Die Leuchtschrift besagt, daß wir landen, was nicht zwangsläufig bedeutet, daß wir das Flugzeug verlassen werden. Und doch gibt Blavatski ihr mit seinem siegesgewissen Auftreten diese optimistische Deutung, der wir alle uns wie die Hammel anschließen, nach dem fröhlichen Durcheinander zu urteilen, das auf unsere Apathie folgt.
Michou, die viudas und Madame Edmonde belagern die Toiletten, und die Herren bringen – bis auf Pacaud, der in seinen Schmerz vergraben bleibt – ihre Kleidung und ihr Handgepäck in Ordnung. Bei Caramans sind das rein symbolische Gesten, denn seine Krawatte hat sich um keinen Zentimeter verschoben, und ich bin überzeugt, daß auch in seinen Akten jedes Stück Papier seinen richtigen Platz hat. Für ihn handelt es sich eher um ein magisches Ritual der Vorbereitung, mit dem er mehr oder weniger bewußt die Landung beschleunigen möchte.
Manzoni gehört zu den Aktivsten bei dieser Putzaktion. Er ist auch der einzige von den Männern, der sich mit aller Sorgfalt in Gegenwart der anderen kämmt. Danach zieht er aus seiner Reisetasche einen kleinen Lappen, bückt sich elegant und säubert seine Schuhe. Weil diese Tätigkeit sein Haar in Unordnung gebracht hat, kämmt er sich hinterher noch einmal.
Im Gegensatz zu seinem Nachbarn rührt Robbie sich überhaupt nicht und beobachtet die Geschäftigkeit des Kreises von oben herab und mit Distanz. Ein- oder zweimal sucht er meinen Blick, um mich als Zeugen seiner ironischen Haltung anzurufen. Als ich aber seine Absicht errate, weiche ich seinem Blick aus.
Ein neues Gefühl hat von mir Besitz ergriffen: ich habe die Hoffnung, mich behandeln lassen zu können. Ich sehe mich bereits in einem Krankenhaus, Objekt zahlreicher Untersuchungen, einer zuversichtlichen Diagnose und einer wirksamen Behandlung. Aber so einfach ist es nicht! Ich habe kaum diesem beruhigenden Gedanken Raum gewährt, als schon der Schweiß unter meinen Achseln zu strömen beginnt. Ich glaube an diesen glücklichen Ausgang nur zur Hälfte. Und möchte doch so gerne daran glauben! Entweder verlasse ich das Flugzeug und werde behandelt, oder der Flug geht weiter, und das wäre in kurzer Zeit das Ende. Ich schließe die Augen, um Bouchoix nicht zu sehen, dessen lebloser Körper so gut veranschaulicht, was die verrinnenden Augenblicke aus mir machen werden. Endlos bin ich zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit hin und her gerissen. Inmitten der Todesängste ist mein Geist wach und klar. Als könnte es mir in dem bißchen Zukunft, das mir bleibt, von Nutzen sein, stelle ich fest, daß ich soeben das wahre Wesen des Zweifels entdeckt habe. Zweifeln bedeutet nicht, wie ich bislang glaubte, sich in der Ungewißheit einzurichten, sondern abwechselnd zwei einander widersprechende Gewißheiten zu nähren.
Außer Pacaud, der mit den Händen vorm Gesicht sein Schluchzen zu ersticken sucht, interessiert sich niemand mehr für Bouchoix. Niemand fragt sich mehr, ob er tot ist oder nicht. Wir haben ihn bereits hinter uns gelassen: ein Pechvogel, dessen Reise früher als die unsere zu Ende gegangen ist. Ausgestreckt liegt er in seinem Sessel, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, die Augen halb geschlossen, die Andeutung eines Lächelns auf seinem ausgezehrten Gesicht – aber wir haben ihn schon vergessen. Er ist nur noch ein Gegenstand, den wir im Flugzeug liegenlassen werden, wenn wir aussteigen. Wer war Bouchoix denn überhaupt für uns? Ein magerer Herr, der gern Karten spielte und seinen Schwager verabscheute. Adieu, Bouchoix. Adieu, Sergius, wird es bald heißen. Wir werden sehr wenig an euch denken. Auch uns drängt die Zeit.
Michou kommt von der Toilette zurück, schiebt ihren Arm unter Pacauds Ellenbogen und lehnt mit einer tröstenden, zärtlichen Gebärde, die mich erschüttert, ihren Kopf gegen die Schulter des dicken Mannes. Sie schiebt ihre Locke zur Seite und sieht ihn an, versucht sein Gesicht anzusehen, das er mit den Händen bedeckt. Gleichzeitig redet sie leise auf ihn ein. Oh, was sie sagt, ist wohl nicht sehr kompliziert! Obwohl sie aus einem »guten Milieu« stammt, ist Michou fast eine Analphabetin. Aber ihr Gesicht und ihre Augen verraten, daß ihre einfachen Worte große Herzlichkeit ausströmen. Pacaud läßt die Hände fallen, sieht sie mit seinen hervorquellenden großen Augen an und streicht ihr dankbar und zärtlich über Wange und Haar.
»Wisch dir das Gesicht ab, Dicker«, sagt Michou mit einer Sanftheit, die ihre Ausdrucksweise Lügen straft.
Er gehorcht, und während er sein rotes Mondgesicht mit einem großen, makellos weißen Taschentuch abtupft, läßt sie leise eine Litanei zärtlicher Beschimpfungen auf ihn herniederprasseln: »dickes Baby, dicker Klotz, Dickschädel« und dann wieder »Dicker«. Währenddessen reibt sie ihre Wange am harten Tweed seiner Schulter und sieht ihn unter ihrer Locke hervor überaus teilnahmsvoll an.
Ich werfe einen Blick zu Manzoni. In Abwesenheit von Mrs. Banister hält unser Hengst alles für erlaubt. Mit dümmlicher Miene sieht er unverwandt Michou an. Es will ihm nicht in den Kopf, daß man diesen glatzköpfigen Fünfzigjährigen, dessen Laster Madame Edmonde enthüllt hat, einem Manzoni vorziehen kann. Ich sehe es an seinem bestürzten Gesichtsausdruck: er stellt sich beunruhigende Fragen. Dabei haben die Liebkosungen zwischen Michou und Pacaud nichts, absolut nichts mit irgendeinem Laster zu schaffen. Es ist fraglich, ob die beiden jemals miteinander schlafen werden, es sei denn, Michou wollte es, wiederum aus Zärtlichkeit. Für Michou ist ausschlaggebend, einen Hafen gefunden zu haben, ein sicheres Gewässer, wo sie Anker werfen kann: eine kleine Brigg mit gerafften Segeln, die neben einem bauchigen Dreimaster vertäut ist. Manzoni denkt gewiß an das »schöne Paar«, das er mit Michou abgegeben hätte. Aber das »schöne Paar« ist ein Blickfang für die Augen der anderen. Manzoni übersieht das Wesentliche, er muß noch viel lernen. Ich hoffe, er wird noch Zeit dafür haben.
Mrs. Banister kehrt aus der Toilette an ihren Platz zurück, gefolgt von Mrs. Boyd, die am Arm ihre Krokodilledertasche hängen hat, auf eine Art, die mir irgendwie auf die Nerven geht, vielleicht weil alles an ihr ein bißchen hängt, ihre Brüste, ihr Bauch, ihre Tasche. Wenigstens die Tasche könnte sie elegant unter den Arm klemmen, so wie Mrs. Banister, die mit ihren frisch gebläuten Lidern klappert, um nicht gar zu auffällig ihren Galan anzusehen, der ihr gerade noch rechtzeitig seine unterwürfigen Augen zuwendet.
»Oh, Margaret«, sagt Mrs. Banister, während sie sich mit einer anmutigen Körperdrehung hinsetzt, »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich nach einem Bad sehne. Ich hoffe nur, daß mein Badezimmer eines Vier-Sterne-Hotels würdig sein wird. Ich bin bei Badezimmern sehr wählerisch.« Und da Mrs. Boyd nicht zu verstehen scheint, übersetzt sie: “I am very fastidious about bathrooms, you know.”
»Ich auch«, antwortet Mrs. Boyd.
»Oh, ich erinnere mich, im Ritz, in Lissabon, hatte ich mich beschwert! Der arme Direktor begriff nichts. ›Aber Madame‹, sagte er mit seiner zischelnden Aussprache, ›was haben Sie an diesem Bad auszusetzen? Es ist aus Marmor!‹ (Manzoni zugewandt, lacht sie.) Jedenfalls werde ich in Madrapour als erstes ein Bad nehmen. Ein herrliches Schaumbad! Um mich ausgiebig zu schrubben! Hoffentlich finde ich jemand, der mir den Rücken abreibt.«
“My dear!” sagt Mrs. Boyd.
»Sie natürlich, Margaret, wenn es Ihnen recht ist«, sagt Mrs. Banister mit einem schrägen Blick zu Manzoni.
Ich sehe und höre das alles, aber es ermüdet mich unsäglich, eine Komödie! Glaubt Mrs. Banister wirklich, daß sie so bald zu ihrem genußvollen Bad kommen wird? Und was heißt das eigentlich, glauben? Vor allem, wenn man diesem Verb das Adverb wirklich folgen läßt? Das unanfechtbare wirklich glauben trennen Welten von dem zweifelhaften glauben wollen und dem mehr als zweifelhaften nur so tun. Drei Kategorien, in die Menschen, welche beten, sich einordnen könnten, wenn sie den Mut zu solcher heimlichen Einstufung hätten und derlei möglich wäre: denn sind nicht diejenigen, die glauben wollen, dieselben, die glauben, daß sie glauben? Ein unentwirrbares Problem! Ich jedenfalls, der ich an Gott glaube oder an ihn glauben will – was in der Praxis vielleicht auf dasselbe hinausläuft, nicht aber im tiefsten Inneren –, ich glaube in diesem Augenblick wirklich nur an eines: an meinen eigenen Tod.
Die Stewardess hält immer noch meine Hand, die sie mit ihren Fingern streichelt, und während mein Leben verrinnt, glaube ich mit aller Kraft, will ich glauben, daß sie mich liebt. Wie dem auch sei: sie ist da. Ich sehe meine wortkarge Stewardess an und höre gleichzeitig, wie Michou sich auf ihre naive Weise bemüht, Pacaud zu trösten.
»Du wirst ihm doch nicht ewig nachweinen, diesem Kerl! Wo er dich doch nicht riechen konnte! Du spinnst, Dicker!«
Der Dicke spinnt wirklich, aber nicht mehr als Mrs. Banister, die von ihrem Bad träumt.
»Michou, das verstehst du nicht«, sagt Pacaud leise. »Meine Frau hatte ihn mir anvertraut! Was soll ich meiner Frau jetzt sagen?«
»Nichts«, wirft Robbie unvermittelt ein und richtet sich mit gereiztem Blick auf. »Nichts werden Sie ihr sagen! Aus dem einfachen Grund, weil Sie niemals mehr Gelegenheit haben werden, ihr irgend etwas zu sagen!«
Dieser Eklat schreckt uns auf, der Kreis sieht Robbie bestürzt und entrüstet an. Aber dieser hält unseren Blicken stand. Und niemand, nicht einmal Pacaud, wagt es, seine gewagte Herausforderung zurückzuweisen oder eine Präzisierung von ihm zu verlangen. Man könnte meinen, der Kreis sei sich plötzlich der Fragwürdigkeit seiner Hoffnungen bewußt geworden und fürchte, sie in einer Diskussion mit Robbie in Frage zu stellen. Spannungsgeladenes, lähmendes Schweigen tritt an die Stelle unserer regen Landevorbereitungen. Der Kreis zieht sich verängstigt in sein Schneckenhaus zurück. Die Münder sind verschlossen, die Blicke erloschen.
Diese plötzliche Zurückhaltung macht um so mehr betroffen, als vorher ein einziges Kommen und Gehen gewesen war, Drängelei vor den Toiletten, Geschäftigkeit jeder Art. Die Spannung ist so stark, daß ich der Stewardess für ihr Eingreifen fast dankbar bin. Ich sage »fast«, weil sie beim Aufstehen meine Hand losläßt und mich ein Gefühl der Verlassenheit überkommt, als ich ihre warmen Finger nicht mehr in meiner Hand spüre.
»Bitte schnallen Sie sich fest«, sagt sie ganz sachlich.
Tatsächlich hat bisher niemand daran gedacht. Und während die Passagiere ihre Anweisung befolgen, geht die Stewardess um den Kreis herum und überzeugt sich mit einem Blick, daß die Gurte ineinander verhakt sind. Dieser professionelle Eifer beruhigt uns. Er scheint zu beweisen, daß alles wieder seine Ordnung hat: wir landen. Die Sicherheitsvorschriften werden eingehalten. Die Stewardess wacht gewissenhaft darüber. Also handelt es sich letztendlich um ein Flugzeug wie jedes andere, selbst wenn sich niemand im Cockpit befindet – und um einen Flug wie jeden anderen, selbst wenn er uns ein wenig lang erschienen ist.
Obwohl das Schweigen jetzt nicht mehr so spannungsgeladen ist, sagt niemand ein Wort. Die Zeit verrinnt mit der Gleichförmigkeit jener Normaluhren ohne Zifferblatt, die die Stunden und Minuten auf zwei Leuchttafeln anzeigen. In jeder Sekunde verlischt eine Ziffer und leuchtet eine andere auf, die ihrerseits wieder verlischt. Wenn man dieses Aufleuchten und Verlöschen eine Weile beobachtet, packt einen unweigerlich lähmendes Entsetzen: nichts könnte die Unvermeidlichkeit unseres eigenen Endes besser veranschaulichen. Im Grunde würde es genügen, sich hinzusetzen, die Leuchtziffern zu beobachten und lange genug zu warten.
Warten, das ist es, was wir alle in diesem Augenblick tun in unserem Kreis, ohne Normaluhr, ohne Armbanduhr, sogar ohne das Alibi einer Beschäftigung wie auf der Erde.
In der Chartermaschine ist es dämmrig geworden. Die Stewardess hat, wie sie sagte, keine Möglichkeit, die Beleuchtung einzuschalten: diese wird vom BODEN gesteuert, und der BODEN hat Gott weiß warum beschlossen, uns bei einbrechender Nacht das Licht vorzuenthalten. Eine kleine Abweichung vom Programm des Vortages. Gestern abend waren die Lampen bis zur Landung eingeschaltet geblieben und erst beim Öffnen der Türen erloschen. Ich bin überzeugt, nicht als einziger diesen Unterschied bemerkt zu haben, aber niemand, nicht einmal Blavatski, äußert sich dazu. An sich ist dieser Unterschied wohl nicht sehr bedeutungsvoll, aber vielleicht haben wir Angst, einen neuen Angriff Robbies gegen unsere Hoffnungen auszulösen, wenn wir darauf aufmerksam machen.
Jetzt ist es so dunkel, daß wir kaum die Gesichter unserer Gegenüber erkennen können. Ich nehme an, daß die Dämmerung von Minute zu Minute intensiver wird und schließlich tiefer Schwärze weicht. Aber mitnichten. Das Licht scheint seine Intensität beizubehalten: ein fahles Grau, das die Physiognomie verwischt und von jedem Gesicht nur einen breiten weißlichen Fleck mit verschwommenen Umrissen übrigläßt.
Am deutlichsten ist noch das abgezehrte Gesicht von Bouchoix zu erkennen. Vielleicht liegt es an der horizontalen Lage, daß sich auf seinem Gesicht mehr von dem verbliebenen Licht sammelt. Es wirkt auch noch weißer und eingefallener. Ich sehe ihn an. Mir scheint, seine Lippen haben sich bewegt. Ich erschauere unter panischer Angst, die aber sofort verfliegt. Ich weiß, wie dieser trügerische Effekt zustande kommt. Wenn man einen Toten lange ansieht, glaubt man am Ende immer, daß sich sein Gesicht unmerklich bewegt hat. Diese Täuschung muß daher rühren, daß es uns nicht gelingt, uns mit seiner unwiderruflichen Starre abzufinden.
Ich spüre an meinen verstopften Ohren, daß wir immer schneller an Höhe verlieren. Ich schlucke, um mich von dem Druck zu befreien, und an der Anstrengung, die mich das kostet, kann ich erneut meine Schwäche ermessen.
Die Dämmerung nimmt uns jegliche Möglichkeit, die Entfernung zur Erde einzuschätzen, und als das Flugzeug wie am Abend zuvor mit äußerster Heftigkeit aufsetzt, spüre ich nicht etwa Erleichterung, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, sondern beklommene Ungläubigkeit.
Niemand sagt ein Wort. Das Flugzeug bremst so stark, daß es einem den Atem verschlägt, scheint aber trotzdem endlos lange über ein unebenes Gelände zu rollen. Die Hände um die Seitenlehnen gekrampft, warten wir angespannt. Nach einigen sehr heftigen Stößen kommt die Maschine zum Stehen. Die Motoren verstummen, und in der Stille hört man das Scheppern der ausfahrenden Treppe.
Plötzlich knackt ein Lautsprecher, und eine näselnde Stimme ertönt in unserer Mitte, ohrenbetäubend, als ob der Verstärker auf höchste Phonstärke eingestellt wäre. Kein menschliches Ohr könnte diesen Lärm lange ertragen. Die Stimme explodiert regelrecht in unseren Köpfen, man weiß nicht, wohin man sich vor ihr flüchten soll. Sie ergreift von dem Flugzeug Besitz, füllt es bis zum äußersten Winkel aus, hallt von einem Ende des Rumpfes zum anderen wider. Man hat den Eindruck, daß sogar die Wände genauso vibrieren müßten wie unsere zuckenden Körper. Glücklicherweise formuliert sie nur einen Satz. Ohne die geringste Höflichkeitsfloskel, ohne das rituelle »Meine Damen und Herren«, ohne jegliche Angabe von »Ortszeit« und »Außentemperatur« verkündet sie im Befehlston: »Lösen Sie nicht Ihre Gurte!«
Mir leuchtet der Grund dieser Anordnung nicht ein, weil die Chartermaschine zum Stehen gekommen ist. Aber aus den Bewegungen, die Chrestopoulos und Blavatski im Halbdunkel machen, schließe ich, daß sie sich wieder festschnallen. Die Stimme, die uns befiehlt, steht mit Augen in Verbindung, denen nichts entgeht.
»Mademoiselle«, fährt die näselnde Stimme fort, »öffnen Sie den Exit.«
Die Stewardess löst ihren Gurt und erhebt sich. Ich wende den Kopf, ich sehe sie kaum, aber ich höre, wie sie sich an der Verriegelung zu schaffen macht. Und ich weiß, daß sie die Tür geöffnet hat, als ein eisiger Wind ins Flugzeug dringt.
Mir nimmt es den Atem, meine Lungen brennen, ich keuche, Schauer jagen über meinen Körper. Bei meiner Schwäche gelingt es mir nicht einmal, meine Muskeln zu spannen, um gegen die Kälte, die mich starr macht, anzukämpfen. Es scheint mir kaum vorstellbar, daß ein menschliches Wesen den Mut haben könnte, die Chartermaschine zu verlassen und sich draußen der sibirischen Kälte auszuliefern, wie gestern abend die Murzec. Links neben mir höre ich jemand mit den Zähnen klappern. Robbie, glaube ich. Er ist so dünn angezogen. Ich hätte nie gedacht, daß Zähne, die aufeinanderstoßen, solchen Lärm erzeugen können.
Überall im Kreis werden jetzt Klagen laut, Stöhnen, Wortfetzen, aber seltsamerweise ist kein Wort des Protestes zu hören, wie von Blavatski oder Caramans zu erwarten gewesen wäre. Die polare Temperatur, die uns unter ihrem eisigen Hauch fast erstickt, lähmt gleichzeitig unsere Reflexe. Ich spüre, wie mich mit den endlosen Schauern eine heimtückische Müdigkeit überfällt. Ich kämpfe dagegen an. Ich fühle mich von den Anstrengungen erschöpft.
»Achtung!« sagt die näselnde Stimme.
Wiederum bricht sie mit unerträglicher Lautstärke in die Chartermaschine ein, vibriert und hallt in unseren Köpfen, als wollte sie sie sprengen. Selbst wenn sie schweigt, wagt man nicht aufzuatmen. Wie bei der Folter wartet man schon auf die nächste Quälerei, und obwohl die Stimme noch nichts Drohendes verkündet hat, ist man wie von Angst besessen, seit sie in unseren Ohren dröhnt. Es ist nicht nur die Lautstärke. Es ist auch dieses Näseln und dieser – wie soll ich es sagen? – absolut unbeteiligte, mechanische, unmenschliche Tonfall.
»Achtung!« brüllt die Stimme erneut.
Es folgt eine Pause von mehreren Sekunden, völlig absurd und von sinnloser Grausamkeit: was sollen wir, an unsere Sitze geschnallt, von der Kälte gelähmt, von Entsetzen gepackt, anderes tun als unsere »Achtung« dem leihen, was die Stimme sagen wird?
»Bouchoix Emile!« schreit die näselnde Stimme.
Keine Antwort, und als ob die Stimme dieses Schweigen erwartet hätte, fährt sie in voller Lautstärke und ohne die geringste Verwirrung fort:
»Sie werden auf dem Boden erwartet!«
Niedergedrücktes Schweigen. Der Kreis ist verblüfft, ich spüre die Fragen, die er sich stellt. Ist es möglich, daß der BODEN, der alles sieht, der unsere Worte, vielleicht sogar unsere Gedanken erfaßt, nichts über den Zustand von Bouchoix weiß?
»Bouchoix Emile!« wiederholt die Stimme in der gleichen traumatisierenden Lautstärke, aber ohne jegliche Ungeduld, als ob die Wiederholung zur Routine gehörte.
»Er ist doch tot«, sagt jemand, vielleicht Pacaud, mit schüchterner Stimme.
Schweigen. Die Stimme wird Pacaud nicht antworten.
»Bouchoix Emile!« wiederholt die Stimme jetzt in einer Phonstärke, die uns buchstäblich zermalmt, und setzt mit mechanischer Präzision hinzu: »Sie werden auf dem Boden erwartet!«
In das nachfolgende Schweigen hinein stellt die Stewardess, der ich niemals soviel Mut zugetraut hätte, eine Frage, auf die unglaublicherweise eine Antwort erfolgt. Der Dialog wird also nicht prinzipiell abgelehnt, wie ich glaubte.
Die Stimme der Stewardess hebt sich sanft, leise und klangvoll von den Dezibel ab, die unser Trommelfell mißhandelt haben.
»Wir haben hier einen Kranken, Monsieur Sergius«, sagt sie höflich und bestimmt. »Könnte er nicht ebenfalls evakuiert werden?«
Ich bin gerührt und nehme der Stewardess gleichzeitig übel, daß sie meine Trennung von sich in Erwägung zieht, selbst um den Preis meiner Rettung.
Ihrer Frage folgt ein langes Schweigen. Und gerade als ich schon denke, daß man sie ignorieren wird, antwortet die näselnde Stimme. Sie ist beträchtlich leiser geworden, so als handelte es sich um ein Selbstgespräch, und vor allem ist der Ton nicht mehr derselbe. Er ist nicht mehr unbeteiligt: er ist unzufrieden. Er verrät gleichsam die Verärgerung eines Bürokraten, den man auf eine Nachlässigkeit in seinem Dienstbereich aufmerksam gemacht hat.
»Monsieur Sergius dürfte nicht krank sein«, sagt die näselnde Stimme.
Diese Bemerkung verblüfft mich außerordentlich. Wie soll ich verstehen, daß die Krankheit, an der ich leide, das Ergebnis eines »Irrtums« sein könnte?
»Mademoiselle«, fährt die näselnde Stimme noch leiser fort, »Sie werden Monsieur Sergius zwei Dragees Oniril geben, eins am Morgen, eins am Abend.«
Das ist mehr ein Befehl als eine Verordnung. Und der Kreis müßte darüber verzweifelt sein, wenn er fähig wäre nachzudenken: für die Behandlung ist keine zeitliche Grenze festgesetzt.
»Ja, Monsieur«, sagt die Stewardess.
Ich habe noch nie von einem Medikament gehört, das die Bezeichnung Oniril trägt, aber offensichtlich weiß die Stewardess, wo es zu finden ist.
Als ob die Frage damit geklärt, der Einwurf erledigt wäre und nun alles seinen gewohnten Gang nehmen müßte, fügt die näselnde Stimme hinzu, wieder in ohrenbetäubender Lautstärke und mit der anfänglichen unbeteiligten, mechanischen Diktion: »Bouchoix Emile! Sie werden auf dem Boden erwartet!«
Liegt es daran, daß ich völlig durchgefroren bin von dem Wind, der in die Chartermaschine eindringt, und sprachlos darüber, daß meine tödliche Schwäche vielleicht nur ein »Irrtum« ist? Liegt es an der Lähmung meines Geistes infolge der unerträglichen Phonstärke der näselnden Stimme? Jedenfalls traue ich meinen Augen nicht, als ich sehe, wie sich Bouchoix’ Körper bewegt und seine abgezehrten Hände die Decke zurückwerfen.
»Emile!« ruft Pacaud. Und eine Frau, ich glaube, es ist Mrs. Banister, stößt einen gellenden Schrei aus. Ich bin also nicht der einzige in der Chartermaschine, der wahrnimmt, daß Bouchoix sich langsam in seinem Sessel aufrichtet.
“My God!” sagt Blavatski vorläufig nur. (Ihn erkenne ich an der Stimme.)
»Emile!« schreit Pacaud mit einer Stimme, die zwischen Erleichterung und Angst schwankt. »Aber wir glaubten doch …« Er stottert, es gelingt ihm nicht, den Satz zu beenden, und er setzt von neuem an: »Bist du denn noch …«
Auch diesen Satz bringt er nicht zu Ende. Das Wort »lebendig« kommt nicht über seine Lippen. Wieder schreit eine Frau; kurze, dumpfe, erstickte Ausrufe züngeln im Kreis empor, als ob niemand wagte, seinen Gedanken oder seinen Satz zu Ende zu führen.
»Ich hatte es doch gesagt!« bricht plötzlich Blavatskis rauhe, herausfordernde Stimme los. »Ich hatte doch gesagt, daß er nicht tot ist! Niemand wollte auf mich hören und die notwendige Überprüfung vornehmen!«
Unglaublich! Blavatski macht sich unsere Erschütterung zunutze, um noch in extremis Oberhand zu gewinnen. Da er uns nicht mehr beherrschen kann, tut er einfach so! Vor Kälte, vielleicht auch vor Angst zitternd, parodiert er seine eigene leadership! Das ist primitiv und kindisch, dennoch sind wir ihm in diesem Augenblick dankbar, daß er uns die einzige Erklärung gibt, die zu akzeptieren wir bereit sind, auch wenn sie absurd ist.
Denn Bouchoix richtet sich nicht nur in seinem Sessel auf, er stellt sich steif und mit mechanischer Bewegung auf die Beine, ohne sichtliche Mühe, ohne jegliche Hilfe, ohne die Hand zu ergreifen, die Pacaud ihm reicht, der in Mißachtung des gegebenen Befehls seinen Gurt löst und ebenfalls aufsteht. Soweit ich es zu beurteilen vermag – ich klappere vor Kälte mit den Zähnen, mein Blick ist getrübt, außer Flecken und Umrissen kann ich nichts erkennen –, geht Bouchoix in Richtung Exit, wo auch die Stewardess steht. Er bewegt sich mit kleinen Schritten langsam fort, ohne zu schwanken, gefolgt von Pacaud, der ihn einholt und ihm seine Reisetasche in die Hand drückt, mit dumpfer, von Entsetzen und Kälte entstellter Stimme mühsam stammelnd: »Emile, deine Tasche! Deine Tasche!«
Bouchoix bleibt stehen, streckt mit verblüffender Kraft seinen Arm, der die Tasche hält, waagerecht aus und beläßt ihn eine volle Sekunde in dieser Position. Ich sehe nicht, wie seine Hand sich öffnet, es ist zu dunkel, aber ich sehe die Tasche fallen und höre, wie sie dumpf und weich auf dem Läufer aufschlägt.
»Deine Tasche, Emile!« sagt Pacaud.
Keine Antwort. Der geöffnete Exit gibt den Blick frei auf die aufgehellte, fast graue Nacht, und in diesem Rechteck zeichnet sich schwarz Bouchoix’ Silhouette mit den leeren Händen ab. Sie schwankt in dem eisigen Luftstrom. Sie bleibt stehen. Die Stewardess sagt mit unbeteiligter, berufsmäßiger Stimme: »Auf Wiedersehen, Monsieur.«
Bouchoix wendet ihr den Kopf zu, sein grausiges Profil hebt sich eine Sekunde lang vom Grau der Nacht ab, aber er sagt nichts, er geht vorbei, er verschwindet, wir hören seinen schweren Schritt auf der Metalltreppe. Später, als ich die Stewardess frage, warum Bouchoix ihr nicht geantwortet hat, sagt sie: »Er hat mich nicht gesehen. Es ist sogar fraglich, ob er mich gehört hat.« – »Aber er hat Sie doch angesehen.« – »Nein. Nicht richtig. Sein Gesicht hat er mir zugewandt, aber seine Augen waren tot. Zumindest schien es mir so. Die Nacht war hell, aber vielleicht nicht hell genug, um den Ausdruck seiner Augen zu erkennen.« – »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Sie nicht gesehen hat! Er ist die Treppe hinuntergegangen, ohne zu stürzen!« – »Das will nichts besagen. Er hat ziemlich lange getastet, ehe er das Geländer fand, und als er es ergriffen hatte, brauchte er seine Augen nicht mehr.« Ich wechsle unvermittelt das Thema und frage: »Hat ihn am Fuß der Treppe jemand erwartet?« Das Gesicht der Stewardess verschließt sich, sie senkt die Augen und sagt mit matter Stimme: »Ich habe nicht hingesehen.« – »Warum?« – »Ich konnte nicht.«
Sobald die Stewardess den Exit verriegelt hat, fühle ich mich doppelt erleichtert: die sibirische Kälte kann mir nicht länger zusetzen, und ich werde Bouchoix nicht mehr sehen. Wenn ein Mensch zum Leichnam geworden ist, verfügen wir über ihn mit höchster Eile. Lebendig mag er uns lieb und teuer gewesen sein. Tot wird er uns hassenswert. Schnell! Schnell! Weg mit ihm! In die Grube mit ihm! Ins Feuer mit ihm! Nur die superleichte Substanz wollen wir uns von ihm bewahren: die Erinnerung; und das ultrahygienische Element: die Idee, daß er gewesen ist. Was Bouchoix betrifft, lasse ich es Pacaud angelegen sein, die Erinnerung an sein Wesen zu bewahren und die ihm gebührenden Tränen zu vergießen! Wenn ich darüber nachdenke, finde ich das nicht richtig: die ganze Menschheit müßte weinen, wenn einer der Ihren stirbt, und sei es ein Bouchoix.
Tastend reicht mir die Stewardess ein Glas Wasser und drückt mir in die andere Hand, die sie mit ihren eiskalten Fingern schließt, ein kleines Dragee.
»Was ist das?«
»Das Oniril.«
»Wo haben Sie es gefunden?«
»In einer Schublade der Pantry, schon beim Abflug.«
»Aber Sie kannten nicht den Verwendungszweck?«
»Nein.«
Ich deute ein Lächeln an.
»Sie hätten sich die Gebrauchsanweisung im Innern der Schachtel ansehen können.«
»Es war keine da.«
Ich zögere den Bruchteil einer Sekunde, dann schlucke ich das kleine Dragee und trinke das Wasser. Zitternd vor Kälte und Schwäche, stelle ich fest, daß die Stewardess nach dem Verriegeln des Exits als erstes daran gedacht hat, mir das Oniril zu holen. Von Zärtlichkeit erneut überwältigt, sehe ich sie an.
In diesem Augenblick hoffe ich, gesund zu werden. Ich denke an eine jetzt wieder mögliche Zukunft mit der Stewardess. Selbst wenn sie nur von kurzer Dauer wäre. Ich kann an nichts anderes denken: und doch wird mir bald darauf in dem niedergedrückten Schweigen des Kreises bewußt, in welchen Abgründen die Gedanken meiner Reisegefährten kreisen, seit Bouchoix von uns gegangen und alle Hoffnung geschwunden ist, in Madrapour anzukommen.
Dabei hatte die näselnde Stimme nicht ausdrücklich befohlen, das Flugzeug nicht zu verlassen. Ungeachtet dessen hat sich niemand, absolut niemand zum Exit begeben. Niemand hat den geringsten Einspruch erhoben. Außer der Stewardess hat niemand eine Frage gestellt. Und diese Frage betraf die Evakuierung eines Kranken, nicht das Aussteigen der Passagiere. Ebensowenig hat der Kreis reagiert, als die Stewardess den Exit wieder verriegelt hat. Der Boden hatte es ihr gar nicht befohlen. Sie hat es getan, und wir haben sie wie selbstverständlich gewähren lassen. Sie hat die schwere Tür unseres fliegenden Kerkers wieder verschlossen, in dem wir jetzt weiterleben werden, nicht von Polizisten bewacht, sondern von 10 000 Metern eisiger Leere zwischen der Erde und uns.
Ich habe den Eindruck, daß die Zeit für nichts und wieder nichts verrinnt. Denn die Chartermaschine bleibt sehr lange auf der Erde. Eine Stunde vielleicht, aber niemand hat eine Uhr. Unser einziges Zeitmaß ist unsere Geduld oder Ungeduld.
Ich weiß nicht, ob dieses Warten durch das Auftanken und die Erneuerung des Wasservorrats für die Bordküche und die Toiletten bedingt ist, aber an unser Ohr dringt kein Geräusch, und wir sehen draußen, wo die Nacht nach dem Ausstieg von Bouchoix noch heller geworden ist, auch keinen Tankwagen. Seit der Verriegelung des Exits haben wir lediglich das Scheppern der einfahrenden Metalltreppe gehört. Sonst keinen Laut. Die Motoren sind immer noch abgestellt, und obwohl das Warten an unseren Nerven zerrt, sagt niemand ein Sterbenswörtchen. Man könnte meinen, wir haben Angst, für jede Äußerung von der näselnden Stimme zur Ordnung gerufen zu werden. Wir wissen nicht, ob der BODEN uns noch irgendwelche Rechte zugesteht.
Stillschweigend zumindest nehmen alle Passagiere diese Willkür hin, auch Blavatski, der so herrschsüchtig ist, auch Caramans, der Gesetzesanbeter, auch Robbie mit seinem Hang zum Anarchismus. Die sibirische Temperatur, die niederschmetternde Wirkung der Stimme, Bouchoix’Abgang, unsere Enttäuschung, das Flugzeug nicht verlassen zu können – alles Schocks, die uns der Kraft beraubt haben, der Würde und auch des Drangs zum Aufbegehren. Nur leises Weinen ist zu hören, von Mrs. Banister, glaube ich. Ihre Träume, die sie um das schöne Zimmer in Madrapour gerankt hat, verflüchtigen sich.
Die Nacht hat sich weiter aufgehellt und im Innern der Maschine fahles Licht ausgebreitet, das eigentlich viel unheimlicher als die Dunkelheit ist. Da wir vom Morgengrauen vermutlich noch weit entfernt sind, kann ich mir dieses Phänomen nur durch den Mond erklären. Vorübergehend wird es so hell, daß man glauben könnte, er werde durch die Wolken dringen. Das gelingt ihm nicht, aber die vordem graue Nacht ist plötzlich weiß.
Da ergreift Madame Murzec eine überraschende Initiative: sie löst ihren Gurt, schnellt auf die Beine und drückt ihr Gesicht gegen ein Kabinenfenster. Dann dreht sie sich zu uns um, und ihre blauen Augen leuchten gleichsam als die hellsten Punkte in der Maschine. Mit sanfter Stimme, aus der gleichwohl eine starke Erregung herauszuhören ist, sagt sie: »Ich habe den See wiedererkannt! Und den Quai! Hier sind wir gestern mit dem Inder gelandet!«
Entsetztes Schweigen breitet sich aus, bevor Sekunden später Blavatski explodiert.
»Sie sind verrückt! Was wollen Sie hier wiedererkennen! Wo kaum etwas zu sehen ist! Außerdem haben Sie die Tragfläche vor dem Kabinenfenster!«
»Aber mitnichten!«
»Doch! Sie halten die schwache Spiegelung der Tragfläche für Wasser! … Mit viel Phantasie! …«
»Aber mitnichten!« wiederholt die Murzec. »Kommen Sie doch her und sehen Sie selbst, wenn Sie mir nicht glauben!«
»Die Mühe kann ich mir schenken«, sagt Blavatski in gröblich beleidigendem Ton. »Ich kann von meinem Platz aus feststellen, daß nichts zu sehen ist, kein See und auch kein Quai!«
Wie um Blavatski zu gestatten, über die Murzec zu triumphieren, verdunkelt sich in diesem Augenblick das Mondlicht, und die Landschaft draußen ist dem Blick entzogen. Die Murzec kehrt an ihren Platz zurück und sagt mit unbeirrtem Sanftmut:
»Ich bedauere, Ihnen widersprechen zu müssen, Monsieur Blavatski. Jetzt sieht man wirklich nichts mehr. Aber eben noch habe ich einen See und den an seinem Ufer verlaufenden Quai gesehen. Und ich habe beides wiedererkannt! Der Inder ist auf diesem Quai entlanggegangen, als er die Kunstledertasche ins Wasser fallen ließ.«
»Sie haben gesehen, was Sie sehen wollten!« brüllt Blavatski. »In Wahrheit sind Sie von der Erinnerung an den Inder einfach besessen! Ich bin sicher, wenn Sie im Cockpit knien und beten, sehen Sie ihn im Himmel schweben!«
Er lacht kurz auf. Die Murzec bewahrt Schweigen, aber Robbie sagt mit deutlicher Entrüstung in der Stimme:
»Solche Überlegungen könnten Sie sich sparen, Blavatski! Was Madame Murzec im Cockpit macht, geht Sie nichts an, und Sie haben ihr auch keine Visionen zuzuschreiben!«
»Ich tu ihr damit doch kein Unrecht«, sagt Blavatski mit plumper Ironie, ohne Robbie anzusehen. »Man leiht nur denen, die etwas besitzen. Madame Murzec besitzt eine mystische Ader: sie sieht entschieden mehr als die Realitäten dieser Welt!«
Man hätte eine Entgegnung der Murzec erwarten können. Doch nein. Kein einziges Wort. Schweigen. Die linke Wange hingehalten. Und Robbie ruft aufgebracht mit schriller Stimme:
»Mir ist unbegreiflich, wie Sie so unflätig eine Frau angreifen können, die sich nicht zur Wehr setzt. Oder doch, ich begreife. Sie wollen nicht zugeben, daß die Maschine seit gestern abend im Kreis geflogen ist, um zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren.«
Ausrufe des Entsetzens bei der Mehrheit, aber in gedämpften Tönen. Kein Zetergeschrei, so stark ist die Niedergeschlagenheit.
»Auf eine so fragwürdige Aussage hin kann ich das nicht zugeben!« entgegnet Blavatski mit verhaltener Wut. »Was Madame Murzec innerhalb einer Sekunde bei vagem Mondlicht zu sehen glaubte, als sie durch ein verzerrendes Kabinenfenster blickte, hat für mich keine Beweiskraft! Mehr will ich damit nicht sagen! Das gibt mir der gesunde Menschenverstand ein, und daran halte ich mich!«
»Ich bitte Sie um Verzeihung, ich habe einen See gesehen«, sagt die Murzec, deren Züge man nicht mehr erkennen kann, weil es jetzt sehr dunkel geworden ist. Sie spricht vollkommen gelöst, als ob keiner von Blavatskis Pfeilen vermocht hätte, ihre Rüstung zu durchdringen. »Ich wiederhole«, fährt sie fort, »ich habe einen See gesehen, dessen Wasser mir trotz des Mondes sehr schwarz erschien. Ich habe einen Quai gesehen. Und ich habe sogar ein am Quai festgemachtes Boot gesehen. Und ich habe das alles nicht nur gesehen, ich habe es auch wiedererkannt.«
»Wie wollen Sie wissen, daß es ein See war?« fragt unvermittelt eine Stimme, die ich am Tonfall als die von Caramans erkenne. »War es denn hell genug? Und haben Sie das andere Ufer erkennen können?«
»Um die Wahrheit zu sagen, nein«, antwortet die Murzec.
»Dann war es vielleicht ein Fluß«, sagt Caramans im Ton eines Schulmeisters, der einen Schüler bei einem Fehler ertappt.
»Nein. Ein Fluß hat eine Strömung.«
»Wenn das Wasser schwarz war, konnten Sie die Strömung nicht erkennen.«
»Das ist möglich.«
»Und weil das Kabinenfenster so klein ist«, fährt Caramans mit höflicher Unnachgiebigkeit fort, »haben Sie sich von der tatsächlichen Ausdehnung der Wasserfläche keine genaue Vorstellung machen können.«
»Mag sein«, antwortet die Murzec.
»Unter solchen Bedingungen«, schlußfolgert Caramans triumphierend, »können Sie uns nicht wirklich sagen, ob Sie einen See, einen Fluß, einen Teich oder eine einfache Pfütze gesehen haben …«
Schadenfrohes Gekicher im Kreis. Anscheinend hat die Mehrheit nichts Eiligeres zu tun, als den Schluß zu ziehen, daß Caramans die Murzec im Interesse der Allgemeinheit mundtot gemacht hat.
»Aber das ist doch idiotisch!« protestiert Robbie. »Es ist unwichtig, ob Madame Murzec einen See, einen Fluß oder einen Teich gesehen hat! Wichtig ist, daß sie den Ort unserer ersten Zwischenlandung wiedererkannt hat!«
»Und wie soll sie ihn wiedererkannt haben, wenn sie ihn so ungenau beschreibt?« kontert Caramans.
Abermals schadenfrohes Gelächter. Gott sei Dank, die Mehrheit entlarvt die falschen Propheten und hört wieder auf die guten Hirten: Blavatski und Caramans. Der gesunde Menschenverstand und die Dialektik. Der zornige Skeptizismus und das spitzfindige Räsonieren.
Sichtlich kommt neue Hoffnung auf. Eine unendlich bescheidene Hoffnung, die sich mit dem Gedanken begnügt, daß das Flugzeug vielleicht doch nicht dorthin zurückgekehrt ist, wo es am Abend zuvor gelandet war.
Gewiß, der Kreis hat einen der Seinigen verloren, alle zittern vor Kälte. Wenn die Chartermaschine wieder abhebt, weiß niemand, wohin sie fliegt noch wer sie lenkt. Der Kreis kennt weder das Wie noch das Warum. Und doch schöpft er langsam wieder Mut – sowenig es auch sei. Er braucht nicht viel! Ein klein, ein ganz klein wenig Hoffnung, daß man wenigstens nicht im Kreis fliegt …
Ich will hier nicht prahlen. Und ich werfe nicht den Stein auf die Mehrheit. Ich selbst, der ich glaubte, Bouchoix im Abstand von knapp einem Tag zu folgen, ich brauchte von der näselnden Stimme nur zu hören, daß meine Krankheit ein »Irrtum« sei, und mir eine Droge verordnen zu lassen, um mich sofort für gesund zu halten.
In ebendiesem Augenblick schaltet sich die Stewardess ein und setzt den Kreis – Mehrheit und Minderheit – in Erstaunen, weil ihre Worte so völlig im Gegensatz zu ihrer bislang stets beschwichtigenden Rolle zu stehen scheinen.
»Madame Murzec hat recht: sie hat tatsächlich einen See gesehen«, sagt sie mit sanfter Stimme.
Ich wende ihr den Kopf zu, aber ich kann ihre Züge nicht erkennen, es ist viel zu dunkel.
»Woher wissen Sie das?« fragt Blavatski barsch.
»Weil ich ihn selbst gesehen habe«, erwidert die Stewardess ruhig.
»Sie haben ihn gesehen!« sagt Blavatski. »Und wann?« fügt er beinahe drohend hinzu. »Darf ich Ihnen diese Frage stellen?« (Die Höflichkeitsformel will erstaunlich wenig zu dem eingeschlagenen Ton passen.)
»In dem Augenblick, als ich den Exit öffnete. Ich habe alles gesehen, was Madame Murzec beschrieben hat: den See, den Quai, das Boot.«
Langes Schweigen. Als wäre er der einzige, der einen vernünftigen Gedanken fassen kann, sagt Caramans: »Daraus folgt aber nicht, daß es derselbe Ort sein muß, an dem das Flugzeug gestern abend das indische Paar abgesetzt hat.«
»Das weiß ich nicht«, antwortet die Stewardess ruhig. »Es war stockdunkel, als die Inder ausgestiegen sind.«
»Aber Madame Murzec, die hat etwas gesehen«, höhnt Blavatski.
»Selbstverständlich«, sagt die Murzec, »weil nämlich der Inder seinen Weg mit einer Taschenlampe beleuchtete, die er der Stewardess abgenommen hatte.«
»Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die Stewardess nichts gesehen hat!« ruft Blavatski in fast beleidigendem Ton.
»Aber das widerspricht doch nicht dem, was Madame Murzec sagt«, entgegnet die Stewardess lebhaft. »Ich habe nichts gesehen, weil in dem Augenblick, als ich den Exit wieder zumachte, der Inder meine Taschenlampe noch nicht eingeschaltet hatte.«
»Nichts beweist, daß er die Lampe überhaupt mitgenommen hat!« sagt Blavatski.
»Doch! Ich weiß es!« antwortet die Stewardess. »Als der Inder das Flugzeug verließ, hielt er sie in seiner linken Hand und die Kunstledertasche in der rechten.«
»Ich bitte Sie um Verzeihung«, sagt Caramans, offensichtlich sehr froh darüber, sie bei einem Irrtum zu ertappen. »Die Frau war es, die die schwarze Tasche trug!«
»Ja, aber der Inder hat sie ihr nach dem Zwischenfall mit Monsieur Chrestopoulos aus der Hand genommen.«
»Ich habe nichts dergleichen bemerkt«, sagt Caramans.
»Aber ich habe es bemerkt«, sagt die Stewardess. »Ich habe die Hände des Inders nicht aus den Augen gelassen. Ich habe bis zum letzten Augenblick gehofft, daß er mir die Taschenlampe wiedergeben würde. Ich habe ihn sogar darum gebeten, als er an mir vorbeigegangen ist, um das Flugzeug zu verlassen.«
»Sie haben Ihre Taschenlampe eingefordert?« fragt Caramans. »Dann habe ich Sie wohl nicht gehört«, fügt er mit höflichem Zweifel hinzu, als könne alles, was er »nicht bemerkt« und »nicht gehört« hat, ohnehin nur bedeutungslos sein. »Und was hat er Ihnen geantwortet?« fährt er distanziert und mit verschleierter Ironie fort.
»Einen englischen Satz, den ich nicht verstanden habe.«
»Aber ich habe ihn verstanden!« ruft Robbie. »Erst hat er kurz gelacht und dann gesagt: ›Diejenigen, die aus freien Stücken in der Finsternis modern, brauchen kein Licht.‹«
Nach diesem Zitat, das für uns so wenig schmeichelhaft ist, schweigen alle, und der Streit verläuft wie immer ergebnislos im Sand, ohne die bescheidenste Gewißheit gebracht zu haben. Die Frage, ob wir zu unserem Ausgangspunkt zurückgekehrt sind, ist mit allen darin einbegriffenen verhängnisvollen Faktoren nicht eindeutig geklärt.
Als ich die Stewardess später frage, warum sie sich auf die Gefahr hin, die Angst der Passagiere zu vergrößern, eingeschaltet hat, antwortet sie, nicht ohne innere Bewegung: »Ich konnte nicht länger mit anhören, wie diese Herren über Madame Murzec herfielen, obwohl sie über den umstrittenen See die reine Wahrheit sagte.«
Ich komme nicht dazu, weiter zu bohren: die Motoren setzen sich mit jenem ungewöhnlich fernen, gedämpften Dröhnen in Gang, das mich von Anfang an verblüfft hat. Und fast gleichzeitig empfehlen uns die Leuchttafeln, uns festzuschnallen. Eine absurde Empfehlung, denn der Kreis hat den Befehl der näselnden Stimme befolgt: mit Ausnahme Pacauds, der Bouchoix zu Hilfe geeilt, und Madame Murzecs, die zum Kabinenfenster gelaufen war, hat niemand den Gurt gelöst.
Die Maschine rollt heftig schaukelnd über das unebene Gelände, beschleunigt ihre Geschwindigkeit und hebt ab. Das Licht flammt wieder auf, und wir sehen einander verdutzt an, unentwegt blinzelnd. Die Kälte geht einem durch und durch. Ich bin nicht der einzige, der zittert.
Die Stewardess steht auf und sagt mütterlich: »Ich werde uns einen Imbiß machen und heiße Getränke.«
Kaum hat sie gesprochen, spüre ich in mir selbst und im Kreis eine Art Entspannung. Ich weiß wohl, der Irre kann sich an seine Anstalt gewöhnen, der Gefangene an seine Zelle, das mißhandelte Kind an seinen Verschlag – und beim Verlassen trauern sie ihnen zuweilen nach. Trotzdem hätte ich niemals gewagt, mir die ungeheure Erleichterung vorzustellen, die sich auf den Gesichtern meiner Reisegefährten abzeichnet, als das endlose Warten auf der Erde vorbei ist, im Dunkeln und bei eisiger Kälte.
Gott sei Dank, es ist vorbei. Wir fliegen wieder. Licht hüllt uns wieder ein, und bald wird auch die Wärme zurückkehren und unsere Muskulatur lösen. Getreu ihrer Rolle als Beschützerin, wacht die Stewardess über uns. Heißen Kaffee werden wir trinken oder Tee. Und auch essen. Ach ja, essen! Das ist so wichtig! Auf dem Lande, wird da nicht auch immer gegessen nach einer Beerdigung? Um sich zu vergewissern, daß das Leben weitergeht. Und das Leben geht allem Anschein nach weiter in unserer Chartermaschine nach Madrapour. Mit der Wiederkehr des Lichts sind wir »alle« erneut zur Stelle. Man kann einander wieder sehen, lieben, hassen; vielschichtige Beziehungen untereinander anknüpfen. In alledem ist eine Rückkehr zu beruhigender Routine, und wenn man nicht zu weit vorausdenkt, nehmen die Dinge alles in allem wieder ihren normalen Verlauf.