aber ich habe mir ihre Züge fest eingeprägt. Ich werde ihr Gesicht mit mir nehmen wie eine wunderbare Zusammenfassung von der Schönheit der Welt.

Ich weiß, wie sich alles abspielen wird. Da meine Augen schon geschlossen sind, werde ich die Leuchtschrift zu beiden Seiten des Vorhangs zur Pantry nicht sehen. Aber da ich noch hören kann, werde ich die Hektik der Passagiere vernehmen, wenn sie sich festschnallen, das drohende Pfeifen der Bremsen. Ich werde das Holpern auf der Landepiste wahrnehmen, denn ich spüre noch, wenn auch entrückt, die Hand der Stewardess.

Ich fürchte nichts mehr. Ich habe die Grenze der Angst überschritten. Ich bin für immer von der Angst geheilt. Die näselnde Stimme wird, ohne mich zu schrecken, in ihrem mechanischen Tonfall sagen: »Sergius Vladimir, Sie werden auf dem Boden erwartet.«

Die Stewardess wird den Exit aufriegeln und zurückkommen, mir beim Aufstehen zu helfen. Niemand, so hoffe ich, wird diese lächerliche Geste wagen: mir meine Reisetasche in die Hand zu drücken. Ich werde einen Fuß vor den andern setzen, zuerst mit Hilfe der Stewardess; auf der Schwelle dann wird sie mich nach einem letzten Händedruck gehen lassen.

Ich weiß bereits, daß ich die Kälte nicht spüren werde.