Hinter uns drängt sich staunend der ganze Kreis zusammen, nur Pacaud wagt nicht, Bouchoix allein zu lassen.
»Madame«, sagt Blavatski, und seine Augen funkeln hinter den dicken Brillengläsern, »würden Sie uns erklären …«
»Verzeihen Sie, Mr. Blavatski«, sagt die Stewardess. »Es kann nicht die Rede davon sein, daß Madame Murzec eine Erklärung abgibt, bevor sie nicht in die erste Klasse zurückgekehrt ist und etwas Warmes getrunken hat.«
Wir stimmen ihr zu. Starr und stumm stehen wir gedrängt im Mittelgang und zwischen den Sitzreihen der Touristenklasse, vor und hinter der Murzec.
Der Schlag, den sie mir auf die Hand gegeben hat, muß lediglich ein Reflex der Überraschung gewesen sein – oder es war ihr Abscheu, nach so vielen Jahren von einem Mann berührt zu werden –, denn sie ist honigsüß, nachdem sie genug Kräfte gesammelt hat, um der Stewardess zu antworten.
»Tausend Dank, Mademoiselle, für Ihre Freundlichkeit«, sagt sie voller Sanftmut, »aber ich habe nicht die Absicht, die Entscheidung meiner Reisegefährten in Frage zu stellen. Ich habe in vollem Maße verdient, daß sie mich weggejagt haben, und nehme die Strafe auf mich. Und ich möchte Sie alle demütig um Verzeihung bitten für meine Boshaftigkeiten. Im übrigen wäre ich niemals hierher zurückgekehrt, auch nicht in die Touristenklasse, wenn ich nicht schon bei meinen ersten Schritten auf der Erde zurückgestoßen worden wäre.« Hier überläuft sie ein Schauer, und ihre Augen verdrehen sich. Schmerzliche Verzweiflung in ihrem gelblichen Gesicht, fährt sie mit zitternder, tonloser Stimme fort: »Ich hatte das Gefühl, nirgendwo geduldet zu sein, weder in der Chartermaschine noch auf dem Boden.« (Bei diesem Wort verbirgt sie ihren Kopf in den Händen.)
»Aber hier können Sie nicht bleiben, Madame«, sagt die Stewardess. »Es ist zu kalt.«
»Als ich auf der Erde war«, fährt die Murzec fröstelnd fort, »– und ich wünsche meinem ärgsten Feind nicht, zu erleben, was ich erlebt habe –, fiel mir plötzlich ein, daß Sie anfänglich erwogen hatten, mich in die Touristenklasse zu verweisen. Das hat mir den Mut gegeben, wieder an Bord zu gehen. Und ich hoffe, daß Sie mir gütigst gestatten werden, hier die Bestrafung zu erdulden, die Sie mir auferlegt haben.«
Das alles ist vielleicht ein bißchen zu gut und in einem allzu gewählten Stil gesagt. Ich schaue sie an. Ich weiß zuerst nicht, was ich davon halten soll. Oder mir kommt vielmehr der Gedanke, daß die Murzec heuchelt, daß sie eine glänzende Nummer abzieht und unter dieser neuen Maske ihre Fratze verbirgt. Aber wenn ich darüber nachdenke, glaube ich es nicht mehr. Das ist ihre gezierte Sprache. Die sorgfältige Artikulation, die elegante Formulierung – das hat sie an sich, selbst wenn sie ausfällig wird. Und außerdem hat diese Frau keinen Humor und keinen kritischen Abstand. Die Murzec ist aus einem Stück. Ein Monolith. Und jetzt entpuppt sich dieser Monolith plötzlich als Ausbund an Nächstenliebe.
Die Knie aneinandergepreßt, die Hände symmetrisch auf ihrer Handtasche, die Schultern hochgezogen, den Kopf erhoben, spricht sie mit leiser, erstickter Stimme. Ihre blauen Augen sind gleichsam mit unbeugsamer Demut auf uns gerichtet. Sie muß völlig durchgefroren sein, denn ihre trockenen, rissigen, farblosen Lippen beginnen in den Pausen zwischen ihren Sätzen zu zittern.
Sprachlos vor Staunen, stehen wir dicht aneinandergedrängt um die Murzec herum. Als wir uns vom ersten Schock erholt haben, hebt im Flüsterton ein leises Kommentieren an, so wild durcheinander, daß man in dem Gedränge nicht unterscheiden kann, wer spricht.
Zu meiner Überraschung gewahre ich rechts neben mir Mrs. Banister. Sie lehnt ihre Brust an meinen Arm, und als ich mir des Charakters dieser Berührung bewußt werde, werfe ich ihr von der Seite einen Blick zu. Den schönen braunen Kopf in Höhe meiner Schulter, beugt sie in diesem Moment den Hals zurück, läßt ihre japanischen Augen über mich gleiten und heftet den Blick sogleich wieder mit spöttischem, verächtlichem Ausdruck auf die Murzec. Wut steigt plötzlich in mir auf, möglicherweise wegen dieser Miene, vielleicht auch weil mich die sanfte Berührung ihrer Brüste verwirrt, und diese Verwirrung, scheint mir, entweiht beinahe meine Empfindungen für die Stewardess. Ich beuge mich über Mrs. Banister und sage leise und drohend mit zusammengepreßten Lippen:
»Wenn Sie ein einziges Wort gegen diese Frau wagen, zermalme ich Sie.«
»Wer sagt Ihnen denn, daß mir das mißfallen würde?« erwidert sie ebenfalls leise, und ihre schmalen Augen gleiten mit nicht zu überbietender Schamlosigkeit über meine breiten Schultern.
Gleichzeitig verstärkt sie den Druck gegen meinen Arm, diesmal mit vollem Bedacht, wie mir scheint. Ich bin völlig durcheinander und bereue meinen Leichtsinn: Denn es entgeht mir nicht – und ihr ist es auch nicht entgangen –, daß dieses »zermalmen« zweideutig ist. Nicht daß ich mir Illusionen machte! Ich bin kein Ersatz für sie, sondern nur insofern interessant – nebenher –, weil ich mich für die Stewardess interessiere. Normales Spiel einer Katze, die am Teppich herumbeißt.
Blavatskis Stimme übertönt den Lärm.
»Madame, vielleicht werden Sie uns endlich erklären …«
Die Stewardess unterbricht ihn sofort.
»Nein, Mr. Blavatski«, sagt sie höflich, aber entschieden. »Ich wiederhole: ich dulde keine Fragen, bevor nicht Madame Murzec in die erste Klasse zurückgekehrt ist und etwas Warmes getrunken hat.«
Sie findet lebhafte Zustimmung, während Blavatski vorwurfsvolle Blicke hinnehmen muß.
»Ich danke Ihnen nochmals, Mademoiselle, aber ich bleibe hier«, sagt die Murzec, ebenso unbeugsam in der Tugend wie zuvor in der Angriffslust. »Ich wäre unter Ihnen nicht am rechten Platz«, fügt sie mit gesenkten Augen hinzu.
Der Kreis protestiert im Chor. Denn das ist jetzt aus dem Kreis geworden: ein antiker Chor, der dem unglücklichen Helden Sympathie und Ermutigung zuteil werden läßt. Die individuellen Reaktionen sind in den Hintergrund getreten: selbst Mrs. Banister, eine Löwin, die zum Lamm wurde, blökt mit uns. Dieselbe Verbissenheit, mit der wir Madame Murzec vertrieben haben, legen wir nun an den Tag, um sie in den Kreis zurückzuholen. Sie umringend wie Bienen ihre Königin und auf dem engen Raum mit einem gewissen Vergnügen uns dicht aneinanderdrängend – denn jedes Gewühl, auch wenn wir dagegen protestieren, befriedigt unser tiefes Bedürfnis nach Kontakt –, sind wir im Begriff, in vollen Zügen den Strom des Verzeihens und der Güte auszukosten, der von einem Herzen zum anderen fließt, anschwillt und sich über die Murzec ergießt.
Wir sind uns einig: sie kann nicht bleiben, wo sie ist. Die Sitze sind unbequem, der Platz für die Füße ist beengt, die Beleuchtung schlecht und die Heizung unzureichend. Außerdem braucht sie nach aller Unbill moralischen Beistand, keiner von uns kann es hinnehmen, sie an den Felsen der Reue geschmiedet zu sehen, während die Geier ihre Leber herauspicken, mit der es ohnehin nicht weit her ist.
Unter diesem warmen, brüderlichen Regen entspannt die Murzec sich. Immer noch an ihren Felsen geklammert, wirft sie uns reihum dankbare Blicke zu und bedankt sich obendrein bei jedem einzeln, insbesondere bei Madame Edmonde, die ihren kräftigen Arm um Robbies schmale Taille geschlungen hat und der Unglücklichen zum wiederholten Male beteuert, daß sie da nicht bleiben kann und sich was holen, wo doch alle sie bitten, es wieder mit uns zu versuchen.
Der Stein wird schließlich durch Caramans’ Kasuistik ins Rollen gebracht. Korrekt, untadelig, die Lippe hochgezogen, die Augenlider halb gesenkt (und anscheinend unempfänglich dafür, daß Michou neben ihm steht, an ihn geschmiegt, aber Michou besitzt eben leider kaum Rundungen), hat er sich in überaus ernsten und wohllautenden Tönen Gehör verschafft, um zunächst zu betonen, daß er seinerseits niemals gefordert habe, Madame Murzec in die Touristenklasse zu verweisen (Seitenblick auf Blavatski), und daß er ihren Verbleib dort für wenig wünschenswert halte. Wenn Madame Murzec das Bedürfnis habe, ihre möglicherweise etwas lebhaften Bemerkungen zu bereuen (in unserer augenblicklichen seelischen Verfassung erscheint uns schon diese so überaus diskrete Anspielung fehl am Platze), könne sie das ebensogut in der ersten Klasse tun, Seite an Seite mit ihresgleichen; öffentlich vorgetragen, werde ihr mea culpa um so verdienstvoller sein. Außerdem wäre die Stewardess bei gegenteiliger Auffassung gezwungen, Madame Murzec sämtliche Mahlzeiten in die Touristenklasse zu bringen, was ihren Dienst sehr erschweren würde – und wolle sie ihr das antun?
Man spürt genau, daß Caramans in der Kirche die Säule ist, die das Weihwasserbecken trägt, und die Murzec der Frosch, der darin hockt. Kurzum, damit die Menschen einander verstehen, müssen sie eine gemeinsame Sprache sprechen. Ich spüre, daß Caramans die Partie gewinnen wird, als er zum Schluß das Adjektiv »schmerzlich« gebraucht und damit die Situation benennt, die durch die Segregation eines der Passagiere im Flugzeug entstehen würde. Dieses emotionsgeladene Wort mit seinem Sakristeigeruch bahnt sich einen Weg zum bronzenen Herzen der Murzec und öffnet es wie eine Frucht. Ihre Züge verlieren die Härte, ihre Lippen werden weicher. Sie gibt nach.
Das ist für den Kreis ein Augenblick des Triumphes und der Liebe. Von allen Seiten eskortiert, schreitet die Murzec in die erste Klasse und läßt sich mit einem Seufzer auf ihrem alten Platz nieder. Im Vollgefühl unseres guten Gewissens begeben wir uns zu unseren Sesseln. Wir starren die Murzec an. Wir haben nur Augen für sie.
Ein Zittern durchläuft den Kreis. Von einem zum anderen pflanzt sich eine starke innere Bewegung fort, die andächtiges Schweigen erfordert, damit wir sie auskosten können. Wir spüren die Tragweite dieses Schweigens. Eine neue Seite ist aufgeschlagen. Der Kreis formiert sich wieder: der Sündenbock ist heimgekehrt.
Die folgenden Minuten verrinnen in allgemeiner Eintracht. Die Murzec bekommt aus den Händen der Stewardess ein Tablett. Sie trinkt zuerst den kochendheißen Kaffee; da ihre Hände zittern, steht Mrs. Boyd, ihre Nachbarin zur Linken, bereitwillig auf und streicht, ein pausbäckiger Engel mit lockigem Haar, Butter auf die Toastscheiben.
Sie macht dabei ein so gieriges Gesicht, daß man fast befürchten muß, sie wolle alles selbst verschlingen. Doch ich verleumde sie. Liebevoll reicht sie der Murzec eine Scheibe nach der anderen, und jedesmal schaut die Murzec mit ihren blauen Augen demütig und dankbar zu ihr auf. Ich bin wohl als einziger so taktlos, mich daran zu erinnern, daß die Murzec Mrs. Boyd bei der Landung als Vielfraß bezeichnet hatte, der kaum mehr als »Mund, Eingeweide und After« sei. Eine »etwas lebhafte Bemerkung«, wie Caramans so treffend sagen würde, und ich kann mich nur schämen, solche Erinnerungen zu haben, die mit den Empfindungen des Kreises so wenig im Einklang stehen.
Im selben Moment erkenne ich in den japanischen Augen von Mrs. Banister – schön und leuchtend, aber nicht eben sanftmütig – ein verdienstvolles Bemühen, ihrerseits die Kommentare der Murzec über ihre aristokratischen Weiberröcke und deren Anhängsel zu vergessen.
Kurzum, in uns und um uns nur guter Wille, ein Tugendrausch, der vermutlich in unseren Augen die Feigheit wiedergutmachen soll, die wir bei der Auslosung an den Tag gelegt haben. Mehr noch bin ich allerdings darüber verwundert, wie wenig wir erpicht sind zu erfahren, was die Murzec auf der Erde erlebt hat und auf welch unerklärliche Weise sie wieder an Bord gelangt ist. Je mehr ich über unsere Zurückhaltung nachdenke, um so bezeichnender erscheint sie mir.
Bezeichnend inwiefern? Ich will es erklären, auch wenn ich mich damit der Kritik ausliefere. Uns allen wohnt ein Instinkt inne, der uns Kenntnis gibt von dem, was wir erleben werden. Davon bin ich fest überzeugt. Die Seher in früherer Zeit sahen die Zukunft, weil ihr Blick nicht wie bei uns von der Weigerung des Menschen verdunkelt wurde, sein eigenes Schicksal im voraus zu kennen. Ich wiederhole meine Überzeugung: die Vision des uns vorbestimmten Schicksals wohnt jedem von uns inne. Wir könnten uns ihrer erfreuen – aber freut man sich über ein Vorauswissen, das früher oder später in den Tod mündet? – , hätten wir nicht zwischen der Vision und uns die Mauer unserer Verblendung errichtet.
Unsere Überschwenglichkeit ist dafür ein sprechender Beweis. Wir haben keine Eile, die Murzec anzuhören. Denn was sie uns zu sagen hat, das spüren wir, wird unsere Angst verdoppeln. Und nach allen unseren Erlebnissen sind wir nur darauf bedacht, sie zu betäuben. Ja, das ist im Augenblick unser lebhaftester Wunsch: das hektische Treiben des Lebens vergessen, in eine glückliche Dumpfheit gleiten, zu der uns die Wärme, das Licht, die wiedergewonnene Bequemlichkeit, ein voller Magen und die mit beruhigender Monotonie surrenden Flugzeugmotoren verleiten.
Die in uns schlummernden Kassandras vergessend, stellen wir an der Oberfläche unseres Bewußtseins folgende Überlegung an: Da die Chartermaschine abgeflogen ist, wird sie auch irgendwo ankommen. Und warum nicht in Madrapour? Flugzeugentführung, Geiselnahme, Todesdrohung gegen Michou, Vertreibung der Murzec, alles »Peripetien«, wie Caramans sagen würde. Jetzt sind die Luftpiraten weg, Michou ist gesund und munter, die Murzec wieder bei uns, also kann die Chartermaschine ihren Flug fortsetzen.
Letzten Endes leben wir in einer zivilisierten Welt – der unseren, der westlichen –, die uns sogar noch in der Luft beschützt. Man sollte sich nicht über die Maßen den Kopf zerbrechen. Alles wird sich schließlich zum Guten wenden; der Verlust unserer Wertsachen ist ein unangenehmer Zwischenfall, wie er jedem beliebigen Touristen an jedem beliebigen Ort widerfahren kann. Jetzt, da die Nacht fortgeschritten und unser Gewissen nach dem Empfang für die Murzec beruhigt ist, brauchen wir ein paar Stunden erquickenden Schlafs. Bei Tagesanbruch wird uns alles leichter und klarer erscheinen.
Das Schweigen dauert an, alle sind schläfrig, jeder zieht sich auf sich selbst zurück. Verschwommen sehe ich die Murzec mit ihren langen gelben Zähnen das letzte Stück Toastbrot zermalmen. Aber mein Interesse wird lebhafter, als die Stewardess sich erhebt. Es macht mir unendliche Freude, allen Bewegungen ihrer hübschen Gestalt mit den Augen zu folgen.
Mit rein berufsmäßigem Lächeln und ohne jene übermäßige Freundlichkeit, die der Kreis an die Murzec verschwendet, nimmt die Stewardess ihr das Tablett aus der Hand und verschwindet in der Pantry. Im Hinausgehen wirft sie Blavatski einen besorgten Blick zu, als fürchtete sie, daß er in ihrer Abwesenheit mit dem Verhör beginnen könnte. Aber auch Blavatski hat es nicht mehr so eilig – vielleicht aus denselben Gründen wie wir alle. Wie verärgert über unsere Abfuhr (er, von dessen Haut die Kugeln abprallen), hat er sich bequem in seinen Sessel zurückgelehnt, die kräftigen kurzen Beine von sich gestreckt, die Augen zugemacht und stellt sich schlafend, mit seiner Pose die Verachtung bekundend, die er für uns empfindet. Als die Stewardess ihren Platz wieder einnimmt, erfaßt sie die Situation mit einem Blick; munter und ein wenig im Tonfall einer Erzieherin im Kindergarten, anstelle des »Sie« das viel beruhigendere »wir« verwendend, sagt sie mit sanfter Autorität: »Wollen wir jetzt die Nachtbeleuchtung einschalten und schlafen?«
Gewiß, ich und wir alle spüren, daß sie in diesem Augenblick die Rolle spielt, die sie von Anfang an übernommen hat: Sie »beruhigt« die Passagiere. Und wenn sie die Enthüllungen der Murzec nicht völlig umgehen kann, schiebt sie sie wenigstens hinaus. Niemand bricht das Schweigen, weil es auf unserer stillschweigenden Übereinkunft beruht. Ich sehe Blavatski an: ob verärgert oder eingeschlafen, er rührt sich nicht.
Da ergreift die Murzec das Wort. Ihre breiten Wangen haben wieder eine gelbliche Färbung angenommen, ihre Lippen zittern nicht mehr. Zuerst glaube ich, daß sie das Bedürfnis des Kreises nach Vergessen spürt und sich angelegen sein läßt, es durch wiedererwachte Hinterhältigkeit und Boshaftigkeit zu stören. Aber nein, die Wahrheit ist viel einfacher. Ich lese es deutlich in ihren blauen Augen: die Murzec hat sich eine Aufgabe gestellt und unterwirft sich ihr wie stets kompromißlos.
»Monsieur Blavatski«, sagt sie vernehmlich, »da ich jetzt wieder etwas zu Kräften gekommen bin, will ich gerne und nach bestem Vermögen auf Ihre Fragen antworten.«
»Ja«, sagt Blavatski, aufgeschreckt wie ein Pferd, das sich nach einem Peitschenhieb auf die Kruppe instinktiv wieder in Trab setzt, aber noch nicht richtig wach. »Gut«, wiederholt er und richtet sich mühselig in seinem Sessel auf, »gut, Madame, wenn Sie sich in der Lage fühlen zu antworten, könnten wir vielleicht …«
»Ja, Monsieur.«
Schweigen.
»Erste Frage«, fährt Blavatski schwunglos fort, »sind Sie vor oder nach den Indern aus dem Flugzeug gestiegen?«
»Soviel ich mitgekriegt habe«, sagt die Murzec, »bin ich weder vor noch nach ihnen ausgestiegen.«
Blavatski ist sofort munter.
»Madame!« sagt er schneidend. »Wollen Sie uns vielleicht erzählen, daß die Inder im Flugzeug geblieben sind?«
Der Kreis erstarrt. Blicke werden gewechselt.
»Aber nicht im geringsten«, antwortet die Murzec. »Ich habe sie später vor mir gehen und sich von der Chartermaschine entfernen sehen. Aber in dem Moment, als ich die Treppe betrat, war ich allein. Dessen bin ich sicher.«
»Wie können Sie so sicher sein?« fragt Blavatski mit einem Rückfall in seinen anklägerischen Ton. »Es war dunkle Nacht!«
»Ja, aber sonst hätte ich ihre Schritte auf den Metallstufen gehört, so wie ich meine hörte.«
»Moment«, sagt Blavatski, »fangen wir von vorne an. Die Chartermaschine landet, das Licht geht aus, der Inder, der hinter Sergius steht, richtet eine Taschenlampe auf Chrestopoulos, der mit einem Messer in der Hand dasteht, und wo sind Sie in diesem Augenblick, Madame Murzec?«
»Ich gehe auf den Exit zu.«
»Wo ist die Inderin?«
»Rechts neben dem Vorhang zur Bordküche, sie hält den Revolver auf Chrestopoulos gerichtet.«
»Was geschieht dann?«
»Jemand, ich glaube die Stewardess, öffnet den Exit.«
»Ja, ich«, sagt die Stewardess.
»Und als der Exit offen war, sind Sie hinausgegangen?«
»Nein, eben nicht«, sagt die Murzec. »Der Inder sprach, ich wollte hören, was er sagte.«
»In der Tat«, sagt Blavatski grollend. »Er sprach. Ich erinnere mich an diese komische Rede.«
»Sie war nicht komisch«, sagt Robbie gereizt. »Sie haben wenig Phantasie, Blavatski.«
»Macht nichts«, entgegnet Blavatski mit verächtlicher Geste. »Madame Murzec, haben Sie diese Tirade (er setzt Tirade in Anführungszeichen) bis zum Schluß gehört?«
»Ja, ich erinnere mich sogar an seine letzten Worte: So lang das Leben euch erscheinen mag, der Tod ist ewig.«
»Stimmt«, sagt Robbie. »Das waren wirklich die letzten Worte des Inders. Übrigens ist das ein Zitat von Lukrez«, setzt er mit einer Anwandlung von Pedanterie hinzu.
»Na gut, und was haben Sie in dem Augenblick gemacht?« fährt Blavatski fort.
»Ich habe die Treppe betreten.«
»Und sind Ihnen die Inder nicht gefolgt?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Wie können Sie so sicher sein?«
»Am Fuße der Treppe habe ich auf sie gewartet.«
»Warum?«
»Mich hatte ein Gefühl des Entsetzens gepackt.«
Madame Murzec hat ohne jedes Pathos, leise und mit gesenktem Blick gesprochen. Niemand, nicht einmal Blavatski, greift diese Worte auf.
»Gut«, hakt er fast im gleichen Moment ein, »was geschah dann?«
»Plötzlich habe ich die Inder in zehn Meter Entfernung vom Heck des Flugzeugs gesehen.«
»Sie haben sie gesehen?« ruft Blavatski triumphierend aus, als ob er die Murzec ertappt hätte. »Es war finstere Nacht!«
»Der Inder hatte seine Taschenlampe angemacht. Ich sah ihn und seine Begleiterin von hinten. Sie gingen ohne jegliche Eile ihres Weges. Ihre Umrisse zeichneten sich schwarz im Schein der Taschenlampe ab. Ich konnte den Turban des Inders und die Kunstledertasche erkennen, die er in der Hand trug. Sie pendelte beim Gehen hin und her.«
»Na also«, sagt Blavatski und hebt gebieterisch die Stimme, »entweder sind die Inder vor Ihnen die Treppe hinuntergegangen, oder sie sind nach Ihnen hinuntergegangen.«
»Es gibt eine dritte Möglichkeit«, sagt die Stewardess sanft.
Aber Blavatski nimmt ihren Einwurf gar nicht zur Kenntnis. »Antworten Sie endlich, Madame!« sagt er wütend, die Augen starr auf die Murzec gerichtet.
»Aber ich bin doch dabei«, sagt die Murzec mit einer Härte in der Stimme, die darauf schließen läßt, daß die alte Murzec vielleicht doch nicht völlig tot ist. »Glauben Sie mir, Monsieur: die Inder können nicht nach mir die Treppe hinuntergegangen sein. Ich habe unten auf sie gewartet. Ich hätte ihre Schritte gehört. Sie hätten an mir vorbeikommen, mich streifen müssen. Und vor mir, nein, Monsieur Blavatski, das ist unmöglich. Als der Inder jene Worte gesprochen hat, die Sie in Ihrer Dummheit als komisch bezeichneten …«
Betretenes Schweigen. Madame Murzec erstarrt, senkt die Augen, schluckt, verschränkt die Hände über den Knien und sagt mit Tränen in den Augen und voller Zerknirschung:
»Verzeihen Sie mir, Monsieur. Ich hätte nicht sagen dürfen ›in Ihrer Dummheit‹. Und ich bitte Sie, meine Entschuldigung anzunehmen.«
Schweigen.
»Aber sehen Sie«, fährt sie fort in einem vor Eifer zitternden Ton, »ich finde, der Inder hat bewundernswerte Worte gesprochen, als wir das Privileg hatten, ihn in unserer Mitte zu haben.«
»Das Privileg!« ruft Madame Edmonde und schlägt sich auf den Schenkel. »Scheißprivileg! Das haben wir teuer bezahlt!«
Sie hätte sicher in diesem Stil weitergeredet, wenn Robbie nicht mit schmeichelnder Grazie seinen langen Arm ausgestreckt und seine schmalen Finger auf ihren Mund gelegt hätte.
Blavatski sieht die Murzec an.
»Lassen Sie es gut sein wegen der Entschuldigung«, sagt er und verbirgt seine Verlegenheit unter halb echtem, halb gespieltem Freimut. »Ich selbst bin vielleicht etwas zu weit gegangen. Auf jeden Fall respektiere ich Ihre Überzeugungen«, fügt er hastig hinzu.
Die Murzec holt ein Taschentuch aus ihrer Tasche und tupft sich die Augen, deren Blau durch die Tränen intensiver geworden ist.
»Machen wir weiter«, sagt Blavatski.
»Gut«, sagt die Murzec sanft, aber mit unbezähmbarer Hartnäckigkeit, »sehen Sie, ich bin meiner Sache absolut sicher. Als der Inder seine Ansprache hielt, stand er hinter Monsieur Chrestopoulos. Ich stand neben dem Exit, starr von der Kälte und dem eisigen Wind. Bei seinem letzten Wort bin ich hinausgegangen. Es ist also unmöglich, daß er vor mir auf der Treppe war.«
»Na schön«, sagt Blavatski mit funkelnden Augen. Er schiebt sein Kinn vor und streckt seine kurzen Arme von sich. »Also ist zwei mal zwei nicht vier! Also sind die Inder weder vor noch nach Ihnen ausgestiegen! Und sind dennoch draußen! Wenn man den Anspruch erhebt, sich vom ›Rad der Zeit‹ loszureißen (kurzes höhnisches Lachen), kann man wohl auch durch die Wand des Flugzeugrumpfes entschwinden!«
»Aber es gibt eine dritte Möglichkeit«, sagt die Stewardess.
Und wieder fegt Blavatski ihren Einwurf mit einer Geste beiseite.
»Madame Murzec, noch einmal. Sie stehen am Fuße der Treppe: was geschieht da?«
»Ich habe es bereits gesagt«, antwortet die Murzec erschauernd mit gesenktem Blick. »Mich hat ein Gefühl des Entsetzens gepackt.«
Wieder Schweigen, und ich erwarte, daß Blavatski in Anbetracht der allgemeinen Stimmung erneut über das Entsetzen hinweggehen wird. Zu meinem großen Erstaunen tut er es aber nicht.
»Das ist schließlich völlig normal«, sagt er mit herablassender Leutseligkeit, die nicht echt zu klingen scheint. »Es war finstere Nacht, Sie zitterten vor Kälte und wußten nicht, wo Sie waren!«
Die Murzec hebt den Kopf und richtet auf Blavatski ihre blauen Augen, deren Blick sogar in der neuen Version ihrer Persönlichkeit schwer zu ertragen ist.
»Nein, Monsieur«, sagt sie deutlich. »Das ist nicht normal. Ich bin kein ängstliches schwaches Weib. Ich fürchte mich weder vor Kälte noch vor der Nacht. Und irgendwo wäre ich schon angekommen.«
Blavatski schweigt, offensichtlich wenig geneigt, der Murzec auf ihrem Weg zu folgen.
»Worauf führen Sie dieses Gefühl des Entsetzens zurück?« fragt Robbie mit ernster Stimme.
Die Murzec sieht ihn mit einer Dankbarkeit an, die ich bei einer solchen Frau rührend finde. Ich habe den Eindruck, daß alles, was sie in der Einsamkeit erlebt hat, zu schrecklich war, als daß sie bei dem Gedanken, sich mitteilen zu können, nicht erleichtert wäre. Und sie öffnet bereits den Mund, als Blavatski ihr brutal das Wort abschneidet.
»Die Gefühle sind nicht so wichtig! Kommen wir zu den Tatsachen!«
»Wenn Sie gestatten«, sagt die Murzec mit kalter Würde, »werde ich zunächst auf die mir gestellte Frage antworten.«
Blavatski schweigt. Jedenfalls kann er die Murzec nicht so ausfragen, wie er die Stewardess verhört hat.
»Das ist schwer zu erklären«, sagt die Murzec und wendet sich liebevoll Robbie zu. (Mir fällt ein, daß sie ihn vorher einen »halben Mann« genannt hatte.) »Ich weiß nicht, ich fühlte mich zurückgestoßen.«
»Körperlich?« fragt Robbie.
»Auch körperlich. Als ich die Inder in etwa zehn Meter Entfernung vor mir gesehen habe, wollte ich laufen, um sie einzuholen. Es war schrecklich. Wissen Sie, man hat dieses Gefühl manchmal bei Alpträumen: man stürzt los, man hebt die Beine und kommt nicht von der Stelle, obwohl einem das Herz vor Anstrengung hämmert. Das war meine Empfindung. Eine fürchterliche Kraft stieß mich zurück.«
»Der Wind«, sagt Blavatski mit höhnischem Lachen.
»Nein, ich hatte den Wind im Rücken.«
Die Murzec schweigt vor Enttäuschung, daß sie ihre schreckliche Erfahrung nur in so verschwommenen und wenig dramatischen Begriffen zu schildern vermag.
»Sie haben zweimal das Wort Entsetzen verwendet«, fährt Robbie fort. »Welchen Unterschied machen Sie zwischen Entsetzen und Angst?«
»Die Angst«, sagt die Murzec, »ist etwas, wogegen man kämpfen kann; das Entsetzen bemächtigt sich des Menschen.«
»Hat es sich Ihrer mit einem Schlag oder nach und nach bemächtigt?«
»Es hat mich gepackt, als ich den Fuß auf den Boden setzte, aber seinen Paroxysmus hat es erst später erreicht.«
Robbie schüttelt ratlos den Kopf. Mit seinen hellbraunen Augen, munter und leuchtend wie Wassertröpfchen, sieht er die Murzec an. Von seiner Manieriertheit, seinen Gebärden und Verrenkungen kommt er nicht los, aber er verliert nicht das Wesentliche aus den Augen: der Murzec helfen, in klare Worte zu kleiden, was sie erlebt hat.
»Können Sie uns sagen, in welchem Augenblick Ihr Entsetzen seinen Paroxysmus erreicht hat?«
»Als die Inder verschwunden sind …«
»Verschwunden?« fragt Blavatski sarkastisch.
»Ich bitte Sie, Blavatski, lassen Sie Madame Murzec sprechen«, sagt Robbie ungehalten.
Aber die Murzec schweigt betreten.
»Also, Sie wollten die Inder einholen, sind aber nicht von der Stelle gekommen«, fährt Robbie fort. »Im Dunkeln sahen Sie, wie sich ihre Umrisse schwarz im Schein der Taschenlampe abzeichneten. Sie konnten deutlich den Turban des Inders und die Kunstledertasche in seiner Hand erkennen, sagten Sie. Ist das alles, was Sie gesehen haben?«
»Nein«, sagt die Murzec. Die Lippen zusammengepreßt und den Kopf nach vorn geneigt, wendet sie ihre ganze Kraft auf, um sich zu konzentrieren. »In einem bestimmten Moment«, fährt sie fort, »hat der Inder die Taschenlampe nach rechts geschwenkt, und ich habe Wasser gesehen.«
»Nein, nein«, sagt die Murzec, »viel größer: ein See.«
»Ein See auf einem Flughafen!« höhnt Blavatski.
»So schweigen Sie doch endlich, Blavatski!« ruft Robbie mit schriller Stimme. »Sie bringen alles durcheinander! Sie hindern Madame Murzec, sich zu erinnern! Man könnte meinen, Sie tun es absichtlich!«
Blavatski packt die Seitenlehnen seines Sessels und sagt mit schneidender Stimme: »Madame Murzec hat ein kurzes Gedächtnis, wenn sie schon nicht mehr weiß, was vor einer Stunde geschehen ist!«
»Und was ist daran so erstaunlich?« entgegnet Robbie heftig. »Sie stand unter dem Eindruck eines wahnsinnigen Entsetzens.«
Blavatski breitet die Arme aus.
»Aber ein See auf einem Flughafen! Neben einer Landepiste! Wer soll das glauben?«
»Eine Piste?« fragt die Murzec in das folgende Schweigen hinein mit sanfter Stimme. »Meinen Sie eine Betonpiste? Da war aber keine Piste, Monsieur Blavatski. Der Boden war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, unter der man gelegentlich Steine spürte.«
»Das erklärt die Heftigkeit der Landung!« sagt Robbie triumphierend.
Niemand im Kreis öffnet den Mund, nicht einmal Blavatski. Unerklärlicherweise ist mir die Kehle wie zugeschnürt.
»Noch einmal«, sagt Robbie. »Der Inder läßt zu seiner Rechten den Schein der Taschenlampe über eine Wasserfläche gleiten, See oder Teich, egal, und gleich danach verschwinden er und seine Begleiterin.«
»Nein, nein«, sagt die Murzec. »Zwischen dem Augenblick, als der Inder den See anstrahlte, und dem Augenblick, wo ich ihn nicht mehr gesehen habe, ist etwas Wichtiges, Bedeutungsvolles passiert …«
»Und was?« fragt Robbie.
Wir hängen alle an den Lippen der Murzec, doch ihre Antwort enttäuscht uns.
»Ich vermag nicht zu sagen, was es war«, sagt sie schließlich mit angstvoller Stimme und fährt sich mit den Händen über die Wangen. »An dieser Stelle ist in meinem Gedächtnis ein Loch. Das ist alles weg, weil mein Entsetzen so groß war, als die Inder sich verflüchtigt haben.«
»Ach! weil sie sich ›verflüchtigt‹ haben!« sagt Blavatski sarkastisch. »Wie die Teufel! Wie die Engel! Wie die Gespenster!«
»Blavatski, Ihre Polizeimanieren sind widerwärtig«, schreit Robbie wütend.
»Aber sie beweisen wenigstens, daß ich ein Mann bin«, sagt Blavatski.
Robbies Augen funkeln, aber er schweigt.
»Meine Herren«, sagt Caramans, »diese persönlichen Bemerkungen sind absolut fehl am Platze.«
»Ich sage ›verflüchtigt‹, aber gewiß ist das ein subjektiver Eindruck«, fährt die Murzec mit gleichförmiger Stimme fort, an Robbie gewandt. »Vielleicht hat der Inder einfach nur die Taschenlampe ausgemacht? Jedenfalls habe ich die beiden nicht mehr gesehen.«
Wir sind uns alle dessen bewußt, Blavatski inbegriffen, daß nichts dem Bericht der Murzec mehr Glaubwürdigkeit verleihen könnte als der Charakter dieser Bemerkung und der vernünftige Ton, in dem die Murzec gesprochen hat.
»Und in diesem Augenblick hat Ihr Entsetzen seinen Paroxysmus erreicht?« fragt Robbie.
»Ja.«
Ihre Lippen zittern, aber sie setzt dem nichts hinzu.
»Können Sie diesen Paroxysmus beschreiben?«
Blavatski wirft die Arme hoch.
»Diese ganze Psychologie bringt uns nicht weiter! Wir sind nicht hier, um Seelenzustände zu analysieren! Kommen wir zu den Fakten!«
»Aber Seelenzustände sind auch Fakten«, sagt Caramans, der sich vielleicht bemüßigt fühlt, die »Seelenzustände« zu verteidigen, weil »Seele« darin vorkommt.
Die Murzec scheint diesen Wortwechsel nicht gehört zu haben.
»Ich hatte das Gefühl«, fährt sie leise fort, »daß ich von etwas Gräßlichem bedroht wurde. Zuerst brachte ich keinen Ton heraus, war wie gelähmt, dann habe ich zu schreien begonnen und bin geflohen.«
»In welche Richtung?« fragt Blavatski. »Da Sie doch nicht von der Stelle kamen …«
»Ich glaube, ich bin im Kreis gelaufen. Ich war in heller Panik. Ich wußte nicht, was ich tat. Ich fiel in den Staub, bin aufgestanden, fiel wieder hin. Bis ich eine Stufe unter meinen Füßen spürte und begriffen habe, daß es das Flugzeug war; dort bin ich hochgestiegen und habe Zuflucht gesucht. Aber es war nicht die Treppe am Exit. Es war die Lukentreppe am Heck.«
»Die Luke am Heck!« ruft Blavatski aus. »War sie denn offen?«
»Ja, sie war offen«, sagt die Stewardess. »Wahrscheinlich hatte der Inder sie geöffnet.«
»Und woher wissen Sie das?« fragt Blavatski.
»Weil ich sie wieder zugemacht habe. Ich habe schon zweimal versucht, es Ihnen zu sagen, aber Sie hatten nicht die Geduld, mich anzuhören.«
»Sie haben sie wieder zugemacht? Aber dann müssen Sie doch Madame Murzec in der Touristenklasse haben sitzen sehen?«
»Nein, Monsieur«, erwidert die Stewardess ruhig. »Ich konnte nichts sehen. Das Licht war noch nicht wieder angegangen.«
An dieser Stelle erreicht unser Selbstbetrug seinen Höhepunkt – auch ich, der ich hier den Hellsichtigen spiele, habe es zunächst nicht bemerkt. Weil wir jetzt wissen, wo die Inder ausgestiegen sind und wie die Murzec wieder ins Flugzeug gelangt ist, reden wir uns ein, daß es keine Probleme mehr gibt und daß wir uns dem Schlaf überlassen können, nachdem sich die Dinge wieder normalisiert haben. Und ohne zu fragen, schaltet die Stewardess diesmal tatsächlich die Nachtbeleuchtung ein. Die Sessellehnen werden zurückgeschoben, zwei- oder dreimal muß jemand husten, Chrestopoulos schneuzt sich laut die Nase, und jeder scheint sich, ob allein oder zu zweit, von dem Kreis abzusondern, ihn jenes intensiven geselligen Lebens zu berauben, das ihn bislang beherrscht hat.
Die Ruhe kehrt nicht mit einem Schlage ein. Erst nach und nach hört das Flüstern auf zwischen Pacaud und Michou, Mrs. Boyd und Mrs. Banister, Madame Edmonde und Robbie, der Stewardess und mir.
»Pscht!« sagt die Stewardess zu mir. »Schlafen Sie jetzt.«
Um den Befehl zu mildern, überläßt sie ihre zarten Finger meiner Pranke und schenkt mir einen mütterlichen Blick, der mich vierzig Jahre zurückversetzt, als ich ein kleiner Junge war und im Gitterbett lag. Und tatsächlich bin ich trotz meines Alters, meines Äußeren und meiner Hünenhaftigkeit ein Kind geblieben, dem es genügt, von einer sanften Hand und freundlichen Augen beruhigt zu werden. In Gedanken schmiege ich mich an die Stewardess wie an einen kleinen Plüschbären und stelle mich darauf ein, mir das Bewußtsein von den Dingen entgleiten zu lassen. Seltsam, daß eine Hälfte unseres Lebens Schlaf ist und von der verbleibenden Hälfte wiederum die Hälfte Vergessen oder Verblendung gegenüber der Zukunft.
So nähert man sich stufenweise unmerklich dem Tode: indem man die meiste Zeit davon träumt, zu leben. Offenbar ein guter Trick, da wir ihn alle anwenden. Man kann sich auch damit helfen, daß man wie ich an ein Jenseits glaubt. Aber das funktioniert nicht so gut. Der Gedanke, eines Tages den eigenen Körper zu überleben, ist nicht sehr tröstlich. Vor allem nicht im Augenblick des Einschlafens.
Vielleicht ist es doch ein Glück, daß wir die paar Stunden Nachtruhe hatten – auch für Bouchoix, der mir im Halbdunkel beim Einschlafen bleicher und leichenhafter denn je erscheint. Sein Atem ist kurz und pfeifend, und seine abgezehrten Hände finden keine Ruhe, als fingerten sie noch immer an den Spielkarten herum, die sein Schwager ihm längst in die Tasche gesteckt hat. Mrs. Boyd schläft bereits, ihr Gesicht unter den Löckchen ist entspannt, ich habe nie ein weichlicheres, seelenloseres Gesicht gesehen. Ich sage das mit einem Anflug von Neid. Denn obwohl ich die Hand der Stewardess in der meinen halte und am Einschlafen bin, muß ich in letzter Minute einige beunruhigende Gedanken zurückdrängen.
Als ich bei Tagesanbruch aufwache, sind sie wieder da. Durch das Kabinenfenster ist nur ein Meer weißlicher flockiger Wolken zu sehen, und man hat den Eindruck, sich darin genußvoll unter einer strahlenden Sonne sielen zu können, als ob die Luft die Dichte des Wassers hätte und die »Außentemperatur«, wie die Stewardessen sagen, nicht »minus 50 Grad Celsius« betrüge.
In meinem Kopf klickt es, und mir fällt wieder der seltsame Bericht der Murzec ein: der Flugplatz, der keiner ist, der See, der nicht zugefroren ist, der Boden, der mit Staub bedeckt ist statt mit Schnee oder Eis, wie man bei der sibirischen Kälte, die wir erlitten, erwartet hätte. Allerdings saßen wir ohne unser Wissen im heftigsten Durchzug, weil der Inder die Luke im Heck geöffnet hatte; niemand konnte sich jedoch erklären, im Namen welcher Logik er diesen Ausgang dem anderen vorgezogen hatte.
Die Stewardess sitzt nicht mehr neben mir. Sie muß in die Pantry gegangen sein, um das Frühstück vorzubereiten. Ich schwanke, ob ich ihr helfen soll, aber da ich mich nicht mit meinem nächtlichen Bartwuchs vor ihr sehen lassen möchte. ziehe ich es egoistischerweise vor, mich mit meinem Reisenecessaire zur Toilette zu begeben.
Ich meine der erste zu sein. Aber nein, in der Touristenklasse begegne ich Caramans, der frisiert, rasiert, mit untadelig offizieller und korrekter Miene von dort kommt. Zu meiner großen Überraschung begnügt er sich nicht damit, mich zu grüßen: obwohl er sonst so diskret ist, hält er mich wie irgendein Pacaud zurück.
»In der Touristenklasse herrscht eine unerklärliche Kälte«, sagt er mit hochgezogenen Brauen, als wunderte er sich, daß ein französisches Flugzeug einen Mangel aufweisen könnte. »Blavatski meint, daß die Luke zum Frachtraum nicht richtig schließt. Er will versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Es ist ja seine Spezialität, den Dingen auf den Grund zu gehen«, fügt er mit feinem Lächeln hinzu.
Ich lächle entsprechend zurück, sage aber nichts. Ich ahne schon, daß ein Dialog mit Caramans nur zu einem Monolog werden kann. Und er nimmt den Faden tatsächlich wieder auf.
»Was halten Sie davon? Die Befragung dieser bedauernswerten Frau hat nichts sonderlich Aufschlußreiches ergeben. Ich habe heute früh mit Blavatski darüber gesprochen. Offen gesagt, dieser ›Paroxysmus‹ des Entsetzens, diese ›feindlichen Kräfte‹, die sie ›zurückstoßen‹ … ich frage mich, ob man das für bare Münze nehmen kann. Diese arme Frau hat vielleicht etwas Schaden gelitten. Wenn jemand unterwegs ein Flugzeug verläßt, ohne sich um sein Gepäck zu kümmern, hat man schließlich allen Grund, nach dem Geisteszustand des Betreffenden zu fragen.«
»Man«, das sind ohne Zweifel alle Leute auf der weiten Welt, die die Dinge mit dem gesunden cartesianischen Verstand eines Caramans sehen, und nach seiner ruhigen Gewißheit zu schließen, müssen sie sehr zahlreich sein. Ich antworte wiederum nur mit einem ausweichenden Lächeln, da ich keine Lust habe, mit leerem Magen und voller Blase eine Diskussion zu führen.
»Aber ich halte Sie auf, verzeihen Sie«, sagt Caramans mit hochgezogener Lippe und mit um so betonterer Höflichkeit, als diese sich recht spät einstellt.
Es ist kein leichtes Nachdenken, wenn man sich die Haut mit einem elektrischen Rasierapparat kratzt, noch dazu in der winzigen Toilette eines Flugzeugs, wo ich kaum aufrecht stehen kann. Trotzdem scheint mir, daß Caramans ins Schwarze getroffen hat. Letzten Endes war unser moralischer Druck auf den Sündenbock nicht so stark, daß er sich ihm nicht hätte widersetzen können, und die Reise unterbrechen, an einem unbekannten Ort aussteigen und die Koffer im Flugzeug zurücklassen war schon ein ziemlich seltsames Verhalten seitens der Murzec.
Nichtsdestoweniger ist ihr Bericht weder absurd noch zusammenhanglos, sosehr Blavatski sich Mühe gegeben hat, ihn unglaubwürdig zu machen. Die Murzec hatte schließlich recht, als sie sagte, die Inder seien weder vor noch nach ihr die Treppe hinuntergegangen. Unrecht hatte Blavatski mit seinem höhnischen »Zwei mal zwei ist nicht mehr vier!« usw.
Es gibt eine bestimmte Art von polizeilichen Verhören, von denen man sagen könnte, daß ihr Ziel darin besteht, die Wahrheit nicht herauszufinden. Oh, ich weiß, die feindlichen Kräfte, die die Murzec überfallen haben, das Laufen auf der Stelle, das Entsetzen, das sie packt: Das alles ist schwer zu glauben, und in einer normalen Welt gliche das mehr einem Traum als einem wirklichen Erlebnis. Aber die Umstände dieses Fluges sind nun einmal nicht normal – ich hoffe das ohne Pessimismus sagen zu können –, und wenn eine Frau, die nicht im geringsten den Eindruck macht, irre zu reden, in aller Ruhe sagt: Ich habe diesen Alptraum durchlebt! was dann davon halten? Das ist ein Punkt, wo uns das durchsichtige »man« von Caramans überhaupt nicht weiterhilft.
Als ich mit meinem Reisenecessaire unter dem Arm von der Toilette zurückkomme, angenehm erfrischt, obwohl ich mit Wasser gespart habe (im Flugzeug gehorche ich immer diesem Reflex), sehe ich zu meiner großen Überraschung Blavatskis Kopf aus dem Boden des Mittelganges auftauchen. Ich sage auftauchen, müßte aber eigentlich untertauchen sagen, denn das tut er, als ich näher komme. Bald sehe ich nur noch die Spitze des Hutes, den er seltsamerweise auf dem Kopf trägt.
»Blavatski!« schreie ich.
Der Kopf und ein Teil der Schultern kommen wieder zum Vorschein. Blavatski hat seinen Mantel an.
»Ruhe, Sergius«, sagt er leise. »Machen Sie nicht die Stewardess aufmerksam. Sie ist in der Pantry beschäftigt, und ich nutze die Gelegenheit, um den Frachtraum zu untersuchen. Ich muß da was herausfinden.«
»Aber Sie haben nicht das Recht …«
»Ich nehme es mir«, sagt Blavatski schroff. »Im übrigen war die Luke im Boden schlecht verschlossen. Daher kam die Kälte in der Touristenklasse.«
Er hat im Mittelgang den Läufer zurückgeschlagen und den quadratischen Lukendeckel abgehoben.
»Aber das ist doch gefährlich!« sage ich. »Wenn jemand unachtsam oder noch verschlafen ist, könnte er auf dem Weg zur Toilette in das Loch fallen!«
»Gut, dann bleiben Sie eben hier stehen und passen auf, daß nichts passiert«, sagt Blavatski ungeduldig. »Ich sehe mal nach.«
Er zündet ein Feuerzeug an und verschwindet. Ich verspüre keine Lust, ihm zu folgen, zumal ohne Mantel. Mit meinem Reisenecessaire unterm Arm stehe ich neben dem Loch, das sich vielleicht am besten mit einer Gullyöffnung im Bürgersteig vergleichen läßt. Der Unterschied besteht darin, daß einem hier eisige Luft ins Gesicht schlägt, wenn man sich darüberbeugt. Fröstelnd und einigermaßen perplex weiche ich zurück. Ich vermute, daß Blavatski die Erinnerung an jene Boeing zu schaffen macht, die in der Nähe von Roissy-en-France mit den bedauernswerten Japanern am Boden zerschellte, weil die Außentür des Frachtraums undicht war. Wenn das aber auf unsere Maschine zutreffen sollte, verstehe ich nicht recht, was er machen könnte. Dieser Blavatski mit seiner ganzen Intelligenz geht mir auf die Nerven. Einmal macht er sich zu viele Sorgen, ein andermal zuwenig.
Blavatskis Hut taucht wieder auf, dann sein undurchdringliches Gesicht. Dann seine Schultern, die er schräg hält, um aus der schmalen Öffnung herauszukommen, dann die Hüften, mit denen er es noch schwerer hat. Am Ende legt er sorgfältig den Deckel über die Luke, schiebt den Läufer zurück, steht auf und sagt gleichgültig: »Alles okay, bis auf …«
Er kehrt mir den Rücken und will auf seinen dicken kurzen Beinen in die erste Klasse zurückgehen.
»Bis auf was?« frage ich.
Über die Schulter hinweg wirft er mir einen bissigen Blick zu.
»Bis auf die Tatsache, daß im Frachtraum keinerlei Gepäck ist. Unsere Koffer sind in Roissy geblieben.«