Madame Murzec hätte hinzufügen können, daß die Chartermaschine beim Aufsetzen in der Nacht zuvor ganz gewiß nicht auf dem Flughafen von Athen gelandet war; daß es sich um einen behelfsmäßigen Landeplatz am Ufer eines Sees gehandelt hatte; daß in Griechenland niemals eine solche sibirische Kälte herrscht, wie sie uns lähmte, nachdem der Exit geöffnet worden war. Nichts von alledem hätte die Gemüter bewegt. So dienlich ihre Bemerkungen der Sache sind, sie fallen ins Leere. Niemand aus der Mehrheit geht darauf ein oder scheint sich dafür auch nur zu interessieren.
Bestenfalls wechselt Caramans mit Blavatski einen Blick, der ebenso deutlich wie Worte besagt: diese verrückte Alte sollte lieber im Cockpit ihre Gebete verrichten, anstatt uns Belehrungen zu erteilen. Kurzum, getreu ihrer Strategie des sanften Ruhekissens läßt die Mehrheit die Aufrüttelungsversuche der Minderheit schweigend verhallen.
Das System beruht auf einer bequemen List. Alles, was wir über die Situation zu sagen hätten, ist bedeutungslos, da unsere Bemerkungen von vornherein durch ihre Urheber diskreditiert sind: Robbie ist ein exzentrisches Jüngelchen mit lackierten Zehennägeln, gänzlich der Päderastie und der Paradoxie verfallen (im Grunde zwei Seiten derselben Perversion); die Murzec erwiesenermaßen eine Neuropathin, die unter Mythomanie und mystischem Wahn leidet; Sergius ein Sonderling, wie kann es anders sein, wenn er sich auf den ersten Blick in ein dreißig Jahre jüngeres Mädchen verliebt; und die Stewardess schließlich, zieht man ihr die Uniform aus, eine gewöhnliche Kellnerin mit dem entsprechenden geistigen Horizont: wenn sie nichts sagt, so deshalb, weil sie nicht denkt.
Dieses Desinteresse der Mehrheit ist sehr erstaunlich, besonders bei Blavatski. Denn Caramans wollte von Anfang an eine Vogel-Strauß-Politik betreiben. Er hat niemals gezweifelt, daß wir am Ziel ankommen würden und daß dieses Ziel Madrapour wäre. Für ihn, den hohen Beamten, fällt die offizielle Wahrheit auch bei Abweichungen unter allen Umständen mit der Wahrheit schlechthin zusammen. Es bedurfte eines langen Erziehungsprozesses, um Caramans diese Flexibilität im Glauben beizubringen, aber jetzt stellt sie sich mühelos ein. Zur Stunde glaubt er, was zu glauben er für angebracht hält. Es gibt den verläßlichen Dienstweg und die eingefahrenen Geleise, alles andere riecht nach Ketzerei.
Blavatski hingegen kommt aus einer anderen Schule. Er glaubt nichts ohne Beweise, er sucht, schnüffelt, kombiniert, wühlt in der Tasche des Griechen, klettert in den Frachtraum, unterwirft die Stewardess einem polizeilichen Verhör; lange vor dem Inder hat er als erster Zweifel an der Existenz von Madrapour gesät.
Ein Beweis, daß er sich sehr geändert hat! Die Murzec schleudert ihm jetzt unwiderlegbare Tatsachen ins Gesicht: eine Flugroute, einen Flugplan, Zwischenlandungen … Er sagt kein Sterbenswörtchen! Mehr noch: die Stewardess gesteht zumindest indirekt ein, daß sie von Anfang an gemerkt hat, wie die Chartermaschine völlig von der Indienroute abwich, aber Blavatski stürzt sich mitnichten auf sie. Weit entfernt, sie schmoren zu lassen, verschanzt er sich hinter einer verächtlichen Zurückhaltung. Man könnte meinen, er habe Angst, mehr zu erfahren.
Anhaltendes Schweigen folgt den Worten der Murzec. Wenn sie nicht unerbittlich auf ihrer demutsvollen Haltung beharrte, würde sie wohl den Fehdehandschuh aufheben und die Mehrheit bis in ihre letzten Schlupfwinkel verfolgen. Statt dessen nimmt sie voll Ergebenheit hin, daß ihre Bemerkungen mißachtet werden, und schweigt, die harten Augen sanft auf ihre knochigen Knie niedergeschlagen.
Die Stewardess räumt die Tabletts weg, und Robbie nutzt ihre Abwesenheit, um sich neben mich zu setzen und sich nett und taktvoll nach meinem Gesundheitszustand zu erkundigen. Ich teile ihm jetzt meine Beobachtungen über den Treibstoff der Chartermaschine mit, und er gibt mir die bereits erwähnte Antwort: »Das hat nichts mit Science-fiction zu tun.«
Aber unser Gespräch ist damit nicht zu Ende. Obwohl ich nicht sicher bin, seine Worte richtig verstanden zu haben, bin ich doch überzeugt, daß er sie nicht ohne Grund gesagt hat. Ich setze großes Vertrauen in sein Auffassungsvermögen und in seine Sensibilität. Und ich sage mit einer Stimme, deren Schwäche ich zu verbergen suche:
»Jedesmal wenn ich mich bemühe, die Situation zu begreifen, stoße ich auf eine Mauer. Das ist beängstigend. Ich vermag auf keine der Fragen zu antworten, die ich mir stelle. Zum Beispiel, warum hat das Flugzeug keinen Piloten?«
Robbie, der auf dem Sessel der Stewardess eine graziöse Pose eingenommen und seine langen Beine ineinander verschlungen hat wie Jonquillenstiele in einer Vase, sieht mich ernsthaft an.
»Sergius, Sie fragen nach der Finalität dieses Fluges ohne Besatzung? Vielleicht hat er gar keinen Sinn … Hat denn das Leben selbst einen Sinn? Ah ja, gewiß«, fügt er mit einem schalkhaften Aufblitzen in den Augen hinzu, »Sie glauben, daß es einen Sinn hat, da Sie ja Christ sind. Also gut, versuchen wir einen zu entdecken, auch hier … Was meinen Sie? Welchen Sinn kann dieser ferngesteuerte Flug haben?«
»Aber ich habe Ihnen doch eben gesagt, daß ich keinen erkenne«, antworte ich und verdränge eine Anwandlung von Nervosität, die auf meine Schwäche zurückzuführen ist.
»Aber ja doch«, sagt Robbie. »Zum Beispiel könnte man sagen, daß keine Besatzung auf die Dauer diese Art Flug akzeptiert hätte.«
»Diese Art Flug?«
»Sie wissen schon, was ich meine«, antwortet Robbie leiser. »Ein Flug, wie soll ich es nennen? der so unbestimmt ist …«
Ich bin ihm für seine Diskretion dankbar, denn der Kreis hört uns mit wachsender Mißbilligung zu.
Einen Augenblick später fahre ich fort: »Sie meinen, eine Besatzung hätte gegen diesen ziellosen Flug meutern und beschließen können zu landen?«
»Ja, genau das«, sagt Robbie. »Eine menschliche Besatzung hätte einen Unsicherheitsfaktor dargestellt, der durch die Fernsteuerung gänzlich ausgeschaltet ist. Die Fernsteuerung liefert uns völlig der Willkür des BODENS aus«, fügt er etwas später hinzu.
Schweigen. Obwohl unsere leise geführte Diskussion privaten Charakter trägt, ruft sie im Kreis zwei sehr unterschiedliche Reaktionen hervor, beide gleichermaßen heftig.
»Ich bitte Sie!« ruft die Murzec mit schmerzerfüllter Stimme aus und richtet ihre vorwurfsvollen Augen auf Robbie. »Sprechen Sie nicht von der ›Willkür‹ des BODENS! Was Sie Willkür nennen, ist ganz einfach ein Wille, den zu begreifen wir nicht imstande sind.«
Dieser Einwurf überrascht mich, denn er beweist, daß die Minderheit, zu der die Murzec doch ebenso gehört wie wir, in ihren Interpretationen gespalten ist. Aber mir bleibt keine Zeit, mich bei diesen Nuancen aufzuhalten. Caramans greift ganz offiziell ein.
»Meine Herren«, sagt er – er sieht Robbie nicht an, sondern wendet sich ausschließlich an mich –, »ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich die größten Vorbehalte habe gegenüber den phantastischen Hypothesen, die ich soeben hörte. Es mag sein, daß diese Chartermaschine weder der gleichen Route noch dem gleichen Zeitplan wie die Linienmaschine folgt, aber für mich liegt kein ernsthafter Grund zu der Annahme vor, daß sie nicht ans Ziel gelangen wird.«
Caramans wiederholt sich. Er hat das alles bereits gesagt, nur der kleine Satz über »Route und Zeitplan« ist ihm eben noch eingefallen, um ihn der Murzec entgegenzuhalten. Ein verspäteter und nicht gerade glücklicher Einfall, denn sofern sich die Geographie nicht ändert, stehen so viele Flugrouten von Paris nach Indien nicht zur Auswahl.
Caramans hat in einem strengen Ton gesprochen und findet im Kreis, auch bei Blavatski, herzlichere Zustimmung als bisher. Robbie bricht unvermittelt in Lachen aus, in sein schrilles, flötendes Lachen, das einem tatsächlich auf die Nerven gehen kann. Für mein Teil empfinde ich es fast als peinlich, aus nächster Nähe das Schauspiel der Grimassen, Zuckungen und Verrenkungen mit anzusehen, die sein Lachen begleiten. Noch größer ist meine Verlegenheit, als er mir mit dem Gesicht so nahe kommt, daß ich schon glaube, er will mich küssen. Er tut es nicht, Gott sei Dank, sondern flüstert mir spöttisch ins Ohr: »Der gute alte Mythos von Madrapour – wie sie sich daran klammern!«
Dieser Satz mißfällt mir, ich weiß nicht warum. Ich habe den Eindruck, daß er auch an meine eigene Überzeugung rührt, obwohl ich jetzt beinahe sicher bin, daß wir niemals in Madrapour landen werden.
Ich will das Gespräch auf weniger gefährliche Themen lenken und sage ganz leise, um nicht aufs neue die Feindseligkeit des Kreises herauszufordern:
»Aber was ist nach Ihrer Ansicht der Grund für unsere Anwesenheit hier? Was hat man mit uns vor? Sind wir die Versuchstiere für ein Experiment?«
»Ach, Monsieur Sergius!« sagt Robbie mitleidig. »Sie fallen wieder in die Science-fiction zurück!«
Mein Zustand macht mich ohne Zweifel reizbar, denn ich entgegne abwehrend: »Hören Sie, Robbie, lassen Sie diesen Ton. Meine These ist gar nicht so abwegig. Letzten Endes ist es nicht von der Hand zu weisen: wir stehen in einer bestimmten Verbindung zum BODEN! Er hört uns, beobachtet uns, lenkt uns.«
»Ja«, sagt Robbie äußerst lebhaft, als hätte er auf diese Bemerkung gewartet, um sie zu widerlegen. »Aber das bedeutet nicht, daß diese Beziehung menschlich wäre! Keinen Anthropomorphismus, Sergius! Der BODEN ist nicht zwangsläufig eine böswillige Kraft – oder eine gutwillige, wie unsere Freundin glaubt (er deutet mit dem Kopf zur Murzec) … Im übrigen hat uns schon der Inder vor solchen Interpretationen gewarnt.«
»Aber was sollen wir dann hier?« frage ich erregt.
Robbie sieht mich lange nachdenklich an und sagt mit seiner seltsam flötenden Stimme: »Mit so wenig Zeit hinter uns, wollen Sie sagen, und so wenig Zeit vor uns?«
Ich bin bestürzt über die Art, wie er meine Frage gedeutet hat, und gleichzeitig so von der Angst gelähmt, daß mein Mund plötzlich ganz trocken wird. Diese Frage habe ich gewiß nicht stellen wollen, und doch treibt mich irgendeine Kraft, wortlos zuzustimmen und zu nicken, als ob ich sagte: ja, Robbie, was sollen wir hier, mit so wenig Zeit hinter uns und so wenig vor uns? Aber wie kann ich plötzlich so sicher sein, daß die Augenblicke, die uns dem Ende näher bringen, so schnell verrinnen?
Robbie sieht mich mit einer Ironie an, in der viel Freundlichkeit mitschwingt, und sagt leise: »Diese Frage, Sergius, hätten Sie sich ebensogut auf der Erde stellen können.«
Ich bin so betroffen von der Richtigkeit dieser Bemerkung, daß ich zunächst gar nicht merke, daß Robbie meine Frage nicht beantwortet hat. Wie aber hätte er denn Antwort geben sollen? Töricht von mir, eine Antwort zu erwarten, als wüßte er mehr als ich über den Sinn des Lebens. Indessen ruhen seine hellbraunen Augen mit freundlichem, ernsthaftem Ausdruck auf mir, er sagt nichts, er tut nichts, er verzichtet auf sein geziertes Gebaren (Schütteln der Locken, Beine ineinanderschlingen, spinnenhafte Armbewegungen), das die Mehrheit so zu irritieren scheint.
Dann wird sein Blick noch milder, als ob mich aus der Tiefe seiner Augen die Frau ansähe, die eingeschlossen in ihm lebt unter dieser männlichen Hülle, die sie von innen her nie ganz hat verwandeln können. Ein Wesen offenbar, das ob seiner gespaltenen Natur in der Gesellschaft viel hat leiden müssen, denn die Welt besteht nicht vorwiegend aus Heimchen, sondern aus Caramans’.
»Sie sind in großer Sorge, Sergius«, sagt er schließlich und beugt sich teilnahmsvoll zu mir. »Sie sollten sich entspannen, an anderes denken. Zum Beispiel«, fügt er mit rührender Großzügigkeit hinzu, »an Ihre kleine Nachbarin, wenn sie zurückkommt. Oder tröstlichen Gedanken nachhängen (er setzt »tröstlichen« in Anführung und läßt dem Wort ein kurzes Lachen folgen); ich zum Beispiel, seit ich begriffen habe, daß wir (er senkt die Stimme) Gefangene in diesem Flugzeug sind, spreche ein deutsches Sprichwort vor mich hin: wollen Sie es hören?
Schön ist’s vielleicht anderswo,
doch hier sind wir sowieso.
Sie werden bemerken, daß es wie alle volkstümlichen Sprichwörter eine stoische Maxime enthält. Und die Bündigkeit des Deutschen verleiht ihm viel Kraft. Wie würden Sie das ins Französische übersetzen, Sergius, ohne es zu sehr auszuwalzen? Ich habe es mir so gedacht:
Il y a peut-être un ailleurs où on serait bien,
Mais en attendant, c’est ici que nous sommes.«
»Nein, nein«, sage ich, sofort im Banne meines Berufs. »Un ailleurs ist viel zu modern. Das trifft nicht den richtigen Ton. Und Ihr en attendant ist ein Kommentar. Ich schlage Ihnen etwas viel Einfacheres vor:
Un endroit où nous serions bien existe peut-être,
Mais malgré tout c’est ici que nous sommes.«
»Sie ziehen un endroit gegenüber un ailleurs vor?« fragt Robbie zweifelnd.
»O ja, unbedingt«, antworte ich.
Ich schweige, überrascht, daß ich nach all den beunruhigenden Fragen noch mit so lebhaftem Interesse über ein so nebensächliches Übersetzungsproblem zu diskutieren vermochte. In diesem Moment fällt mein Blick auf Bouchoix. Ich beuge mich zu Robbie vor (nicht ohne Mühe, denn selbst die geringste Bewegung kostet mich zuviel Kraft) und flüstere ihm ins Ohr: »Glauben Sie, daß dieser Mann sterben wird?«
Robbie nickt und zieht dabei die Brauen hoch, als wunderte er sich über meine Frage. Im selben Moment – Zufall oder Gedankenübertragung – öffnet Bouchoix die Augen und starrt mich an. Er sitzt nicht, sondern liegt in dem zurückgeschobenen Sessel; die Decke, in die Pacaud ihn gewickelt hat, reicht ihm bis zum Hals; die skeletthaften Hände auf der Brust gefaltet, gleicht er in Haltung und Reglosigkeit einer steinernen Grabmalfigur. Wie seine Gesichtszüge sich verändert haben! Beim Betreten der Maschine am Abend zuvor ist mir dieser Mitreisende kaum aufgefallen, der wohl magerer als die anderen war, seinen Gesten und seiner Stimme zufolge aber nicht zwangsläufig ein Kranker sein mußte. Und jetzt ist sein Körper steif wie ein Leichnam, und in seiner Totenmaske leben nur die tiefschwarzen Augen, die mich mit unglaublicher Bosheit anstarren. Ich versuche, den Kopf abzuwenden, es gelingt mir nicht. Sein Blick läßt mich nicht los. Und ich lese darin den Haß, den er mir entgegenbringt, weil ich gewagt habe, Robbie leise zu fragen, ob dieser Mann sterben wird. Ich habe seine Antwort. Sie funkelt in seinen schwarzen Augen, die mir nicht nur einmal, sondern immerfort mit gräßlicher, aufdringlicher Beharrlichkeit sagen: Du auch.
Ich kann diesen Blick nicht ertragen. Ich schließe die Augen, und als ich sie wieder öffne, ist Robbie nicht mehr neben mir. Er hat wohl angenommen, daß unser Gespräch mich zu sehr angestrengt hat, und ist auf seinen Platz zurückgekehrt, von der kräftigen Faust seiner Nachbarin sogleich doppelt vertäut; Madame Edmonde hat den Enterhaken über seinen zarten Arm geworfen, beugt sich über ihn wie eine Löwin über die Gazelle, die sie in Stücke reißen wird, und läßt sich mit leiser Stimme unsere Unterhaltung wiedergeben.
Nach getaner Arbeit setzt sich die Stewardess wieder neben mich und überläßt mir wie selbstverständlich ihre kleine Hand, die vom Waschen angenehm kühl ist. Dank dieser Frische erscheint sie mir noch zarter, noch zierlicher sogar. Ihre schlanken Finger ruhen nicht in meiner Hand wie tot, sondern sind im Gegenteil ständig in Bewegung wie vertraute kleine Lebewesen, die sich an meine Finger schmiegen, sich wieder von ihnen lösen, sie behutsam streifen, meinen Daumen umspannen und ihn leicht massieren. Keine Frau hat mir jemals allein durch das Streicheln meiner Hand soviel Freude bereitet, keine hat vermocht, soviel Zärtlichkeit und stille Komplizenschaft in diese Geste zu legen.
In diesem Zustand großer Schwäche, da mein Leben aus allen Poren zu fliehen scheint, da ich mir so viele quälende Fragen über das Ziel unserer Reise stelle, kann ich nicht genug dankbar sein für die Aufmerksamkeit, welche die Stewardess mir so beständig erweist. Geliebt zu werden ist immer mehr oder weniger unverdient. Gewiß, ich bin nicht sicher, ob die Stewardess mich liebt – aber möglicherweise ist dieser Zweifel gerade die Grundsubstanz der Liebe. Übrigens weiß ich vielleicht gar nicht, was das Wort »lieben« in diesem Fall bedeutet: sie ist so schön, und ich bin es so wenig. Anderseits, was kann der Stewardess daran gelegen sein, einem »Passagier« (mir schnürt sich bei diesem Wort die Kehle zu) etwas vorzugaukeln? Tatsache ist: sie gibt mir viel, ganz ungezwungen und wie selbstverständlich, als belohnte sie außerordentliche Verdienste – während ich gar keine habe, ausgenommen vielleicht die Sensibilität, die mir erlaubt, die Unermeßlichkeit ihres Geschenks zu erkennen.
Ich frage mich immer, ob ich die Stewardess hinreichend beschrieben habe. Ich möchte nicht, daß man sie mit den Augen eines Caramans, eines Blavatski sieht – oder mit denen einer Mrs. Banister, so böswillig, wenn es um eine Frau geht. Die Stewardess ist bildschön: klein, zierlich, fast kindlich und rührend, aber nicht affektiert. Von ihr strahlt eine Würde aus, die auf ihren Blicken und ihrem Schweigen beruht. Trotz aller Selbstbeherrschung lebt ihr Gesicht. Ich weiß im voraus, wann ihre grünen Augen dunkel werden und ihre Nasenflügel unmerklich beben. Zuerst fand ich den Mund zu klein. Doch dieser kleine Mund wird Lügen gestraft, wenn ich so sagen darf, durch ihre Brüste, die schwer und füllig sind. Darunter die zierliche Taille, ein schmaler Po und lange schlanke Beine. Ihre Gebärden sind immer sehr anmutig, und ich bin beinahe sicher, Mrs. Banister würde ihr »Ziererei« vorwerfen oder sie in ähnlicher Weise verunglimpfen. Natürlich stimmt das nicht. Ich, der ich sie liebe und sie infolgedessen sehe, wie sie ist, möchte sagen, daß die Stewardess in Gebärde und Haltung stets Übereinstimmung mit ihrer Schönheit zu wahren sucht.
Da niemand spricht – die Mehrheit begegnet den Bemerkungen der Murzec und dem ketzerischen Gespräch zwischen Robbie und mir weiterhin mit einer Flut des Schweigens –, habe ich Muße, mein Gesicht der Stewardess zuzuwenden und mich von ihrer Nähe durchdringen zu lassen. Und ich weiß nicht wieso, ich sehe sie in diesem Moment, da ich mit halbgeschlossenen Augen vor mich hin träume, nicht neben mir sitzen mit allen ihren Reizen, sondern begegne ihr in einer Straße von Paris: plötzlich taucht sie auf an der Ecke des Boulevards und löst sich, klein und zierlich, aus der Schar der Passanten; ihr feines, weiches goldblondes Haar glänzt in der Sonne, und sie kommt auf mich zu, schlank und rund, den Kopf leicht zur Seite geneigt.
Doch hier sind wir sowieso, ja, hier bin ich eingesperrt, und die liebkosende Hand der Stewardess und das Sprichwort, das Robbie mir geschenkt hat, sind mein einziger Trost. Ich wiederhole mir das Sprichwort in beiden Sprachen: In seiner kindlich-naiven Schlichtheit enthält es ein Resümee des ganzen Lebens. Alle Tränen sind darin, kaum noch zurückgehalten.
Ich mache die Augen weiter auf, richte mich in meinem Sessel empor und vergesse in den folgenden Minuten fast meinen Zustand. Der Kreis ist aus seiner Trägheit erwacht. Es knistert in der Luft: Manzoni hat seine so lange erwartete und so lange hinausgezögerte Verführungsattacke auf Mrs. Banister in die Wege geleitet.
Sofern es nicht die Frucht eines automatischen Donjuanismus ist, setzt dieses Unterfangen jene optimistische Sicht auf die Zukunft voraus, die nur noch der Mehrheit eigen ist.
Ich habe den Beginn des Dialogs nicht gehört. Ich muß vor mich hin gedämmert haben. Geweckt haben mich die Kampfvorbereitungen, die Mrs. Banister trifft, als der Feind vertrauensvoll und ohne Deckung schon bis zum Fuß ihrer Mauern vorgedrungen ist. Wenn er sich einbildet, man werde ihm kurzerhand die Tore öffnen, ihn mit Blumengebinden und wehenden Fahnen empfangen, irrt er sich. Kerzengerade in ihrem Sessel sitzend, Schultern zurück, Busen vor, beide Hände auf die Seitenlehnen gestützt, thront Mrs. Banister in einer Pose herzoglicher Würde und hat ihre japanischen Augen wie winzige Schießscharten zusammengezogen. Unter ihrer spitzen, furchterregenden kleinen Nase lächelt sie mit trügerischem Charme und zeigt ihre raubgierigen kleinen Zähne. Herablassend hat sie ihrem Nachbarn den Kopf zugewandt, was ihr von vornherein einen riesigen Vorteil einräumt, denn alle bissigen Bemerkungen, die sie innerhalb ihrer Schutzwehr zusammengetragen hat, werden von oben auf den schönen Italiener niederprasseln. Und er ahnt natürlich nichts. Stolz auf sein schönes Gesicht eines römischen Kaisers, männlich und verweichlicht zugleich, rückt er in seinem fast weißen Anzug mit der vorbildlich gebundenen Krawatte vor. Wie sollte er auch seiner nicht sicher sein nach all den Angeboten, die man ihm gemacht: Blicke, Berührungen, Händedrücke, gespielte Verwirrung?
Ich weiß nicht, wie Manzoni das erste Scharmützel eingeleitet hat, aber ich sehe, wie es ausgehen wird: eher schief. Für den Gegenangriff bedient man sich seiner Herkunft – ein Geschoß, das ausgiebig poliert worden ist, bevor es auf ihn abgefeuert wird.
»Stammen Sie von dem berühmten Alessandro Manzoni ab?« fragt Mrs. Banister.
Sie sagt es mit gespitzten Lippen, hoheitsvoll, als gäbe es für sie keinen Zweifel, daß sich ihr Gesprächspartner keinesfalls einer so literarischen und überdies adligen Herkunft rühmen kann. Der unvorbereitete Manzoni begeht seinen ersten Fehler: weder wagt er, die ihm strittig gemachte Ehre für sich zu beanspruchen, noch will er völlig darauf verzichten.
»Vielleicht«, sagt er ausweichend. »Durchaus möglich.«
Eine recht unglückliche Antwort, die uns alle überzeugt, daß in der Tat nur eine Homonymie vorliegt. Und Mrs. Banister geht voll in die Offensive.
»Aber ich bitte Sie«, sagt sie noch hoheitsvoller, »da gibt es kein ›vielleicht‹ oder ›durchaus möglich‹. Wenn Sie von dem berühmten Manzoni abstammten, der einer alten Adelsfamilie aus Turin angehört und so schöne Verse geschrieben hat (die sie sicher nie gelesen hat), wüßten Sie es! Jeder Zweifel wäre ausgeschlossen!«
»Gut, dann stamme ich wohl nicht von ihm ab«, sagt Manzoni.
»Und warum haben Sie versucht, uns das Gegenteil zu suggerieren? (An dieser Stelle erlaubt sie sich zu lachen.) Sie wissen, daß ich kein Snob bin«, fährt Mrs. Banister fort. (Manzoni sieht sie sprachlos an.) »Sie können ein absolut anständiger Mann sein, auch ohne von Manzoni abzustammen. Es lohnt nicht, sich zu brüsten.«
»Ich habe mich doch gar nicht gebrüstet!« sagt Manzoni, über soviel Ungerechtigkeit empört. »Sie selbst haben dieses Problem zur Sprache gebracht, nicht ich.«
»Aber Sie haben durch eine zweideutige Antwort Zweifel aufkommen lassen«, antwortet Mrs. Banister mit spöttischkokettem Lächeln.
»Ich habe irgendwas geantwortet«, sagt Manzoni völlig verwirrt, »und der Frage keine große Bedeutung beigemessen.«
»Wie denn, Signor Manzoni, Sie messen dem, was ich sage, keine Bedeutung bei? Warum richten Sie dann das Wort an mich?«
Manzoni wird rot und ist verzweifelt. Er nimmt mehrfach Anlauf, zu antworten, bleibt aber jedesmal stecken. Robbie kommt ihm zu Hilfe. Er beugt sich vor und sagt ganz ruhig zu Mrs. Banister:
»Da Sie Alessandro Manzonis Biographie so gut kennen, wissen Sie selbstverständlich auch, daß er in Mailand geboren ist und nicht in Turin, wie Sie sagten.«
Ein wenig pedantisch, aber es sitzt. Mrs. Banister stellt ihre Offensive ein. Im übrigen denkt sie nach. Sie steht vor einem heiklen Problem. Nach dieser Abfuhr muß sie mit dem Angreifer »in Kontakt« bleiben. Es gilt, ihn zu strafen und gefügig zu machen, nicht aber zu verprellen.
Sie beugt graziös ihren präraffaelitischen Hals, läßt durch die Drehung des Oberkörpers ihre Brüste hervortreten, kommt Manzoni dadurch auf verführerische Weise nahe, schenkt ihm ihr offenherzigstes Lächeln und taucht ihn in den vielversprechenden Blick ihrer schwarzen Augen. Madame Edmonde beobachtet diese schweigende Nummer voller Anerkennung. Die große Dame, wird sie denken, versteht sich besser anzubieten als jede Professionelle. Zumal Mrs. Banister, sowenig das Angebot an Eindeutigkeit zu wünschen übrigläßt, keinen Augenblick ihre hoheitsvolle Miene aufgibt.
Nach soviel Kälte in diesen warmen Luftstrom geraten, faßt Manzoni erneut Mut, wagt aber nicht, gleich wieder in die vollen zu gehen. Er sagt vorsichtig und mit der platten Höflichkeit eines wohlerzogenen kleinen Jungen, die mich bei einem Mann seines Kalibers überrascht: »Ich gestehe, daß Sie mich aus der Fassung bringen.«
»Ich?« Mrs. Banister legt ihre rechte Hand, die selbst ohne Ringe sehr hübsch ist, auf ihre linke Brust, um dadurch beide zur Geltung zu bringen, und fährt nach gebührender Pause mit klangvoller Stimme fort: »Soll das heißen, daß Sie mich rätselhaft finden?«
Robbie stößt Manzoni mit dem Ellenbogen an, aber eine Sekunde zu spät. Manzoni tappt blindlings in die Falle: er glaubt die weibliche Seele zu kennen.
»Aber ja«, sagt er beflissen und in der Gewißheit zu gefallen. »Sie sind für mich ein Rätsel.«
Mrs. Banister überläuft ein kleiner Schauer des Entzückens. Sie richtet sich auf und sagt mit einer Stimme, die starr und kalt ist wie ein Fallbeil: »Sie spielen immer die gleiche Leier.«
»Ich?«
»Mit dem Geheimnisvollen haben Sie es schon bei Michou versucht.«
»Aber erlauben Sie«, erwidert Manzoni sehr verlegen, »das ist doch nicht dasselbe.«
»Es ist dasselbe«, unterbricht ihn Mrs. Banister rücksichtslos. »Sie enttäuschen mich sehr, Signor Manzoni. Ich hatte geglaubt, Sie würden sich bei mir etwas einfallen lassen. Aber Sie benutzen bei allen Frauen den gleichen Trick. Sie haben ihn parat. Verführung vom Fließband. Ich habe, offen gestanden, mehr erwartet.«
»Lassen Sie doch«, sagt Robbie leise und gibt Manzoni erneut einen Stoß, der sich aber hartnäckig rechtfertigen will, obwohl er nur zu schweigen brauchte, um wieder Oberhand zu gewinnen.
»Sie haben mich nicht verstanden«, sagt Manzoni mit jener Höflichkeit, derentwegen er mir etwas leid tut, weil er damit nicht ankommen wird gegen eine Frau, die unter dem Firnis der guten Manieren zynisch ist. »Bei Michou hat mich nur verwundert, daß sie immer wieder denselben Kriminalroman las.«
Von gegenüber sieht Michou ihn durch ihre Locke hindurch mit abgrundtiefer Verachtung an, sagt aber kein Wort.
»Sie sind ein schrecklicher Lügner, Signor Manzoni«, sagt Mrs. Banister mit hochmütigem Lächeln. »Michou hat Ihnen gefallen. Sie war die erste auf Ihrer Liste, und Sie haben versucht, sie einzufangen. Ohne jeglichen Erfolg.«
»Na ja, ohne jeglichen Erfolg, das dürfte nicht ganz wörtlich zu nehmen sein«, wirft Robbie hinterhältig dazwischen.
Ein Punkt für Manzoni. Aber Manzoni büßt ihn wegen seiner Wortklauberei sofort wieder ein.
»Die erste auf meiner Liste?« fragt er zweifelnd.
»Aber ja«, antwortet Mrs. Banister mit einer gleichgültigen, unverbindlichen Miene, die nichts Gutes verheißt. »Als Sie in dieser Maschine Platz nahmen, haben Sie sich umgesehen und Michou, der Stewardess und mir, einer nach der andern in dieser Reihenfolge, einen Besitzerblick zugeworfen. Das war sehr amüsant! (Sie lacht.) Was glauben Sie, ich fühle mich ziemlich geschmeichelt: Sie hätten mich ja auch übersehen können. Anderseits, wie soll ich jemals darüber hinwegkommen, daß ich nicht die erste war?« fügt sie mit niederschmetternder Herablassung hinzu.
»Aber ich mache Michou doch gar nicht den Hof«, sagt Manzoni einfallslos. »Michou ist für mich erledigt.«
»Ist für Sie erledigt?« Mrs. Banister vergißt eine knappe Sekunde lang ihre Rolle. Ihr Atem geht schneller, ihre Wimpern flattern, während sie Manzoni ansieht.
Alles in allem war sie sich ihrer also gar nicht so sicher.
Und er war gar nicht so ungeschickt.
Doch, er ist es! Denn er fühlt sich verpflichtet hinzuzusetzen: »In Wirklichkeit habe ich mich geirrt. Michou ist ein absolut unreifes Mädchen, das die Leidenschaft einer Halbwüchsigen für einen Tapergreis empfindet.«
Schweigen. Eine – obendrein sinnlose – Flegelei, die uns verwundert.
»So ein Idiot, dieser Kerl!« sagt Michou gelassen, von ihrem linken Nachbarn wegen ihrer Grobheit sofort ermahnt.
Die Locke über dem Auge, schweigt Michou zufrieden. Sie hat sich ein doppeltes Vergnügen gegönnt: sie hat Manzoni beleidigt und sich einen Vorwurf von Pacaud zugezogen.
»Sie lügen schon wieder«, sagt Mrs. Banister von oben herab. »Michou ist zwanzig, Sie geben ihr den Vorzug.«
»Keineswegs«, sagt Manzoni, der fühlt, wie wichtig es ist, diesen Punkt abzustreiten, aber nicht recht weiß, wie er es anstellen soll, um sein Leugnen glaubwürdig zu machen.
Mrs. Banister sieht ihn an, und er fühlt sich durch diese schwarzen Pupillen, die in ihren grausamen Augenschlitzen funkeln, bis in seine letzten Verschanzungen zurückgedrängt. Fast stotternd sagt er:
»Das ist nicht der gleiche Reiz. Michou ist herb. Man bekommt stumpfe Zähne.«
»Während ich den Appetit anrege?« fragt Mrs. Banister in einem Ton, daß es einem kalt den Rücken hinunterläuft. Gleichzeitig lächelt sie herablassend, sie hat sich auf bewundernswerte Weise unter Kontrolle. »Wie wäre es denn, wenn Sie mich ausließen und sofort die Stewardess probierten, da Sie ohnehin uns alle vernaschen wollen? Allerdings«, fügt sie mit einem höhnischen kleinen Lächeln hinzu, »ist die Stewardess bereits in festen Händen und wird offensichtlich gut beschützt.«
Robbie stößt Manzoni erneut seinen spitzen Ellenbogen in die Seite, und diesmal begreift der Italiener: er schweigt, wartet ab und sucht unterdessen ringsum die Fetzen seiner Eigenliebe zusammen.
Dieses Gespräch hat mich abgelenkt und zeitweilig sogar belustigt. Jetzt aber, da es beendet ist, überfällt mich ein Gefühl der Ungläubigkeit, so unvorstellbar abwegig will es mir in unserer augenblicklichen Lage vorkommen.
Oh, ich weiß, diese Szene ist für Mrs. Banister vielleicht ein Mittel, sich zu beruhigen, sich zu überzeugen, daß alles normal verläuft und das etwas langwierige Abenteuer bald in einem Vier-Sterne-Hotel am Ufer eines Sees in Madrapour sein Ende finden wird. Denn unsere viudas schmachteten von Anfang an nach ihren Bequemlichkeiten. Mrs. Banister spricht fortwährend von dem genußvollen Bad, das sie nach der Ankunft nehmen wird, und Mrs. Boyd von den Mahlzeiten auf der Terrasse des Panoramarestaurants. Irgendwo gibt es in Mrs. Banisters Programm implizit auch ein diskretes Klopfen an die Tür ihres Zimmers zum See hinaus, und wenn sich die Tür öffnet, erscheint Manzoni: ein zusätzlicher Komfort. Er wird jeden Abend kommen, denkt sie, dieser große, einfältige, gelehrige Geck. Daher die Notwendigkeit, schon im Flugzeug mit der Zähmung zu beginnen.
Für die viudas und insbesondere für Mrs. Banister, deren Rechte obendrein alt und hochherrschaftlich sind, versteht sich der glückliche Ausgang von selbst. Madrapour gebührt ihr einfach. An keinem Ort der Welt und in keinem Augenblick ihres Lebens kann Mrs. Banister etwas wirklich Unerfreuliches zustoßen. Ihr seliger Vater und ihr seliger Mann haben sie in der Kategorie der Luxustouristen so hoch plaziert, daß sie über alles erhaben ist und sich kaum noch als »Passagier« ansieht. Ich empfinde irgendwie Mitleid für sie. Ich weiß eigentlich nicht warum, denn sie braucht nicht sonderlich bedauert zu werden. Jedenfalls nicht mehr und nicht weniger als wir alle.
Nach dem grausamen Verführungsschauspiel von Mrs. Banister und dem Zeitvertreib, den es uns beschert hat, tritt für den Kreis, der in Schweigen und untätiges Warten versinkt, ein Leerlauf ein, der ziemlich lange dauert und fast schwerer zu ertragen ist als die hinter uns liegenden dramatischen Momente. Wir haben alle unsere Gründe, so verschieden sie sein mögen, nicht den Mund aufzumachen. Das strenge Zureiten, dem sich Mrs. Banister auf ihrem Hengst unterzogen hat, schließt eine so optimistische Zukunftsprognose ein, daß nicht einmal die Führer der Mehrheit wagen, sich ihr anzuschließen. Und was uns betrifft, the unhappy few – die Murzec, die Stewardess, Robbie und ich, die wir ohnehin scheel angesehen werden, weil wir zu früh recht hatten –, wir verspüren wenig Lust, unsere Reisegefährten erneut in Verwirrung und Unruhe zu stürzen, indem wir wiederholen, was wir denken.
Inmitten dieses gespannten, unbehaglichen Schweigens, während die Sonne im Wolkenmeer untergeht, hören wir plötzlich Bouchoix laut röcheln und sehen, wie seine Hände krampfhaft zucken und wie er beständig den Kopf abwechselnd nach rechts und nach links dreht, als wollte er, wenn er auf der einen Seite keine Luft bekommt, auf der anderen versuchen, seine Lungen zu füllen, in seiner Hoffnung immerfort getäuscht. Sein Röcheln ist ein endloses tiefes Schnarren, so wenig menschlich und so abstoßend mechanisch, daß uns das Blut erstarrt. Wenn es vorübergehend aussetzt, wird ein zischendes Pfeifen laut, wie wenn aus einem Reifen Luft entweicht, oder ein herzzerreißendes Stöhnen dringt über die fleischlosen, blutleeren Lippen in dem schweißbedeckten Gesicht. Sosehr wir uns damit trösten, daß Bouchoix vielleicht schon im Koma liegt und die Schmerzen nicht mehr wahrnimmt – die Wirkung auf unsere Nerven ist kaum erträglich. Pacaud, dessen Augen fast aus ihren Höhlen treten und dem der Schweiß über den kahlen Schädel rinnt, bedrängt seinen Schwager mit angstvollen Fragen, die ohne Antwort bleiben; Bouchoix’ starre, weit aufgerissene schwarze Augen verraten nicht das geringste Anzeichen von Leben.
»Sie sehen doch, daß Ihr Schwager nicht sprechen kann«, sagt Blavatski in einem aggressiven Tonfall, der nicht recht zu dem mitleidigen Ausdruck seiner kurzsichtigen Augen passen will. Achselzuckend, als ob ihn das Geschehen völlig kalt ließe, fährt er auf englisch mit brutaler, vulgärer Stimme fort: »Der kratzt jetzt ab.«
Als ein Mann, der zu handeln gewohnt ist, schnellt er gleichzeitig aus seinem Sessel hoch und tritt nervös von einem Bein aufs andere, beide Daumen im Gürtel seiner Hose verhakt, das Kinn vorgeschoben.
»Man müßte trotzdem etwas für ihn tun«, sagt er wütend und läßt einen anklagenden Blick über den Kreis schweifen, als machte er uns unsere Machtlosigkeit zum Vorwurf.
Dieser Vorwurf ist so absurd, daß niemand antwortet. Blavatski bleibt stehen, zu handeln entschlossen, aber er macht keinen Vorschlag, schaukelt nur wie ein Bär von einer Seite auf die andere, mit einer Regelmäßigkeit, daß einem übel wird.
»Wenn ich Kölnischwasser hätte, würde ich ihm die Stirn betupfen«, sagt die Stewardess, die beinahe farblosen Brauen voller Besorgnis hochgezogen.
»Kölnischwasser!« höhnt Blavatski. »Mit Kölnischwasser wollen Sie ihn behandeln!«
»Nein, nicht behandeln«, sagt die Stewardess, zum erstenmal sichtlich verärgert. »Aber ihm vielleicht Erleichterung verschaffen.«
Blavatski wechselt sofort die Stellung und greift die von ihm verschmähte Idee auf; als beherrschte er jetzt wieder die Situation, fragt er laut und energisch: »Wer hat in seinem Handgepäck Kölnischwasser?«
Er läßt seinen Blick über den Kreis schweifen, und bei jeder Kopfbewegung funkeln seine dicken Brillengläser. Keine Antwort. Nach einer vollen Minute des Schweigens wendet sich die Murzec an Mrs. Boyd.
»Entschuldigen Sie meine Indiskretion, aber hatten Sie nicht ein Fläschchen in Ihrer Tasche?«
Das runde Gesicht von Mrs. Boyd errötet, und ich bemerke zum erstenmal, daß ihre Frisur seit dem Vortag ganz unverändert geblieben ist, die Locken so tadellos und steif, als wären sie aus Metall.
»Aber das ist doch kein Kölnischwasser«, sagt sie auf englisch mit ihrer Mädchenstimme, zwischen Angst und Indignation schwankend. »Das ist Toilettenwasser von Guerlain!«
»Madame«, ermahnt Blavatski sie laut, nach hinten wippend, als wollte er sich auf Mrs. Boyd katapultieren, »Sie werden doch einem Sterbenden nicht Ihr Kölnischwasser verweigern!«
»Wie? Was?« ruft Mrs. Boyd mit schriller Stimme und hebt erregt ihre rundlichen Hände. »Dieser Mann liegt im Sterben? Aber das wußte ich nicht! Man hat es mir nicht gesagt! Mademoiselle«, wendet sie sich erbost an die Stewardess, »die Chartergesellschaft darf den Passagieren einen solchen Anblick nicht zumuten! Das ist unverschämt! Man muß den Mann sofort in die Touristenklasse bringen!«
Betroffenes Schweigen. Pacaud, der vor Wut fast erstickt, öffnet den Mund, bringt aber kein einziges Wort hervor. Alle Augen richten sich auf Mrs. Boyd, die indessen, hinter ihrem guten Recht verschanzt, niemanden ansieht. Mit ihren kurzen Armen preßt sie die Krokodilledertasche an ihr Bäuchlein.
Mrs. Banister legt ihre Hand auf den Arm ihrer Freundin, beugt sich vor und flüstert ihr auf englisch ein paar Worte ins Ohr. Ermahnende Worte, vermute ich, denn Mrs. Banister nimmt jene engelgleiche Miene an, die sie schon bei unserer Selbstkritik im Falle Murzec aufgesetzt hat.
Schwer zu sagen, ob sie in diesem Falle aufrichtig ist oder nicht; sie ist um ihr Image besorgt, und Mitleid scheint nicht ihr dominierender Charakterzug zu sein. Nichtsdestoweniger setzt sie sich wohl in positivem Sinne ein. Allerdings vergebens. Denn je dringlicher sie insistiert, um so mehr versteinert sich das ängstliche Puppengesicht von Mrs. Boyd, das ein erstaunlicher Ausdruck von verletztem gutem Gewissen wie eine schützende Glasur überzieht.
»Nein, meine Liebe«, sagt sie schließlich mit zusammengepreßten Lippen, »was mir gehört, gehört mir, und ich verfüge darüber, wie es mir paßt. Die beiden Gangster haben mich schon genügend ausgeplündert. Das reicht mir.«
Mit ihren Kulleraugen blickt sie entschlossen geradeaus und preßt die Krokodilledertasche noch fester an sich.
»Wie Sie wollen«, sagt Mrs. Banister höflich und ein wenig pikiert.
Sie deutet ein für den Kreis bestimmtes Achselzucken an, dem eine sehr graziöse Beugung ihres Halses in Manzonis Richtung folgt. Die Gemeinsamkeit zweier auserwählter Herzen beschwörend, ruft sie ihn mit einem melancholischen Lächeln zum Zeugen ihrer Niederlage an.
»Mrs. Boyd«, sagt Blavatski mit dröhnender Stimme, »Ihr Egoismus überschreitet alle Grenzen! Wenn Sie der Stewardess nicht freiwillig Ihr Fläschchen Kölnischwasser geben …«
»Toilettenwasser«, verbessert ihn Mrs. Boyd.
»Das ist egal! Wenn Sie der Stewardess das Fläschchen nicht geben, nehme ich es Ihnen mit Gewalt weg!«
»Aber Monsieur Blavatski!« protestiert Caramans und hebt abwehrend seine rechte Hand. »Mit dieser Verfahrensweise bin ich nicht einverstanden. Sie gehen viel zu weit! Das Fläschchen gehört Mrs. Boyd! Und Sie können es ihr nicht wegnehmen!«
»Und wer sollte mich daran hindern?« fragt Blavatski, der angriffslustig Kampfstellung bezieht.
»Ich!« sagt Chrestopoulos, der seinerseits aufsteht und Blavatski gegenübertritt.
Er ist puterrot, er schnauft und schwitzt, aber in seinen kleinen Augen glitzert die Freude der Rache. Diese Herausforderung ist ein Schock für die Mehrheit, nicht an sich, sondern wegen ihrer Tragweite. Denn klar ist: wenn Chrestopoulos keine Angst mehr vor Blavatski hat, wenn er sogar wagt, gegen ihn aufzutreten und ihn zum Kampf aufzufordern, so ist die normale Ordnung der Dinge durcheinandergeraten.
Blavatski weiß das alles. Für ihn ist es ein doppelter Schock, denn seine Position im Flugzeug ist ebenso in Frage gestellt wie die von ihm geschaffene Hierarchie unter den Passagieren. Wenn er für den Griechen bislang nur abgrundtiefe Verachtung übrig hatte, so war es nicht allein die Verachtung des Polizisten gegenüber dem Drogenhändler, sondern galt gleichermaßen der äußeren Erscheinung von Chrestopoulos, seiner Kleidung, seinen Manieren, seinem Parfum und vielleicht, unbewußter, seiner Rasse und seiner Herkunft aus einem armen Land. Und jetzt wagt es diese Ratte, dieser Hergelaufene, ihn herauszufordern. Kinn vorgeschoben, Brust geschwellt, Beine gespreizt, wahrt Blavatski auf Grund eines eingeschliffenen Reflexes seine autoritäre Haltung. Aber man spürt, daß seine Vorstellung von sich selbst und seiner Rolle erschüttert ist. Während der wenigen Sekunden, die dem Ausruf des Griechen folgen, fühlt er sich, glaube ich, so unerträglich gedemütigt, daß er sein Gegenüber vielleicht niedergeschossen hätte, wenn ihm der Inder nicht die Waffe weggenommen hätte. Zumindest sehe ich, wie er mit der Hand unter seine linke Achsel greifen will. Aber er läßt die Hand gleich wieder fallen. Dann stützt er beide Hände in die Hüfte und verharrt in dieser heroischen Pose. Sein Gesicht verrät nach wie vor Entschlossenheit, aber er trifft keine Entscheidung, reagiert nicht auf die Herausforderung des Griechen.
Er bekommt Hilfe von einer Seite, von der er sie nie erwartet hätte. Mrs. Boyd sieht Chrestopoulos mit ihren runden Augen an. Verblüfft starrt sie auf diesen zweifelhaften Ritter. Seine Kühnheit, ihre Partei zu ergreifen, bringt sie mehr aus der Fassung als Blavatskis Drohungen.
»Ich habe nicht um Ihre Hilfe gebeten«, sagt sie schließlich verdrossen. »Und ich brauche auch niemanden.«
»Aber, aber …«, stammelt Chrestopoulos, empört über soviel Undankbarkeit, und vergißt in seiner Wut, daß er aufgestanden war, um Mrs. Boyd zu verteidigen. »Aber ich habe Sie auch nicht nach Ihrer Meinung gefragt, Sie alte Schildkröte!«
»Monsieur! Monsieur!« sagt Caramans, beide Hände priesterlich erhoben.
»Hört alle endlich auf!« schreit fast zur gleichen Zeit Pacaud. In seinen großen geröteten Augen stehen Tränen, denen er freien Lauf läßt. »Lassen Sie meinen Schwager wenigstens ruhig sterben, wenn Sie nichts anderes für ihn tun können.«
Und der Zwischenfall endet genauso sinnlos, wie er begonnen hat. Blavatski setzt sich wortlos wieder hin, und eine Sekunde später folgt Chrestopoulos, rot, schwitzend und einen starken Geruch verbreitend, seinem Beispiel.
So peinlich dieser Zusammenstoß gewesen ist, sosehr er uns alle beschämt hat, die einsetzende Stille ist tausendmal schlimmer. Denn wieder hört man das Rasseln, das Pfeifen und Stöhnen, das von Bouchoix ausgeht. Der Lärm der Auseinandersetzung hatte es übertönt, inmitten unseres Schweigens klingt es noch schrecklicher als zuvor.
Das Entsetzliche an dieser Agonie ist, daß man sich mit ihr identifiziert, ich vor allem, da ich mich von Stunde zu Stunde schwächer fühle. Aber ich glaube, daß diese Identifikation in Abstufungen bei allen erfolgt, vielleicht mit Ausnahme von Mrs. Boyd, die mit geschlossenen Augen ihre Krokodilledertasche wie einen Schutzschild an sich preßt, der sie vor dem Tode bewahren soll. Mrs. Banister weiß sich, auch ohne die Lider zu senken, den Anblick des Sterbenden zu ersparen, indem sie ihren Kopf beständig Manzoni zuwendet.
Es versteht sich, daß sie sich auch ihre eigene Bestürzung zunutze macht, um ihr Anliegen voranzutreiben. Sie hat ihre Hand mit so dankbarer Miene Manzoni überlassen, als fühlte sie sich dadurch viel jünger und geschützter. Aber ihre Angst ist trotzdem zu erkennen, an ihrer Blässe und am Zittern ihrer Lippen. Michou bekommt die Grausamkeit der Situation doppelt zu spüren; zum einen hat sie die Ängste der zum Tode Verurteilten selbst durchlebt, zum andern fehlt ihr in dem Augenblick, wo sie ihn am meisten braucht, Pacauds Beistand.
Ihr glatzköpfiger Engel steht ihr nicht mehr zu Diensten. Er kehrt ihr den Rücken zu. Über seinen Schwager gebeugt, wischt er ihm ununterbrochen mit seinem Taschentuch Stirn und Lippen ab, während Bouchoix immerfort den Kopf auf der Sessellehne hin und her wendet und seine Lippen diesen entsetzlichen saugenden Laut ausstoßen, daß man meint, die Luft, die er gerade einatmet, werde die letzte sein.
Mrs. Boyd öffnet mit energischem Griff ihre Krokodilledertasche und holt eine kleine Plastschachtel daraus hervor, die sie Mrs. Banister anbietet.
»Was ist das?«
»Bällchen für die Ohren«, antwortet Mrs. Boyd.
Mrs. Banister zögert, doch offenbar fürchtet sie, sich häßlicher zu machen oder in Manzonis Augen lächerlich zu erscheinen, denn sie sagt leise: »Nein danke, ich bin das nicht gewöhnt.«
»Wie Sie wollen«, antwortet Mrs. Boyd frostig, sichtlich sehr gekränkt, weil man ihre Großzügigkeit zurückweist.
Sie nimmt zwei Bällchen aus der Schachtel, löst sie methodisch aus der Watteverpackung, preßt sie in eine längliche Form und stopft sie sich in die Ohren. Dann verschränkt sie ihre kurzen Arme über ihrer Tasche und schließt die Augen.
Ich selbst begnüge mich, die Augen abzuwenden und auf ein Kabinenfenster zu richten. Auch ich kann Bouchoix’ Anblick nicht mehr ertragen. Ich sehe mich zu leicht an seiner Stelle. Um genau zu sein: nicht die Anzeichen des Todes, der starre Blick, die eingefallenen Augen, die Leichenblässe sind für mich unerträglich, sondern was an Leben in ihm verblieben ist, an Abklatsch des Lebens: das krampfartige Zucken der Hände, die schaukelnden Bewegungen des Kopfes. Ich sehe sie sogar mit abgewendeten Augen. Und ich wiederhole mir endlos dieselbe Frage: Warum, Herr, warum muß man geboren werden, um so zu enden?
Durch das Kabinenfenster betrachte ich das Meer dichter, flockiger weißer Wolken – keine Lücke, durch die man den BODEN erkennen könnte, jenen BODEN, wo unsere Beherrscher sich aufhalten, die unumschränkt über uns gebieten. Diese Wolken sind von überwältigender Schönheit: die untergehende Sonne tönt sie mit einem Rosa, das mir auf unerklärliche Weise ein beglückendes Gefühl des Vertrauens eingibt. Aber hier und da sind in dem Gewoge auch zart malvenfarbene Flächen eingestreut. Und andere, wo die Wolken wie der weiße Flaum eines jungen Vogels ausgefasert sind. Abermals fühle ich in mir den wahnsinnigen Drang auf steigen, das Flugzeug zu verlassen und in diesen Wolken zu baden, in ihnen und auf ihnen zu schwimmen wie in den lauen Wassern des Mittelmeers. Aber natürlich darf man diesem Meer mit seinen zarten Farbtönen nicht trauen. Jenseits des Kabinenfensters ist einem der Tod genauso sicher wie diesseits.
Ich weiß es genau, aber das hindert mich nicht, mir sehnlichst zu wünschen, die Chartermaschine zu verlassen, so wie der Inder sich »vom Rad der Zeit losreißen« wollte. Oh, ich bin nicht wie Caramans, ich verstehe, was das bedeutet! Ich begreife auch, daß damit nichts gelöst wird. Sich vom Rad der Zeit losreißen? Ja! aber mit welchem Ziel? So nichtig das Leben sein mag, ist es doch mehr als diese Nicht-Existenz, nach der der Inder sich sehnte.
Ebenso ist es ein Traum, in 10 000 Meter Höhe und bei minus 55 Grad in den Wolken baden zu wollen. Eine Flucht, nicht mehr. Vogel Strauß mit dem Kopf im Sand oder mein Blick durch das Kabinenfenster, der mir ersparen soll, Bouchoix’ Agonie mit anzusehen, also meine eigene.
Doch hier sind wir sowieso, und wenn ich auch den Blick abwende, bleibt trotzdem mein geschwächter Körper in den Sessel gezwängt, wittert meine Nase den faden, süßlichen, penetranten Geruch des Todes. Ich weiß nicht einmal, ob er von diesem halben Leichnam ausgeht, der sich da vor uns noch bewegt mit jenem Röcheln, das den Atem karikiert, und jenen Zuckungen, die die Gebärden karikieren, als ob sich das Leben im Entschwinden selbst parodierte. Aber dieser Geruch ist da, so stark, daß er mühelos das billige Parfum von Chrestopoulos verdrängt oder das Toilettenwasser von Guerlain, das Mrs. Boyd dem Sterbenden verweigert hat und mit dem sie sich benetzt, nachdem sie ihre Augen geschlossen und ihre Ohren zugestopft hat. Ah, Mrs. Boyd, Sie sollten sich auch die Nase zustopfen! Ungeachtet Ihres lockenbewehrten Kopfes, Ihrer Krokodilledertasche und Ihres gepanzerten Herzens findet sich immer noch eine Lücke, durch die der Tod sich Zugang verschaffen kann.
Im Himmel die Sonne hinter einem Horizont von Wolken untergehen zu sehen ist nicht minder beunruhigend als auf der Erde hinter einem Hügel. Als sie endgültig untertaucht, zieht sich mir das Herz zusammen bei dem Gedanken, wie wenig Untergänge wir noch erleben werden, wir, die Passagiere.
Es ist soweit, sie hat keine Spur hinterlassen. Sie ist sehr schnell verschwunden, düster bricht die Nacht herein mit der Erinnerung an den Vortag. Ja, an den Vortag, und der scheint so weit zurückzuliegen! Michou erwartete in der Touristenklasse bei einem letzten fiebrigen Spiel mit Manzoni ihre Hinrichtung: die allem Leben innewohnende Unrast unheilvoll zusammengedrängt. Schnell! Schnell! Ein kurzes Aufzucken! Eine Sekunde Glück! Und es ist vorbei.
Schweigen, ganz plötzlich. Und in dieses Schweigen bricht eine schwache, tonlose Stimme hinein.
»Ich glaube, er ist tot.«
Ich hätte Pacauds Stimme nicht erkannt, und doch ist er es, der gesprochen hat und der uns hilfesuchend seinen kahlen Schädel, seine hervorquellenden großen Augen, seine ordinäre Nase und seine gütigen, lüsternen Lippen zuwendet. Er hält noch das schmutzige Taschentuch in den Händen, mit dem er Bouchoix’ Stirn und Lippen abgewischt hatte. Und von Bouchoix selbst hört man keinen Ton mehr. Er scheint zu schlafen, seine skeletthaften Hände liegen ausgestreckt auf der Decke, der Kopf ruht seitlich auf der Rückenlehne und schwankt nun nicht mehr zwischen der linken und der rechten Seite.
»Tot?« fragt Blavatski laut mit rauher, aggressiver Stimme. »Woher wissen Sie, daß er tot ist? Sind Sie Arzt?«
»Aber er bewegt sich nicht mehr, er atmet nicht mehr«, antwortet Pacaud, dessen hervorquellende Augen trotz allem eine gewisse Hoffnung verraten.
»Woher wissen Sie, daß er nicht mehr atmet?« fährt Blavatski fort, das breite Kinn kampflustig vorgeschoben. »Im übrigen ist das Atmen nicht unbedingt das Kriterium des Lebens«, ergänzt er mit erstaunlicher Spitzfindigkeit. »In den Reanimationszentren gibt es Leute, die unter dem Apparat atmen und trotzdem mausetot sind, da ihr Gehirn nicht mehr arbeitet.«
»Aber wir sind hier nicht im Krankenhaus«, wirft Caramans verdrossen ein. »Und wir haben keine Möglichkeit, ein Enzephalogramm zu machen.« Mit einem Unterton der Zurechtweisung fügt er hinzu: »Wir könnten wenigstens sein Herz abhören.«
Anfangs werden schüchtern noch Blicke getauscht, einige Sekunden später gibt es gar keine Blicke mehr. Niemand ist bereit, Bouchoix das Herz abzuhören, auch Caramans nicht. Nicht einmal Pacaud. Aber Pacaud, das muß man ihm zugute halten, will seine Befürchtung nicht gegen eine Gewißheit eintauschen.
Obwohl Mrs. Boyd weder Ohren noch Augen hat, muß sie die Veränderung der Situation bemerkt haben, denn sie schlägt die Lider auf, sieht Bouchoix an und zieht vorsichtig ihre Bällchen aus den Ohren, bereit, sie beim geringsten Alarmsignal wieder hineinzustopfen.
»Was ist los?« fragt sie und wendet sich mit einer ruckartigen Kopfbewegung ihrer Nachbarin zu.
»Aber Sie sehen doch, was los ist«, antwortet Mrs. Banister unwirsch, als ob es ihr widerstrebte, das Vorgefallene beim Namen zu nennen.
»Mein Gott!« sagt Mrs. Boyd und steckt, bevor sie ihren Gefühlen freien Lauf läßt, die beiden Bällchen wieder in die Plastschachtel und die Schachtel in ihre Tasche. »Mein Gott!« Sie läßt das vergoldete Schloß ihrer Tasche zuschnappen. »Aber das ist ja entsetzlich! Der Ärmste! So weit von den Seinen entfernt zu sterben! Wo wird man ihn hinbringen?« fährt sie übergangslos fort.
Ohne ihre kleine Hand aus den warmen, kräftigen Händen Manzonis zurückzuziehen, dreht sich Mrs. Banister zu Mrs. Boyd um und flüstert vernehmlich: »Margaret, ich bitte Sie, hören Sie auf! Sie machen sich verhaßt!«
»My dear! Ich und verhaßt!«
»Hören Sie, Margaret, ich flehe Sie an, regen Sie sich nicht auf. Übrigens ist man nicht einmal sicher, ob …«
Sie bricht ab.
»Wie!« fragt Mrs. Boyd, und ihre runden Augen schweifen vorwurfsvoll über den Kreis. »Man ist dessen nicht sicher?«
»Nein, Madame!« schreit Blavatski so laut und in so vernichtendem Ton, daß Mrs. Boyd auf ihrem Sessel zusammenzuschrumpfen scheint.
Schweigen folgt diesem Ausbruch.
»Da niemand sein Herz abhören will«, sagt Madame Murzec leise mit gesenktem Blick, »könnte man ihm wenigstens einen Spiegel an den Mund halten. Wenn der Spiegel beschlägt, lebt er noch.«
»Das ist eine Methode aus Großmutters Zeiten«, sagt Blavatski verächtlich. »Sie ist nicht beweiskräftig.«
»Wenn wir keine andere haben, könnten wir es wenigstens damit versuchen«, sagt Robbie, der plötzlich in Wallung gerät, mit allen Grimassen und Verrenkungen, die dieser Zustand bei ihm mit sich bringt. »Mrs. Banister, vielleicht haben Sie in Ihrer Tasche einen kleinen Spiegel, den Sie uns zur Verfügung stellen könnten?«
Seine hellbraunen Augen funkeln hintergründig, und ich begreife die weibliche Verschlagenheit seiner Frage. Er weiß genau, daß Mrs. Banister einen Spiegel hat und daß sie ihn nie mehr benutzen kann, wenn sie ihn für diesen makabren Zweck zur Verfügung stellt. Er sucht also eine Ablehnung und will damit das Bild seiner Rivalin in Manzonis Augen trüben.
»Ich habe keinen Spiegel in meiner Tasche«, sagt Mrs. Banister ungerührt. »Es tut mir leid. Ich hätte ihn gerne geopfert.«
»Und doch haben Sie einen.« Robbie lächelt gedehnt. »Ich habe ihn gesehen.«
Mrs. Banister richtet ihre Samurai-Augen auf Manzoni und sagt leichthin, ohne Robbie anzusehen: »Sie haben sich geirrt, Robbie. Sie sind wie Narziß: überall sehen Sie Spiegel …«
Robbies Gesicht verfärbt sich, und Madame Edmonde spürt, daß man ihre Gazelle irgendwie verwundet hat.
»Soviel Gequake um einen lächerlichen Spiegel!« sagt sie übertrieben vulgär. »Hier, Dicker, nimm meinen.« Sie holt den Spiegel aus ihrer Tasche und gibt ihn Pacaud.
Pacaud beugt sich über Bouchoix und hält ihm den Spiegel im Abstand von einigen Zentimetern vor die Lippen.
»Näher ran! Aber ohne die Lippen zu berühren!« sagt Blavatski im Befehlston.
Pacaud gehorcht. Nach vier, fünf Sekunden fragt er ängstlich wie ein kleiner Junge: »Reicht es so?«
»Na klar!« sagt Blavatski, die Stimme hebend, als wollte er einen Schüler wegen seiner Begriffsstutzigkeit beschämen.
Pacaud zieht den Spiegel zurück und tritt an ein Kabinenfenster, denn es dämmert und die Innenbeleuchtung ist noch nicht eingeschaltet. Er betrachtet das kleine Rechteck, das er in der Hand hält.
»Halten Sie ihn nicht so dicht an Ihr Gesicht«, sagt Blavatski ungeduldig. »Sonst beschlägt er durch Ihren Atem.«
»Aber ich bin kurzsichtig«, erwidert Pacaud und fährt einen Augenblick später fort: »Ich sehe nichts. Es ist nicht hell genug. Mademoiselle, könnten Sie bitte Licht machen?«
»Nicht ich bestimme in diesem Flugzeug, ob das Licht angeht oder nicht«, antwortet sie.
Sie hat kaum zu Ende gesprochen, als Blavatski aufspringt, den rechten Arm ausstreckt und auf die Tür zur Bordküche weist.
»Sehen Sie!« schreit er.
Ich drehe mich in meinem Sessel um. Auf den Leuchttafeln zu beiden Seiten der Tür wird die Landung angekündigt. Als wäre er der einzige, der lesen kann, brüllt Blavatski auf französisch:«Attachez vos ceintures! »Dann wiederholt er den gleichen Satz in seiner eigenen Sprache, und seine metallische Stimme klingt wie eine Siegesfanfare: “Fasten your seat belts!”
Er hält sich kerzengerade, Brust geschwellt, Beine gespreizt, den Arm immer noch ausgestreckt. In seinem plumpen Gesicht steht ein triumphierender Ausdruck. Angesichts solcher Verklärung könnte man meinen, daß ihm das Verdienst dieser Rückkehr zum BODEN zukommt, seiner Kraft, seiner Weisheit und seiner leadership.