13. November.
Ich schreibe diese Geschichte zur gleichen Zeit, wie ich sie erlebe. Von Tag zu Tag. Oder vielmehr – um bescheidener zu sein – von Stunde zu Stunde. Wir wären überhaupt gut beraten, in jeder Minute, die vergeht, eine Welt festzuhalten. Uns stehen nicht so viele Minuten zur Verfügung. Das längste Leben läßt sich in Sekunden ausdrücken. Wenn Sie nachrechnen, kommt eine Zahl heraus, die nichts Astronomisches an sich hat und auch nichts sonderlich Beruhigendes.
Während ich dies schreibe, bin ich noch außerstande, das Ende meines Abenteuers abzusehen. Ich vermag auch seine Bedeutung nicht zu erfassen. Obwohl ich durchaus Hypothesen wage.
Meine Geschichte wird sicherlich einen Abschluß finden, und wäre es nur der naheliegendste. Ungewiß ist aber, ob sie einen Sinn hat oder – was auf dasselbe hinausläuft – ob ich fähig bin, einen Sinn in ihr zu erkennen: »Eine Eintagsfliege, die bei Sonnenaufgang zur Welt kommt und bei Sonnenuntergang stirbt, ist nicht in der Lage, das Wort Nacht zu begreifen.«
Als mich das Taxi am Flughafen Roissy-en-France absetzt, erwartet mich eine Überraschung. Alles ist leer. Keine Reisenden, keine Angestellten, keine Hostessen. Ich bin allein, mutterseelenallein in diesem Monument aus Metall und Glas, wo eine Grabesstille herrscht. Ein absurder Vergleich: mit seinen riesigen Glasflächen sieht Roissy eher wie ein überdimensionales Treibhaus aus.
Ich stelle meine Koffer auf einen Handgepäckwagen und schiebe ihn in dieser erleuchteten Wüste vor mir her. Im selben Moment wird mir bewußt, wie grotesk es ist, meinen irdischen Gütern auf diese Weise das Geleit zu geben, obwohl kein Mensch sie abfertigen kann.
Nicht daß ich noch hoffte, nach Madrapour zu fliegen. Doch suche ich wenigstens jemand, um mich zu erkundigen. Ich mache mir nur deshalb die Mühe, mein Gepäck vor mir her zu schieben, weil ich es nicht unbeaufsichtigt in einer Ecke stehenlassen will. Ein Zeichen dafür, daß mich die Verblüffung etwas durcheinandergebracht hat: Diebe meiden entvölkerte Flugplätze.
Ich bin mir klar darüber, daß die Leere und die Stille des Flughafens mir allmählich eine leichte Angst einflößen – wenn Angst überhaupt leicht sein kann. Wie soll ich es verstehen, daß sich niemand außer mir in Roissy befindet, das so offensichtlich dafür geschaffen ist, große Menschenmengen aufzunehmen? Angenommen, eine unvorhergesehene Arbeitsniederlegung wäre dazwischengekommen und die Flüge wären annulliert oder nach Orly umgeleitet worden – wo sind die Passagiere, die wie ich von dem plötzlichen Streik betroffen sein müßten? Wo sind die Streikenden, die Nichtstreikenden, die Polizisten, die Angehörigen der CRS1, das Bodenpersonal, das Personal der Snackbars, der Boutiquen, die Schalterangestellten? Und wie soll man sich auch nur einen einzigen Augenblick lang vorstellen, daß die Maschinerie von Roissy-en-France zum Stillstand kommen und in Schlaf fallen könnte?
Meine Beklemmung wächst angesichts der recht eigenwilligen Architektur, die ich hier vorfinde. Ich bin zum erstenmal in Roissy, und eines versetzt mich in Erstaunen: das Flughafengebäude, das zu funktionellen Zwecken gebaut worden ist, wie ich vermute, scheint gleichzeitig so konzipiert zu sein, einem das Gefühl der Unendlichkeit zu vermitteln.
Das Gebäude hat, weil es rund ist, weder Anfang noch Ende. Von dem leeren Rund in der Mitte führen gläserne Tunnel, die mit Laufbändern ausgestattet sind, zur oberen Etage. Diese lichtdurchfluteten Gedärme, die dazu bestimmt scheinen, die Reisenden zu verdauen, sind als »Satelliten« bezeichnet.
Aber von Reisenden keine Spur. Nachdem ich das leere Rund zu ebener Erde zweimal abgelaufen bin, ohne auf einen Menschen zu stoßen, wage ich mich mit meinem Handgepäckwagen in einen dieser »Satelliten«. Mir ist seltsam zumute: ich habe den Eindruck, eines der riesigen Karussells auf dem Rummel zu besteigen, die einen ganz plötzlich nach unten schleudern, um einem Schauer über den Rücken zu jagen. Doch nein: ich komme wohlbehalten auf der oberen Etage heraus. Und dort wiederhole ich, was ich unten schon getan habe. Auf der Suche nach einem menschlichen Wesen umkreise ich den leeren Innenraum mit seinen »Satelliten«.
Ich laufe wiederum zweimal das ganze Rund ab. Mich packt eine Trostlosigkeit, wie sie vielleicht ein Hamster empfinden mag, der in seinem Käfig endlos in die Speichen seines kleinen Rades tritt.
Ich bleibe stehen. Ich bin nicht mehr allein in der gläsernen Wüste von Roissy. Eine Hostess ist aufgetaucht.
Als ich das erstemal an diesem Schalter vorbeigegangen bin, habe ich flüchtig hingesehen, und ich bin sicher, daß er leer war. Und plötzlich, als ich das zweitemal vorbeikomme, taucht die Hostess auf, blond, klein, grünäugig, ihr Käppi auf dem Kopf. Ich will ihr Auftauchen nicht mystifizieren. Meine Flugreise nach Madrapour gibt mir schon genug Probleme auf. Es mag sein, daß sich die Hostess beim erstenmal gebückt hatte, um in ihrer Tasche zu kramen, und durch den Schalter meinen Blicken verborgen war.
Während ich meinen Handgepäckwagen schwungvoll in ihre Richtung schiebe, wird mir anderseits klar, daß die Gegenwart dieses Mädchens – eben weil es der einzige Mensch ist in dieser Wüste – den unwirklichen Charakter der Situation noch unterstreicht.
Die Hostess ist jedenfalls kein Gespenst. Ich sehe sie leibhaftig vor mir: zum Anbeißen.
Und ich sehe auf den ersten Blick: was die äußeren Reize anbelangt – mit ihren Grenzen, aber auch mit ihrem Charme, dem sich niemand verschließen kann und den deshalb auch niemand bestreitet –, ist diese Hostess außer Konkurrenz. Sie gehört zu jener Sorte Mädchen, die von den anderen Frauen mit unerbittlichem Blick in Stücke gerissen und von den Männern mit den Augen verschlungen werden. Und ich teile trotz meiner Besorgnis das übliche Schicksal.
Dabei weiß ich, was es mit der Schönheit der Hostessen auf sich hat: ein Bonbon für die Augen, das die Fluggesellschaften Ihnen zu lutschen geben, um Ihnen die Angst beim Starten zu versüßen.
Und trotzdem funktioniert die Falle. Ich habe der Hostess so viele Fragen zu stellen und stelle ihr, wenigstens in diesem Moment, keine einzige. Den Blick auf ihr reizendes Gesicht geheftet, reiche ich ihr mein Ticket.
»Sie sind Mr. Sergius?« fragte sie in einem Englisch, das mich entzückt, so schlecht ist die Aussprache.
»Yes«, antworte ich beinahe überflüssigerweise und füge auf französisch hinzu: »Was ist los? Ein Streik?«
»Sie haben sich verspätet«, sagt sie lächelnd. »Alle anderen Passagiere sind schon an Bord.«
»Aber ich habe noch keine der Formalitäten erledigen können: Zoll, Polizei …«, sage ich ziemlich verstört.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagt sie und lächelt wieder, diesmal ohne die übliche berufsbedingte Mimik. Ihr Lächeln ist freundschaftlich, fast zärtlich.
Es trifft mich wie ein Schock, und ich bin endgültig betäubt.
»Ihre Koffer hätten Sie unten lassen sollen!« fährt sie unvermittelt fort. »Hier kommt man nur mit dem Handgepäck durch.«
»Unten?« frage ich. »Aber unten ist doch niemand!«
Und ich staune über meine Stimme, meinen Tonfall: da ist fast nichts von einem Protest. Oder so schwach, daß er nicht zum Tragen kommt.
Die Hostess sieht mich mit ihren grünen Augen an und zieht mit ihren Kinderlippen einen kleinen Flunsch.
»Meinen Sie wirklich?« sagt sie. »Kommen Sie, wir schaffen die Koffer wieder nach unten.«
Sie kommt hinter ihrem Schalter hervor und geht mir voraus. Ich sehe sie jetzt richtig. Sie ist klein, zierlich, hat einen vollen Busen und lange Beine. Ich folge ihr mit meinem Handgepäckwagen.
Sie drückt einen Knopf, dann einen anderen.
»Der erste Knopf ist für den Gepäckträger.«
»Aber unten ist doch niemand«, wiederhole ich ziemlich kleinlaut.
Sie lächelt, ohne zu antworten. Die Tür des Aufzugs öffnet sich, und die Hostess sagt, zur Eile drängend:
»Schnell, bevor die Tür zugeht! Schieben Sie den Handgepäckwagen hinein! Nicht doch«, fährt sie fort und faßt mich am Arm, »bloß den Handgepäckwagen! Sie bleiben oben! Behalten Sie nur Ihre Aktentasche!«
Ich gehorche mit zugeschnürter Kehle. Die Tür schließt sich, und ich höre den Aufzug nach unten gleiten.
Ich stehe wie angewurzelt da. In dieser Minute bin ich richtig verzweifelt: ich habe das deutliche Empfinden, weder meine Koffer noch die wertvollen Nachschlagewerke, die ich für meine Madrapour-Studien eingepackt hatte, jemals wiederzusehen.
Indessen hat die Hostess ihre kleine Hand auf meinen Arm gelegt und sieht mich mit ihren grünen Augen unverwandt an.
»Kommen Sie, Mr. Sergius«, sagt sie in drängendem Ton. »Wir haben Ihretwegen große Verspätung. Die Chartermaschine wartet auf Sie.«
»Auf mich?« frage ich zweifelnd.
Sie antwortet nicht. Sie dreht sich um und biegt vor mir in jene Ziehharmonika ein, durch welche die Reisenden direkt ins Flugzeug gelangen. Ich folge ihr, und während ich mir Mühe geben muß, an ihrer Seite zu bleiben – obwohl sie klein ist, geht sie erstaunlich schnell –, entschließe ich mich zu einem letzten Versuch.
»Aber können Sie mir denn nicht sagen, was los ist? Wird hier gestreikt? Wie ist es möglich, daß kein Mensch in Roissy ist, nicht einmal ein Polizist?«
Sie beschleunigt ihren Schritt noch mehr, wendet mir ihren hübschen Busen zu, an dem meine Augen sogleich hängenbleiben, und sagt leichthin: »Ich verstehe das alles selbst nicht.«
Und während sie mich von der Seite ansieht, bedenkt sie mich mit einem Lächeln, in dem sich Falschheit und Aufrichtigkeit auf seltsame Weise mischen.
Ich gehe an ihrer Seite, oder genauer: ich folge ihr, atemlos, denn so schnell ich mit meinen langen Beinen auch ausschreite, die Hostess ist mir voraus. Ich fühle mich gleichermaßen willenlos, entmündigt, schuldbewußt. Ich habe nicht den Eindruck, die Chartermaschine nach Madrapour aus freien Stücken zu besteigen. Ich bilde mir vielmehr ein, daß die Hostess mir einen Strick um den Hals geworfen hat und mich hinter sich herzieht, gefügig gemacht, ausgeplündert, ohne meine Koffer, die ich zurückgelassen habe – in einem Fahrstuhl.
An der Schwelle der Chartermaschine bleibe ich stehen, störrisch wie ein Pferd, das nicht auf den Viehwagen bugsiert werden will. Ich weiß nicht, welche Kraft mich festnagelt, als ich die Linie überschreiten soll, die den realen Boden von dem trügerischen Boden trennt, der mich in den Himmel entführen wird. Eigener Wille ist nicht im Spiel. Stumpfsinnig, mit herabhängenden Armen, den Blick starr geradeaus gerichtet, bleibe ich stehen.
Und plötzlich, ohne daß ich die Hostess eintreten und sich umdrehen sah, entdecke ich sie im Innern des Flugzeugs: auf der anderen Seite der Linie steht sie mir gegenüber. Und während sie mich mit ihren grünen Augen ansieht, lächelt sie schmeichelnd und fragt leise: »Kommen Sie nicht, Mr. Sergius?«
»Wie!« sage ich fast stotternd. »Sie fliegen auch mit?«
»Aber ja, es ist kein Steward da.« Einladend streckt sie mir ihre beiden Hände entgegen und fügt hinzu: »Nur ich.«
Meine Entscheidung fällt ohne mein Wissen. Ich erwache aus meinem traumartigen Zustand und überschreite die Linie. Und unverzüglich beugt sich die Hostess aus dem Flugzeug, packt die schwere Tür mit erstaunlicher Kraft und Geschicklichkeit, schließt sie hinter uns und verriegelt sie.
Mit meiner Aktentasche in der Hand stehe ich da und starre auf den Rücken der Hostess. Unvorstellbar: vor meinen Augen verwandelt sich eine Hostess aus der Abfertigung in eine Stewardess.
»Nehmen Sie Platz, Mr. Sergius«, sagt die Stewardess.
Ich sehe mich um. Es sind höchstens an die fünfzehn Fluggäste, nicht mehr. Die Sitze sind nicht wie in einer normalen Langstreckenmaschine angeordnet. Und offensichtlich befinde ich mich in der ersten Klasse.
»Aber ich habe ein Ticket für die Touristenklasse«, sage ich ein wenig verwirrt.
»Das macht nichts«, sagt die Stewardess. »Die Touristenklasse ist leer.«
»Leer?«
»Sie sehen es doch«, sagt die Stewardess. »Und Sie werden doch nicht allein bleiben wollen. Sie würden sich langweilen.«
»Aber mir scheint, ich habe gar keine andere Wahl«, antworte ich, ein wenig erstaunt darüber, derjenige zu sein, der sich auf die Vorschriften beruft. »Ich kann doch nicht in einer Klasse fliegen, die nicht meinem Ticket entspricht. Ich befände mich in einer irregulären Situation.«
Die Stewardess sieht mich mit zärtlicher Ironie an.
»Sie sind sehr gewissenhaft, Mr. Sergius. Aber glauben Sie mir, das Ticket hat keine Bedeutung. Und außerdem erleichtern Sie mir meinen Dienst, wenn Sie hier Platz nehmen.«
Dieses Argument und vor allem das Lächeln, das dieses Argument begleitet, überzeugen mich schließlich. Ich nehme in einem Sessel Platz, schiebe mein Handgepäck darunter und schnalle mich an.
Ohne daß ich ihr Kommen bemerkt hätte, steht die Stewardess plötzlich neben meinem Sessel und richtet ihre grünen Augen auf mich.
»Mr. Sergius, würden Sie mir bitte Ihren Paß und Ihr Bargeld aushändigen?«
»Das Bargeld?« frage ich erstaunt. »Das ist aber sehr ungewöhnlich!«
»So lauten die Anweisungen, Mr. Sergius. Ich gebe Ihnen eine Quittung, und Sie bekommen Ihr Geld bei der Ankunft zurück.«
»Diese neue Vorschrift ist mir unverständlich«, sage ich höchst verärgert. »Ein solches Verfahren ist absurd, ja unannehmbar!«
»Hören Sie, brother«, sagt einer der Passagiere auf englisch, aber mit starkem amerikanischem Akzent, »wollen Sie über alles diskutieren? Wir haben Ihretwegen lange genug warten müssen. Spucken Sie schon Ihre Moneten aus, und die Sache ist erledigt.«
Ich überhöre diese flegelhafte Einmischung, aber die mißbilligenden Blicke der anderen Fluggäste und auch die bekümmerten und geduldigen Augen der Stewardess kann ich nicht völlig ignorieren. Ich hole meine Brieftasche heraus und zähle sorgfältig den Inhalt.
»Es wäre vielleicht einfacher, mir die ganze Brieftasche anzuvertrauen«, sagt die Stewardess.
»Wie Sie wollen«, sage ich widerstrebend. »Muß ich Ihnen auch meine Reiseschecks geben?«
»Ich wollte Sie darum bitten.«
Und sie entfernt sich mit allem. Ich sehe ihr mit einer gewissen Bestürzung nach. Ich fühle mich ausgeplündert: ich habe keinen Ausweis mehr, kein Geld, und ich bin nicht einmal sicher, ob sich meine Koffer im Gepäckraum befinden.
Als die Stewardess gegangen ist und ich nicht mehr unter dem Einfluß ihres Blicks stehe, bemerke ich, daß sie mir keine Quittung gegeben hat. Ich rufe sie zurück. Höflich verlange ich die Quittung. Sie stellt sie aus.
»Bitte, Mr. Sergius«, sagt sie mit nachsichtigem Lächeln.
Und wie ich das Papier in Händen halte, gibt sie mir mit dem Handrücken einen leichten Klaps auf die Wange, halb ein Schlag, halb ein Streicheln. Eine Vertraulichkeit, die mich nicht etwa demütigt, sondern mir gefällt.
Die anderen Passagiere mustern mich, vielleicht wegen dieser Szene, vielleicht weil mein Äußeres sie in Erstaunen setzt. Und die ungewöhnliche Anordnung der Sitze macht es ihnen leicht, mich zu beobachten. Die Sessel sind in der Tat nicht wie gewöhnlich hintereinander angeordnet, sondern kreisförmig, wie in einem Wartesaal. Der einzige Unterschied: sie sind am Boden befestigt und mit einem Sicherheitsgurt versehen.
Ich bin die Zielscheibe dieses Kreises und gerate wie jedesmal, wenn man mich so anstarrt, in Verlegenheit.
Ich weiß nicht, ob andere verstehen können, wie schrecklich es ist, häßlich zu sein. Von dem Augenblick an, da ich aufstehe und mich vor dem Spiegel rasiere, bis zu dem Augenblick, da ich mir die Zähne putze und ins Bett gehe, vergesse ich keine Sekunde, daß mir die untere Hälfte meines Gesichts von der Nase abwärts eine fatale Ähnlichkeit mit einem Affen verleiht. Wenn ich es einmal vergesse, erinnern mich die Blicke meiner Zeitgenossen daran. Oh, sie brauchen nicht einmal den Mund aufzumachen! Wo immer ich bin – sobald ich einen Raum betrete, genügt es, daß die Leute ihre Blicke auf mich richten: ich höre sofort, was sie denken.
Ich möchte mein Äußeres wie eine alte Haut von mir reißen. Es verleiht mir ein unerträgliches Gefühl der Ungerechtigkeit. Alles, was ich bin, was ich mache, was ich geleistet habe – sportliche und gesellschaftliche Erfolge, Sprachforschungen –, alles das zählt nicht. Ein einziger Blick auf meinen Mund und mein Kinn, und ich bin abgewertet. Daß der lüsterne, tierische Charakter meiner Physiognomie durch den menschlichen Ausdruck meiner Augen Lügen gestraft wird, fällt kaum ins Gewicht. Die Leute klammern sich an meine entstellte untere Gesichtshälfte und fällen ein unwiderrufliches Urteil.
Ich höre ihre Gedanken, sagte ich. Sobald ich auftauche, höre ich sie in ihrem Innern rufen: Ein Orang-Utan! Und ich fühle mich sogleich als Zielscheibe des Spotts.
Die Ironie will es, daß ich zwar häßlich bin, aber gleichermaßen empfänglich für die menschliche Schönheit. Ein hübsches Mädchen, ein niedliches Kind entzücken mich. Aus Furcht jedoch, die Kinder zu erschrecken, wage ich nicht, mich ihnen zu nähern. Und selten nur den Frauen. Dabei haben die Tiere, in die ich geradezu vernarrt bin, keine Angst vor mir und werden sehr schnell mit mir vertraut, wie auch ich mich in ihrer Nähe wohl fühle. Ich lese nichts Demütigendes in ihren Augen. Nur Zuneigung, die sie verlangen und erwidern. Ach, wie schön wäre die Welt und wie glücklich würde ich mich fühlen, wenn die Menschen den Blick der Pferde haben könnten!
Ich reiße mich zusammen, hebe die Lider und schaue meinerseits meine Betrachter an. Mit der Heuchelei von Leuten, die man ertappt, wenn sie einen anstarren, wenden sie sofort die Augen ab, setzen eine gleichgültige Miene auf – und das um so schneller, als meine Fratze ihnen angst macht. Meine Augen sind keineswegs grimmig, ganz im Gegenteil. Erst in Verbindung mit dem ganzen Gesicht bekommen sie ihren drohenden Ausdruck.
Aber nachdem ich deutlich die Gedanken meiner Kopassagiere gehört habe, will ich mich nicht etwa genieren. Ich sehe sie mir der Reihe nach in aller Ruhe an, von links nach rechts.
Dem Exit am nächsten sitzt die Stewardess. Sie hat ihr Käppi abgenommen und ihr blondes Haar mit graziöser Gebärde glattgestrichen; den ihr anvertrauten Passagieren schenkt sie interessierte Blicke.
Zu ihrer Rechten eine aufgetakelte blonde Frau in einem imposanten, maßgeschneiderten grünen Kleid mit schwarzem Rankenmuster, wenig diskret mit Schmuck behängt; daneben ein junges Mädchen ohne Begleitung; dann in Reihenfolge ein schöner Italiener; ein hinreißender Homosexueller deutscher Nationalität; zwei sehr distinguierte Damen, die zusammen reisen, zwei Witwen vermutlich, Amerikanerin die eine, Französin die andere, und letztere trotz ihrer vornehmen Art wenig zurückhaltend. Denn sie wendet die Augen nicht ab, wenn unsere Blicke sich begegnen. Statt dessen reagiert sie so, als wäre ihr der Gedanke, irgendwo im Dschungel von einem behaarten Affen ein bißchen vergewaltigt zu werden, nicht unangenehm.
Als letzte im linken Halbkreis schließlich eine Dame, deren Gesicht eine Symphonie in Gelb ist. Sie ist mir von Anfang an so unsympathisch, daß ich froh bin, durch den Mittelgang, der in die Touristenklasse führt, von ihr getrennt zu sein.
Auf meiner Seite, das heißt im rechten Halbkreis, Männer: ein Amerikaner, drei Franzosen, ich, der ich Brite bin – zumindest ist England meine Wahlheimat, denn geboren bin ich in Kiew als Sohn einer deutschen Mutter und eines ukrainischen Vaters; eine vulgäre Person, die eine griechische Zeitung liest; und schließlich ein indisches Paar: die einzigen, die mich nicht fixiert haben, als ich das Flugzeug betrat. Überhaupt sehen sie niemand an, machen den Mund nicht auf und sind regungslos wie Statuen. Beide, die Frau und der Mann, sind sehr schön. Wenn das Wort »rassig« einen Sinn hat, sollte man es auf sie anwenden.
Das Schauspiel, das mir meine Reisegefährten bieten, hat mich abgelenkt, aber meine Unruhe nicht zerstreut. Ich denke unablässig an meine Koffer. Mit Beklemmung sehe ich sie noch immer im Aufzug verschwinden. Und ich bereue bitterlich, daß ich mich von der Stewardess habe nasführen lassen, obwohl ich genau wußte, daß unten kein einziger Mensch war, das Gepäck in Empfang zu nehmen.
Ich bin in solcher Sorge, daß ich nicht merke, wie das Flugzeug abhebt. Erst als die anderen Passagiere ihre Gurte lösen, wird es mir bewußt. Wir sind in der Luft. Vielleicht haben wir bereits die vorschriftsmäßige Höhe erreicht. Das Verhalten der Passagiere scheint darauf hinzudeuten. Sie laufen hin und her, schneuzen sich, wühlen in ihrem Handgepäck, falten Zeitungen auseinander. Die Männer lockern ihre Krawatten, die korpulenten knöpfen ihre Jacketts auf, und die Frauen ordnen ihre Frisur.
Inmitten dieser beruhigenden Geschäftigkeit macht mich eines betroffen: ich höre die Motoren nicht oder jedenfalls kaum. Nur wenn ich meine Aufmerksamkeit anspanne, nehme ich ein schwaches, ein sehr schwaches Summen wahr, wie von einem Kühlschrank, der sich wieder einschaltet. Ich frage mich, ob nicht der Luftdruck mein Trommelfell in Mitleidenschaft gezogen hat, und stecke meinen kleinen Finger ins rechte Ohr.
So unauffällig meine Bewegung ist, entgeht sie doch nicht meiner Nachbarin zur Linken, die einen Blick voll niederschmetternder Verachtung auf mich abschießt; ich nehme meinen Finger sofort zurück und stecke meine schuldige Hand in die Tasche. Offensichtlich ist es nicht nur von Vorteil, in einer Runde zu sitzen.
Gleich darauf bedaure ich, so schnell kapituliert zu haben, und beschließe meinerseits, die Medusa, die mich in Stein verwandelt hatte, unter die Lupe zu nehmen. Leider sieht sie mich nicht. Sie versucht gerade, mit kleinen Handbewegungen die Aufmerksamkeit der Stewardess auf sich zu lenken.
Ihr Äußeres gefällt mir nicht, um es bei diesen Worten zu belassen. Sie mag zwischen vierzig und fünfzig sein, aber die Reife hat sie ausgetrocknet und verhärtet, anstatt ihr Figur zu geben. Mit den Rundungen ist es bei ihr sicherlich vorbei. Ein Skelett. Sie trägt ein bequemes graues Tweedkostüm, das ihrer Figur jedoch nichts Molliges zu geben vermag. Dünnes Haar von unbestimmter Farbe, über einer ziemlich niedrigen, aber eigenwilligen Stirn nach hinten gekämmt. Breite Backenknochen, die ihr aus ich weiß nicht welchen Gründen etwas Grausames verleihen. Ein gelblicher Teint, nikotinverfärbte Zähne. Und aus all diesem Gelb blitzen zwei große blaue Augen hervor, die einmal sehr schön gewesen sein müssen, als Madame Murzec sich einen Mann einfangen wollte, dessen Witwe sie werden könnte. Denn sie ist bestimmt Witwe oder bestenfalls geschieden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mann länger als ein paar Jahre unter diesem unerbittlichen Blick leben könnte.
Die Stewardess muß weniger verwundbar sein als ich, denn weder die Augen noch die herrischen Winke Madame Murzecs – das ist der Name meiner Medusa – erreichen sie. Am Ende ruft Madame Murzec laut und schneidend: »Mademoiselle!«
»Bitte, Madame, Sie wünschen?« fragt die Stewardess, während sie sich endlich der Zwischenruferin zuwendet und sie friedfertig ansieht.
»Wir sitzen seit einer guten Stunde in dieser Maschine«, sagt Madame Murzec, »aber der Bordkommandant hat uns noch nicht begrüßt.«
»Ich vermute, daß der Lautsprecher nicht funktioniert«, sagt die Stewardess gelassen.
»Nun gut, dann müssen Sie eben die Bordinformation geben«, fährt Madame Murzec anklägerisch fort.
»Sie haben völlig recht, Madame«, sagt die Stewardess mit einer Höflichkeit, die durch ihre völlige Gleichgültigkeit Lügen gestraft wird. »Leider hatte ich das alles auf einem Zettel, und ich weiß nicht, wo ich den gelassen habe.«
Leicht schmollend fängt sie an, in den Taschen ihrer Uniform zu suchen, aber ohne Eile und ohne jegliche Überzeugung, als wäre sie von vornherein sicher, nichts zu finden. Ich lasse sie nicht aus den Augen, so entzückt bin ich von ihrem Mienenspiel.
Nichtsdestoweniger muß ich zugeben, daß Madame Murzec nicht ganz unrecht hat. In dieser Chartermaschine nach Madrapour behandelt man die Passagiere wirklich sehr lax.
»Und brauchen Sie einen Zettel für eine so einfache Information?« fragt Madame Murzec mit einer vor Sarkasmus zitternden Stimme.
»Aber sicher«, entgegnet die Stewardess. »Ich bin neu. Das ist mein erster Flug auf der Linie nach Madrapour. Da ist er ja!« fügt sie hinzu und zieht einen zusammengefalteten kleinen Zettel aus ihrer Tasche.
Sie betrachtet ihn einen Moment, als wäre sie selbst sehr erstaunt, ihn gefunden zu haben. Dann faltet sie ihn auseinander und liest mit eintöniger Stimme:
»Meine Damen, meine Herren, ich heiße Sie an Bord herzlich willkommen. Wir fliegen in einer Höhe von 11 000 Metern und mit einer Geschwindigkeit von 950 Stundenkilometern. Die Außentemperatur beträgt minus 50 Grad. Danke.«
Sie wiederholt die Information in ihrem zwitschernden Englisch, faltet den Zettel zusammen und steckt ihn wieder in ihre Tasche.
»Aber Mademoiselle, Ihre Bordinformation ist offenbar unvollständig!« sagt Madame Murzec entrüstet. »Es fehlen der Name des Bordkommandanten, Name und Typ der Maschine und vor allem die Zeit, wann wir in Athen zwischenlanden werden.«
Die Stewardess runzelt die Brauen.
»Ist es so wichtig, das alles zu wissen?« fragt sie seelenruhig.
»Aber gewiß, Mademoiselle«, sagt die Murzec wütend. »Auf jeden Fall ist es so üblich!«
»Tut mir leid«, sagt die Stewardess.
In Wirklichkeit zeigt ihr Gesicht kein Bedauern. Und je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr finde ich, daß die Stewardess recht hat. Als Madame Murzec in diese Welt kam – ohne Zweifel in sehr gute Kreise –, hat sie da nach der Identität des Schöpfers und nach der Zukunft des Planeten gefragt? Und selbst wenn: wäre es für sie von großem Vorteil gewesen, zu erfahren, daß der Bordkommandant Jehova und die Erde Erde hieß? Diese Art Wahrheit, meine ich, ist lediglich nominell.
»Dann stellen Sie diese Fragen in meinem Namen dem Bordkommandanten«, sagt Madame Murzec hochfahrend. »Und bringen Sie mir die Antworten.«
»Ja, Madame«, sagt die Stewardess, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.
Sie entfernt sich mit der Grazie eines Engels, nur daß ein Engel geschlechtslos ist. Sie geht auf den Vorhang zu, der vermutlich in die Bordküche und von dort ins Cockpit führt. Ich folge ihr mit den Augen, bis sie verschwindet.
»Das schnattert und schnattert, diese französischen Weibsbilder«, sagt der korpulente Amerikaner zu meiner Rechten in seinem schleppenden Englisch. Der nämliche, der mir auf ziemlich ungehobelte Art geraten hatte, »meine Moneten auszuspucken«. »Aber Sie verstehen natürlich alles, was die sagen«, fügt er hinzu.
»Wieso?« frage ich ohne sonderliche Liebenswürdigkeit.
»Weil Sie Dolmetscher bei der UNO sind. Nach dem, was ich mir habe sagen lassen, sprechen Sie an die fünfzehn Sprachen.«
Ich sehe ihn mißtrauisch an.
»Woher wissen Sie das?«
»Es ist mein Beruf, alles zu wissen«, sagt der Amerikaner und zwinkert mir zu.
Das auffälligste an ihm ist sein Haar. Es ist so frisiert, so storr und dicht, daß man meinen könnte, er trage einen Schutzhelm auf dem Schädel. Aber auch sein Gesicht ist nicht weniger abwehrend. Seine scharfen, inquisitorischen grauen Augen verbergen sich hinter dicken Gläsern. Die Nase ist kräftig, gebieterisch. Die Lippen öffnen sich über großen weißen Zähnen. Und das kantige Kinn springt hervor wie ein Schiffsbug – mit einem Grübchen in der Mitte, das nichts von diesem Eindruck mildert.
Der Mann scheint für den Lebenskampf so hervorragend gewappnet zu sein, daß es mich völlig überrascht, ihn jetzt, nachdem er mir zugezwinkert hat, entspannt lächeln zu sehen, was ihm wegen seiner aufgeworfenen Lippen ein biederes Aussehen verleiht. In seinem schleppenden Akzent sagt er mit einem herablassenden Kopfnicken und einer Vertraulichkeit, die mich verblüfft: »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sergius.«
Ich bleibe eisig, aber der Amerikaner scheint es nicht zu bemerken. Nach einer kurzen Pause fährt er fort: »Ich heiße Blavatski.«
Er sagt das mit einer gewissen wichtigtuerischen Miene und mit einem Blick, der komplizenhaft und forschend zugleich ist, so als ob er erwartete, daß ich ihn kenne.
»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mister Blavatski«, sage ich und betone bewußt das »Mister«.
Robbie, der junge Deutsche, der auf mich wie ein Homosexueller wirkt und der diese Szene voller Ironie beobachtet, lächelt mir verschwörerisch zu.
Ich mißtraue den Homosexuellen ein wenig. Ich frage mich immer, ob meine Häßlichkeit sie zu entmutigen vermag. Ich antworte Robbie mit einer etwas prüden Zurückhaltung, deren Sinn er sofort versteht und die ihn sehr zu belustigen scheint, denn seine hellbraunen Augen beginnen zu funkeln. Ich muß jedoch sagen, daß ich Robbie überaus sympathisch finde. Er ist so schön und so ganz feminin, daß man sehr gut verstehen kann, wenn er sich nicht für Frauen interessiert, da er ja eine in sich trägt. Dazu hat er einen lebhaften, scharfen, intelligenten Blick, den er nach allen Seiten sprühen läßt, wenngleich er unentwegt seinem Nachbarn, Manzoni, den Hof macht. Denn das tut er, und ohne jeglichen Erfolg, wie ich glaube.
»Mir ist der Name des Bordkommandanten schnuppe«, fährt Blavatski mit seiner schleppenden Stimme fort. »Aber ich möchte wissen, von welchem Typ die Maschine ist. Ich habe nie etwas Ähnliches gesehen. Es ist auf keinen Fall eine Boeing und auch keine DC 10. Ich habe mich schon gefragt, Sergius, ob es nicht Ihre Concorde ist.«
»Unsere Concorde«, unterbricht ihn ein etwa vierzigjähriger Franzose, der an meiner linken Seite sitzt (Blavatski sitzt an meiner rechten). Und als wollte er Blavatski zurechtweisen, fährt der Franzose bissig fort: »Nur die Motoren sind britisch. Die Concorde an sich ist französisch.«
Er spricht ein korrektes, gewähltes Englisch, und ich erfahre später, daß er Karamans oder Caramans heißt – ich weiß nicht, ob ich mich für ein K oder ein C entscheiden soll. Auf jeden Fall spricht er das »man« französisch aus.
»Eine Concorde ist es nicht, Mr. Blavatski«, sage ich in neutralem Ton. »Die Concorde ist viel enger.«
»Und sie fliegt auch nicht nur 950 Stundenkilometer«, fügt Caramans ironisch hinzu, als ob dies eine lächerliche Geschwindigkeit wäre.
»Jedenfalls sitzen wir in einem französischen Flugzeug«, sagt Blavatski, während er sich vorbeugt und Caramans herausfordernd ansieht. »Man braucht sich nur die völlig blödsinnige Anordnung der Sitze anzusehen. Dadurch geht mindestens die Hälfte Platz verloren. Die Franzosen haben nie die geringste Ahnung von der Rentabilität eines Flugzeugs gehabt.«
Caramans runzelt seine dichten schwarzen Brauen und sagt in schneidendem Ton, aber mit der größten Ruhe: »Ich hoffe für uns, daß wir tatsächlich in einem französischen Flugzeug sitzen. Es wäre mir nicht angenehm, wenn sich die Tür des Gepäckraumes mitten im Flug öffnete.«
Nach dieser hinterhältigen Anspielung vertieft sich Caramans mit verächtlichem Flunsch wieder in die Lektüre von Le Monde. Ich registriere seine besondere Art, gut gekleidet zu sein: alles liegt im Schnitt und im Stoff, nichts in der Farbe. Wie ich Caramans so gekleidet sehe und ihn sprechen höre, bin ich sogleich davon überzeugt, daß er das reinste Produkt eines bestimmten französischen Milieus ist. Er riecht meilenweit nach ENA2, Ecole Polytechnique oder Finanzinspektion. Mit etwas Phantasie könnte man beinahe sehen, wie sich hinter seiner Stirn mit cartesianischer Präzision surrend die gut geölten Räder seines Gehirns drehen. Und ich bin sicher, sobald er wieder den Mund aufmacht, werden die Begründungen und Fakten Punkt für Punkt völlig klar und in einer wohlausgewogenen, mit ruhiger Überlegenheit vorgetragenen Rede herauskommen.
»Dieser Franzose bringt mich zum …« Blavatski beugt sich zu mir und spricht mit leiser, aber deutlich hörbarer Stimme. »Und zum Beweis geh ich auf die Toilette.«
Daraufhin läßt er ein lautes Lachen hören, steht auf und steuert mit schweren und gleichzeitig elastischen Schritten auf das Heck der Maschine zu.
Caramans rührt sich nicht.
Sobald Blavatski verschwunden ist, durchquert ein kleiner, fetter, schmieriger, maßlos vulgärer Passagier hastig das Rund, setzt sich in den von Blavatski verlassenen Sessel, beugt sich zu mir und sagt leise auf englisch, während er sich seltsamerweise gleichzeitig an den zu meiner Linken sitzenden Caramans wendet: »Mr. Sergius, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, hüten Sie sich vor Blavatski. Er ist ein CIA-Agent.« Und in unterwürfigem Tonfall fügt er hinzu: »Mein Name ist Chrestopoulos. Ich bin Grieche.«
Ich antworte nicht. Es widerstrebt mir, irgendwelchen Kontakt mit einem Mann zu haben, der sich mir auf so indiskrete Art aufdrängt. Mehr noch: er ist mir lästig. Er riecht nach Knoblauch, Schweiß und einem billigen Parfum.
Aber Caramans reagiert anders. Er beugt sich seinerseits zu Chrestopoulos vor und fragt mit einer gewissen Gier und sehr leise: »Worauf gründen Sie Ihre Behauptung?«
Ich finde meine Position unbequem und lächerlich, weil sich die beiden zu meiner Rechten und zu meiner Linken sitzenden Männer in Höhe meines Magens miteinander unterhalten.
»Auf meine Intuition«, antwortet Chrestopoulos.
»Ihre Intuition?« Caramans nimmt mit verächtlichem Flunsch wieder seine sitzende Haltung ein.
Ich sehe Chrestopoulos’ Hängebacken zurückweichen. Auch er richtet sich wieder auf, sieht Caramans vorwurfsvoll an und sagt in seinem unbeholfenen, fehlerhaften Englisch mit großer Leidenschaftlichkeit:
»Machen Sie sich nicht über meine Intuition lustig. Wenn ich nicht gelernt hätte, die Leute auf den ersten Blick einzustufen, hätte ich nicht überlebt.«
»Und stufen Sie mich ebenfalls ein?« fragt Caramans mit seinem irritierenden Flunsch.
»Aber gewiß«, sagt Chrestopoulos. »Sie sind ein französischer Diplomat, der in offizieller Mission nach Madrapour reist.«
»Ich bin kein Diplomat«, sagt Caramans trocken.
Chrestopoulos lächelt mit verhaltenem Triumph, und auch ich bin sicher, daß er ins Schwarze getroffen hat. Caramans macht sich wieder an seine Lektüre von Le Monde, was Chrestopoulos jedoch nicht stört. Liebenswürdig sagt er:
»Ich habe Sie jedenfalls gewarnt. Dieser Kerl hat wahrscheinlich die Taschen voll Wanzen.«
»Ich habe Sie um nichts gebeten«, sagt Caramans mit spitzen Lippen, ohne von seiner Zeitung aufzublicken. »Was soll diese Warnung?«
»Ich erweise gern kleine Gefälligkeiten«, sagt Chrestopoulos, wobei ein breites Lächeln seine beiden Hängebacken auseinanderzieht. »Und gelegentlich lasse ich mir gern auch welche erweisen.«
Er hebt seinen dicken Hintern aus Blavatskis Sessel und geht an seinen Platz zurück, in eine Wolke von Knoblauchgeruch und Patschuli gehüllt.
Chrestopoulos und seine Bemerkungen sind vergessen: die Stewardess erscheint an der Tür zur Bordküche, das Wägelchen mit dem Abendbrot vor sich her schiebend. So ausgeglichen sie bisher war, so bleich ist sie jetzt, ihre Unterlippe zittert. Trotz meiner Bemühungen, ihren Blick aufzufangen, sieht sie nicht zu mir her. Auch sonst zu keinem.
Die Stewardess bleibt mit dem Wägelchen in der Mitte des Runds stehen und teilt die Tabletts aus. Sie werden in die Armlehnen der Sitze eingeklinkt, was ich nicht mag: ich komme mir wie ein Gefangener vor. Die Stewardess hat mit Blavatski zu meiner Rechten begonnen, ich werde also der letzte sein. Die Augen auf sie geheftet, erwarte ich mit Ungeduld, daß sie zu mir kommt, nicht weil ich Hunger habe – auf die im Flugzeug üblicherweise angebotenen Gerichte bin ich ohnehin nicht scharf –, sondern weil ich hoffe, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken und ihre Augen zu sehen. Als ihr Blick auf mein Tablett fällt, sage ich mit einem Nachdruck, der meiner Frage keineswegs angemessen ist: »Darf ich Sie um Salz bitten?«
Keinerlei Erfolg. Sie deutet mit dem Zeigefinger auf ein Papiertütchen, das auf meinem Tablett liegt, öffnet jedoch nicht den Mund und sieht mich auch nicht an. Ihr Gesicht ist dem meinen sehr nahe, und mir fällt erneut ihre Blässe auf. Ihre Lippen indes zittern nicht mehr. Es ist ihr gelungen, sie unter Kontrolle zu bekommen, aber statt dessen hat sich ihr ganzer Mund verkrampft.
Ich habe keine Zeit, etwas hinzuzufügen. Nachdem sie mich bedient hat, zieht sie eilig das Wägelchen weg und verschwindet hinter dem Vorhang der Bordküche. Die Schnelligkeit ihrer Bewegung läßt an eine überstürzte Flucht denken, und an dem Ausdruck, den daraufhin die unerträglichen blauen Augen und das gelbliche Gesicht von Madame Murzec annehmen, begreife ich, daß die Stewardess vor ihr oder vielmehr vor ihren Fragen flieht.
»Das kleine Luder hat mir nicht geantwortet«, sagt Madame Murzec mit einer Stimme, die vom übermäßigen Rauchen männlich geworden ist.
Sie scheint bei diesen Worten nicht die Zustimmung der anderen zu erheischen. Jedenfalls nicht die der Männer. Sie haßt das starke Geschlecht, das ist offensichtlich, und erwartet nichts Gutes von ihm, auf keinem Gebiet, auch nicht in den körperlichen Beziehungen, wo sie sich anscheinend seit langem für die Autarkie entschieden hat. Dagegen hätte sie es wohl nicht verschmäht, in dem Streit, den sie mit der Stewardess sucht, die Unterstützung der beiden gemeinsam reisenden vornehmen Damen zu finden, von denen die ältere neben ihr sitzt.
Obwohl die beiden Freundinnen sind, bilden sie kein Paar. Es sind eher zwei untröstliche Hälften, die durch die Witwenschaft einander nähergebracht wurden. Robbie, der Manzoni weiterhin beharrlich und ohne Aussicht auf Erfolg den Hof macht und dem kein Quentchen von dem entgeht, was um ihn herum geschieht, nennt die beiden außerhalb ihrer Hörweite die viudas.
Robbie, ein kleiner Polyglott, spricht außer Deutsch, seiner Muttersprache, Französisch, Englisch und Spanisch. Aber daß er das spanische Wort viuda statt des englischen widow, des deutschen Witwe oder des französischen veuve wählt, zeugt von der Empfindsamkeit und Raffinesse seines Sprachgefühls. Denn von allen diesen Wörtern ist das spanische viuda dem lateinischen vidua am nächsten und klingt am stärksten an das französische »vide« (leer) an.
Als ich Robbie später frage, warum er nicht auch Madame Murzec, die doch Witwe ist, den viudas zuordnet, sprühen seine schönen braunen Augen, und er sagt mit gewohnter Lebhaftigkeit, während er mit seinen beiden Händen auf ungewöhnliche Weise in Höhe seiner Schultern gestikuliert: »Aber nein, aber nein, nicht im entferntesten. Das ist nicht dasselbe. Bei ihr ist die Leere eine Berufung.«
Bei den viudas war das sicherlich nicht der Fall. Sie sind beide charmant, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Mrs. Boyd in der Art der alten, gebildeten, kosmopolitischen Amerikanerin; Mrs. Banister ist snobistisch und selbstsicher, mit sehr schönen Überbleibseln einer sportlichen Brünette – Überbleibsel, die vermutlich auch auf jüngere Männer als mich noch anziehend wirken.
Als Madame Murzec laut und demonstrativ ihre häßliche Bemerkung über die Stewardess macht, fange ich vielsagende Blicke zwischen Mrs. Boyd und Mrs. Banister auf. Ohne daß zwischen ihnen ein Wort fällt, sind sie sich darüber einig geworden, Madame Murzec nicht die Unterstützung zu gewähren, die sie unausgesprochen von ihnen erwartet.
Während ich diese kleinen Scharmützel beobachte, schlinge ich lustlos das Essen hinunter, zu dem eine fade Scheibe gefrosteter Hammelkeule gehört. Ich beeile mich. Ich habe die absurde Vorstellung, daß die Stewardess um so schneller wiederkommen wird, um abzuräumen, je schneller ich fertig bin.
Ich bin fertig. Ich warte, daß auch die anderen ihren Fraß hinuntergeschluckt haben, und mehr denn je fühle ich mich als Gefangener meines mit Abfällen beladenen Tabletts. Was für eine klägliche Bewirtung an Bord dieser Flugzeuge! Von Essen kann keine Rede sein, dieses Wort verdient der Vorgang nicht. Sagen wir, man tankt auf, so wie das Flugzeug.
Der Vorhang wird zurückgezogen, ohne daß ich die Hand der Stewardess sehe, das Wägelchen erscheint, und schließlich taucht sie selbst dahinter auf, die Augen gesenkt. Sie hat wieder Farbe bekommen, aber sie wirkt abwesend, von Unruhe gequält. Sie räumt mit mechanischen Handgriffen ab, ohne ein Lächeln, ohne ein Wort, als ob sie uns gar nicht wahrnähme. Mich überfällt ein jähes Gefühl von Kälte und Traurigkeit, als ich sehe, wie sie mein Tablett nimmt, ohne meiner Gegenwart mehr Aufmerksamkeit als einem leeren Sessel zu widmen.
»Mademoiselle«, sagt Madame Murzec unvermittelt mit ihrer gleichermaßen vornehmen wie krächzenden Stimme, »haben Sie die Antworten auf die Fragen, die Sie dem Bordkommandanten in meinem Namen stellen sollten?«
Die Stewardess fährt zusammen, ihre Hände zittern. Aber sie dreht sich nicht zu Madame Murzec um und sieht sie auch nicht an. Sie sagt benommen und tonlos: »Nein, Madame, es tut mir leid. Ich konnte Ihre Fragen nicht stellen.«