Für mich, für uns alle ist es ein furchtbarer Schock. Denn diesmal ist der Tod nicht mehr abstrakt und fern. Er ist in Reichweite.
Der Körper reagiert auf der Stelle mit Anzeichen der Angst: Herzklopfen und Schweißabsonderung, die Hände zittern, die Knie werden weich, es meldet sich das Bedürfnis zu urinieren.
Und gleich danach die blinde, aber rettende moralische Reaktion: man glaubt es nicht. Man sagt sich: Nein, ich nicht, das ist nicht möglich. Die anderen vielleicht, aber ich nicht.
Schließlich eine dritte Phase: Der Rückzug in sich selbst. Ich denke nur noch an mich. Ich sehe meine Gefährten buchstäblich nicht mehr. Ich vergesse die Stewardess. Die Welt um mich herum versinkt, jegliches Interesse für die anderen ist geschwunden, das Entsetzen hat jede menschliche Bindung zerstört.
Auf dem Tiefpunkt der Verworfenheit angelangt, klammere ich mich an eine schäbige Hoffnung und rechne mir aus, daß meine Chancen, nicht als Opfer bestimmt zu werden, letztendlich dreizehn zu eins stehen.
Hier jedoch überkommt mich Scham: Ich stelle fest, daß ich den Tod der Stewardess zu den dreizehn Möglichkeiten meines Überlebens gerechnet habe.
Und hier beginnt mein Wiederaufstieg, der keineswegs schmerzlos verläuft. Ich muß meinen ganzen Willen aufbieten, um mit meinem Mut auch meine gesellschaftlichen Reflexe wiederzuerlangen. Oh, es ist damit noch nicht weit her. Die Fortschritte sind bescheiden – sowohl im Stoizismus als auch in der Sorge um die anderen.
Aber ich tauche jetzt aus dem Abgrund auf, es gelingt mir, meine Reisegefährten wieder zu sehen und zu hören. Vor allem Blavatski, der schon wieder genug Lebenskraft besitzt, um mit dem Inder die Klinge zu kreuzen.
»Ich verstehe nicht recht Ihre Beweggründe, Monsieur. Ist es ein revolutionäres Ideal oder die Hoffnung auf ein Lösegeld?«
»Weder das eine noch das andere«, sagt der Inder.
Eine irritierende Antwort, die einen Blavatski jedoch nicht zu bremsen vermag.
»Wie aber wollen Sie den kaltblütigen Mord an einem oder mehreren unschuldigen Menschen rechtfertigen?« fährt er fort.
»Niemand ist jemals unschuldig«, sagt der Inder, »die Weißen und die Amerikaner noch weniger als andere. Denken Sie daran, welche Schandtaten Ihre Landsleute an den farbigen Völkern verübt haben.«
Blavatski errötet.
»Wenn Sie diese Schandtaten verurteilen, müssen Sie erst recht jene andere verurteilen, die zu begehen Sie im Begriff sind«, sagt er mit zitternder Stimme.
Der Inder läßt ein kurzes trockenes Lachen hören.
»Es gibt dafür kein gemeinsames Maß! Was ist die Hinrichtung von ein paar Weißen – so vornehm sie sein mögen – im Vergleich zu dem Völkermord, den die Weißen in Amerika, Afrika, Australien und Indien verübt haben?«
»Aber das ist doch Vergangenheit«, sagt Blavatski.
»Es ist für Sie sehr bequem, das alles zu vergessen«, sagt der Inder. »Bei uns hat es Spuren hinterlassen.«
Blavatski ballt die Hände auf seinem Sessel und sagt voller Entrüstung: »Sie können uns trotzdem nicht für die Verbrechen der Vergangenheit verantwortlich machen! Die Schuld eines Menschen ist immer persönlich, niemals kollektiv!«
Der Inder sieht Blavatski fest an. Diesmal ist es ein Blick ohne Ironie und sogar ohne Feindseligkeit.
»Einen Moment, Mr. Blavatski, seien Sie aufrichtig«, sagt er besonnen. »Sprechen Sie denn heute das deutsche Volk völlig frei von dem Völkermord, der vor dreißig Jahren am jüdischen Volk verübt wurde? Und zittert nicht noch heute etwas in Ihnen, wenn Sie das Wort ›Deutschland‹ aussprechen?«
»Wir kommen vom Thema ab«, sagt Caramans, und sobald er den Mund öffnet, weiß ich, daß uns eine Rede à la française bevorsteht, klar, logisch, wohlartikuliert, die aber absolut nichts mit dem eigentlichen Gegenstand zu tun hat. »Letzten Endes geht es hier weder um Juden noch um Deutsche, sondern um eine französische Chartermaschine, die in Paris gestartet ist und die vorwiegend französische Staatsbürger an Bord hat. Und ich möchte unseren Abfangjäger (so bezeichnet er den Inder) darauf aufmerksam machen, daß Frankreich nach zwei sehr schmerzlichen Kriegen seine Entkolonisierung abgeschlossen hat, daß es überall in der Welt ein Freund der unterentwickelten Länder ist und daß es sich in Sachen Entwicklungshilfe diesen Ländern gegenüber nicht kleinlich zeigt.«
Der Inder lächelt.
»Auch nicht bei Waffenverkäufen.«
»Die unterentwickelten Länder haben das Recht, ihre Selbstverteidigung zu gewährleisten«, sagt Caramans pikiert.
»Und Frankreich seine Profite. Und was wollen Sie uns weiter sagen, Monsieur Caramans?« fährt der Inder mit beißender Ironie fort. »Daß der BODEN auch französisch ist?«
»Durchaus möglich«, erwidert Caramans, ohne mit der Wimper zu zucken.
Der Inder lacht kurz auf.
»Wenn der BODEN französisch ist, dann ist ja alles in Ordnung, und Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Monsieur Caramans! Selbstverständlich wird der BODEN seine ›Staatsangehörigen‹ (er betont das Wort mit hämischer Miene) nicht fallenlassen, und in einer Stunde, Pardon (er schaut auf seine Uhr), in fünfundvierzig Minuten (bei dieser Präzisierung läuft es mir kalt den Rücken hinunter) werden wir gelandet sein.«
»Trotzdem besteht die Möglichkeit, daß die Funkanlage, die Monsieur Pacaud vergeblich gesucht hat, nicht sendet«, sagt Caramans mit zitternder Lippe. »In einem solchen Fall hat der BODEN Ihre Forderung und damit die unmenschliche Erpressung gar nicht gehört: er wird also nicht darauf eingehen können.«
Ich finde, daß Caramans den Inder mit den Worten »inhuman blackmail« nicht ohne einen gewissen Mut herausfordert und damit Gefahr läuft, das erste Opfer zu werden. Aber der Inder zuckt mit keiner Wimper. Er lächelt. Caramans gegenüber bezeigt er bei weitem nicht soviel Feindseligkeit wie Blavatski und mir gegenüber. Seine Reaktionen scheinen ihn eher zu belustigen.
»Ihre Hypothese ist wenig wahrscheinlich«, sagt er, die linke Hand lässig auf die Waffe gelegt, die auf seinem Knie liegt.
»Und doch ist sie nicht auszuschließen.«
»Leider nein«, sagt der Inder gelassen, »und sollte sie sich als zutreffend erweisen … (Er sieht erneut auf seine Uhr.) Das Weitere kennen Sie, Monsieur Caramans, ich habe nicht das Bedürfnis, mich zu wiederholen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie so kaltblütig sein könnten!« sagt Caramans mit plötzlicher Leidenschaftlichkeit, aber, das muß ich sagen, ohne jede Spur von Angst.
Der Inder lächelt ein wenig und sagt kurz angebunden: »Sie irren sich.«
»Aber das ist abscheulich«, entgegnet Caramans und fährt mit einer Rhetorik, die mich etwas ärgert, fort: »Wehrlose Geiseln hinzurichten bedeutet, alle göttlichen und menschlichen Gesetze zu verletzen.«
»Oh, die göttlichen Gesetze!« Der Inder hebt seine Hand waagerecht empor und beschreibt einen weiten Bogen, bevor er sie auf die Sessellehne zurückfallen läßt. »Sagten Sie wirklich: die göttlichen Gesetze? Kennen Sie diese Gesetze?«
»Wie alle Menschen, die an eine Offenbarung glauben«, sagt Caramans mit einer Festigkeit, die ich persönlich recht eindrucksvoll finde.
In den Augen des Inders wird ein Schimmer von Belustigung sichtbar. »Wenn Sie sie kennen«, sagt er, »müssen Sie es wissen: Sie sind sterblich erschaffen worden. Sie leben nur, um zu sterben.«
»Aber keineswegs!« entgegnet Caramans heftig. »Dieses ›um zu‹ ist ein teuflischer Sophismus. Wir leben. Und unser Endzweck ist nicht der Tod, sondern das Leben.«
Sein Gesprächspartner lacht verhalten. Verhalten, was die Lautstärke betrifft, nicht die Dauer, denn sein Lachen scheint überhaupt kein Ende zu nehmen. Der Inder hat offensichtlich einen besonders makabren Humor, denn von allem, was Caramans zuvor sagte, hat ihn nichts so belustigt wie dieses Bekenntnis zum Leben.
»Sehen Sie, Monsieur Caramans, Sie gleichen einem Kind, das sich hinter einen ganz dünnen Baumstamm stellt, um sich zu verstecken«, fährt er fort. »Wie können Sie – und sei es nur eine Stunde lang – leben und so tun, als kennten Sie Ihre Bestimmung nicht?« Er macht eine Pause, in der er mit seinem Blick einen Kreis beschreibt, so als wendete er sich an einen jeden von uns, und sagt nachdrücklich, jedes Wort betonend:«Ce n’est pas parce que vous évitez de penser à la mort, que la mort va cesser de penser à vous.»
Dieser Satz und die Art, wie er ihn ausspricht, hat auf mich eine außerordentliche Wirkung. Ich fühle mich versteinert. Ich habe wenig Neigung zum Romanesken und schon gar nicht zum Übernatürlichen, doch würde man mir sagen, daß der Tod vor meinen Augen plötzlich die Gestalt des Inders angenommen hat, würde ich es glauben. Auf jeden Fall bin ich überzeugt, daß die in mir aufsteigende intensive Kälte auch meine Reisegefährten erfaßt hat, denn auch sie scheinen wie Wachsfiguren in einem Museum zu erstarren.
Gleichzeitig merke ich, daß meine Hände zittern. Enttäuscht stelle ich fest, daß die Stewardess meinen Blicken ausweicht, obwohl sie spüren muß, mit welcher Verzweiflung, mit welchem Trostbedürfnis ich versuche, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Auf der Suche nach ein bißchen Sympathie und einem menschlichen Blick durcheile ich den Kreis, sehe aber überall nur gesenkte Stirnen, reglose Gesichter und abgewandte Augen. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Robbie.
Es trifft mich wie ein Schlag, als unsere Blicke sich begegnen. Er ist nicht erstarrt. Ganz im Gegenteil. Er hat eine frische Farbe und sieht mir ins Gesicht, als ob er froh wäre, endlich einen Zeugen zu finden. Und kaum hat sein Blick den meinen eingefangen, ruft er schwärmerisch: »Ach, wie liebe ich diesen Satz!«
»Welchen Satz?« frage ich erstaunt.
»Den wir eben gehört haben!« Und den Kopf erhoben, rezitiert er mit einem fröhlichen Schwung seines ganzen Körpers: «Ce n’est pas parce que vous évitez de penser à la mort …»
Er bricht ab. Die Augen begeistert auf mich gerichtet, wiederholt er den Satz langsam auf deutsch, so als ob er sich daran berauschte und darin voller Verzückung die Maxime seiner Existenz fände: »Sosehr ihr vermeidet, an den Tod zu denken, denkt doch der Tod an euch.«
Ich gebe hier die deutsche Fassung wieder, weil sie mich am stärksten berührt und meine Sensibilität auf geheimnisvolle Weise zum Schwingen bringt. Ja, es ist seltsam, aber der gleiche Satz bekommt einen anderen Sinn, wenn Robbie ihn in seiner Sprache spricht. Bei dem Inder klingt er wie ein Grabgeläute, während bei Robbie Stoizismus und das Echo heroischer Tugenden zum Ausdruck kommen.
Ich gerate einen Augenblick in Verwirrung, während ich zwischen zwei Deutungen desselben Gedankens hin und her schwanke, aber ich bin wohl nicht mehr jung genug und habe nicht mehr den Überschwang und die Illusionen, um mich für Robbies Deutung zu entscheiden. Wie könnte ich mir den Tod als eine glückliche Zeit vorstellen, der man in der Frische des Abends mit kühnen Gefährten entgegenjagt? So trägt bei mir schließlich die Interpretation des Inders den Sieg davon. Und ich erstarre meinerseits, wende den Blick von Robbies Gesicht ab und schlage die Augen nieder.
Von der Nutzlosigkeit jeglicher Diskussion mit dem Inder überzeugt, sind Blavatski und Caramans verstummt, der eine mit verhaltenem Zorn, der andere mit steifer Würde. Und niemand hat Lust, an ihrer Stelle das Gespräch wieder aufzunehmen. Das Schweigen lastet auf uns wie ein Bleideckel.
Auf die Dauer leidet man in einem Flugzeug ohnehin schon an Klaustrophobie. Aber das indische Paar hat uns innerhalb des einen Kerkers in einen zweiten gesperrt: Das Entsetzen und der Gedanke an den Ablauf des Ultimatums fesseln unsere Hände an die Sessellehnen.
Als der Inder gesagt hatte – und in welchem Ton! –, daß nur noch fünfundvierzig Minuten Zeit blieben, hatte ich auf meine Uhr gesehen, und ich blicke wieder auf die Uhr und stelle erstaunt fest, daß seither kaum fünf Minuten vergangen sind. Wir haben also noch vierzig Minuten tödlicher Angst durchzustehen. Die Zeit scheint zu kriechen, ich wage kaum zu sagen: wie ein blindes Ungetüm im Modder, aber dieses Bild zwingt sich mir mehrere Male auf.
Und mir wird klar: am unerträglichsten für einen vom Tod bedrohten Gefangenen, dem Flucht und Revolte unmöglich sind, ist die Passivität. Ein solcher Mann hat buchstäblich nichts zu tun, nichts zu hoffen, nichts zu sagen und schlimmstenfalls auch nichts zu denken, außer daß sein Denken mit seinem Körper erlöschen wird. Gerade dieser Vorgeschmack auf das Nichts ist so gräßlich.
Der Inder läßt seinen Blick über uns schweifen, und ich habe das Gefühl, daß ihm unsere Apathie mißfällt. Denn er läßt seine dunklen Augen nach allen Richtungen herausfordernd blitzen, wohl in der Erwartung, uns anzustacheln und die Diskussion wieder zu beleben. Aber alles ist vergeblich. Wir sind so hoffnungslos niedergeschlagen, ein jeder ist in seiner Mutlosigkeit so von den anderen isoliert, daß keiner daran denkt, unserem Henker entgegenzutreten, nicht einmal mit Worten.
»Gentlemen«, sagt er nach ein oder zwei Minuten des Schweigens, »meine Assistentin wird jetzt mit einer Tasche herumgehen. Legen Sie bitte Ihre Uhren, Trauringe, Siegelringe und sonstigen Schmuckstücke hinein. Das gilt selbstverständlich auch für die Damen.«
Erstauntes Schweigen.
»Haben Sie Einwände?« fragt der Inder.
»Sie enttäuschen mich«, sagt Blavatski. »Ich hatte Sie für einen Politiker gehalten.«
»Wie typisch«, sagt der Inder. »Und wie heuchlerisch. Ich würde Sie viel mehr enttäuschen, wenn ich ein den Ansichten Ihrer Regierung feindlich gesinnter Politiker wäre. Weitere Einwände?«
Wieder Schweigen. Ich glaube, alle sind dankbar, als Caramans sagt: »Aber das ist doch Diebstahl.«
Wie immer, wenn Caramans in die Schranken tritt, zeigt sich in den Augen des Inders ein Schimmer von Belustigung.
»Sie können es so nennen. Das stört mich nicht. Aber Sie könnten auch in Erwägung ziehen, daß es sich um einen Akt geistiger Entsagung handelt. Sie vor allem, Monsieur Caramans, der Sie doch Christ sind …«
Aber Caramans will sich nicht auf dieses Gelände begeben.
»Wenn Sie kein Politiker sind«, sagt er mit einer gewissen Dreistigkeit (und der französischen Manie, alles definieren zu wollen), »was sind Sie dann?«
Der Inder ist mitnichten ungehalten. Er scheint im Gegenteil zufrieden zu sein, daß sich ihm eine Gelegenheit bietet, seine Identität zu präzisieren. Er tut es jedoch mit einer so augenfälligen Ironie und in einem so zweideutigen Tonfall, daß wir uns danach immer wieder fragen werden, ob er im Ernst gesprochen hat.
“I am a highwayman”1, sagt er gewichtig, aber mit einem Lächeln in seinen dunklen Augen.
»Wie? Wie?« fragt die Murzec. Und sie fügt in echtem Schulenglisch hinzu: “I do not understand.”
Ich will schon übersetzen, doch der Inder hebt die Hand, wirft mir einen seiner lähmenden Blicke zu und wiederholt, an die Murzec gewandt, langsam, mit sorgfältiger Betonung der einzelnen Silben: “I am a highwayman.”
“I see”, sagt die Murzec, aber ich weiß nicht, was sie tatsächlich versteht, denn sie scheint tief beeindruckt zu sein und betrachtet den Inder fortan mit neuer Achtung.
Plötzlich geht ein Zucken durch die Luft. Die Augen des Inders werden hart, und sein funkelnder Blick richtet sich mit flammender Intensität auf Chrestopoulos. Mit der linken Hand, die eben noch lässig auf seiner Waffe ruhte, legt er auf den Griechen an. Ich vermag die Geschwindigkeit dieser Bewegung nicht zu beschreiben. Ich habe den Eindruck, daß sie nicht einmal in Bruchteilen von Sekunden meßbar ist.
»Bleiben Sie ganz ruhig, Mr. Chrestopoulos«, sagt der Inder.
Bleich und schwitzend sieht Chrestopoulos ihn an. Sein dichter schwarzer Schnurrbart zittert über seiner wulstigen Lippe.
»Ich habe doch nichts getan«, sagt er kläglich. »Ich habe nicht einmal die Hände bewegt.«
»Leugnen Sie nicht«, sagt der Inder, ohne die Stimme zu heben, jedoch mit unvermindert scharfem Blick. »Sie wollten sich auf mich stürzen: ja oder nein?«
Die Augen des Inders haben auf Chrestopoulos eine verheerende Wirkung. Man könnte meinen, ein Laserstrahl habe ihn in Höhe der Lunge durchbohrt. Er windet sich am ganzen Körper und öffnet mehrmals den Mund mit einem schrecklichen saugenden Laut, als ob er keine Luft bekäme.
»Ja«, sagt er atemlos.
Der Inder läßt die Augenlider zur Hälfte sinken, und Chrestopoulos kommt wieder zu Atem, in sein Gesicht kehrt ein wenig Farbe zurück. Gleichzeitig sackt sein Körper wie ein Wrack in sich zusammen.
»Ich habe mich nicht gerührt«, lamentiert er leise wie ein zur Rede gestelltes Kind. »Ich habe nicht einmal den kleinen Finger bewegt.«
»Das weiß ich«, sagt der Inder, während er übergangslos wieder seinen ironischen Ton anschlägt und seine unbeteiligte Miene aufsetzt. »Ich mußte Ihrem Angriff zuvorkommen – den ich mir übrigens nicht erklären kann«, fügt er fragend hinzu. »Sie waren nicht bedroht, Mr. Chrestopoulos. Ich habe nicht gesagt, daß ich Sie als das erste Opfer bestimmen würde.«
Chrestopoulos schluckt und feuchtet unter seinem dichten schwarzen Schnurrbart seine Lippen an. »Mir liegt sehr viel an meinen Ringen«, sagt er wie abwesend.
Alle Blicke – nicht nur die des Inders – richten sich auf seine Hände. Chrestopoulos trägt tatsächlich an der linken Hand einen Ring mit einem großen schwarzen Stein und einen riesigen goldenen Siegelring sowie am kleinen Finger der rechten Hand einen zweiten, weniger massiven Siegelring mit einem Diamanten, wie mir scheint. Hinzu kommen eine Goldkette mit Erkennungsmarke am rechten Handgelenk und die goldene Armbanduhr am linken Handgelenk – beide Schmuckstücke von größtem Kaliber.
Der Inder lacht kurz auf.
»Die menschliche Gattung erfüllt mich mit Staunen«, sagt er in seinem high-class-Englisch. »Ist es nicht absurd, Mr. Chrestopoulos, daß Sie zu einem solchen Risiko bereit sind, um diesen Schund zu retten, während Sie sich passiv verhielten, als es um Ihr Leben ging?«
Chrestopoulos reagiert nicht. Nur als der Inder seinen Schmuck als »Schund« bezeichnet, verzieht er unmerklich den Mund. In diesem Augenblick höre ich Blavatski zu meiner Rechten schnaufen, als ob er in Atemnot wäre; da ich jedoch seine Erregbarkeit kenne, messe ich dem keine Bedeutung bei.
»Wir werden folgendermaßen verfahren«, sagt der Inder, ohne den Revolver auf seine Knie zurückzulegen. (Er hält ihn wie aus Unachtsamkeit auf Blavatski gerichtet.) »Ich gehe reihum hinter Ihnen vorbei, und erst wenn Sie den Lauf meiner Waffe im Nacken spüren – wohlgemerkt, nicht eher! –, legen Sie Ihre Opfergabe in die Tasche, die ich Ihnen hinhalte. Während dieses Vorgangs wird meine Assistentin auf jeden schießen, der unnötig seine Hände bewegt.«
Unter dem Bann des Inders stehend, habe ich seine furchterregende Begleiterin vergessen. In ihren Sari gehüllt, steht sie hinter dem Sessel der Stewardess und beobachtet uns, ohne mit der Wimper zu zucken, unbeweglich und statuenhaft, mit jener Allgegenwart des Blicks, die mir bereits aufgefallen war. Sie verändert ihre Position um keinen Zentimeter. Man könnte sie für eine steinerne Gestalt halten – das Gesicht für alle Ewigkeit in einem Ausdruck des Hasses erstarrt –, wenn nicht ihre glänzenden dunklen Augen unglücklicherweise so lebendig wären. Ich verspüre nicht die mindeste Lust, eine meiner Hände zu heben, um mich vielleicht an der Nase zu kratzen.
Ich streife die »Assistentin« nur mit einem kurzen Blick. Meine Augen kehren zu dem Inder zurück, gleichsam magnetisch von ihm angezogen. Mir ist das Wort »Opfergabe« im Ohr geblieben, und ich wundere mich im nachhinein, daß er ohne Ironie gesprochen hat. Meine Augen auf ihn gerichtet, hänge ich meinen Gedanken nach, als er plötzlich steht. Wie ich es sage. Und ich sage nicht, daß er aufsteht. Obwohl ich ihn nicht aus den Augen lasse, sehe ich keine Bewegung, keinen allmählichen Übergang von der sitzenden zur stehenden Position.
Ich sehe den Inder zuerst in seinem Sessel sitzen, dann aufrecht stehen, in der Hand den Revolver (der immer noch auf Blavatski gerichtet ist). Ohne jeglichen Übergang, ohne eine wahrnehmbare Zwischenstufe zwischen den beiden Positionen, so als ob ein Stück Film herausgeschnitten worden wäre. Die Wirkung auf mich ist schockierend, und noch schockierender wohl auf Blavatski, der sich immer noch im Schußfeld befindet. Ich habe den Eindruck, daß der Inder die Fähigkeit besitzt, sich nach Belieben in jedem Winkel des Flugzeugs zu materialisieren.
Als er seinen Rundgang beginnt, langsam und majestätisch, erwarte ich, daß er mit seiner Kollekte bei Chrestopoulos anfängt und dann bei Pacaud und Bouchoix einsammelt, entsprechend der Sitzordnung im rechten Halbkreis. Aber er geht an den ersten drei vorbei und bleibt hinter Blavatski stehen.
»Mr. Blavatski«, sagt er in sehr sachlichem Ton, während er ihm den Lauf seiner Waffe an den Nacken drückt, »hüten Sie sich, eine Bewegung zu machen, wenigstens bis ich den Revolver aus dem Futteral gezogen habe, den Sie auf der Brust tragen. Das wird Sie hindern, abenteuerliche Pläne gegen mich zu schmieden.«
Selbst im Angesicht des Todes sind wir auf die Ausplünderung nicht sonderlich vorbereitet. In unserem Kreis zeigen sich Unzufriedenheit, Bestürzung, Klagen, und es fließen sogar – bei den Frauen – Tränen. Man könnte meinen, daß man uns mit den mehr oder weniger wertvollen Gegenständen, die wir bei uns tragen, ein Teil von uns selbst wegnimmt.
Ich glaubte, über solches Besitzdenken erhaben zu sein. Ich irrte mich. Ich registriere den Verlust und empfinde ihn – was noch weniger normal ist – als einen Verlust an Persönlichkeit, als ich meine Armbanduhr in die Kunstledertasche des Inders lege; dabei ist die Uhr weder vom Material her noch als Erinnerung wertvoll.
Die Niedergeschlagenheit des Kreises ist um so größer, als der Inder zu jeder »Opfergabe« verächtliche Kommentare liefert, die allgemein im umgekehrten Verhältnis zum Wert des Schmuckstücks stehen. Zu meiner armseligen Armbanduhr sagt er nichts, hingegen bezeichnet er Mrs. Banisters Diamantenclips als »Kitsch«, Mrs. Boyds Ringe als »Ramsch« und Madame Edmondes schwere goldene Armreife als »Talmi«. Die abgenutzte, verschrammte, befleckte schwarze Kunstledertasche nachlässig in der Hand haltend, schüttelt er die Beute schonungslos durcheinander und behandelt unsere Reichtümer mit solcher Verachtung, daß man sich fragt, ob er sie nicht, wenn er uns verlassen hat, auf die Müllkippe werfen wird.
»Los, Mr. Chrestopoulos«, sagt er, als er schließlich zu dem Griechen kommt, »werfen Sie Ihren Klimperkram dahinein. Sie werden sich leichter fühlen. Letzten Endes haben Gold und Diamanten, die an sich nichts Besonderes sind, nur aus Konvention solchen Wert.«
Aber diese Bemerkungen trösten Chrestopoulos nicht. Man könnte meinen, daß er sich ein reichliches Pfund Fleisch von der Brust reißt, als er seine beiden goldenen Armbänder behutsam in die Tasche legt – sie hineinzuwerfen bringt er nicht über sich. Als schließlich der Ring mit dem großen Diamanten an der Reihe ist, den er an seinem kleinen Finger trägt, stöhnt er dumpf auf und sagt mit klagender Stimme: »Mein Finger ist dicker geworden. Der Ring geht nicht ab.«
»Ich rate Ihnen, Mr. Chrestopoulos, den Ring abzuziehen«, sagt der Inder streng. »Und zwar schnell. Sonst wird es meiner Assistentin ein Vergnügen sein, Ihnen den Finger abzuschneiden.«
Chrestopoulos unternimmt scheinbar verzweifelte Anstrengungen, um sich von dem Ring zu trennen. Ich sage »scheinbar«, denn ich bin nicht sicher, ob er sich echt bemüht. Und es bedarf des Eingreifens der Stewardess, die mit Einverständnis des Inders aus der Pantry etwas geschmolzene Butter holt, damit der Ring schließlich abgeht. Nach meiner Ansicht war nicht ein Fettwulst das Hindernis, sondern die mehr oder weniger bewußte Verkrampfung des kleinen Fingers.
Nachdem dieses letzte Opfer vollbracht ist, sinkt Chrestopoulos mit einem verzweifelten Seufzer kraftlos in seinen Sessel zurück; Tränen rinnen über seine schlaffen Wangen. Wie ein in seinem Bau bedrohter Iltis verströmt er aus allen Poren einen widerlichen Gestank, der trotz der Entfernung bis zu mir dringt. Die leuchtend gelben Schuhe – der einzige Goldschimmer, der ihm geblieben ist – glänzen beinahe höhnisch an seinen Füßen.
»Ausgezeichnet, Mademoiselle«, sagt der Inder. »Werfen Sie noch das Glasperlenzeug hinein, und da Sie ohnehin auf den Beinen sind, gehen Sie bitte in die Pantry. Meine Assistentin wird Sie durchsuchen.«
Er selbst schleudert voller Widerwillen Blavatskis Revolver in die Tasche – und ich erwarte jeden Augenblick, daß irgendein Ring herausfällt, so abgenutzt und durchlöchert ist sie. Dann reicht er die Tasche seiner Assistentin und sagt ihr ein paar Worte in einer mir unbekannten Sprache. Die Inderin nickt und folgt der Stewardess in die Pantry.
Der Inder setzt sich dann mit eleganter, souveräner Bedächtigkeit wieder in seinen Sessel, schlägt die Beine übereinander und sieht uns mit einem leichten Seufzer an, als wäre er selbst von der Prüfung erschöpft, die er über uns hat ergehen lassen. Ich möchte ihn fragen, warum er es für nötig hält, die Stewardess zu durchsuchen, aber ich komme nicht dazu: sie taucht wieder auf, bleich und mit gesenkten Augen. Ich versuche, ihren Blick aufzufangen, aber zu meiner großen Enttäuschung verweigert sie erneut jeglichen Kontakt.
Als ich nun wissen will, wieviel Zeit uns noch bleibt bis zum Ablauf des Ultimatums, trifft es mich wie ein Schock: mein Handgelenk ist nackt und bloß. Und ich fühle mich auf eine völlig unangemessene Weise bestürzt, als ob der Inder mir mit der Uhr nicht einfach nur ein Meßinstrument weggenommen hätte, sondern das Gewebe, aus dem mein Leben zusammengefügt war.
In diesem Moment teilt sich der Vorhang zur Pantry, und die Inderin taucht wieder auf, in der Hand die alte schwarze Kunstledertasche, die mir jetzt viel dicker vorkommt.
Außerdem ist sie geschlossen. Die Inderin muß Mühe gehabt haben, den Reißverschluß zuzuziehen, denn das Kunstleder spannt sich. Ich frage mich, was sie wohl zu dem Schmuck und zu Blavatskis Revolver noch hineingesteckt haben mag, daß die Tasche einen solchen Umfang angenommen hat. Denn jetzt überschreitet sie die für Fluggepäck zulässige Norm bei weitem. Die Inderin stellt die Tasche nicht hin, sondern schleudert sie achtlos auf den Boden, so daß Chrestopoulos auffährt. Voll Kummer und Gier stiert er nach den vielen kleinen Rissen in der Tasche, als hoffte er, daß seine Ringe und Armbänder ihrem Gefängnis entweichen könnten, um zu ihrem Besitzer zurückzukehren. Eine vergebliche Hoffnung, denn die Beute des Inders befindet sich auf dem Boden der Tasche, und alles andere darüber ist zweifellos viel zu groß, um durch die schmalen Risse zu passen.
Die Inderin bezieht mit finsterem Blick und blinkendem Revolver hinter ihrem Sessel wieder ihren Posten.
Erneut breitet sich beklemmendes Schweigen aus. Der Inder sieht auf seine Uhr: Er ist jetzt der einzige an Bord, der das kann. Und wir alle sind so niedergedrückt durch den Verlust unserer Wertsachen, uns ist so bange vor dem, was die verrinnende Zeit bringen wird, daß keiner ihn zu fragen wagt, wie spät es ist.
Der Inder spürt das Ausmaß unserer Entmutigung und sagt herausfordernd: »Noch zwanzig Minuten.«
Wenn er mit dieser Bemerkung uns anspornen, uns aus der Apathie herausreißen wollte, ist es ihm vollauf gelungen.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« sagt Mrs. Banister mit überaus verführerischen Blicken und Gebärden.
»Bitte«, sagt der Inder.
»Ich halte Sie für einen sehr gebildeten Mann«, sagt sie mit schamloser und zugleich hochmütiger Koketterie – als ob sie sich zu Füßen des Inders wälzte –, aber würdevoll. »Wahrscheinlich sind Sie auch sehr sensibel (der Inder lächelt). Wie soll ich also glauben, daß Sie, Monsieur, in zwanzig Minuten einen von uns ermorden werden?«
»Ich werde es nicht selbst tun«, sagt der Inder mit gespieltem Ernst. »Meine Assistentin wird es tun. Wie Sie sich überzeugen konnten, ist sie viel robuster.«
»Ob nun Ihre Assistentin oder Sie selbst, das läuft aufs gleiche hinaus«, sagt Mrs. Banister entrüstet und vergißt völlig ihren Charme.
»Leider ja«, sagt der Inder. »Aber wenn meine Assistentin schießt, wird meine … Sensibilität etwas geschont.«
»Und Sie haben obendrein den traurigen Mut, sich über uns lustig zu machen!« Mrs. Banister geht unvermittelt von der Verführung zum Zorn über.
“My dear! my dear!” sagt Mrs. Boyd. »Sie werden sich doch nicht mit diesem … Gentleman überwerfen!«
Sie hat den Bruchteil einer Sekunde gezögert, bevor sie »Gentleman« sagte.
»Mit diesem farbigen Gentleman«, sagt der Inder unbewegt.
Schweigen. Und Mrs. Banister äußert auf ziemlich theatralische Art: »Ich hoffe, Sie werden sich wenigstens angelegen sein lassen, die Frauen zu schonen.«
Hier lacht die Murzec höhnisch, und der Inder murmelt: »Da haben wir’s.«
Er richtet seine Augen auf Mrs. Banister, aber anstatt seinem Blick größte Intensität zu verleihen, hält er ihn, wenn ich so sagen darf, auf halber Flamme und läßt ihn langsam, mit Vorbedacht und unglaublich herausfordernd über ihr Gesicht, ihren Busen und ihre Beine gleiten, genauso wie die Passanten die zur Schau gestellten Prostituierten in den Schaufenstern Amsterdams taxieren. Daraufhin wendet er den Kopf ab, als hätte ihn diese Prüfung nicht zufriedengestellt.
»Madame, ich sehe keinen Grund, den Frauen Privilegien einzuräumen, weil sie sich ja zu Recht den Männern gleichstellen wollen«, sagt er mit jener korrekten und spöttischen Höflichkeit, deren er sich gegenüber den Frauen bedient. »Was mich betrifft, habe ich keine sexuellen Vorurteile, wenn es gilt, eine Geisel hinzurichten: ob Mann oder Frau – unwichtig.«
Die Murzec läßt sich abermals mit einem leisen höhnischen Lachen vernehmen. Ihre unerbittlichen blauen Augen auf Mrs. Banister gerichtet, sagt sie zischend: »Bravo! Das haben Sie davon, wenn Sie die Hure spielen!«
Mrs. Banister schließt ihre japanischen Augen zur Hälfte, aber ihre Ohren kann sie nicht so hermetisch verschließen, als daß sie nicht den unerwarteten brutalen Angriff zur Kenntnis nehmen müßte, den Madame Edmonde gegen sie führt.
Ich verzichte darauf, die unflätigen Einzelheiten wiederzugeben. Alles in allem wirft Madame Edmonde ihr vor, durch ihre Fragen und Provokationen die Haltung des Inders gegenüber den Frauen ungeschickterweise verhärtet zu haben. Mit bebenden Schultern, wogendem Busen und erigierten Brustwarzen steigert sie sich bei ihrer Schimpfkanonade zu den heftigsten Tönen.
Mrs. Boyd, deren rundes Gesicht vor Verzweiflung gedunsen ist, fängt zu schluchzen an, aber nicht weil ihr die Kränkung naheginge, die ihrer Freundin zugefügt wird, sondern weil die realistische Sprache Madame Edmondes ihr zum erstenmal die wirkliche Situation deutlich vor Augen führt.
Mrs. Banister beugt sich zu ihr und versucht, sie zu trösten. Diese mitleidige Haltung erscheint mir bei ihr mondän und oberflächlich. Denn an dem Ausdruck ihrer japanischen Maske erkenne ich, wie sehr sie diese Tränen verachtet und wieviel Ähnlichkeit sie, zumindest darin, mit der Murzec hat.
Letztere gelangt kraft ihrer Boshaftigkeit zu einem gewissen Stoizismus; sie begleitet Madame Edmondes Schmährede mit kurzen Jubelausbrüchen, die mir nicht weniger auf die Nerven gehen als Robbies erregter Wortschwall, mit dem er den Aufruhr in der Kemenate kommentiert.
Als einzige im linken Halbkreis schweigt Michou – abgesehen von der Stewardess, die ohnehin einsilbig ist. Aber das Schweigen der Stewardess bedeutet angespannte Aufmerksamkeit, Michous Schweigen ist Abwesenheit. Taub und blind für alles, was in dem Flugzeug vor sich geht, betrachtet sie mit verzücktem Gesicht das auf ihren Knien liegende Foto von Mike. Und obwohl ich weiß, wie groß die Kraft der Träume ist, zumal bei Jugendlichen, setzt mich Michou doch in Erstaunen. Sie hat also nichts mitgekriegt: weder die giftige Bemerkung der Murzec über Mike noch die Zweifel des Inders betreffs Madrapour, weder die Androhung der ersten Hinrichtung noch die kurze Zeitspanne, die uns davon trennt.
Nach vorübergehender trügerischer Stille zieht Madame Edmonde von neuem mit haarsträubenden Beschimpfungen gegen Mrs. Banister zu Felde; Mrs. Boyd schluchzt wieder, Mrs. Banister tröstet sie mit erhobener Stimme, die Murzec höhnt, und Robbie gibt über Michous Kopf unüberhörbare Kommentare an die Adresse Manzonis. Plötzlich herrschen im linken Halbkreis solcher Lärm und solche Erregung, daß der Inder sich mit einer Wut, die mich bei einem so selbstbeherrschten Mann verblüfft, in seinem Sessel aufrichtet und mit lauter Stimme schreit: »Genug jetzt!«
Nach und nach tritt einigermaßen Ruhe ein, in der Mrs. Boyd ihre letzten Schluchzer nach bestem Vermögen unterdrückt. Schlagartig gewinnt der Inder seine Selbstbeherrschung und Gelassenheit zurück. Nachdem es endlich völlig still geworden ist, hebt er die rechte Hand und sagt in seinem vollendeten Englisch mit gekünsteltem fair play, aber wie immer voller Ironie:
»Wenn der BODEN meinen Forderungen nicht nachkommt, ist es wohl angebracht, daß wir jetzt zur Verlosung übergehen, um zu entscheiden, wer von den hier anwesenden Frauen und Männern …«
Er bricht seinen Satz ab, und es folgt ein langes Schweigen. Zwischen uns werden flüchtige, fast beschämte Blicke gewechselt, dann sagt Caramans mit tonloser Stimme:
»Nein, ich bin gegen ein solches Vorgehen. Ich bin dafür – und meine Meinung wird hoffentlich von der Mehrheit meiner Reisegefährten geteilt –, Ihnen die volle Verantwortung für die Auswahl Ihrer Opfer zu überlassen.«
»Sie sagen das«, wirft Blavatski ein, den Kopf streitlustig gesenkt (hinter seinen Brillengläsern mustert er Caramans mit hartem Blick), »weil Sie als Franzose damit rechnen, von dem Piraten schonend behandelt zu werden …«
Diese Bemerkung zeichnet sich nicht durch übermäßigen Großmut aus, aber letzten Endes stimmt es, daß der Inder, vielleicht mit dem Hintergedanken, uns zu spalten, Caramans gegenüber weniger Feindseligkeit bezeigt hat als Chrestopoulos, Blavatski und mir gegenüber.
»Nicht im geringsten!« ruft Caramans entrüstet aus.
Aber seine Entrüstung scheint doppelbödig zu sein, sowohl offiziell-diplomatisch als auch persönlich. Und beides wirkt nicht recht überzeugend.
»Monsieur Blavatski, Sie erlauben sich eine unzulässige Unterstellung!«
Caramans ereifert sich, als wollte er sich selbst überzeugen. Und er schickt sich an, alle Register seiner Empörung zu ziehen, als Blavatski ihn unterbricht.
»In Wirklichkeit ist die Auslosung das einzig demokratische Verfahren und bedeutet zugleich Absicherung gegen eine vom Fanatismus diktierte willkürliche Entscheidung«, sagt er mit Autorität, jede einzelne Silbe betonend.
Der Inder lächelt nur und mischt sich nicht ein. Aber obwohl Blavatskis Argument durchaus kritikwürdig ist – welche Entscheidung wäre willkürlicher und undemokratischer als die vom Zufall bedingte? –, erntet er beifälliges Murmeln, das indes weniger seinen Standpunkt billigt als vielmehr den von Caramans mißbilligt.
Dieser spürt es; anstatt jedoch Blavatskis Gesichtspunkt zu widerlegen, sagt er pikiert: »Ich weise noch einmal die gegen mich erhobene Beschuldigung aufs schärfste zurück. Und zur Frage der Auslosung fordere ich eine Abstimmung.«
»Gut, stimmen Sie ab«, sagt der Inder trocken, »stimmen Sie ab, doch beeilen Sie sich. Es bleibt nur noch eine Viertelstunde.«
Da hebt die Stewardess schüchtern die Hand und bittet ums Wort. Abermals fühle ich mich außerstande, sie zu beschreiben. Eine Welle heftiger Empfindungen stürmt auf mich ein und weckt plötzlich wieder, um ein Vielfaches verstärkt, jene vehemente Liebe, die ich schon bei der ersten Begegnung empfand. Glauben Sie mir, daß ich mir sehr wohl über die Lächerlichkeit im klaren bin, der sich ein Mann, und obendrein ein Mann von meinem Äußeren, mit solchen Worten preisgibt. Gut, ich mache mich lächerlich. Gleichzeitig aber verleihe ich jenem köstlichen Gefühl Stimme, das mich beherrscht, denn inmitten des Schreckens, der mich umklammert hält, verspüre ich von neuem unwiderstehlich jene Leidenschaft, die mich in ihre Nähe trägt und mich von mir selbst entfernt. Nicht daß die Angst schlagartig verschwunden wäre, aber sie verliert sogleich an Boden, und wenn sie noch meine Stimmabgabe beeinflussen sollte, wird es das letztemal sein, daß sie mich tyrannisiert.
Ich möchte ihn festhalten können: den Augenblick, da die Stewardess, bleich und gefaßt, ihre Hand zu heben wagt. Die Augen vertrauensvoll auf den Inder gerichtet, sagt sie mit ihrer sanften, leisen, etwas verschleierten Stimme, die ich wohl nie ohne Zärtlichkeit hören werde: »Ich möchte meine Meinung kundtun.«
»Ich teile die Ansicht von Monsieur Caramans«, sagt sie. »Ich bin nicht der Meinung, daß wir den Namen des Opfers untereinander auslosen sollten. Wenn wir es nämlich tun, machen wir uns zu Komplizen der Gewalt, die wir erleiden.«
Die Stewardess hat bislang so wenig und so ausweichend gesprochen, daß es mich überrascht, sie eine Haltung einnehmen zu sehen, deren Klarheit und Würde mir höchste Achtung einflößen.
»Sehr gut! Sehr gut!« sagt Caramans. »Das war sehr gut gesprochen, Mademoiselle«, fügt er mit linkischer Galanterie hinzu, die mich stark irritiert, als ob außer mir niemand das Recht hätte, die Stewardess zu bewundern.
»Womöglich glaubt die Stewardess, daß sie auf diese Weise kein Risiko eingeht«, sagt Blavatski, dessen vulgäre Art zum erstenmal abstoßend auf mich wirkt. »Es muß ja schließlich jemand dasein, der uns weiterhin die Mahlzeiten aufträgt …«
»Sie haben kein Recht, derlei zu behaupten!« erwidere ich entrüstet.
»Aber gewiß habe ich das Recht, denn ich nehme es mir«, sagt Blavatski mit verblüffender Dreistigkeit. »Übrigens liegt darin nicht das Problem. Das Problem, das sich uns stellt, ist die Frage einer demokratischen Entscheidung. Und bevor wir abstimmen«, sagt er, die Diskussion mit unübertrefflicher Geschicklichkeit auf Nebensächliches lenkend, »möchte ich auf einen Punkt hinweisen. Wir sind vierzehn: Was geschieht, wenn sieben Stimmen für die Auslosung und sieben dagegen abgegeben werden?«
»Ich weiß darauf zu antworten«, sagt der Inder, der der Diskussion sehr aufmerksam folgt. »Bei sieben Stimmen dafür und sieben Gegenstimmen müßte ich annehmen, daß sich keine Mehrheit für die Auslosung gefunden hat, und würde selbst die Entscheidung treffen.«
»Gut, stimmen wir ab«, sagt Blavatski hastig.
Die Abstimmung erfolgt durch Handzeichen. Es gibt sieben Stimmen für die Auslosung, sechs dagegen und eine Enthaltung: Michou verkündet, aus ihren Träumen erwachend, sie sei den Diskussionen nicht gefolgt, habe keine Meinung dazu, und im übrigen sei ihr alles egal. So verhilft Michous Stimmenthaltung den Parteigängern der Auslosung zum Sieg.
Dagegen haben sich ausgesprochen: Caramans natürlich, aber auch die Stewardess, Madame Edmonde, Mrs. Boyd, Mrs. Banister und Madame Murzec, das heißt bis auf Michou alle Frauen. Meiner Ansicht nach ist dieses geschlossene Votum der Frauen kein Zufall und hat auch nichts mit der von Caramans und der Stewardess geäußerten prinzipiellen Haltung zu tun. Die Frauen haben mehr oder weniger bewußt damit gerechnet, daß der Inder aller Wahrscheinlichkeit nach keine ihrer Geschlechtsgenossinnen auswählen würde, falls er selbst entscheiden müßte.
Aus genau entgegengesetzten Gründen entschieden sich die Männer für die Auslosung. Auch ich, der ich eigentlich den Standpunkt der Stewardess teilte, schloß mich ihnen an, weil ich mich im letzten Augenblick der lebhaften Feindseligkeit des Inders mir gegenüber erinnerte: Meine Motivation war also nicht sehr edel. Bekanntlich ist es oft die Angst, die das Votum diktiert, selbst in friedlichen Wahlkämpfen.
Ich bedauerte es, kaum daß ich die Hand gehoben hatte. Ich hatte mich auf die falsche Seite gestellt und mich dadurch erniedrigt.
»Sie werden also losen müssen«, sagt der Inder, ohne seine in diesem Falle durchaus gerechtfertigte Verachtung zu verbergen. »Mr. Sergius, Sie haben gewiß Papier in Ihrem Handgepäck. Würden Sie bitte vierzehn Zettel mit den Namen vorbereiten?«
Ich nicke bejahend. Benebelt im Kopf und mit schwitzenden Händen mache ich mich an die Arbeit. Ich muß die Blätter falten und zerschneiden, wobei mich eine Sorge quält, nämlich das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Das ist nicht leicht. Alle Augen sind auf mich gerichtet. Eine unerträgliche Spannung liegt in der Luft; ein jeder von uns hegt die stumme, recht beschämende Hoffnung, daß der ausgeloste Zettel einen anderen Namen, nicht den eigenen tragen möge.
Ich fühle, wie entwürdigend diese Auslosung ist und wie recht die Stewardess hatte, sich ihr entgegenzustellen. Wir liefern einen von uns dem Henker aus und erkaufen uns mit seinem Blut das Überleben. Neu ist das leider nicht. Die Bestimmung des Opfers ist lediglich die Konsequenz unseres abscheulichen Egoismus. Mir nichts, dir nichts und ohne uns dessen überhaupt bewußt zu werden, sind wir vom Sündenbock zum Sühneopfer übergegangen.
Als ich meine Aufgabe beendet habe, höre ich Robbie mit einer gewissen Feierlichkeit den Inder fragen: »Darf ich etwas sagen?«
»Ich höre«, sagt der Inder.
Ich blicke auf. Den von der Sonne gebräunten schönen Kopf mit den lebhaften Augen erhoben, scheint Robbie die Stunde seines Triumphes für gekommen zu halten. Und er sagt mit frohlockender Stimme:
»Ich erkläre mich freiwillig bereit, das erste Opfer zu sein, das Sie hinrichten werden.«
Ein Zittern läuft durch den Kreis. Alle Blicke richten sich auf Robbie, und zwangsläufig haben sie alle den gleichen Ausdruck. Im linken Halbkreis herrschen Bewunderung und Dankbarkeit vor, im rechten Halbkreis ist auch Beschämung zu erkennen.
»Warum haben Sie dann für die Auslosung gestimmt?« fragt der Inder tadelnd.
»Einfach deshalb, weil ich Angst hatte, daß die Wahl auf mich fallen würde«, antwortet Robbie ruhig.
»Und jetzt wollen Sie Ihre Angst durch eine Flucht nach vorn überwinden?« fragt der Inder mit einer Grausamkeit, die mir den Atem verschlägt.
»Man kann es so sehen«, erwidert Robbie blinzelnd. »Nur daß ich nicht zu fliehen glaube.«
Mit halbgeschlossenen Augen verharrt der Inder lange in Schweigen, und Robbie fährt fort:
»Es wäre für mich und vielleicht auch für mein Land eine große Ehre, wenn Sie einwilligten.«
»Nein«, sagt der Inder schroff. »Ich willige nicht ein. Sie hätten gegen die Auslosung stimmen sollen. Jetzt ist es zu spät. Sie werden das Schicksal der anderen teilen.«
Enttäuschtes Murmeln im linken Halbkreis, und der Inder sagt, ohne die Stimme zu heben:
»Allerdings hindere ich niemanden, sich freiwillig zu melden, sofern er gegen die Auslosung gestimmt hat.«
Entsetztes Schweigen auf der linken Seite, wo niemand zu atmen wagt. Aber der Inder läßt es nicht dabei bewenden. Er fährt mit unerbittlicher Bösartigkeit fort:
»Madame Murzec, melden Sie sich freiwillig?«
»Ich weiß nicht, warum gerade ich«, entgegnet die Murzec.
»Antworten Sie mit Ja oder Nein.«
»Nein.«
»Mrs. Banister?«
»Nein.«
»Mrs. Boyd?«
»Nein.«
»Madame Edmonde?«
»Nein.«
»Mademoiselle?«
Die Stewardess schüttelt den Kopf.
»Monsieur Caramans?«
»Nein. Aber darf ich meine Antwort mit einem Satz kommentieren?« setzt Caramans sogleich hinzu.
»Nein, Sie dürfen nicht«, antwortet der Inder. »Ihr Kommentar würde Ihr Ansehen auch keinesfalls erhöhen.«
Caramans erbleicht und bleibt stumm. Der Inder wechselt mit seiner Assistentin einige Worte auf Hindi; sie bückt sich, hebt den Turban ihres Chefs auf, geht an Chrestopoulos, Pacaud, Bouchoix und Blavatski vorbei, postiert sich hinter meinem Sessel und reicht mir die Kopfbedeckung. Ich lege die vierzehn mit Namen versehenen, vierfach gefalteten Zettel hinein.
»Ich vermute, daß Sie die Auslosung korrekt vornehmen wollen«, sagt die Murzec mit ihrer krächzenden vornehmen Stimme zu dem Inder.
»Selbstverständlich.«
»Dann zählen Sie die Zettel und vergewissern Sie sich, ob es wirklich vierzehn sind. Falten Sie jeden Zettel auseinander und prüfen Sie, ob auf allen Zetteln ein Name steht.«
»Madame!« sage ich entrüstet.
»Ihr Vorschlag ist goldrichtig, Madame«, sagt der Inder. »Mir liegt sehr viel an einem korrekten Ablauf.«
Er steht auf, stellt sich rechts neben seine Assistentin, greift mit der rechten Hand in seinen Turban (in der linken hält er die Waffe), nimmt einen Zettel heraus, faltet ihn auseinander, liest, läßt ihn in die andere Hand gleiten, die die Waffe hält. Diese Prozedur wiederholt er bis zum letzten Zettel.
Als er fertig ist, sieht er mich von Kopf bis Fuß an und sagt mit einer Strenge, in der Spott mitschwingt: »Ich hätte es niemals für möglich gehalten, daß ein britischer Gentleman fähig wäre zu mogeln. Aber es ist leider wahr: Mr. Sergius hat gemogelt.«
Ich schweige.
»Mr. Sergius, möchten Sie Ihr Verhalten erklären?« fragt der Inder mit einem keinesfalls feindseligen Aufblitzen in den Augen.
»Nein.«
»Sie geben also zu, gemogelt zu haben?«
»Ja.«
»Und Sie wollen nicht erklären, wie und weshalb?«
»Nein.«
Der Inder läßt den Blick über den Kreis schweifen.
»Nun, was halten Sie davon? Mr. Sergius gesteht ein, daß er versucht hat zu mogeln. Welche Strafe wollen Sie gegen ihn verhängen?«
Schweigen.
»Ich schlage vor, daß wir Mr. Sergius als erstes Opfer bestimmen«, sagt Chrestopoulos mit einer Stimme, in der Hoffnung zittert.
»Recht so!« sagt der Inder mit abgrundtiefer Verachtung und fügt sofort hinzu: »Wer ist mit diesem Vorschlag einverstanden?«
»Moment!« ruft Blavatski streitlustig. »Keine überstürzte Abstimmung! Ich lehne das entschieden ab und weigere mich, daran teilzunehmen, solange ich nicht weiß, wie Sergius gemogelt hat.«
»Sie haben es selbst gehört«, antwortet der Inder, »er will es nicht sagen.«
»Aber Sie, Sie wissen es doch!« sagt Blavatski. Seine Angriffslust lebt offenbar wieder auf. »Was hindert Sie, es uns zu sagen?«
»Nichts hindert mich«, sagt der Inder. Und er fügt mit spöttischer Höflichkeit hinzu: »Es sei denn, Mr. Sergius hätte etwas dagegen.«
Ich sehe den Inder an und sage mit verhaltener Wut: »Machen wir mit dieser Komödie Schluß. Ich habe niemanden geschädigt. Sie haben Ihre vierzehn Zettel. Das sollte Ihnen genügen.«
»Wieso vierzehn?« fragt die Murzec.
»Ja, Madame«, sage ich wütend. »Vierzehn! Nicht einer weniger! Und ich danke Ihnen für Ihre großherzigen Unterstellungen!«
»Wenn ich recht verstehe, hat Sergius seinen Namen doch auf einen Zettel geschrieben?« fragt Blavatski.
Der Inder lächelt.
»Sie kennen ihn schlecht: Mr. Sergius ist auf seinen Namen sehr stolz. Er hat ihm nicht weniger als zwei Zettel gewidmet. So kommen wir übrigens auf die Zahl, die Madame Murzec in Erstaunen versetzt.«
»Aber das ändert die Lage völlig!« sagt Blavatski. »Denn wenn Sergius jemand eine Gabe zu Füßen legen will, ist das schließlich seine Sache.«
Der Inder schüttelt den Kopf.
»Das finde ich nicht. Es müssen vierzehn Namen sein und nicht vierzehn Zettel, von denen zwei denselben Namen tragen. Ich kann nicht zulassen, daß jemand bevorzugt wird, wer es auch sei. Sonst wäre die Korrektheit des Verfahrens in Frage gestellt.« Und er fährt fort: »Ich wollte keinen selbstmörderischen Helden. Ebensowenig akzeptiere ich den opferwilligen Liebhaber. Wenn Sie Mr. Sergius nicht zur Rechenschaft ziehen wollen, muß Mr. Sergius den einen Zettel korrigieren – das ist das mindeste.«
Ich schweige.
»Schluß damit«, sagt Blavatski ungeduldig. »Los, mein Guter, geben Sie nach«, wendet er sich an mich. »Sie halten die Verlosung auf, die wir alle demokratisch beschlossen haben.«
»Korrigieren Sie den Zettel doch selbst!« sage ich wütend. »Ich will damit nichts mehr zu tun haben! Und glauben Sie mir, ich bereue längst, für diese Auslosung gestimmt zu haben. Das ist eine verdammte Gemeinheit! Und ich bereue auch, die Namen geschrieben zu haben!«
Blavatski zuckt die Achseln und sieht den Inder bedeutungsvoll an. Letzterer macht eine Handbewegung, und die Assistentin bringt Blavatski den Zettel. Er legt ihn auf sein Knie und korrigiert ihn mit seinem Kugelschreiber. Beim letzten Buchstaben durchbohrt die Spitze das Papier, und Blavatski flucht in einer Weise, die dem Zwischenfall gar nicht angemessen ist. Ich glaube, daß er in dem Moment, als er den fehlenden vierzehnten Namen aufschreibt, die ganze Ungeheuerlichkeit unserer Entscheidung empfindet, so wie ich wenige Minuten zuvor.
Die Assistentin nimmt den Zettel aus Blavatskis Händen – jede Berührung meidend, als wäre er der Letzte der Unberührbaren –, kehrt an die Seite des Inders zurück und zeigt ihm den noch nicht wieder gefalteten Zettel. Er nickt bejahend, sie knifft, die Waffe noch immer auf uns gerichtet, den Zettel erstaunlich geschickt mit einer Hand zusammen und wirft ihn in den Turban, den der Inder in seiner Rechten hält. Zum erstenmal bemerke ich, zumindest bewußt, daß er Linkshänder ist: Er hält seine Waffe in dieser Hand. Aber er hat sie, im Gegensatz zu seiner Assistentin, nicht im Anschlag.
Obwohl ich die beiden nicht aus den Augen lasse, sehe ich nicht, daß sie sich bewegen. Und trotzdem stelle ich fest, daß sie zurückgewichen sind. Sie stehen jetzt außerhalb des Kreises vor dem Vorhang zur Pantry. Im Gesicht des Inders lese ich jenen religiösen Ernst, der mir schon zu Beginn der Entführung aufgefallen war. Man könnte meinen, daß er sich mit der Waffe in der Hand anschickt, eine Predigt zu halten.
So ernst diese Haltung sein mag, sie entbehrt nicht einer schwer zu übertreffenden Ironie: Welche moralische Lektion kann unser potentieller Mörder uns erteilen?
»Gentlemen«, sagt er (und versäumt erneut jegliche Bezugnahme auf die Damen), »wenn das Flugzeug nicht landet, werde ich in wenigen Minuten mit größtem Bedauern gezwungen sein, ein menschliches Leben auszulöschen. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich muß um jeden Preis hier herauskommen. Ich kann nicht länger an Ihrem Schicksal teilhaben und auch nicht an der Art und Weise, wie Sie es hinnehmen. Ich sehe in Ihnen mehr oder minder fügsame Opfer einer permanenten Irreführung. Sie wissen nicht, wohin Sie sich begeben noch wer das Ziel bestimmt; möglicherweise wissen Sie nicht einmal, wer Sie sind. Ich kann also keiner der Ihren sein. So schnell wie möglich dieses Flugzeug verlassen, den Kreis durchbrechen, in dem Sie sich drehen, mich von dem Rad losreißen, an das Sie gekettet sind – das ist für mich zur absoluten Priorität geworden.«
Er macht eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Was mich betrifft, so wirkt seine visionäre Beschreibung unseres Zustands wiederum beschämend auf mich.
Der Inder scheint um einige Zoll zu wachsen, seine dunklen Augen weiten sich, und als er erneut das Wort ergreift, klingt seine Stimme wie eine Totenglocke.
»Ich muß sagen, daß Sie mich enttäuscht haben. Sie haben sich nicht wie Menschen verhalten, sondern wie eine Herde egoistischer Tiere, von denen jedes seine Haut zu retten versucht. Es ist Ihnen hoffentlich nicht entgangen, daß diese Auslosung, die ich vorschlug, weil sie meinen Zwecken dient, und die Sie mit dem trügerischen Wort Demokratie geschmückt haben, von dem Standpunkt aus, der der Ihrige sein müßte, eine Ungeheuerlichkeit ist. Und keiner hier, absolut keiner hat das Recht, sich in sein gutes Gewissen zu flüchten. Die dagegen gestimmt haben, waren auch nicht frei von persönlichen Hintergedanken, und die am Ende noch aufbegehrten, handelten zu spät.«
Er fährt mit dumpfer Stimme fort:
»Die Würfel sind gefallen. Es gibt kein Zurück mehr. Mein Opfer – das auch Ihr Opfer ist – wird vom Los bestimmt.«
Niemand findet ein Wort der Erwiderung. Allen versagt die Stimme. Ich spüre, wie mein Mund plötzlich trocken wird, so sehr fürchte ich, daß mein Name gezogen wird oder der Name, den ich unterschlagen hatte. Der Inder reicht seiner Assistentin den Turban, und als sie ihn ergriffen hat, fährt er mit der Hand hinein und nimmt ein Los heraus. Mein Herz scheint stillzustehen in der unendlich langen Zeit, die er braucht, das Los auseinanderzufalten.
Er sieht den Zettel lange ungläubig, dann mit einem Ausdruck des Widerwillens an. Als er sich endlich zu sprechen entschließt, befeuchtet er seine Lippen, schlägt die Augen nieder und sagt mit leiser, belegter Stimme: »Michou.«