Michou öffnet den Mund, aber sie kann nicht sprechen, ihre Mundwinkel sinken herab, ihr Gesicht zittert, als hätte man sie geohrfeigt.
Was folgt, zerreißt uns das Herz: Michou sieht Madame Murzec flehentlich an, als ob sie allein wieder in Ordnung bringen könnte, was sie so gründlich zerstört hat. Aber die Murzec bleibt hart. Sie schweigt, schlägt die Augen nieder und fährt lächelnd mit der Hand über ihren Rock, wie um ihn zu glätten. Durch diese Geste wird sie uns, ich weiß nicht warum, endgültig verhaßt.
In der frostigen Atmosphäre, die sich ausgebreitet hat, steht Madame Edmonde auf, und noch bevor sie den ersten Schritt tut, wissen wir alle, daß sie zur Toilette gehen wird. Das ist einer der Nachteile unserer Sitzordnung: niemand kann sich erleichtern gehen, ohne daß alle anderen es erfahren.
Madame Edmonde hat nur fünf oder sechs Schritte zu machen bis zum Vorhang der Touristenklasse. Dabei wiegt sie sich aber so ostentativ in den Hüften, daß alle Männer im rechten Halbkreis, der Inder ausgenommen, ihr nachstarren. Das enganliegende grüne Kleid mit seinem großen schwarzen Rankenmuster ist nicht ohne Berechnung gewählt: am Rückenansatz zwei großflächige Motive, deren dekorativer Effekt durch die Bewegung unterstrichen wird. Diesen Motiven folgen wir mit den Augen.
Kaum hat der Vorhang sie unseren Blicken entzogen, verläßt Pacaud seinen Platz, durchquert den Kreis und setzt sich in den Sessel von Madame Edmonde. Auf seine burschikose, naive Art versucht er, Michou zu trösten und – was vielleicht unbesonnen ist – ihr wieder Hoffnung zu machen.
Zwar ist Pacaud in seinen Argumenten nicht besonders geschickt, er zeigt aber wie ein tolpatschiger Hund den allerbesten Willen, und wir finden seine väterlichen Gefühle rührend. Deshalb versteht niemand die Brutalität Madame Edmondes, die ihn, als sie wieder in der Runde auftaucht, mit funkelnden Augen anherrscht.
»Räumen Sie bitte meinen Platz. Ich denke nicht daran, mich auf Ihren zu setzen.«
Pacaud wird rot, fügt sich aber zu meinem großen Erstaunen. Er steht auf und geht mit abgewandtem Kopf wortlos an seinen Platz zurück. Ich wundere mich, daß dieser so erregbare, eitle Mann eine derartige Abfuhr widerspruchslos einsteckt, und ich habe plötzlich den Eindruck, daß Madame Edmonde und Pacaud sich kennen und daß Pacaud aus ganz bestimmten Gründen nicht die geringste Lust hat, sich mit ihr anzulegen.
An dieser Stelle wäre nun endlich etwas über Madame Edmonde zu sagen.
Rein äußerlich hat sie so manches aufzuweisen, o ja! Sie ist groß, blond, hat eine gute Figur – ein voller Busen, der keines Büstenhalters bedarf und den sie permanent in Szene zu setzen weiß. Mit verschleiertem Blick und halboffenem Mund fixiert sie die anwesenden Männer, als ob ihr allein schon bei deren Anblick das Wasser im Munde zusammenliefe. Im übrigen spielt sie viel mit ihrem Mund, und wenn sie einen ansieht, mit der Zunge über die halbgeöffneten Lippen fahrend, bildet man sich ein, ihr nächster Leckerbissen zu werden.
Ich habe in Madame Edmonde zuerst eine harmlose Nymphomanin gesehen, aber etwas Hartes, Metallisches in ihrem Blick brachte mich darauf, daß sich hinter ihrem zur Schau gestellten Sex das Kommerzielle verbirgt: in jeglicher Hinsicht entgegenkommend, aber nicht aus reiner Liebenswürdigkeit.
Ihr Kleid mit den so gut plazierten Ranken verhehlt nichts von der Festigkeit ihrer Brüste und ihrer unvorstellbar erektilen Brustwarzen. Großzügig entblößt sie auch ihre Beine.
Man fragt sich, warum diese Beine so wohlproportioniert sind, obwohl sie zum Gehen und Laufen so wenig benutzt werden. Ich zögere trotzdem, darin eine Gottesgabe zu sehen. Denn eine solche teilt man mit vollen Händen aus, Madame Edmonde aber ist auf ihren Vorteil bedacht, wie mir scheint. Seit ich in meinem Sessel Platz genommen, hat sie, von Pacaud abgesehen, fast allen anwesenden Herren mit Augen und Mund zugesprochen. Daß sie Pacaud davon ausschloß, hat mich stutzig gemacht, noch bevor sie ihn so angeherrscht hat; das um so mehr, als sich der Blick des Kahlköpfigen keine Sekunde zu Madame Edmonde verirrte. Und sie sticht weiß Gott ins Auge! Selbst Caramans ist ihr ein- oder zweimal beinahe auf den Leim gegangen, obwohl er gegen diese Art Versuchung so gut gewappnet zu sein scheint.
Nach einem letzten Blick auf die Stewardess – aber sie sitzt regungslos da, die Lider gesenkt, die Hände auf den Knien – schließe ich die Augen und muß wohl eingeschlummert sein, denn ich bin mitten in einem Traum.
Ich will ihn nicht erzählen, zumindest nicht die Einzelheiten. Er dreht sich in Variationen um ein einziges Thema: den Verlust.
Ich bin auf einem Bahnhof, ich stelle meinen Koffer ab, um eine Fahrkarte zu lösen. Ich drehe mich um. Mein Koffer ist verschwunden.
Die Szene wechselt. Ich irre durch das Parkhaus an der Pariser Madeleine: ich weiß nicht mehr, wo ich meinen Wagen geparkt habe. Ich suche alle unterirdischen Etagen ab. Ich finde ihn nicht.
Ich gehe mit der Stewardess im Wald von Rambouillet spazieren. Das Farnkraut steht sehr hoch. Ich gehe voraus, ihr einen Weg zu bahnen. Ich drehe mich um. Sie ist nicht mehr da. Ich rufe sie. Mit Einbruch der Nacht wird es neblig. Ich rufe immer noch. Ich kehre um. Zwei- oder dreimal erspähe ich zwischen den Bäumen ihre Silhouette. Jedesmal laufe ich los. Doch ihre Silhouette weicht zurück, wenn ich mich ihr nähere. Sie verschwimmt in der Ferne. Ich laufe wie ein Irrer: sie verflüchtigt sich völlig im Nebel.
Ich erwache mit klopfendem Herzen, in Schweiß gebadet. Die Stewardess ist da, sitzt mir gegenüber. Zumindest ihre körperliche Hülle. Aber sie selbst? Die Frau, die hinter den niedergeschlagenen Augen lebt? Hinter ihrem Lächeln, das so aufrichtig scheint?
Ich schaue weg und bemerke Pacaud. Unter dem Ansturm der Gedanken, die ihn beschäftigen, hat sich sein blanker Schädel gerötet und quellen seine Augen hervor.
»Wie kommt es«, sagt er und sieht Caramans an, »daß es mir in Paris nicht möglich war, eine Karte von Madrapour in die Hand zu bekommen?«
»Sie hätten auch in London kein Glück gehabt«, sagt Caramans mit hochgezogenem Mundwinkel. »Die einzigen Karten von diesem Gebiet gibt es in Indien, aber die indische Regierung erkennt die Existenz eines unabhängigen Madrapour nicht an. Der Name erscheint überhaupt nicht auf den Landkarten.«
»Wenn aber der Name auf den Karten nicht verzeichnet ist, wie weiß man dann, daß Madrapour existiert?« fragt Pacaud mit einem breiten Lächeln.
Caramans lächelt ebenfalls, doch mit unnahbarer Miene. »Ich vermute, daß schon einmal jemand dortgewesen ist«, sagt er ironisch.
Schweigen breitet sich aus, und die Ironie scheint für Caramans zum Bumerang zu werden. Offensichtlich hat bisher noch keiner der Anwesenden den Boden von Madrapour betreten, oder wenn jemand dortgewesen ist, macht er zumindest keine Anstalten, es zu sagen. Mein Blick fällt zufällig auf Chrestopoulos, aber dessen Gesicht ist im Schutze seiner unsteten Augen und seines dichten schwarzen Schnurrbarts undurchdringlich.
»Mademoiselle«, fragt Bouchoix, der hagere Teilhaber Pacauds, »hat es schon Flüge nach Madrapour gegeben?«
»Mein Lieber, die Stewardess hat Ihnen darauf längst geantwortet«, sagt Pacaud mit einer Ungeduld, die mich erstaunt. Und in demselben erregten Ton fährt er fort: »Sie hat doch schon gesagt, daß es der erste Flug ist! Nicht wahr, Mademoiselle?«
Die Stewardess nickt. Erneut ist ihr die Farbe aus dem Gesicht gewichen, und ihre Finger verkrampfen sich auf dem Rock. Eine unverständliche Reaktion: ist es denn ihre Schuld, wenn dies der erste Flug ist?
»In Wahrheit wissen wir über Madrapour nur das, was uns die PRM geschrieben hat«, sagt Blavatski, der seiner Sache ausnahmsweise wenig sicher zu sein scheint. »Indien schweigt sich diesbezüglich aus. China auch.«
»Was ist das, PRM?« fragt Mrs. Banister unvermittelt mit lässiger Stimme.
Wir sind ziemlich erstaunt, daß der linke Halbkreis in das Gespräch zwischen Männern aus dem rechten Halbkreis eingreift, aber nachdem wir unser Erstaunen überwunden haben, antwortet Caramans mit einer Höflichkeit, die seine Herablassung kaum durchschimmern läßt:
»Die PRM ist die Provisorische Regierung von Madrapour. Aber sind Sie denn Französin, Madame« fügt er hinzu. »Ich habe Sie für eine Amerikanerin gehalten.«
»Ich bin die Tochter des Herzogs von Boitel«, antwortet Mrs. Banister mit königlicher Schlichtheit.
Abgesehen von der Murzec, die hörbar kichert, verfehlt diese Mitteilung nicht ihren Eindruck auf die Runde. Wir sind letztendlich alle mehr oder minder Snobs; sogar Blavatski, der Mrs. Banister jetzt mit anderen Augen ansieht.
»Und warum ist sie provisorisch?« fährt Mrs. Banister fort, während sie ihre durchdringenden, spöttischen Augen, auf Caramans richtet, nicht ohne eine gewisse Koketterie, der sie durch Hals und Oberkörper Nachdruck verleiht und die Manzoni gilt: sie muß wohl sehr froh gewesen sein, daß sie ihn nebenbei wissen lassen konnte, wer sie ist. Eine edle Herkunft kann alles in allem auf der Waage der Verführung fast genausoviel Gewicht haben wie die taufrischen zwanzig Jahre Michous.
Steif und weltmännisch in einem, verneigt sich Caramans in Richtung Mrs. Banister, als wollte er sich und den Quai d’Orsay der herzoglichen Familie völlig zur Verfügung stellen. Die französischen Diplomaten sind fast durchweg verkappte Royalisten. Und selbst ich, der ich hier großspurig rede, muß gestehen, daß ich auf Adelsregister und Adreßbücher der mondänen Gesellschaft versessen bin, auch wenn es teilweise reine Erfindungen sind.
»Monsieur Blavatski hat absolut recht, Madame«, bemerkt Caramans mit Nachdruck. (Und seine Art, »Madame« zu sagen, verrät, wie leid es ihm tut, sie nicht mit »Herzogin« ansprechen zu können, da Mrs. Banister auf Grund ihres minderwertigen Geschlechts nur den Abglanz des Titels trägt.) Ganz bei der Sache, fährt er fort: »Ich erlaube mir, zu wiederholen, was Monsieur Blavatski gesagt hat: Indien antwortet auf keine unserer Fragen bezüglich Madrapour. Alles, was wir über Madrapour wissen, stammt von der PRM. Nach Informationen der PRM ist Madrapour ein Staat im Norden Indiens, östlich von Bhutan. Es hat eine gemeinsame Grenze mit China, von dem es angeblich mit Waffen versorgt wird. Laut weiteren Informationen der PRM wollte der Maharadscha von Madrapour 1956 das Gebiet in die Indische Union eingliedern, als seine Untertanen ihn verjagten und sich praktisch unabhängig machten.«
»Was wollen Sie mit ›praktisch‹ sagen?« fragt Blavatski, dessen Augen hinter den dicken Brillengläsern skeptisch leuchten.
»Auf jeden Fall ist ›praktisch‹ ein Anglizismus, der nicht viel besagt«, antwortet Caramans mit einem feinen Lächeln, das eher Mrs. Banister als Blavatski gilt. »Außer daß Indien sich möglicherweise keinen endlosen Guerillakrieg mit Rebellen aufbürden wollte, die in einer bewaldeten Hochgebirgsregion leben, wo es vermutlich nicht einmal ein Straßennetz gibt.«
»Wie? Kein Straßennetz?« Pacaud ist aufs äußerste erregt. »Aber das ist ja schrecklich, wenn es keine Straßen gibt! Wie soll ich da meine Stämme transportieren?«
»Ihre Stämme?« fragt Mrs. Banister, während sie mit schelmischer und entzückend unbefangener Miene die Augenbrauen hochzieht. Dabei beugt sie sich vor, um Manzoni, durch Robbie halb verdeckt, ihr Profil zuzuwenden, das trotz einer spitzen Nase nicht ohne Reiz ist.
»Es handelt sich um Baumstämme«, sagt Caramans willfährig. »Monsieur Pacaud importiert Furnierholz.«
Mrs. Banister nickt wohlwollend und reserviert in Pacauds Richtung, als hätte ihr Verwalter ihr soeben einen tüchtigen Pächter vorgestellt. Aber Pacaud entgeht diese Nuance. Mit hochrotem Schädel und hervorquellenden Augen blickt er voll Besorgnis abwechselnd auf Caramans und Blavatski.
Blavatski lächelt. Aber in seinen stechenden grauen Äuglein gewahre ich einen Schimmer, der mir zu denken gibt. Blavatski hat seinen Zusammenstoß mit Pacaud nicht vergessen, und trotz seines Lachens, seiner Umgänglichkeit und seiner kindlich-naiven Direktheit ist er ohne Zweifel nicht der Mann, der seinen Groll begräbt.
»Wie soll ich das wissen?« sagt er und breitet mit Unschuldsmiene seine Arme aus. »Über Madrapour ist so gut wie nichts bekannt. Manche Leute vermuten dort Gold. Andere (messerscharfer Blick zu Caramans) Erdöl. Wieder andere (er verzichtet darauf, Chrestopoulos anzusehen, aber seine kleinen grauen Augen werden hart) Rauschgift. Und Sie, Monsieur Pacaud, Furnierholz. Warum auch nicht?« fährt er fort und breitet seine Arme noch mehr aus. »Wenn Madrapour wirklich existiert, wird es dort sicher auch Wälder geben.«
»Und Straßen?« fragt Pacaud. »Auch Straßen? Ich brauche unbedingt Straßen! Oder zumindest Wege.«
»Da verlangen Sie vielleicht ein bißchen viel«, fährt Blavatski mit geheucheltem Bedauern und einer Geste der Hilflosigkeit fort. »Nach meinen Informationen – ohne jegliche Gewähr – landen wir auf einem chinesischen Flugplatz, der sich an der Grenze zu dem neuen Staat befindet. Und von dort bringen uns Hubschrauber nach Madrapour. Sie werden zugeben, das sieht nicht nach Straßen oder Wegen aus.«
Pacaud wendet sich mit vorwurfsvollen, tadelnden Blicken an Caramans.
»In einem solchen Falle hätte man mich warnen sollen, und ich hätte mir ein sinnloses Unterfangen erspart«, sagt er mit der Manie der Franzosen, ihrer Regierung zu grollen, sobald sie sich in ihren Geschäften bedroht sehen.
»Soviel mir bekannt ist, haben Sie uns vor Antritt Ihrer Reise nicht konsultiert«, sagt Caramans kalt.
»Aber Sie wissen doch so gut wie ich, wie der Hase läuft in den Ministerien«, entgegnet Pacaud bitter. »Man hätte von mir die Unterlagen verlangt, und ich hätte ein halbes Jahr auf die Antwort warten müssen. Nicht gerechnet die Indiskretionen. Ich wollte schließlich nicht Gefahr laufen, einen Konkurrenten zu alarmieren.«
»In diesem Falle können Sie uns nicht vorwerfen, Sie nicht auf die Unsicherheitsfaktoren Ihres Projekts hingewiesen zu haben. Wir waren ja nicht informiert worden«, sagt Caramans trocken.
Zufrieden folgt Blavatski mit bleckenden Zähnen diesem unerquicklichen Wortwechsel zwischen den beiden Franzosen.
Mich setzt nicht ihre Gegnerschaft in Erstaunen, sondern daß sich Pacaud, immerhin der Chef eines ziemlich bedeutenden Unternehmens, auf dieses Abenteuer eingelassen hat, obwohl nur so spärliche Informationen vorlagen. Es sei denn, er wollte sich auf Kosten der Firma on the sly1 eine kleine Reise nach Indien genehmigen. Aber warum läßt er sich dann von Bouchoix begleiten, der seine rechte Hand und gleichzeitig sein Mentor zu sein scheint?
Im übrigen ist dieser Bouchoix eigenartig. Er hüllt sich in das rätselhafte Schweigen der bedeutungslosen Menschen. Nichts, was ins Auge fiele, bis auf seine Magerkeit. Kein Ausdruck in seinen leeren Augen. Und kein besonderes Merkmal, außer seiner Manie, endlos an einem Spiel Karten herumzufingern. Äußerlich zumindest ein durchschnittliches Wesen, grau, austauschbar; unmöglich, ihn irgendeinem menschlichen Typ zuzuordnen. Ich spreche von Typ, nicht von einer Berufskategorie, denn diesbezüglich ist es einfach, ihn zu klassifizieren: Bouchoix ist ein höherer Kader. Pacaud hat ihn als seine rechte Hand vorgestellt, und diese rechte Hand muß nach dreißigjähriger Tätigkeit im Dienste der Firma darauf getrimmt sein, nicht zu bemerken, was die linke tut. Bouchoix ist offenbar der seltene Vogel, den die Unternehmer immer suchen: ein mit differenzierender Ehrlichkeit begabter Mensch, der seinen Chef um keinen Pfennig betrügt, ihm aber nach Kräften hilft, die Kunden einzuseifen. So wenigstens sehe ich Bouchoix, Pacaud und ihre gegenseitigen Beziehungen im selben Unternehmen.
Aber selbstverständlich kann ich mich irren. Monsieur Pacaud ist möglicherweise ein Industrieller von krankhafter Redlichkeit, dessen Geschäftsunkosten das Finanzamt nie anzufechten brauchte. Im übrigen trägt er das Band der Ehrenlegion und das Abzeichen des Rotary Club im Knopfloch. Also ein mit Ehrungen überhäufter Mann, dessen Respektabilität zweifach garantiert ist.
Blavatski macht sich in seinem Sessel breit und beobachtet, die Augen hinter seinen dicken Brillengläsern halb geschlossen, abwechselnd Pacaud und Caramans. Ich weiß nicht, warum er mir in diesem Moment wie ein riesiger Kater erscheint, der auf der Lauer liegt.
»Es gibt aber durchaus eine Möglichkeit, Mr. Pacaud«, fährt er fort. (Ich vermerke, daß er ihn Mister Pacaud nennt, während er mir gegenüber die Stirn hat, mich mit Sergius anzusprechen.) »Es gibt durchaus eine Möglichkeit, Ihr Holz zu transportieren, sofern sich Madrapour wirklich dort befindet, wo es dem Hörensagen nach liegen soll. Es gibt den Wasserweg über den Brahmaputra, dann über den Ganges zum Golf von Bengalen.«
»Na also, wer sollte mir den verwehren?« In Pacauds Augen zeigt sich ein Hoffnungsschimmer.
Blavatski sieht ihn aufgeräumt an.
»Indien natürlich«, sagt er. »Und das gleiche gilt für das Erdöl«, fährt er mit einem Seitenblick auf Caramans fort.
»Indien?« fragt Pacaud.
»Der Brahmaputra, der Ganges, der Golf von Bengalen, das ist Indien«, sagt Blavatski belehrend, »und ich wüßte nicht, warum Indien es hinnehmen sollte, daß die Rohstoffe eines Staates, den es bestenfalls als ein rebellierendes Protektorat betrachtet, über sein Territorium außer Landes gebracht werden.«
Schweigen. Caramans ist wieder in Le Monde vertieft – zumindest tut er so – und versagt sich jeden Kommentar. Pacaud ist offensichtlich zu niedergeschmettert, um zu reagieren. Und Blavatski hätte unangefochten das Feld behauptet, wäre nicht Mrs. Banister mit der bemerkenswerten Sicherheit, die sie ihrer Abstammung verdankt, eingeschritten.
»Monsieur Blavatski«, sagt sie munter, während sie ihren eleganten Hals zur Seite neigt und ihren ganzen Charme entfaltet (aber dies gilt Blavatski nur am Rande: ihr Vorzugsobjekt ist dasselbe geblieben), »Sie haben sich zwei- oder dreimal in einer Weise geäußert, als ob Sie nicht an die Existenz von Madrapour glaubten.«
»Ich glaube daran in Maßen, Mrs. Banister«, sagt Blavatski und spielt ein wenig den Mann von Welt, eine Rolle, die nicht sehr zu ihm paßt. Nicht daß er außerstande wäre, die guten Manieren zu kopieren, aber diese Rolle ist nicht mit der Aggressivität vereinbar, für die er sich entschieden hat.
Im übrigen entzieht er sich sofort dem Florett von Mrs. Banister und sucht sich, erneut zur Streitaxt greifend, einen anderen Gegner.
»Dabei habe ich schon große Fortschritte gemacht«, sagt er mit leisem Auflachen. »Vor kurzem noch hielt ich die PRM für eine reine Erfindung des Quai d’Orsay.«
Bei diesen Worten blickt er Caramans herausfordernd an, aber Caramans beschränkt sich auf seinen Flunsch und ein unmerkliches Achselzucken, ohne die Augen von Le Monde zu heben.
Blavatski lächelt.
»Aber ich habe meine Meinung tatsächlich ein wenig geändert«, fährt er mit seiner schleppenden Stimme fort. »Als ich nämlich auf der Passagierliste dieser Chartermaschine den Namen von Monsieur Caramans las, habe ich mir gesagt: wenn Monsieur Caramans so eine Reise auf sich nimmt, um sich davon zu überzeugen, ob das Erdöl von Madrapour kein Mythos ist, dann existiert dieses Madrapour vielleicht doch. Und der von Madrapour aus betriebene Rauschgifthandel ebenfalls.«
Mich verblüfft es erneut, mit welcher ungezwungenen Offenheit Blavatski sein Spiel vor Chrestopoulos spielt. Aber die Fortsetzung ist noch offener – und direkter.
»Mr. Chrestopoulos«, fragt Blavatski liebenswürdig, »sind Sie schon einmal in Madrapour gewesen?«
»Nein«, antwortet Chrestopoulos, unruhig blinzelnd.
»Sie können mir also nicht sagen, ob es in Madrapour Rauschgift gibt?«
»Nein«, sagt Chrestopoulos und legt vielleicht etwas zuviel Hast und Energie in diese Verneinung.
Blavatski lächelt gutmütig.
»Sie befinden sich demnach in derselben Lage wie Monsieur Caramans mit dem Erdöl?«
Hier schlägt Blavatski zwei Fliegen mit einer Klappe. Er macht dem französischen Diplomaten sicher keine Freude, wenn er ihn mit Chrestopoulos auf eine Stufe stellt. Aber Caramans rührt sich nicht. Die traditionelle Diplomatie hat eben wenigstens den Vorteil, daß man einzustecken lernt. Chrestopoulos hingegen wird puterrot und sagt laut in schlechtem Englisch:
»Mr. Blavatski, das ist unerhört! Sie haben nicht das Recht, mir zu unterstellen, daß ich mich für Rauschgift interessiere!«
Auf mich wirkt diese Reaktion nicht sehr überzeugend.
»Sie haben recht«, sagt Blavatski und entblößt seine Zähne. »Ich habe nicht das Recht, schon gar nicht öffentlich, solche Unterstellungen zu äußern, und Sie hätten allen Grund, einen Prozeß gegen mich anzustrengen … Bitte, tun Sie das«, schließt er triumphierend.
Chrestopoulos pustet wütend in seinen dichten schwarzen Bart, verschränkt die kurzen Arme über seinem Schmerbauch und stößt in seiner Sprache – die ich verstehe – leise eine Flut unübersetzbarer Verwünschungen aus.
Alle Sprachen der Mittelmeerländer sind reich an raffinierten Obszönitäten, aber Chrestopoulos’ Raffinesse überrascht mich trotzdem: er bemüht Blavatskis gesamte Verwandtschaft. Solche Erregung muß seine Sekretion vervielfachen; ich sehe, wie ihm der Schweiß die Wangen hinunterrinnt, und der Geruch dringt bis zu mir. In diesem Augenblick habe ich aufrichtig Mitleid mit Pacaud, der neben ihm sitzt.
»Ich für mein Teil hoffe, in Madrapour das phantastische Vier-Sterne-Hotel vorzufinden, von dem ich einen Prospekt gesehen habe«, sagt plötzlich Mrs. Banister mit fröhlicher, unbeschwerter Miene, die sie in Manzonis Augen verjüngen soll, die indessen die gegenteilige Wirkung zu haben scheint. »Ich möchte nicht gezwungen sein, in einer Holzhütte zu wohnen und mich in einem Tümpel zu waschen …«
Seit einer Weile spüre ich das dringende Bedürfnis, mich ins Heck der Maschine zu begeben, und ich werde Ihnen sicher lächerlich vorkommen, aber ich kann mich vor so vielen Leuten und vor allem vor der Stewardess nicht dazu entschließen. Das Kindische dieses Zögerns ist mir wohl bewußt, aber ich bringe es erst fertig, aufzustehen, als mein Bedürfnis schon sehr dringlich ist.
Ich durchquere die Touristenklasse, über die Leere erstaunt und vor allem darüber, daß dieser Charterflug mit nur fünfzehn Passagieren an Bord als rentabel gelten konnte. Und ich bin endlich am Ziel, als ich hinter mir eine Stimme höre.
»Mr. Sergius?«
Ich drehe mich um. Pacaud ist mir gefolgt.
»Mr. Sergius, Sie sind doch bestimmt viel herumgekommen in der Welt. Was soll man von dem allen halten? Von dieser Reise? Von Madrapour? Sind wir in einen riesigen Betrug hineingeraten?«
Während er spricht, blickt er auf mein linkes Knopfloch und scheint unangenehm überrascht, es schmucklos zu sehen.
»Wissen Sie«, sage ich, von einem Fuß auf den anderen tretend, weil mein Bedürfnis im Stehen noch drängender geworden ist, »manche Leute glauben, daß das ganze Leben nur ein riesiger Betrug ist: man wird geboren, pflanzt sich fort, stirbt; was soll’s?«
Monsieur Pacaud sieht mich mit runden Augen an (was bei ihm angesichts seiner hervorquellenden Augäpfel kaum eine Metapher ist), und ich bin selbst erstaunt, eine solche Sottise von mir gegeben zu haben.
»Und dieser Blavatski, ist er wirklich, was er zu sein behauptet?« fährt Pacaud mit gedämpfter Stimme fort.
»Jedenfalls ist er widerwärtig.«
»Aber nein, er übt seinen Beruf aus. Das ist alles. – Entschuldigen Sie, Monsieur Pacaud, aber ich wollte gerade …« Und ich mache eine vielsagende Geste in Richtung Heck.
»Verzeihung, Verzeihung«, sagt Pacaud. Und mit jener erstaunlichen Ungeniertheit von Leuten, denen es nichts ausmacht, andere zu belästigen, fügt er hinzu: »Gestatten Sie mir noch eine letzte Frage. Warum kann Blavatski uns nicht leiden?«
»Uns?« frage ich. »Meinen Sie Caramans und sich selbst oder die Franzosen im allgemeinen?«
»Die Franzosen im allgemeinen.«
»Das ist eine typisch französische Frage«, sage ich mit einer gewissen Bissigkeit (denn mein Bedürfnis wächst von Sekunde zu Sekunde). »Die Franzosen erwarten stets, von der ganzen Welt vergöttert zu werden. Aber ich frage Sie, inwiefern haben sie denn mehr aufzuweisen als die anderen Völker?«
Daraufhin kehre ich ihm den Rücken, lasse ihn stehen und stürze zu den Toiletten.
Diese Örtlichkeit an Bord eines Flugzeugs ist eng, unbequem, stickig; hinzu kommen die starken Erschütterungen. Und dennoch ertappe ich mich beim Nachdenken, nachdem ich mir erste Erleichterung verschafft habe und mir Zeit lassen kann. Gleichwohl bin ich mir der Deplaziertheit einer solchen Meditation an einem solchen Ort bewußt.
Ich werfe mir die Dummheit vor, die ich zu Pacaud gesagt habe: man wird geboren, pflanzt sich fort, stirbt; was soll’s? Ich erkenne meine Lebensanschauung darin nicht wieder.
Mich quälen Gewissensbisse. Wie habe ich so etwas sagen können? Wo ich mir doch als gläubiger Mensch gerade einbilde, im Besitz der Wahrheit über den Sinn des Lebens zu sein.
Denn ich bin kein Ödipus. Ich habe meinen himmlischen Vater nicht erschlagen. Und wenn er mich zur Welt kommen ließ, so deshalb, damit ich auf Erden mein Heil erlange und – wenn ich die Prüfung bestehe – an seiner Seite meinen Platz finden kann.
Oh, gewiß, auf dem Wege dahin darf ich mich in aller Unschuld vergnügen und mir ein vergängliches kleines Paradies ausmalen – mit der Stewardess als Gattin im Vier-Sterne-Hotel von Madrapour.
Aber dieses Paradies wird nur eine Zwischenstation sein. Für mich kommt es letzten Endes darauf an, vor meinem Schöpfer erfolgreich zu bestehen. Ich mache mir nichts vor: der wahre Sinn meines Lebens ist das, was mir nach dem Tode widerfahren wird. Gemessen an der Absurdität, die sich in meiner ungeschickten Antwort an Pacaud kundtat, ist da ein himmelweiter Unterschied.
Oh, ich weiß! ich weiß! Man hält mir entgegen, und meine eigenen Zweifel besagen es ebenfalls, daß ich damit das Absurde nur um eine Stufe zurückdränge und daß es sinnlos ist, mein ganzes Leben darauf auszurichten, was geschehen oder nicht geschehen wird, wenn ich einmal nicht mehr atme. Da ich aber außer meinem Glauben keine Antwort auf diesen Gedanken habe, verdränge ich ihn, ohne ihn ganz unterdrücken zu können.
Als ich zurückkomme, hält mich ein plötzlicher Impuls hinter dem Vorhang zurück, der die erste Klasse von der Touristenklasse trennt. Und ich höre, wie sich Mrs. Banister auf meine Kosten lustig macht, zweifellos um vor Manzoni zu glänzen.
»Meine Liebe«, sagt sie auf englisch (sie wendet sich offensichtlich an Mrs. Boyd), »so auszusehen müßte verboten sein! Der scheint ja aus einer prähistorischen Grotte zu kommen. Es läuft mir kalt den Rücken herunter (Lachen). Sind Sie sicher, daß es sich nicht um die Frucht der Vereinigung King-Kongs und dieser unglücklichen Frau, Sie wissen doch, der vom Empire State Building, handelt? Trotz, sagen wir (Lachen), einer gewissen Disproportion! Als er die Hand der Stewardess ergriff, glaubte ich, daß er sie wie eine Zwiebel schälen würde!« (Lachen.)
“My dear!” sagt Mrs. Boyd. Ihr Lachen enthält einen schwachen Protest, der in Wirklichkeit zum Weitermachen ermuntert.
Ich habe genug gehört. Ich trete wütend und gedemütigt ein, es wird still, ich setze mich jäh hin und schleudere Mrs. Banister einen vorwurfsvollen Blick entgegen. Sie reagiert blitzartig mit einem komplizenhaften Zwinkern und einem bestrickenden Lächeln, beides eine Meisterleistung an Koketterie, Unverschämtheit und mondäner Gewandtheit. Man könnte glauben – aber genau das will sie mich glauben machen –, daß die Schauer, die ich ihr über den Rücken jage, nicht alle von Angst herrühren.
Mrs. Boyd ist übrigens ebenso gelassen wie ihre Gefährtin. Ich frage mich, ob diese Frauen, die in meiner Achtung so hoch standen, nicht alles in allem mehr Manieren als Herz besitzen.
Ich bilde mir ein – was offensichtlich falsch ist und mir oft Enttäuschungen einbrachte –, daß eine Frau, weil sie soviel Rundungen und ein sanftes Gesicht hat, gut und mütterlich sein müßte. Ist sie es nicht, sei es auch nur beim oberflächlichsten Kontakt, erkläre ich sie sofort zur Ketzerin, die ihrer weiblichen Rolle untreu wird, und bin gegen sie eingenommen. Das ist ein Irrtum. Ebenso falsch ist es wahrscheinlich, daß ich mich so leidenschaftlich in die Stewardess verliebt habe, weil sie freundlich zu mir ist und mir voll Sympathie zulächelt – so wie in diesem Augenblick, um mich zu trösten. Aber wie wundervoll ist dieses Lächeln! Wie schnell es mich versöhnt!
Ich sitze also wieder. Ich mache meine Ohren und Augen weit auf. In meiner Abwesenheit hat sich die Situation verändert, und eine neue Spannung, die nichts mit PRM oder Furnierholz zu tun hat, ist spürbar.
Zielscheibe des Kreises ist jetzt Madame Edmonde. Sie hat es aufgegeben, mit Augen und Mund halbprofessionelle Aufforderungen an die anwesenden Herren zu richten, und entfaltet ihren Charme inzwischen viel ehrlicher, jedoch allein zugunsten Michous, an deren linker Seite sie sitzt. Ich höre nicht, was sie sagt, denn sie spricht leise in vertraulicher und beinahe drängender Weise. Aber ihre Blicke, ihr Eifer, ihr Tonfall, ihre Haltung erinnern keinesfalls an eine ältere Schwester, welche die jüngere zu trösten versucht, sondern an einen Mann, der einer Frau diskret den Hof macht – in ihrem Fall mehr als diskret, hinterhältig. Denn Michou, die für bare Münze nimmt oder nehmen will, was sich da als reine Sympathie ausgibt, die aber gleichzeitig von der ansteckenden Kraft des unterschwelligen Begehrens verwirrt ist, erliegt der Verführung oder zumindest der Faszination, ohne sich dessen direkt bewußt zu sein.
Ich will Michous Naivität nicht überbewerten, ich halte es für kaum denkbar, daß sie überhaupt nicht merkt, worum es geht. Weil die ihr geltende Aufmerksamkeit sie besticht, zieht sie es vor, den Kopf in den Sand zu stecken. Ihre tatsächliche Unwissenheit betrifft einen anderen, in Wirklichkeit viel gefährlicheren Punkt: sie hat keine Ahnung, um wen es sich bei Madame Edmonde handelt und auf welchen Weg ihre Freundschaft sie bringen kann.
Das scheint um mich herum der allgemeine Eindruck zu sein, denn die Gespräche verstummen, und eine spannungsgeladene Stille breitet sich aus, was Madame Edmonde nicht im geringsten stört. Gerötet und erregt, aber mit bemerkenswerter Selbstbeherrschung setzt sie ihre zweideutigen Tröstungen fort. Die wenigen Brocken, die an unser Ohr dringen, bieten, aus dem Zusammenhang gerissen, keine Handhabe zum Eingreifen; dabei möchten wir alle eingreifen, und am meisten Pacaud.
Puterrot sitzt er da, mit schweißglänzendem Schädel und hervorquellenden Augen; Zorn und Angst scheinen gleichzeitig von ihm Besitz ergriffen zu haben. Ihm zittern die Hände vor lauter Anstrengung, sich zu beherrschen, was hier wohl bedeutet: sich am Reden zu hindern. Es dürfte ihm nicht gelingen. Mir ist aufgefallen, daß dieser in geschäftlichen Dingen ziemlich unerbittliche Mann eine gewisse Großzügigkeit besitzt. Sie trat schon zutage, als er zugunsten von Chrestopoulos protestierte, ohne daß seine eigenen Interessen im Spiel waren.
Unser Schweigen, in dem sich so viele Zwänge und Spannungen zusammenballen, gewinnt plötzlich durch Pacauds inneren Kampf eine dramatischere Intensität. Pacaud wird zum Brennpunkt, in dem sich alle Blicke sammeln. Erwartung und Drängen liegen in der Luft. Beunruhigt über die Verführung Michous durch Madame Edmonde, hoffen wir alle inbrünstig auf sein Eingreifen. Seltsamerweise hält niemand von uns Michou für fähig, sich selbst zur Wehr zu setzen. Und Pacaud wird stillschweigend als ihr Verteidiger erkoren.
Ich glaube, Pacaud spürt unser stummes Drängen; das bestimmt sein Handeln. Die Adern an seinen Schläfen schwellen an, sein Gesicht ist ziegelrot – er wird unserem Drängen nachgeben. Und sofort kommt unser Egoismus zum Vorschein: in Erwartung eines Eklats, den wir als Schauspiel erleben werden, ohne hineingezogen zu sein, lehnt sich jeder in seinen Sessel zurück.
Die zitternde Hand anklägerisch erhoben, vor Angst halb tot, wie mir scheint, und gleichzeitig zu verzweifelter Flucht nach vorn entschlossen, wagt Pacaud einen Frontalangriff.
»Michou«, sagt er mit rauher Stimme, »Sie wissen nicht, wer diese Frau ist, die die Unverfrorenheit besitzt, Ihnen in aller Öffentlichkeit den Hof zu machen. Ich will es Ihnen sagen: sie ist nicht nur eine Lesbierin, sie ist eine Prostituierte größten Stils. Obendrein ist sie Zuhälterin. Sie ist die Besitzerin eines der teuersten Häuser in Paris.«
Unter der Wucht dieser Beschuldigung ist Madame Edmondes Rollenwechsel verblüffend. Sie springt auf, wird rot, und ihr Mund, der sich eben noch so geübt zärtlich und trostspendend darbot, verzerrt sich in widerwärtigem Zischen, um Gift zu speien.
Ich vernehme ihren Wortschwall voller Unbehagen. Die Sprache, deren sie sich bedient, die Bilder und Situationen, die sie schildert, verwirren mich. Und weit entfernt, ihre Ausführungen in extenso wiederzugeben, will ich sie lieber in erträglicher und sachlicher Form zusammenfassen:
1. Madame Edmonde ist zwar alles das, was Pacaud behauptet hat, aber sie schreibt die alleinige Verantwortung der Geilheit der Männer zu. 2. Ihr Unternehmen könnte nicht länger als einen Tag existieren, gäbe es nicht Männer wie Pacaud, die auf respektabel mimen und trotzdem ihr Haus besuchen. 3. Pacaud, dessen körperliche Eigentümlichkeiten beklagenswert sind, hat obendrein sehr eigentümliche Neigungen. Er kann nur mit »falschen Gewichten« Verkehr haben, die er Behandlungen »so an der Grenze« unterwirft, bevor er sein Ziel erreicht. 4. Pacauds heuchlerisches Interesse für Michou erklärt sich nur aus seinen Lastern.