Dieses scheußliche Herumwühlen in Pacauds Privatleben empört mich derart, daß ich als erster versuche, dem ein Ende zu setzen, und laut schreie: »Genug jetzt!«
Robbie greift meinen Schrei mit schriller Stimme auf; er ist von diesen gemeinen Einzelheiten so betroffen, daß er einem Weinkrampf nahe zu sein scheint. Nun kehrt Madame Edmonde ihren Zorn gegen uns und beschimpft uns, insbesondere Robbie, der »keine Gefahr läuft, jemals zu ihr zu kommen«. Da das Murren rundum lauter wird, läßt sie schließlich von Robbie ab, von der Mehrheit zum Schweigen gebracht, aber sie gibt sich nicht geschlagen und wirft herausfordernde Blicke in die Runde.
Sosehr Pacaud vor seinem Eintreten für Michou die Angst im Gesicht geschrieben stand, so mutig zeigt er sich in dem Augenblick, als Madame Edmonde seinen Ruf zerfetzt. Er kreuzt die Arme – eine etwas theatralische Pose, die ihm aber hilft, seine Ruhe zu bewahren – und sieht Madame Edmonde ins Gesicht, ohne ein einziges Wort zu seiner Verteidigung zu sagen. Dabei fühlt er außer dieser Beschimpfung die er erdulden muß, in seiner unmittelbaren Nähe noch einen anderen Stachel: Bouchoix, seine rechte Hand, der gleichzeitig sein Schwager ist und der jenen unausrottbaren Familienhaß gegen ihn zu nähren scheint, der so oft in den französischen Romanen beschrieben wurde. Bouchoix jubelt. Er weiß die Waffe, die er dank der Enthüllungen Madame Edmondes gegen seinen Verwandten in die Hand bekommt, überaus zu schätzen. Ich habe selten ein widerwärtigeres Schauspiel als die Niederträchtigkeit gesehen, die in diesem Augenblick auf seinem abgezehrten Gesicht triumphiert.
Wir vermeiden alle, Pacaud zu unverhohlen anzusehen, aber jeder von uns wirft ihm verstohlene Blicke zu, insbesondere die viudas.
Diese Damen sind in Wallung geraten. Da sie nicht alle Einzelheiten der Schimpfkanonade verstanden haben und darauf erpicht sind, alles zu verstehen, tauschen sie a parte moralische Kommentare und prickelnde Fragen aus. Insbesondere interessiert sie, was Madame Edmonde mit »falschen Gewichten« und »Behandlungen so an der Grenze« sagen wollte. Gewiß, ihr Mienenspiel besagt, daß ihr Feingefühl verletzt worden ist, doch gleichzeitig spürt man ihr Entzücken darüber, daß das Abenteuer ihrer Reise nach Madrapour bereits im Flugzeug beginnt. Denn ein jeder weiß, daß man normalerweise während eines Langstreckenflugs außer penetranter Langeweile zwischen zwei kleinen Ängsten nichts erlebt.
Blavatski beugt sich zu mir, seine stechenden Augen hinter den dicken Brillengläsern blitzen, und er sagt leise (mir fällt nebenbei auf, daß er zwei Sprachen spricht – eine korrekte bei der offiziellen Unterhaltung und einen lässigen Jargon unter vier Augen): »Das haut mich aufn Arsch.«
»Wieso?«
»Daß ein Typ wie dieser sich drauf einläßt, so einen Preis zu zahlen, um für ein junges Flittchen in die Bresche zu springen. Oder wenn Sie anders wollen: wie kann einer zu solchen Schweinereien fähig sein und auch zu einer so verrückten Großzügigkeit?«
»Was schließen Sie daraus?« frage ich, erstaunt über die Wendung, die er seinem Urteil gibt.
»Nichts«, sagt er. Doch mit seiner gewohnten Vulgarität fügt er gleich hinzu: »Höchstens, daß man nicht so wichtig nehmen sollte, was ein Mann tut, wenn er seine Hosen runterläßt.«
Ich sage kein Wort, mir liegt nichts an einem Gespräch im Flüsterton, und obwohl ich im Grunde nicht einverstanden bin, beeindruckt mich Blavatskis Standpunkt.
»Übrigens«, fährt er fort, »ist in diesem Flugzeug alles seltsam, angefangen bei den Motoren. Hören Sie sie?«
»Kaum.«
Alle diese Gespräche a parte tragen nur dazu bei, die Atmosphäre noch mehr zu belasten. Und Robbie versucht, gewiß aus purer Freundlichkeit, ein Ablenkungsmanöver zu starten.
»Die französische Sprache ist wirklich extraordinär«, beginnt er in einem unbefangenen Tonfall, der von Anfang an unecht klingt. »Wenn man ›das Haus‹ sagt, muß man selbstverständlich eine Ergänzung hinzufügen, also ›das Haus von Paul oder von Pierre‹ oder auch ›das Haus des Volkes‹ oder ›das Haus der Kultur‹. Aber wenn man ›ein Haus‹ sagt, weiß jeder Bescheid …«
Er unterbricht sich bei unseren entsetzten Blicken. Der einzige, den diese Bemerkung belustigt, ist Blavatski, weil er darin, meiner Ansicht nach zu Unrecht, eine Spitze gegen die Franzosen sieht.
Michou bricht daraufhin in Schluchzen aus. Etwas Besseres hätte ihr nicht einfallen können, um die Aufmerksamkeit von Pacaud abzulenken. Ihre Tränen lösen eine wohltuende Welle des Mitleids aus, das von allen geteilt wird, ausgenommen das indische Paar, Madame Murzec und auch Madame Edmonde, die verärgert zusieht, wie die Tränen ihres einstigen Opfers fließen.
In einem gewissen Maße kann man sie verstehen. Michou wurde der Reichtum in die Wiege gelegt, und Madame Edmonde wuchs in einem erbarmungslosen Milieu auf, dem sie nur durch Härte und Verschlagenheit, nicht durch Flennen entronnen ist.
Madame Edmonde steht auf, wahrscheinlich um sich wieder zurechtzumachen, und geht mit erhobenem Kopf durch unseren Kreis. Äußerlich ist sie wirklich eine imposante Erscheinung, bewundernswert in den Proportionen und ein vielversprechendes Temperament.
Seit sie weg ist, führt Manzoni leise ein Gespräch mit Robbie. Ich kann nicht verstehen, was er sagt, aber mir scheint, daß er seinen Freund überreden will, die Plätze zu tauschen. Manzoni wird ziemlich energisch, und Robbie gibt schließlich sehr unwillig nach. Mit lässiger Grazie seinen langen Körper entrollend, steht er auf und überläßt seinen Sessel Manzoni, der den seinen Michou überläßt. Ohne sich dessen richtig bewußt zu werden, findet sie sich, immer noch schluchzend, zwischen Manzoni und Robbie wieder und damit ihrer linken Nachbarin entzogen. Dieses Arrangement behagt zwar Robbie nicht, der jetzt mit seinem Freund keine »Tuchfühlung« mehr hat, wie man in der Armee sagt, kommt jedoch dem Italiener sehr zustatten, der mit Michou zu seiner Linken und Mrs. Banister zu seiner Rechten über Möglichkeiten verfügt, nach zwei Seiten Beziehungen anzuknüpfen.
Pacaud nimmt diesen Stellungswechsel mit gemischten Gefühlen und ziemlich unglücklichem Blick auf, aber nach den Anspielungen Madame Edmondes auf die Motive seines Interesses für Michou wagt er es nicht, erneut einzugreifen. Mrs. Banister wiederum scheint nicht einmal bemerkt zu haben, daß an ihrer Seite jetzt ein Nachbar sitzt, der sich von Robbie erheblich unterscheidet. Dabei ist es nur ihr Vorteil! Künftig wird sie sich nicht mehr nach vorn beugen müssen, um ihren Charme an den Mann zu bringen.
Caramans zu meiner Linken wirkt inmitten dieser Aufregung so weise und untadelig, daß mich die Neugierde treibt, ihn leise zu fragen: »Was halten Sie denn von alledem?«
»Eine Peripetie«, sagt er mit hochgezogenem Mundwinkel und betont das Wort so, als unterstellte er ihm einen besonderen, abwertenden Sinn. Förmlich fügt er hinzu: »Selbstverständlich wissen Sie, daß diese Häuser in Frankreich seit Kriegsende laut Gesetz verboten sind.«
»Aber es gibt sie?«
»Es gibt sie überall in der Welt«, sagt er barsch, als ob er mich verdächtigte, sein Land angreifen zu wollen. Nach einer Weile fährt er leise, kaum hörbar fort: »Dieser Herr da aber hätte besser geschwiegen. Ich verstehe nicht, wie er an dem Ast sägen konnte, auf dem er sitzt.«
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Alles in allem finde ich ihn recht sympathisch.«
Caramans sieht mich von der Seite an. Dann schweigt er. Damit will ich nicht sagen, daß er zu sprechen aufhört. Nein, er schweigt – so wie man eine Tür hinter sich zumacht. Ohne sie zuzuknallen. Dafür ist er viel zu höflich.
Schweigen rundum. Ich sehe auf meine Uhr: wir fliegen seit zwei Stunden; zwischen zwei Wolkenschichten, denn durch die Kabinenfenster ist nichts zu sehen – kein Stern, kein Mond, kein Fleckchen Erde. Finstere Nacht. Logischerweise müßten wir schlafen, doch abgesehen von Mrs. Boyd, der Ältesten von uns, die hin und wieder vor sich hin zu dösen scheint, sind wir alle hellwach.
Während ich die Stewardess ansehe, denke ich über das Geschehene nach: Der Kreis ist durch den Zwischenfall Pacaud viel mehr aus der Ruhe gebracht worden als durch die vorangegangene Diskussion über Madrapour, die aber unser Interesse viel stärker hätte erregen müssen, da sie ja die Existenz des Landes, in das wir uns begeben, in Frage stellte. Aber nein, bequem in unsere Sessel zurückgelehnt, fest davon überzeugt, daß die absurden Abenteuer anderen widerfahren, haben wir es vorgezogen, zu bagatellisieren, was uns gegenüber unserem Reiseziel skeptisch machen könnte.
Ein anderes Paradoxon: während man normalerweise die Zeit im Flugzeug untätig verbringt und Gespräche kaum zustande kommen, haben wir hier seit Beginn des Fluges bemerkenswert vielfältige und intensive Kontakte. Wie ich schon sagte, ist diese Kommunikation durch die kreisförmige Anordnung unserer Sessel ermöglicht worden. Aber die Frage, die ich mir jetzt stelle, geht tiefer: ist sie durch diese Disposition lediglich »ermöglicht« oder ist sie dadurch herbeigeführt worden?
Ich möchte nicht abstrus oder verworren erscheinen, aber ich messe der Figur des Kreises eine große Bedeutung bei. Ich fasse sie nicht im Sinne der Buddhisten auf, für die der Kreis das Rad der Zeit symbolisiert und die Dinge sich im Zustand endloser Verwandlung befinden und die Seelen von Körper zu Körper wandern, bis sie gereinigt sind, das Rad verlassen und schließlich Ruhe finden.
Für mich ist der Kreis eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, der ich angehöre und deren Probleme, Spannungen, Hoffnungen ich teile. Glück bedeutet für mich Gemeinsamkeit. Ein anderes Glück gibt es in meinen Augen nicht.
Deshalb bedaure ich, daß wir einen so vereinfachten Manichäismus praktiziert und die Murzec zu unserem schwarzen Schaf gestempelt haben. Physisch haben wir sie selbstverständlich nicht ausgeschlossen. Wie denn auch? Aber in unserer Vorstellung ist die Murzec bereits gebrandmarkt, ins Ghetto abgeschoben. Sie ist zum Sündenbock geworden. Ein Schnellverfahren, dessen Willkür mich schockiert.
Immerhin muß man sagen, daß die Murzec nichts tut, um uns die Waffen aus der Hand zu nehmen. Sie könnte sich zumindest in Vergessenheit bringen, ruhig bleiben. Aber nein! sie interveniert! sie hat die Manie des Intervenierens! Sie ist ständig dabei, Ordnung in die menschlichen Angelegenheiten zu bringen. Und es macht ihr wenig aus, daß ihre Initiativen, mit denen sie fortwährend gegen den Strom schwimmt, die Umwelt zur Verzweiflung treiben.
Madame Edmonde, deren Attacke gegen Pacaud gewiß nicht angenehm war, kann sich wenigstens damit rechtfertigen, daß sie provoziert worden ist. Warum aber muß sich die Murzec mit entblößten gelben Zähnen auf den armen Pacaud stürzen in der offenkundigen Absicht, ihn zu zerfleischen, nachdem er gerade keuchend den Krallen von Madame Edmonde entronnen ist und sich nach ein bißchen Ruhe und Dunkelheit sehnt, um seine Wunden zu lecken?
»Monsieur«, sagt die Murzec zur allgemeinen Verblüffung, »ich halte es für meine Pflicht, Sie zu fragen, ob die Enthüllungen dieser Person der Wahrheit entsprechen.«
»Aber Madame«, sagt Pacaud hochrot und mit hervorquellenden Augen, »Sie haben kein Recht, mir eine solche Frage zu stellen!«
»Auf jeden Fall nehme ich zur Kenntnis, daß Sie darauf nicht antworten. Und daß Sie die Behauptungen dieser Person auch nicht abgestritten haben.«
An dieser Stelle lacht die zweimal als Person bezeichnete Madame Edmonde auf. An ihren neuen Nachbarn Robbie gewandt, sagt sie leise: »So eine blöde Kuh!« Ich stelle erstaunt fest, daß sie sich mit Robbie sofort wieder versöhnt hat und beide in gespielter Komplizenschaft miteinander schöntun. Vermutlich finden beide in der Vorstellung, daß sie niemals miteinander schlafen werden, etwas Beruhigendes.
»Jedenfalls geht Sie das nichts an«, sagt Pacaud. »Das ist mein Privatleben.«
»Ihr Privatleben, Monsieur, ist öffentlich geworden«, sagt die Murzec wichtigtuerisch, »und Sie haben daraus alle Konsequenzen zu ziehen.«
»Was für Konsequenzen?« fragt Pacaud verblüfft.
»Das fragen Sie noch?« Die Murzec hat ihre unerbittlichen blauen Augen mit tückischer Eindringlichkeit auf Pacaud gerichtet. »Die Konsequenzen liegen doch klar auf der Hand! Wenn Sie noch einen Schimmer moralischen Empfindens besitzen, müßten Sie begreifen, daß Ihr Platz nicht mehr in unserer Mitte ist.«
Erstaunte Ausrufe werden laut, und alle Augen richten sich auf die Murzec.
»Was denn? Was denn?« sagt Pacaud. »Sind Sie verrückt? Wo soll ich denn hingehen?«
»In die Touristenklasse«, sagt die Murzec.
»Gehen Sie doch selbst, wenn meine Gegenwart Sie stört«, sagt Pacaud wütend.
»Und ob sie mich stört!« erwidert die Murzec. Ihre blauen Augen funkeln im Gelb ihrer Haut und ihrer Zähne. »Ich frage: wen stört sie nicht nach allem, was wir erfahren haben?«
»Mich zum Beispiel«, sagt Mrs. Banister (geborene Boitel) betont nachlässig und sieht Madame Murzec gelangweilt an.
“My dear!” sagt Mrs. Boyd mit erhobenen Händen. “You don’t want to argue with that woman! She is the limit!”1
»Sie, Madame!« sagt die Murzec mit dem Ausdruck einer Königin in der Tragödie (denn außerdem spielt sie falsch wie häufig die »Bösen«, die in Ermangelung einer »Natur«, auf die sie sich stützen können, Kunstgriffe anwenden).
Mrs. Banister beschränkt sich darauf, zustimmend zu nicken, während sie ihre entspannte Pose beibehält. Die Murzec spürt, besser gesagt, sie wittert die Selbstbeherrschung unter dieser Lässigkeit, und so unerschrocken sie auch ist, sie hält inne. Kein Zweifel, diesmal hat sie einen gefährlicheren Gegner vor sich als den armen Pacaud.
In dem folgenden Schweigen hebt Mrs. Banister ihre schönen schrägen Augen zum Himmel empor und läßt dann ihren Blick wie durch Zufall auf der Murzec ruhen. Sie lächelt so erstaunt, als würde sie auf den gepflegten Wegen des väterlichen Schloßparks ein Kothäufchen finden. Es brauchte Jahrhunderte absoluter sozialer Machtausübung, um dem Lächeln der Boitel diese Vollendung zu geben, aber das Resultat läßt nichts zu wünschen übrig.
Hinzu kommt allerdings, daß das Gesicht von Mrs. Banister geradezu prädestiniert scheint, Stolz widerzuspiegeln, vor allem wegen der Augen und Brauen, die zu den Schläfen hochgezogen sind, wegen der tiefschwarzen Pupillen; sie hat beinahe Schlitzaugen – vielleicht das Erbe irgendeines Vorfahren, den es nach dem Fernen Osten verschlagen hatte. Das Ganze erinnert an die Maske eines japanischen Schauspielers und verleiht Mrs. Banister einen natürlichen Hochmut, den sie als perfekte Schauspielerin für ihre Zwecke nutzt. Kein Vergleich mit dem etwas mechanischen Flunsch von Caramans: sie ist bedeutend raffinierter. Ihr Lächeln ist nicht schlechthin als solches verächtlich, sondern weil es auf das ganze Gesicht und insbesondere auf die Augen übergreift.
Unter dem Eindruck dieses Mienenspiels – darauf zielt Mrs. Banister ab – bekommt der hellgelbe Teint der Murzec eine dunkle Färbung. Jegliche Vorsicht vergessend und mit dem Fuß auf dem Boden scharrend, stürzt sie sich sofort blind ins Gefecht.
»Sie müssen zweifellos Ihre Gründe haben, wenn Sie gegenüber diesem Herrn Nachsicht zeigen!« sagt sie mit pfeifender Stimme.
»Aber gewiß, ich habe meine Gründe«, sagt Mrs. Banister und lächelt mit charmanter Naivität in die Runde. »Vor allem habe ich nicht verstanden, was man ihm vorwirft. Ich weiß zum Beispiel nicht, was das ist, ein ›falsches Gewicht‹. Aber vielleicht könnten Sie, Madame, die Sie auf diesem Gebiet sicher mehr Erfahrung haben als ich, mir Auskunft geben?«
Die Murzec schweigt. Wie könnte sie zugeben, daß sie »auf diesem Gebiet« mehr Erfahrung als ihre Gegnerin hat? Die Herren aus dem rechten Halbkreis schweigen ebenfalls, weil sie es peinlich finden, in Pacauds Gegenwart (von dessen kahlem Schädel erneut der Schweiß rinnt) erklären zu sollen, was ein »falsches Gewicht« ist. Nichtsdestoweniger sieht Mrs. Banister uns der Reihe nach fragend und herausfordernd an, wobei sie uns gleichzeitig spüren läßt, mit wieviel charmanter Herablassung sie uns allen diese Gunstbezeigung erweist.
Aber nichts geschieht. Alle halten den Mund, um nicht das Feuer zu schüren, in dem Pacaud bereits schmort. Da nähert Manzoni seine Lippen dem Ohr Mrs. Banisters (berührt es sogar, scheint mir, denn ich sehe Mrs. Banister zittern) und flüstert ihr etwas zu.
»Oh!« sagt Mrs. Banister. »Das ist gemeint?«
Vor Aufregung nimmt sie wie aus Versehen Manzonis Handgelenk und drückt es kräftig, während sie in gespielter Verwirrung ihre andere Hand mit der vortrefflich nachgeahmten Geste einer kleinen Klosterschülerin vor den Mund hält.
“What did he say? What did he say?”2 fragt Mrs. Boyd mit fast komischer Neugierde und beugt sich zu Mrs. Banister herüber.
Daraufhin beginnen die beiden viudas mit der Ungezogenheit selbstsicherer Leute aus hochgestellten Kreisen, hingebungsvoll miteinander zu tuscheln, wobei sie Pacaud wie ein seltenes Museumsstück begutachten.
Und Manzoni begeht, anstatt den eindeutigen Vorteil gegenüber seiner rechten Nachbarin zu nutzen – denn schließlich läßt sich eine Mrs. Banister nicht jeden Tag herab, einem das Handgelenk mit ihrer herzoglichen Hand zu umspannen –, in seinem Narzißmus einen Fehler, den er in der Folge teuer bezahlen wird. Er wagt eine zweite Attacke auf Michou.
»Oh, Sie lesen Chevy?« fragt er, sich über sie beugend, und bringt dabei seine Samtaugen, seine Stimme und sein charmantes Lispeln ins Spiel.
»Ja«, sagt sie und zeigt ihm bereitwillig den Schutzumschlag.
»Dreizehn Kugeln in der Birne«, liest Manzoni mit kurzem Auflachen. Und er fügt hinzu: »Dabei reicht eine einzige aus.«
Aber Michou lächelt nicht einmal. Unsere rührende Schönheit gehört wohl zu jenen Mädchen, die von ihren Gefühlen so in Anspruch genommen sind, daß jegliche Art von Humor ihnen fremd bleibt. Manzoni muß gemerkt haben, daß es ihm nicht gelingen wird, sie zum Lachen zu bringen, denn er fährt ernsthaft fort:
»Kommt Ihnen Chevy nicht ein bißchen sadistisch vor?«
»Nein«, sagt Michou und schweigt, denn sie hat nichts anderes zu sagen.
»Aber die vielen Leichen …«
»Na und?«
Was wohl bedeuten soll, daß man von einem Kriminalroman nichts anderes erwarten kann. In diesem Augenblick wendet Mrs. Banister, den eleganten Hals zurückgebogen, Manzoni eine Maske zu, die mehr denn je an das Gesicht eines japanischen Kriegers erinnert, und schleudert ihm einen kurzen, vernichtenden Blick entgegen. Manzoni kann von Glück sagen, daß er im 20. Jahrhundert lebt und nicht vier Jahrhunderte zuvor: ein Dolch hätte seiner Untreue auf der Stelle ein Ende gesetzt.
»Aber dieses viele Blut, das ist doch ziemlich scheußlich«, sagt Manzoni.
»Ziemlich«, sagt Michou.
Aus ihrem Buch fällt ein Foto heraus, Manzoni hebt es ohne Zögern auf, wirft einen kurzen Blick darauf und sagt leise, mit gespielter Großzügigkeit, während er es Michou reicht:
»Ein schöner Junge.«
»Das ist Mike«, sagt Michou dankbar.
»Mike?« fragt Manzoni heuchlerisch, als erwähnte Michou diesen Namen zum ersten Mal.
»Sie wissen doch«, sagt Michou. Und mit einer knappen Gebärde in Richtung der viudas fügt sie hinzu: »Mike, den diese Damen dort meinen ›Verlobten‹ nennen würden.«
Mrs. Banisters schwarze Augen funkeln und verschwinden sofort hinter dem Spalt ihrer schrägen Lider. Obwohl Michou sich ganz sicher nichts Schlimmes dabei denkt, hat sie soeben Mrs. Banister stillschweigend zur alten Frau gestempelt, noch dazu vor wem!
Aber Mrs. Banister weiß sich zu beherrschen, und ihre Stimme ist honigsüß, als sie Michou antwortet. Nein, sie wird nicht den Fehler machen, Michou anzugreifen, schon gar nicht mitten in einer Attacke.
»Ach wissen Sie, Michou, ich bin nicht so altmodisch, wie Sie glauben«, sagt sie im Ton einer zärtlichen älteren Schwester. »Als ich in Ihrem Alter war, hatte ich nicht bloß einen Verlobten, sondern mehrere.« Sie macht eine Pause und fährt dann ungezwungen fort, den Kopf zur Seite geneigt und uns mit blitzenden Augen musternd: »In dem Sinne, wie Sie das verstehen.«
“My dear!” sagt Mrs. Boyd mit erhobenen Händen.
Mrs. Banister heftet ihre japanischen Augen auf uns – den rechten Halbkreis –, aber wir sind nur die Mauer, von der die Kugel zu ihrem eigentlichen Adressaten zurückprallt. Und die Flugbahn ist wohl berechnet, mit Kühnheit, mit List. Mrs. Banister weiß, daß nichts eine Frau in den Augen der Männer anziehender macht als das Bekenntnis, sie zu lieben.
Sogar wir, die Mauer, beginnen, Mrs. Banister mit anderen Augen zu sehen.
Und das ist genau der ungeeignete Augenblick, den die Murzec mit unfehlbarer Sicherheit wählt, um wieder zum Angriff überzugehen.
»Und Sie brüsten sich noch damit!« sagt sie siegesgewiß, weil sie den verwundbaren Punkt gefunden zu haben glaubt.
Mrs. Banister, die unser sicher ist – denn sie hat uns eben mit dem Eingeständnis ihrer Schwächen erobert –, geht lässig in Deckung; weit entfernt, sofort zu parieren, leistet sie sich den Luxus, etwas Gelände aufzugeben.
»Sie werden Anstoß daran nehmen«, sagt sie mit klangvoller Stimme, »aber was ich heute bedaure, sind eher die versäumten Gelegenheiten.«
Bei diesen Worten sieht sie uns an und biegt ihren Hals mit bewundernswürdiger Melancholie zurück, als ob wir die versäumten Gelegenheiten wären. Beeindruckt von ihrer Haltung einer großen Dame und gleichzeitig verführt durch ihre Koketterie, liegen wir ihr bereits zu Füßen, auch Caramans, der in diesem Augenblick die Erziehung der Ordensbrüder vergißt. Man ist weit, weit von den plumpen Verführungskünsten Madame Edmondes entfernt. In der erotischen Ausstrahlung stellt die große Dame die Dirne völlig in den Schatten.
»Was für ein Zynismus!« sagt die Murzec entrüstet. Sie hat zwar durchaus recht, aber auf einem Gebiet, das wir alle vergessen möchten.
»Ich nehme an«, sagt Mrs. Banister, »ich nehme an, daß Sie auch die Keuschheit zu Ihren Verdiensten zählen.«
Und wir alle spüren in diesem Augenblick, daß Keuschheit keine Eigenschaft ist, die zum guten Ton gehört.
»Ich habe in der Tat eine Moral«, sagt die Murzec trocken.
Und man erwartet, man hofft fast, daß Mrs. Banister fragt, wie diese Moral mit der Boshaftigkeit vereinbar sei, welche die Murzec Michou gegenüber an den Tag legte. Aber Mrs. Banister hat nicht die Absicht, unsere Aufmerksamkeit erneut auf ihre rührende Rivalin zu lenken oder gar Manzonis Mitleid wachzurufen. Sie sucht sich ein anderes Gelände, um ihren Angriff vorzutragen.
»Also kein Flirt?« fragt sie dreist. »Nicht die geringste Schwäche? Keine Liaison? Kein Minütchen des Selbstvergessens mit einer Freundin aus der Kindheit?«
Mir fällt auf, mit welcher Perfidie – vielleicht ist es auch ihr Scharfblick – Mrs. Banister den sapphischen Verdacht als den naheliegendsten äußert.
»Solche Hypothesen sehen Ihnen ähnlich«, sagt die Murzec.
Alles in allem eine ziemlich treffende Antwort, die sie jedoch mit folgendem Nachsatz zunichte macht: »Ich muß Sie enttäuschen: Es gab nichts anderes als einen Gatten, der zu früh verstorben ist.«
Möglich, daß es nichts anderes gab, aber warum muß ihre Stimme bei dem »zu früh« zittern? Niemand kann sich die Murzec als liebende Frau oder gar als tränenüberströmte Witwe vorstellen.
Mrs. Banister spürt es, hebt ihre Eichelhäheraugen zum Himmel, läßt ihren Blick mit einem Ausdruck der Komplizenschaft über uns schweifen, stößt einen leisen Seufzer aus und sagt leise, ohne die Murzec anzusehen: »Aufgefressen.«
“My dear!” sagt Mrs. Boyd.
»Was wagen Sie mir zu unterstellen?« ruft die Murzec aufgebracht.
»Aber absolut nichts«, sagt Mrs. Banister mit nicht zu überbietender Unverschämtheit. Und sie hat die Stirn, nach allen ihren Fragen zu diesem Thema hinzuzufügen: »Ihr Privatleben interessiert mich nicht.«
»Sie sind bloß unfähig, es zu verstehen«, sagt die Murzec. »Und das überrascht mich nicht, nach allem, was Sie uns über Ihr Privatleben mitgeteilt haben.«
Ein Punkt für die Murzec. Kein sehr brillanter, kein sehr origineller, aber einer, der von Erfahrung zeugt. Leider verdirbt sich die Murzec wieder alles, indem sie im Tonfall unerträglicher Aufgeblasenheit hinzufügt:
»Ich bin nämlich ein Mensch, verstehen Sie, ein Mensch mit einem Gewissen, der nach Höherem strebt. Und Sie, Sie sollten sich schämen, sich einfach als sexuelles Objekt zu sehen.«
Mrs. Banister macht, wirkungsvoll unterstützt von ihren blitzenden Samurai-Augen, einige ironische und charmante Grimassen. Ich glaube, sie wird jetzt zuschlagen. Der Kampf zwischen der Natter und dem Skorpion steht vor seinem Abschluß.
»Sie haben eine völlig unrealistische Vorstellung von der Rolle des Sex in den menschlichen Beziehungen, Verehrteste«, sagt Mrs. Banister. »Glauben Sie mir, ein sexuelles Objekt zu sein ist nicht traurig für eine Frau, aber es niemals gewesen zu sein …«
Die Murzec schweigt mit zusammengepreßten Lippen und abwesendem Blick. Als jedoch Mrs. Banister, berauscht von ihrem Triumph, sich zu Manzoni umdreht, begegnet sie seinem Blick nicht. Abgewendet, schweigend, hat er nur Augen für Michou.
Da verlöschen die Kerzen der Komödie schlagartig, und in der eintretenden Stille bekommt Mrs. Banisters Gesicht nach so großer Anstrengung einen Ausdruck von Müdigkeit, der es älter macht. Obwohl sie es unter Kontrolle hält, um sich nicht zu verraten, schimmert Trauer in ihren schrägen Augen. Sie denkt gewiß an die Zeiten, da sie es nicht nötig hatte, soviel Aufwand zu treiben; da sie mit einem stupiden Buch auf den Knien dasitzen und lustlos idiotische Antworten geben konnte, ohne daß um sie herum die Begierde der Männer erlahmte.
Im Augenblick sagt niemand ein Sterbenswörtchen. Aber das Schweigen wird nicht von Dauer sein, nachdem sich das Spiel der Sympathien und Antipathien in kurzer Zeit so lebhaft entwickelt hat. Ich nutze die Gelegenheit, die viudas zu beobachten und indiskreterweise ihrem halblauten Gespräch zuzuhören.
Im Westen wimmelt es von Witwen, man achtet nicht mehr auf sie, so viele sind es. Dabei stellen sie ein sozialpsychisches Phänomen dar, das einer Untersuchung durchaus wert ist. Mir scheint, man sollte versuchen, das Geheimnis der Langlebigkeit der Frauen zu ergründen, die Ursachen ihrer unbezähmbaren Liebe zum Dasein und ihrer Fähigkeit, in Einsamkeit zu überleben. Die beiden ausschließlich mit sich selbst beschäftigten viudas vor mir sind die Verkörperung der Ausgeglichenheit.
Allerdings hilft ihnen dabei das Geld. Es wäre interessant, zu wissen, was Mr. Boyd und Mr. Banister zu Lebzeiten getrieben und wie sie das ganze Geld verdient haben, das sie ihren Frauen hinterließen. Nach der Kleidung, dem Schmuck und den Reiseberichten (immer in Luxushotels) zu urteilen, müssen die Verstorbenen beiden ansehnliche Summen vermacht haben. Aber darüber und über die Herkunft des Geldes – vermutlich ist da manches anrüchig – kein Wort. Statt dessen sprechen beide gern über ihre Verwandtschaft; und berühmte Namen – die sie sich wie Losungsworte zuwerfen – ziehen sich durch ihre Gespräche.
Sie sind nicht gleichaltrig. Mrs. Banister ist, den Lauf der Jahre nach Kräften bremsend, vielleicht bei Mitte Vierzig angekommen. Mrs. Boyd steht bereits in höherem Alter und hat anscheinend mit Hilfe kleiner Annehmlichkeiten, eines großen Komforts und einer unersättlichen Naschhaftigkeit einen ruhigen Hafen gefunden. Die Naschhaftigkeit ist ihre Leidenschaft. Robbie würde sagen, daß unsere viuda damit einen Weg gefunden hat, ihre Leere auszufüllen.
Wenn Mrs. Banister geruht, ihr das Wort zu lassen, schildert Mrs. Boyd fachmännisch in allen Einzelheiten sämtliche guten Mahlzeiten, die sie eingenommen hat: keine üppigen Gelage, sondern raffinierte kostspielige kleine Leckerbissen, mit zierlichen silbernen Gabeln an auserwählten Orten inmitten von Lakaienscharen genossen. Alle diese lieben Erinnerungen verhelfen Mrs. Boyd zu einem glücklichen Charakter. Mit ihrem schönen weißen Haar, der altmodischen Lockenfrisur, mit ihrem fleischigen Mund und ihrem Bäuchlein erweckt sie den Eindruck, mit der Welt ihren Frieden geschlossen zu haben. Und das hat sie tatsächlich getan. Zumal sie die beunruhigenden Ereignisse des Planeten nie bis zu ihrem Kokon vordringen läßt, weil sie »niemals liest, weder Bücher noch Zeitungen« (womit sie sich brüstet).
Ihre Beziehungen zu Mrs. Banister sind sehr differenziert. Sie bewundert Mrs. Banister, beherrscht sie aber entgegen dem Anschein und läßt sie dabei gewähren. Sie bekennt sich zu einer konventionellen Moral, ist aber in Wirklichkeit entzückt, daß Mrs. Banister ihr Gesprächsstoff liefert: mit zunehmendem Alter ist ihr Interesse für Sex verbal geworden.
Obwohl sie Landsleute sind, mögen Mrs. Boyd und Blavatski einander nicht. Von Anfang an bekundete sie ihm gegenüber eine demonstrative Kälte; Blavatski aber ist nicht der Mann, eine solche Brüskierung hinzunehmen.
Außerdem verdrießen ihn die mondänen Reden unserer viudas, und als Mrs. Boyd in einem bestimmten Tonfall ihre Bostoner Herkunft erwähnt, unterbricht Blavatski sie und sagt mit einem bewußt übertrieben vulgären Akzent: »Ich weiß, ich weiß. In Boston sprechen die Lodges nur mit den Cabots und die Cabots nur mit Gott!«
Mrs. Boyd versucht, diese Bemerkung mit Verachtung zu parieren, doch ich glaube, es ist noch niemandem gelungen, Blavatski einzuschüchtern. Er wendet sich erneut mit schleppender Stimme an sein Gegenüber.
»Und Sie, Mrs. Boyd, sind Sie eine Lodge oder eine Cabot?«
»Weder das eine noch das andere«, antwortet Mrs. Boyd und bemüht sich, ihrem runden Gesicht Hoheit zu verleihen. »Schließlich gibt es in Boston außer den Lodges und den Cabots auch andere Familien.«
Blavatski lacht.
»Da bin ich aber froh!« sagt er. »Mir kam es wirklich zu traurig vor, daß der Herrgott in Boston nur eine Familie haben sollte, die ihm den Spucknapf hält.«
Und er bricht in ungehobeltes Gelächter aus. Dabei gehört Blavatski zu denen, die von Mrs. Banisters Herkunft am meisten beeindruckt sind. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Herzöge und Grafen, das geht für Europa an. Aber in den USA läßt man sich nicht von Leuten an die Wand drücken, deren einziges Verdienst es ist, dort früher als andere eingetroffen zu sein.
Ich gebe Blavatski nicht unrecht. Mir gefällt es selbst nicht, wenn man mich in Großbritannien spüren läßt, daß ich ein Brite jüngsten Datums bin.
Nach diesem kurzen Geplänkel zwischen Mrs. Boyd und Blavatski passiert zunächst gar nichts. Dann nimmt der Inder, mir gegenüber auf der anderen Seite des rechten Halbkreises, seinen Turban ab. Nicht daß er ihn abwickelt. Nein, er zieht ihn einfach vom Kopf. So wie man seinen Hut abnimmt. Nur daß er beide Hände dazu benutzt und den Kopf nach vorn neigt, als ob er sich an einem schweren Gegenstand zu schaffen machte. Dann legt er seine Kopfbedeckung behutsam auf seinen Schoß. Ich kann nicht sagen, aus welchem Stoff der Turban ist oder welche Farbe er hat. Mich verblüffen nur seine Größe, die Anstrengung, die es den Inder kostet, um ihn abzunehmen, und die peinliche Sorgfalt, die er darauf verwendet.