KAPITEL 7

Bestürzung, feiges Aufatmen, Scham, auch Mitleid, jedoch auf dem Hintergrund eines allzu raschen Sichabfindens: die »guten Gefühle« stellen sich ein, vermischt mit anderen.

Wir sind gewiß alle niedergeschmettert. Aber unser Mitleid ist ein wenig heuchlerisch, weil es unserer Passivität als Alibi dient.

Arme kleine Michou, sagt man sich, wenn sie jetzt sterben muß, hat sie so wenig gelebt, und das Leben hat ihr nur Trugbilder gebracht: diesen Mike, dieses Madrapour, diese Flugreise … Kurzum, man bedauert sie. Von ganzem Herzen, das jetzt so erleichtert ist.

Die allgemeine Bestürzung ist um so größer, als man den Inder nicht einmal hassen kann. Nicht er hat die Wahl getroffen. Und da er obendrein seine undurchdringliche Maske abgelegt hat, wird der Inder entgegen aller Erwartung menschlicher und verrät gleichsam ein Widerstreben. Seine ersten Worte gelten Michou, der er in einer Mischung von Bedauern und Vorwurf sagt:

»Sie hätten nicht so gleichgültig sein dürfen. Wenn Sie, anstatt sich herauszuhalten, gegen die Auslosung gestimmt hätten, wären sieben Stimmen dagegen und sieben dafür gewesen, und in diesem Falle hätte ich selbst entschieden, anstatt auf das Los zurückzugreifen.«

Mehr sagt er nicht, aber der Sachverhalt ist klar. Auf einen gebieterischen Blick hin übersetze ich. Ich weiß nicht, ob Michou wenigstens jetzt richtig versteht, was ihr Henker sagen will. Sie wirkt so verstört wie ein junger Vogel, der aus dem Nest gefallen ist.

Eine Locke in der Stirn, die hellbraunen Augen vor Erstaunen geweitet, fragt sie den Inder ungläubig: »Sie werden mich doch nicht umbringen?«

Ich übersetze. Und ohne ein Wort zu sagen, nickt der Inder mit ernstem Blick und verschlossener Miene.

»O nein, nein!« sagt Michou wie ein aufbegehrendes Kind, dann verbirgt sie das Gesicht in ihren Händen und fängt an zu schluchzen.

»Monsieur«, sagt Blavatski, »Sie werden doch nicht mit Kaltblütigkeit …«

»Schweigen Sie!« unterbricht ihn der Inder wütend und legt seine Waffe auf ihn an. »Ich habe diese leeren Worte satt. Bewahren Sie Ihre Kaltblütigkeit für sich selbst auf. Sie werden sie brauchen, wenn der BODEN meine Bitten nicht erhört. Im jetzigen Stadium verweigere ich jegliche Diskussion. Es sei denn«, fährt er fort, »daß einer von Ihnen bereit wäre, an Michous Stelle zu treten.«

Seine Worte lösen bei uns zwei Reflexbewegungen aus: erst wenden wir die Augen ab, dann richten wir sie auf Robbie. Er zuckt unter dem Ansturm unserer Blicke zusammen; den Kopf zurückgeworfen, läßt er seinen Blick über uns schweifen und sagt in schneidendem Ton:

»Wenn Sie an mich denken, irren Sie sich. Mein heroischer Moment ist vorbei. Man hat mir gesagt, ich solle das Schicksal der anderen teilen. Nun teile ich es. Und Gott allein weiß, ob es das der anderen ist.«

In das folgende Schweigen platzt Chrestopoulos hinein.

»Aber Sie haben sich doch schon freiwillig …«

»Eben«, sagt Robbie mit herausforderndem Narzißmus. »Wie alle echten Künstler wiederhole ich meine Auftritte nicht.«

»Es handelte sich also um einen ›Auftritt‹?« fragt die Murzec.

Aber Robbie fürchtet solche Angriffe nicht.

»Ja«, sagt er trocken, »um einen Auftritt, den jeder schaffen kann: Sie sollten es versuchen.«

»Ich verstehe natürlich Ihre Beweggründe«, fährt die Murzec mit einem schamlosen Blick auf Manzoni und Michou fort. »Sie haben keine Lust, das Leben einer Rivalin zu retten.«

»Madame, Sie sind niederträchtig!« sagt Manzoni.

»Ruhe! Ruhe!« schreit der Inder aufgebracht. »Ich habe dieses klägliche Gezänk satt. Wenn Sie nichts anderes zu tun haben, bringen Sie wenigstens soviel Schamgefühl auf, zu schweigen!«

Michou nimmt die Hände vom Gesicht, das von Tränen und Angst entstellt ist. Sie weint hemmungslos wie ein Kind, und ihren Lippen entweicht eine ununterbrochene Klage, die uns das Herz zerreißt.

»Seht mich nicht an!« sagt sie, an den Kreis gewendet, mit erstickter Stimme. »Ich will nicht, daß ihr mich anseht! Das ist schrecklich! Ich weiß, was ihr erwartet!«

Und wieder verbirgt sie das Gesicht schluchzend in ihren Händen. Mir ist die Kehle wie zugeschnürt, ich bin bis ins Innerste aufgewühlt und dennoch weit entfernt, den unermeßlichen Abgrund zu überspringen, der mich von der Selbstopferung trennt.

»Ich schlage vor«, sagt Pacaud tonlos, während ihm aus den hervorquellenden Augen Tränen über die puterroten Wangen rinnen, »daß wir eine neue Auslosung vornehmen, von der Michou ausgeschlossen bleibt.«

Der Inder schweigt, alle anderen schweigen auch. Niemand sieht Pacaud an.

»Was meinen Sie, Monsieur?« wendet er sich an den Inder.

»Nichts«, sagt der Inder. »Machen Sie das unter sich ab. Ich befasse mich damit nicht mehr.«

Angewidert setzt er sich neben Chrestopoulos auf seinen Platz und hält Pacaud den Turban hin, den dieser mit zitternden Händen ergreift.

»Wer ist mit einer neuen Auslosung einverstanden?« fragt Pacaud.

Alles bleibt stumm und blickt zu Boden, die Passagiere scheinen sich in steinerne Statuen zu verwandeln. Ich nicht weniger als die anderen. Das ganze große Mitleid verflüchtigt sich, wenn es zu handeln gilt. Alle schrecken davor zurück, noch einmal die grauenvollen Minuten zu durchleben, die der Bekanntgabe des Namens vorausgegangen waren. Wir haben unsere große Erleichterung kapitalisiert, wollen kein Risiko eingehen und akzeptieren Michous Tod uneingestanden, allein durch unser Schweigen, ein zweites Mal.

Verzweifelt wiederholt Pacaud seine Frage. Die Stewardess hebt die Hand: bleich, die Lippen aufeinandergepreßt. Mit ernstem Gesicht sieht sie mich an. Ich hebe ebenfalls die Hand. Nein, ich halte mir diese Geste nicht zugute, absolut nicht. Ich führe sie aus, um bei der Stewardess nicht an Ansehen zu verlieren, denn in diesem Augenblick spüre ich kein Mitleid mehr: die Angst vor einer neuen Auslosung hat es getötet.

Zu meinem großen Erstaunen hebt auch Blavatski die Hand; ich hätte ihm soviel Herz nicht zugetraut. Dann hebt Pacaud die Hand. Das ist alles.

»Robbie?« fragt Pacaud.

»Monsieur Pacaud«, sagt Caramans autoritär, »Sie dürfen auf die Leute keinen Druck ausüben, damit sie in Ihrem Sinne abstimmen.«

Robbie hebt das Kinn, sieht Pacaud mit hartem Blick ins Gesicht und sagt deutlich und herausfordernd: »Nein!«

Die Murzec lacht hämisch.

»Monsieur Manzoni?« fragt Pacaud weiter.

»Hören Sie, das ist unzulässig!« wiederholt Caramans.

Errötend und verwirrt deutet Manzoni ein Kopfschütteln an. Pacaud wendet sich Caramans zu.

»Und Sie?« fragt er schroff.

»Monsieur Pacaud!« schreit Caramans entrüstet. »Sie haben absolut kein Recht, Stimmen zu werben! Außerdem war ich von Anfang an gegen die Auslosung. Ich werde also nicht dafür stimmen, daß wir noch einmal von vorn beginnen. Das widerspräche meiner prinzipiellen Haltung.«

Und er schweigt, er glaubt sich berechtigt dazu. Vielleicht ist er es wirklich, wenigstens auf der Ebene der Logik.

Pacaud, dem immer noch die Tränen über die Wangen rinnen, sagt mit erstickter Stimme: »Ihr seid Feiglinge.«

Die Murzec nimmt den Handschuh sofort auf.

»Wir brauchen keine Moralpredigten von einem lasterhaften Menschen Ihres Schlages«, sagt sie zischend. »Und wenn Sie schon ein so mitleidiges Herz haben, warum treten Sie dann nicht freiwillig an Michous Stelle?«

»Aber ich … ich kann nicht«, sagt Pacaud entwaffnet. »Ich habe Frau und Kinder.«

»Eine Frau, die du mit falschen Gewichten betrügst«, sagt Bouchoix haßerfüllt.

Pacaud dreht sich wütend zu seinem Schwager um.

»Wenn du so schön redest, warum meldest du dich dann nicht freiwillig? Wo du ohnehin pausenlos davon sprichst, daß du nur noch ein Jahr zu leben hast …«

»Genau«, sagt Bouchoix mit einem kurzen eisigen Lachen.

Abgezehrt und leichenblaß, sieht er aus wie der leibhaftige Tod. Und nun erfahren wir, daß er tatsächlich bald in die Grube sinken wird. Verlegen wenden sich die Augen von ihm ab, als gehörte er einer anderen Gattung an und als ob nicht auch wir sterblich wären.

»Übrigens bist du im Verzug, Paul«, fährt Bouchoix fort, der sich über die Angst, die er uns einflößt, zu freuen scheint. »Jetzt ist es kein Jahr mehr, es sind noch sechs Monate. Deshalb habe ich es so eilig, nach Madrapour zu kommen!«

In diesem Augenblick verstummt Michous Schluchzen, sie hebt den Kopf; mit verstörtem Gesicht, aber ziemlich beherrscht fragt sie den Inder: »Wieviel Zeit habe ich noch?«

Der Inder schiebt den Jackenärmel hoch und erwidert nach spürbarem Zögern: »Zehn Minuten.«

Ich bin überzeugt, daß er lügt, daß das Ultimatum in Wirklichkeit schon abgelaufen ist und daß er Michou stillschweigend Aufschub gewährt. Er kann es sich erlauben, er ist jetzt unumschränkter Herrscher über die Zeit, da er ja als einziger eine Uhr besitzt.

»Darf ich mich während dieser zehn Minuten in die Touristenklasse zurückziehen?« fragt Michou, deren Stimme nicht mehr zittert.

»Ja«, erwidert der Inder ohne Zögern.

»Mit Manzoni?«

Der Inder runzelt die Brauen.

»Wenn Signor Manzoni einverstanden ist«, sagt er, jetzt wieder übertrieben höflich.

Manzoni nickt zustimmend. Sein schöner Römerkopf ist bleich und starr. Er scheint unfähig zu sein, ein einziges Wort hervorzubringen. Michou steht auf, nimmt Manzoni an der Hand und zieht ihn wie ein Kind, das mit seinem Spielgefährten außer Sichtweite der Erwachsenen spielen will, hinter sich her. Sie durchqueren eilig den Kreis, wobei Manzoni in ihrem Schlepptau unverhältnismäßig groß wirkt. Der Vorhang zur Touristenklasse fällt hinter ihnen. Und von Michou bleibt nichts zurück als der Kriminalroman, den sie in ihrer Hast hatte fallen lassen, ohne ihn wieder aufzuheben. Mikes Foto war herausgerutscht und mit dem Gesicht nach unten liegengeblieben.

Der Inder steht auf und spricht leise mit seiner Assistentin, die sofort den Kreis durchquert und an der Schwelle zur Touristenklasse Posten bezieht. Sie zieht den Vorhang nicht zurück, sondern schiebt ihn nur in Augenhöhe ein wenig beiseite.

Das Schweigen im Kreis dauert an, aber mit einer neuen Nuance. Wir sind fassungslos. Niemand versteht, daß Michou, die eben noch verzweifelt schluchzte, eine solche Entscheidung treffen konnte. Das Eindringen eines sinnlichen Elements in den Ernst der Stunde mißfällt und schockiert uns. Um es hart auszudrücken, aber durchaus unseren Empfindungen entsprechend: Uns scheint, daß Michou aus der Rolle gefallen ist.

Doch niemand, nicht einmal Caramans, hat ein hinreichend reines Gewissen, um sich eine solche Bemerkung zu erlauben. Und schließlich sind wir Robbie fast dankbar, daß er für eine Ablenkung sorgt.

»Darf ich das Buch aufheben?« fragt er den Inder auf englisch.

»Bitte«, sagt der Inder.

Robbie bückt sich, hebt den Kriminalroman und Mikes Foto auf, schiebt das Foto zwischen die Buchseiten und legt alles zusammen auf Michous leeren Sessel. Man ist versucht zu glauben, daß er aus Feingefühl gehandelt hat – um Michou eine gewisse Verlegenheit zu ersparen, wenn sie an ihren Platz zurückkehrt –, als er sich plötzlich eines anderen besinnt, das Foto aus dem Buch zieht und es völlig ungeniert und eingehend betrachtet.

»Gefällt Ihnen Mike?« fragt die Murzec ein wenig hämisch.

Robbie reagiert nicht, sondern setzt seine Betrachtung fort, dann hebt er den Kopf, sieht mich an und sagt auf deutsch: »Er ist ein schöner Mann, aber … ›Ich fühle nicht die Spur von einem Geist.‹ Nein, übersetzen Sie nicht, Mr. Sergius, das wäre sinnlos. Einen Vers von Goethe zu übersetzen hieße unter den gegebenen Umständen, Perlen vor die Säue zu werfen. Wie wir wissen, sind manche Leute für die Feinheiten der Psychologie völlig unempfänglich.«

Er legt das Foto in das Buch zurück und nimmt mit leicht überheblicher Miene, als hätte er sich durch das Goethezitat einen weiteren Stern auf den Schulterstücken einer Uniform verdient, wieder seine ursprüngliche Position ein: Hände auf den Seitenlehnen.

Erneut breitet sich Schweigen aus.

»Würden Sie mir eine Bemerkung gestatten?« fragt Blavatski.

Der Inder stößt einen leisen Seufzer aus. Seit Michous Name ausgelost worden ist, haben seine Persönlichkeit, seine Haltung oder vielleicht nur seine Position an Bord eine gewisse Veränderung erfahren. Er beherrscht das Flugzeug nicht mehr. Er scheint beinahe selbst beherrscht zu werden. Obwohl er noch immer Herr über unser Leben, unsere Worte, unseren Besitz und über die geringste unserer Bewegungen ist, hat sich der Abstand zwischen ihm und uns verringert, und zwar in dem Maße, wie offensichtlich wird, daß er, der mit uns in dasselbe Abenteuer verstrickt ist, das weitere Geschehen ebensowenig unter Kontrolle hat wie wir.

Während die Zeit verstreicht (ich bin sicher, daß die Frist von einer Stunde, die er dem BODEN gestellt hat, schon abgelaufen ist), muß er trotz der Macht, die ihm über uns zu Gebote steht, seine Ohnmacht gegenüber dem BODEN erkennen. Daher unser Eindruck, daß er seit der Auslosung nicht mehr im vollen Besitz seiner Autorität, nicht mehr so gegenwärtig ist und seine Fähigkeit, andere zu beherrschen, nicht mehr wie zuvor einsetzt.

»Sprechen Sie, Mr. Blavatski«, sagt er mit einer gewissen Müdigkeit.

»Nehmen wir an, die Stunde wäre um – falls sie es nicht schon ist.« Blavatskis Augen funkeln hinter den Brillengläsern. »Was geschieht? Sie bleiben bei Ihrem Vorsatz und richten dieses junge Mädchen hin. Aber ein Flugzeug, ich darf Sie daran erinnern, ist ein hermetisch abgeschlossener Raum. Erste Frage: was machen Sie mit der Leiche?«

»Ich lehne es ab, darüber zu diskutieren«, sagt der Inder, aber ohne Schärfe und ohne Blavatski das Wort zu entziehen.

Er scheint ihn sogar zum Weitersprechen zu ermutigen.

»Gut, denken wir uns die Geschichte weiter«, fährt Blavatski fort. »Nach dieser ersten Hinrichtung erneuern Sie Ihr Ultimatum an den BODEN. Und der BODEN, sei es, daß er Sie nicht hört oder daß er Sie hört, aber Ihren Forderungen nicht nachkommen will, läßt das Flugzeug auch nach der zweiten Stunde nicht landen. Sie richten also eine zweite Person hin, und ihr Leichnam kommt zu dem des jungen Mädchens – sagen wir, um eine gewisse Form zu wahren, nebenan, unseren Blicken entzogen. Wenn der BODEN dann Ihrem Ersuchen gegenüber weiterhin taub bleibt, steht der Fortsetzung dieses verhängnisvollen Vorgangs nichts im Wege, und die Touristenklasse wird gleichsam zur Leichenkammer für die vierzehn Passagiere dieses Flugzeugs. Sie und Ihre Assistentin werden am Ende die einzigen Überlebenden inmitten dieses Leichenhaufens sein. Und an unserem Ziel, welches es auch sein mag, werden Sie wegen dieses Massakers unweigerlich verhaftet und unter Anklage gestellt werden.«

Der Inder hört der makabren Schilderung Blavatskis ohne die geringste Gefühlsäußerung zu. Dann sieht er erneut auf seine Uhr, aber sehr diskret, wie schon zuvor. Seltsamerweise bringt Blavatskis Analyse ihn nicht in Verlegenheit, sondern scheint ihm sogar seine Sicherheit wiederzugeben. Und er sagt in völlig ruhigem Ton:

»Ihre Prognose, Mr. Blavatski, geht von falschen Voraussetzungen aus. Sie beruht auf zwei Prämissen: erstens, daß der BODEN den Passagieren kein Wohlwollen entgegenbringt; und zweitens, daß meine Forderungen an den BODEN maßlos sind.«

»Ich bin gern bereit, über diese Prämissen zu diskutieren«, sagt Blavatski.

»Aber es gibt da nichts zu diskutieren, Mr. Blavatski!« Der Inder fällt wieder in seine beißende Ironie zurück. »Das Wohlwollen des BODENS ist eine Unbekannte! Das spätere Schicksal der Passagiere ebenfalls! Überhaupt, schon dieses Wort: die Passagiere – wie zweideutig! Und wie gut dieses Wort das Prekäre und Provisorische Ihrer Lage wiedergibt!«

Er läßt seinen Blick über den Kreis schweifen und verleiht ihm plötzlich, was er schon lange nicht getan hatte, die größte Intensität. Die Wirkung zeigt sich sofort. Mich packt eine Angst, die vielleicht schlimmer ist als die Todesangst, denn sie bleibt vage, diffus, gegenstandslos und ist doch so stark und verfänglich, daß sie mich von Kopf bis Fuß erschauern macht. Ein gräßlicher Augenblick. Ich vermag meine Empfindung nur mit diesem subjektiven Bestimmungswort zu umschreiben. Sie hat keine erkennbare Ursache, höchstens die Art, wie der Inder das Wort »Passagiere« ausgesprochen hat, und die semantische Bedeutung, die er ihm gab.

»Gut«, sagt Blavatski, und ich sehe ihn hinter dem Schutzschild seiner Brille blinzeln, »kommen wir zur zweiten Prämisse: über die Forderungen, die Sie an den BODEN gerichtet haben, sind Sie gewiß besser im Bilde.«

»Meine Forderungen«, sagt der Inder mit kurzem Auflachen, »sind keineswegs maßlos! Entgegen Ihren möglichen Mutmaßungen verlangen sie dem BODEN keine Zugeständnisse ab! Weder die Freilassung politischer Häftlinge noch die Zahlung eines Lösegeldes.« Er setzt mit eigenartigem Lächeln hinzu: »In Wirklichkeit verlange ich die Wiedergutmachung eines Irrtums. Denn meine Assistentin und ich, wir befinden uns selbstverständlich auf Grund eines Irrtums an Bord dieser Maschine.«

»Auf Grund eines Irrtums!« ruft Caramans aus. »Wie soll ich das verstehen?«

»Aber ja«, sagt der Inder. »Wie konnten Sie, Monsieur Caramans, der Sie doch die personifizierte Logik sind, wie konnten Sie auch nur einen Augenblick lang annehmen, daß ich mich dorthin begeben wollte, wohin Sie zu fliegen glauben? Ich, der ich von der Nichtexistenz Madrapours überzeugt bin?«

»Dorthin, wohin wir zu fliegen glauben?« Caramans’ Lippe zittert so, daß er nicht einmal seinen Flunsch ziehen kann. »Aber sofern keine neue Order kommt, fliegen wir doch nach Madrapour! Ich lehne jede andere Hypothese ab!«

Der Inder zuckt die Brauen und lächelt wortlos mit der geduldigen Miene eines Erwachsenen vor einem starrsinnigen Kind. Und ich muß zugeben, daß Caramans’ sehr bestimmter Ton zumindest in meinen Ohren unecht geklungen hat.

Der Inder sieht abermals auf seine Uhr, jedoch keineswegs ungeduldig oder fiebernd: offenbar könnte der stillschweigende Aufschub, den er Michou gewährt, jetzt anstandslos verlängert werden. Wie es scheint, hat ihn die Diskussion mit Blavatski in seiner Zuversicht bestärkt, daß der BODEN auf sein Ultimatum eingehen werde. Dabei sind die einzig neuen Elemente, welche die kurze Debatte enthüllt hat – seine irrtümliche Anwesenheit an Bord, die Bescheidenheit seiner Forderungen –, lediglich für uns überraschend. Für ihn ist das alles nicht neu und auch nicht dazu angetan, ihm wirklich Gewißheit über den Erfolg seiner Unternehmung zu verschaffen.

Seine Zuversicht mindert deshalb auch nicht die Spannung in unserem Kreis. Blavatskis Hypothese vom weiteren Ablauf des Geschehens, die den Inder gar nicht berührte, hat uns allen das Blut in den Adern erstarren lassen. Nach und nach dringt uns der Gedanke ins Bewußtsein, daß Michous Tod letztendlich auch zu unserem eigenen Grabgeläute werden könnte.

So vergehen zwei oder drei lange Minuten, ohne daß auf der einen oder anderen Seite ein Wort fällt. Dann hebt der Inder den Kopf und fragt seine Assistentin auf Hindi: »Na, wie weit sind sie?«

Sie wendet ihm ein vor Verachtung verzerrtes Gesicht zu und sagt auf Hindi ein einziges Wort, das ich nicht verstehe, dessen Bedeutung aber von ihrem Antlitz abzulesen ist. Ebenfalls auf Hindi fügt sie hinzu: »Die Europäerinnen sind Hündinnen.«

Das mißfällt dem Inder. Er zuckt hochmütig die Brauen und sagt zu ihr, als wollte er sie an eine unverrückbare Wahrheit erinnern: »Alle Frauen sind Hündinnen.«

»Ich bin keine Hündin«, sagt die Assistentin und richtet sich hoheitsvoll auf.

Der Inder läßt seinen ironisch funkelnden Blick über sie gleiten.

»Was würdest du tun, wenn du in wenigen Minuten sterben müßtest?«

»Ich würde meditieren.«

»Worüber?«

»Über den Tod.«

Der Inder sieht sie an, als wäre er von ihr durch die Weisheit von Jahrhunderten getrennt, und sagt mit ernster Stimme: »Die körperliche Liebe ist auch eine Meditation über den Tod.«

In diesem Moment erhascht die Assistentin meinen Blick, der auf ihr ruht, und sagt wütend: »Paß auf, dieses Schwein mit dem Affengesicht versteht Hindi.«

Der Inder wendet sich mir zu.

»Sie dürfen mir glauben«, sagt er auf englisch, und seine dunklen Augen funkeln jäh, »daß ich die Beschreibung, die meine Assistentin von Ihnen gibt, nicht billige.«

Sein Blick verweilt auf mir mit komplizenhaftem Lächeln. Seit er mich in flagranti beim Mogeln überraschte, hat er die feindselige Haltung mir gegenüber aufgegeben. Seine Augen funkeln erneut. Völlig gelassen, als ob die verrinnenden Minuten nicht mehr zählten, und mit einer – für sein Teil überraschenden – Vertraulichkeit fährt er auf englisch fort: »Meine Assistentin ist viel zu fanatisch: sie liebt den Haß.«

»Ha!« schreit die Assistentin, und ihr üppiger Busen wogt, als ob sie keine Luft bekäme.

Den Arm ausgestreckt, den Finger auf einen bestimmten Punkt gerichtet, öffnet sie den Mund, ohne daß ein Laut über ihre Lippen kommt.

»Was ist?« fragt der Inder schneidend.

Und die Zunge der Assistentin scheint sich plötzlich zu lösen. Sie schreit, den Zeigefinger noch immer auf jenen Punkt gerichtet, in wahnsinniger Erregung: »Sieh mal! Sieh mal! Da ist etwas! Dort! Dort!«

Der Inder dreht sich um, und ich sehe nach oben. Beiderseits des Vorhangs zur Pantry verkünden die Leuchttafeln an der Wand in zwei Sprachen auf die friedlichste Weise der Welt, so als handelte es sich um eine normale Zwischenlandung:

 

BITTE ANSCHNALLEN!

FASTEN YOUR SEAT BELTS!

 

Seltsamerweise provoziert diese Ankündigung keinerlei Wortwechsel unter uns, und ich entdecke auf den verkrampften Gesichtern meiner Reisegefährten nicht das geringste Anzeichen einer Erleichterung. Es will uns vorerst noch nicht gelingen, wieder Mut zu fassen und die Resignation abzustreifen. Dabei steht außer Zweifel, daß der Inder, der weder ein Lösegeld noch die Freilassung von Gefangenen gefordert hat, das Flugzeug ohne größere Probleme verlassen wird und daß Michou am Leben bleibt. Der Flug wird also fortan seinen normalen Verlauf nehmen können. Doch obwohl sich alles zum Guten zu wenden scheint, bleiben wir mißtrauisch dem Schicksal gegenüber wie auch unserem Reiseziel.

Die Stewardess bricht als erste das Schweigen. Sie sagt mit berufsmäßiger Routine, nach Normalisierung der Lage gleichsam ihre Rechte an Bord wieder wahrnehmend: »Schnallen Sie sich bitte fest.« Und sie wiederholt in ihrem zwitschernden Englisch: “Please, fasten your seat belts.”

Ich gehorche. Ich verhake die Metallteile der Schnalle ineinander. Es klickt, und dieses Klicken gibt mir ganz plötzlich die Empfindung, wieder in die Realität hineinzugleiten.

Mrs. Boyd muß die gleiche Empfindung haben, denn ihr rundes Gesicht bekommt einen rosa Hauch, sie beugt sich zu Mrs. Banister und sagt leise mit einem Seufzer: »Gott sei Dank, dieser Alptraum ist zu Ende.«

Der Inder hört es, und als ob ihn dieser Optimismus ärgerte, sagt er streng: »Er ist für mich zu Ende. Für Sie aber, die Sie an das Rad der Zeit gekettet bleiben, geht er weiter.«

Er beläßt es bei diesen Worten, und niemand hat Lust, ihn um eine Erklärung zu bitten – am allerwenigsten Mrs. Boyd. Im übrigen erachtet man im Flugzeug die Zeitspanne zwischen dem Anschnallen und der Berührung mit dem Boden als geringfügig, weil sie mit dem ängstlichen Warten auf die Landung ausgefüllt ist.

Der Inder beugt sich vor und befiehlt seiner Assistentin auf Hindi, das Paar zurückzurufen. Sie tut es ohne die geringste Diskretion, indem sie den Vorhang zur Touristenklasse brutal aufzieht und ihre rücksichtslose Geste mit kehligen Lauten begleitet.

Manzoni erscheint als erster (ohne Zweifel hat er weniger in Ordnung zu bringen). Die Assistentin, die den Revolver auf ihn gerichtet hält, weicht angewidert zurück, als fürchtete sie, von ihm gestreift zu werden. Aber Manzoni bleibt auf der Schwelle stehen, ich möchte beinahe sagen: er pflanzt sich dort auf, groß, wohlproportioniert, widersinnig elegant in seinem weißen Anzug und die Krawatte mit solcher Sorgfalt zurechtrückend, als hinge die Zukunft der Welt davon ab. Sicher bleibt er dort stehen, um auf Michou zu warten oder um sie so lange vor unseren Blicken zu schützen, bis sie ihre Kleider wieder in Ordnung gebracht hat. Doch während er uns mit seinen etwas ausdruckslosen Augen des verwöhnten Kindes (erst von seiner Mutter verwöhnt, dann von so vielen Frauen) gegenübersteht, entdecke ich auf seinem Gesicht einen Widerspruch: Trotz der männlichen Züge seines Römerkopfes wirkt das Gesicht insgesamt weichlich.

Er sieht den Inder an und sagt auf ziemlich theatralische Weise, sehr deutlich, aber in lispelndem Englisch: »Und wenn Sie jetzt jemanden hinrichten müssen, will ich es sein.«

Seine Ankündigung löst Lächeln aus, hier und da sogar Gelächter. Die Murzec stürzt sich auf die Beute.

»Monsieur Manzoni«, sagt sie mit pfeifender Stimme, »schade, daß Sie in der Touristenklasse die Leuchtschrift gelesen haben. Sonst wären Sie für uns ohne Zweifel ein Held!«

»Aber ich habe ja überhaupt nichts gelesen!« sagt Manzoni so gequält, daß ich ihn für aufrichtig halte.

Und dennoch stelle ich später fest, daß niemand im Kreis ihm glauben wollte, er hätte den Mut gehabt – mit seiner Pose, seiner Rhetorik und seinem Lispeln –, an Michous Stelle zu treten.

Michou taucht auf, eine Locke im Gesicht, die Augen gesenkt. Sie geht an Manzoni vorbei, als sähe sie ihn nicht, durchquert wie ein Automat den linken Halbkreis, setzt sich steif auf ihren Platz, schnallt den Gurt fest, schlägt ohne einen Blick, ohne ein Wort ihr Buch auf und liest oder tut so, als würde sie lesen. Ganz offensichtlich hat sie die Leuchtschrift gesehen – was Manzoni zu Unrecht, wie ich glaube, zusätzlich Lügen straft.

»Wollen Sie sich nicht setzen, Madame?« fragt die Stewardess die Inderin, die vor dem Vorhang zur Touristenklasse stehengeblieben ist. »Manchmal setzen die Maschinen ein wenig hart auf.«

Ich übersetze. Keine Antwort. Nur ein niederschmetternder, verächtlicher Blick. Erst an meine Adresse, dann an die der Stewardess.

»Wollen Sie bitte meine Assistentin entschuldigen«, sagt der Inder in jenem höflichen Tonfall, hinter dem sich immer ein gewisser Spott zu verbergen scheint. »Sie ist mit der Überwachung beauftragt. Mr. Chrestopoulos blutet noch immer das Herz wegen seiner Ringe, und Mr. Blavatski hat seinen Revolver nicht verschmerzt.«

»Sie könnten ihn mir wiedergeben, wenn Sie das Flugzeug verlassen«, sagt Blavatski mit gelassener Dreistigkeit.

»Auf keinen Fall.«

»Nur den Revolver«, sagt Blavatski. »Ohne das Magazin, wenn Sie befürchten, daß ich auf Sie schieße.«

»Bitte keine Western, Mr. Blavatski!« sagt der Inder und fügt mit charmantem Lächeln, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet, hinzu: »Sie brauchen keine Waffe. Sie haben Ihre Dialektik.«

Daraufhin befestigt er wie wir alle seinen Gurt und wartet, die mit unsern Wertsachen vollgestopfte Tasche zu seinen Füßen, die Beine übereinandergeschlagen – nicht aus der Ruhe zu bringen, gentlemanly. Zugleich wirkt er jetzt irgendwie sehr distanziert, als wäre er gar nicht mehr mit uns zusammen und könnte uns nicht gestatten, das Wort an ihn zu richten.

Wir indessen sind endlich wieder ganz beruhigt und nisten uns mit jeder Minute tiefer im Kokon des Alltäglichen ein. Wir warten, jeder für sich, besonnen, ruhig, wohlerzogen, an unsere Sessel geschnallt und Speichel schluckend, um den Druck in den Ohren zu verringern; die kleine Angst bei der Landung verdrängt jene andere, die an unsere Existenz gebunden ist. Mrs. Boyd lutscht einen Bonbon, Mrs. Banister gähnt hinter der vorgehaltenen Hand. Chrestopoulos macht sich unter seinem dichten Schnurrbart mit einem Zahnstocher zu schaffen. Bouchoix fingert an seinen Spielkarten. Michou, die Manzoni die kalte Schulter zeigt, liest wieder ihren bluttriefenden Roman.

Kurzum: wenn man uns sieht, ist offenbar nichts geschehen. Es gab keine Flugzeugentführung, keine Auslosung und erst recht kein Sühneopfer, der Gottheit auf dem Tablett dargeboten. Gewiß, wir mußten einen Teil unseres Besitzes als Ballast abwerfen, aber mit Ausnahme von Madame Edmonde und Chrestopoulos, die sehr am äußeren Flitter hängen, sind alle froh, so gut davonzukommen – die Punktion war nicht viel schmerzhafter als eine Steuernachzahlung. Der Alptraum ist zu Ende, wie Mrs. Boyd so treffend sagte. Und ich möchte wetten, daß unsere viudas – die vorübergehend auch ihrem Vier-Sterne-Hotel nachtrauern mußten – ebendieses Hotel in Gedanken schon wieder vor sich sehen, die nach Süden gelegenen Luxuszimmer und die privaten Terrassen mit Blick auf einen See.

 

Dennoch tritt während dieser trügerischen Rückkehr zur Normalität ein wichtiges Ereignis ein. Madame Murzec provoziert den Kreis ein weiteres Mal, und der Kreis stößt sie endgültig ab. Ich gebrauche dieses Verb buchstäblich in dem Sinne, wie es in der Biologie Verwendung findet, wo man von einem Organismus sagt, daß er einen Fremdkörper abstößt.

Gewiß, wir haben alle unsere Gründe, gegen die Murzec Groll zu hegen. Ich zum Beispiel kann ihr nicht verzeihen, daß sie mir unterstellen wollte, ich hätte meinen Namen ausgelassen, als ich die Lose schrieb. Ganz ehrlich: ich verabscheue sie, auch ihr Äußeres. Ich kann den Anblick ihrer breiten Backenknochen, ihrer blauen Augen und dieses gelblichen Teints nicht ertragen. Und ich gestehe ohne Umschweife, daß ich im entscheidenden Augenblick zu denen gehörte, die Zeter und Mordio gegen sie schrien.

Trotzdem möchte ich gerechtigkeitshalber sagen, daß die Murzec bei allem, was sie ständig an uns auszusetzen hat, im Grunde fast niemals im Unrecht ist.

Ich will nur ein Beispiel nennen. Wenn sie Robbie, der das Foto von Michous Freund betrachtet, fragt: Gefällt Ihnen Mike?, so ist das zwar eine Gemeinheit, aber ein Anlaß dafür ist gegeben, denn sie bestraft eine Taktlosigkeit. Wie kommt es aber, daß der Kreis nicht Robbies Indiskretion im Gedächtnis behält, sondern die Bemerkung der Murzec?

Vielleicht liegt es daran: der Kreis hat sich binnen kurzer Zeit heimliche Regeln auferlegt, deren augenfälligste das Schweigen ist. So wissen wir sehr wohl, daß Madame Edmonde dies und Pacaud jenes ist, auch wie es um Robbie bestellt ist. Aber wir haben diese Tatsachen in unserem Gedächtnis gleichsam ausradiert und erwarten für uns und unsere Schwächen einen Gedächtnisschwund der anderen.

Madame Murzec spielt dieses Spiel nicht mit. Sie verstößt gegen die Regel. Ihre Fieberhaftigkeit, ihr unruhiges Wesen treiben sie dazu, beständig den Bodensatz des Gefäßes aufzuwühlen, aus dem wir trinken.

Wenn ich darüber nachdenke, bin ich sicher, daß sie in dem Augenblick kurz vor der Landung einfach nicht mit ansehen konnte, wie wir nach dem Anschnallen so scheinheilig dasaßen, ganz dem Vergessen und der moralischen Bequemlichkeit hingegeben. Daher ihr brutaler Angriff. Und gegen wen? Raten Sie doch! Wie ich es selbst hätte erraten müssen! Über wen kann die Murzec in diesem Augenblick nur herfallen, um uns zu schockieren und unsere Nerven einer Zerreißprobe auszusetzen und uns zum Zähneknirschen zu bringen? Über wen, wenn nicht Michou?

»Mademoiselle, ich muß schon sagen, ich bin erstaunt zu sehen, wie Sie die erstbeste Gelegenheit wahrnehmen, sich einem gewöhnlichen Schönling zwischen die Beine zu werfen, gerade Sie, die Sie doch vorgeben, Ihren Verlobten zu lieben«, sagt sie plötzlich mit pfeifender Stimme und schleudert gegen Michou einen eiskalten Blick. »Und das beinahe vor aller Augen, auf einem Sessel der Touristenklasse, die aber wohl der angemessene Ort für diese Art wohlfeiler Liebe ist, sofern ich das Wort Liebe beschmutzen darf, indem ich damit die Übung bezeichne, der Sie sich zusammen mit einem Mann hingaben, den Sie heute morgen noch nicht einmal kannten!«

Michou zittert unter der Wucht dieses Angriffs, als hätte man sie geohrfeigt. Dann wird sie blaß, ihre Lippen erschlaffen, und die Tränen stürzen aus ihren Augen. Gleichzeitig öffnet sie den Mund, um zu antworten, aber sie kommt nicht dazu. Mit rotem Schädel und hervorquellenden Augen ist ihr Pacaud bereits zu Hilfe geeilt.

»Sie Giftschlange, Sie«, sagt er und wirft der Murzec wütende Blicke zu, »lassen Sie die Kleine in Ruhe, und lassen Sie sich das ein für allemal gesagt sein!«

Pacauds Ausbruch wirkt auf den Kreis wie eine Zündladung. Von allen Seiten hagelt es auf die Murzec nieder.

»Sie sollten begreifen, Madame, daß wir Sie und Ihre Reden jetzt wirklich satt haben!« sagt Blavatski schließlich, dessen Stimme den Tumult übertönt. »Schweigen Sie also! Das ist alles, was wir von Ihnen verlangen!«

Alle stimmen ihm zu durch Gesten, Worte, Mienenspiel, sogar die Stewardess. Nur der Inder hält sich von der Szene fern, die er zwar aufmerksam, aber mit Distanz beobachtet, so als spielte sie sich in einer Welt ab, der er nicht mehr angehört.

Hätte die Murzec in diesem Augenblick geschwiegen, wäre die Angelegenheit wohl erledigt gewesen. Aber die Murzec ist mutig, sie stellt sich der Meute entgegen, sie zahlt jeden Schlag heim, und der Streit nimmt wieder einen wütenden Verlauf und spült, wie so oft bei ernsten Auseinandersetzungen, läppische Sticheleien und unglaubliche Albernheiten an die Oberfläche.

Die Augen auf Blavatski gerichtet, schleudert die Murzec Blitze und schreit gellend, dabei aber resolut:

»Monsieur Blavatski, Sie bilden sich wohl ein, hier das große Wort führen zu können, bloß weil Sie Amerikaner sind! Ich habe aber ein Recht auf meine Meinung, und niemand wird mich zum Schweigen bringen.«

»Oh, doch«, sagt Pacaud, völlig außer sich. »Ich! Nötigenfalls durch ein paar Ohrfeigen!«

»Sie sind hier nicht bei Madame Edmonde«, sagt die Murzec mit einem kurzen Grinsen. »Und ich bin kein falsches Gewicht!«

»Madame!« brüllt Pacaud.

»Oh, bitte nicht so laut! Ich durchschaue alles, und das stört Sie!«

Robbie stürzt sich mit rächender Stimme ins Getümmel. »Sie durchschauen alles – wie wahr! Bornierte Leute verstehen immer alles, aber nur zur Hälfte.«

Die Murzec grinst.

»Es steht Ihnen gut zu Gesicht, von Hälfte zu sprechen, wo Sie nur ein halber Mann sind!«

»Madame, meinetwegen können Sie von Ihren Reisegefährten denken, was Sie wollen«, wendet sich Caramans zum erstenmal direkt an Madame Murzec, »aber Sie sind nicht gezwungen, es ihnen zu sagen.«

»Was wollen Sie? Ich bin nur offen. Ich habe zum Beten nicht heucheln gelernt.«

Caramans macht seinen Flunsch und schweigt.

»Es geht nicht um Offenheit, sondern um ein Minimum an guter Erziehung«, sagt Blavatski.

»Ein Beispiel für dieses Minimum an guter Erziehung: Das Handgepäck eines Reisegefährten durchsuchen, wenn er auf der Toilette ist«, sagt die Murzec, kurz auflachend.

Chrestopoulos fährt auf und wirft Blavatski einen wütenden und zugleich erschreckten Blick zu.

»Madame!« sagt Blavatski entrüstet. »Sie sind einfach bösartig, das ist die Wahrheit.«

»Die Wahrheit der Western: die Guten und die Bösen. Und am Ende massakrieren die Guten die Bösen. Wenn das Ihre Moral ist, behalten Sie sie für sich.«

An diesem Punkt sehe ich den Inder lächeln, aber so flüchtig und diskret, daß ich hinterher fast zweifle, ob sich seine starren Züge wirklich belebt haben. Im übrigen finde ich selbst, daß Blavatski die Dinge zu sehr vereinfacht, und ich beschließe, auf Gedeih und Verderb einzugreifen, denn die Murzec streckt ihre Krallen nach allen Seiten aus, ohne jemand zu verschonen.

»Bösartig oder nicht«, sage ich, »jedenfalls scheinen Sie Ihresgleichen nicht sehr zu lieben.«

»Doch«, sagt sie, »aber unter der Voraussetzung, daß sie mir wirklich gleichen und keine Gorillas sind.«

Töne der Entrüstung werden laut, und Mrs. Boyd ruft aus:

“My dear! She’s the limit!”

»Sie sind selbst the limit«, schreit die Murzec wütend. »Sie Vielfraß, Sie, die Sie kaum mehr als Mund, Eingeweide und After sind!«

»Mein Gott!« sagt Mrs. Boyd.

»Wie abscheulich, so zu einer alten Dame zu sprechen!« sagt Manzoni, den das Wort »After« empört hat. Und er fügt mit der Weichlichkeit des wohlerzogenen Knaben hinzu: »Sie haben schreckliche Manieren.«

»Ach Sie, seien Sie doch ruhig, Sie Utensil dieser Damen!« sagt die Murzec mit abgrundtiefer Verachtung. »Die Phallen haben jetzt nicht das Wort!«

»Wenn sie es hätten, würden sie jedenfalls nicht für Sie stimmen«, meint Robbie, kurz auflachend.

Aber der so unerschrockene Robbie hat nur leise gesprochen, was der Murzec gestattet, ihn zu ignorieren und sich eine Atempause zu gönnen.

Ich nutze die Windstille und versuche, die Schlacht auf ein etwas ernsthafteres Gelände zu verlegen.

»Madame, gestatten Sie mir eine Frage: Finden Sie es nicht abwegig, uns alle derart zu hassen und zu verachten? Was haben wir Ihnen denn getan? Und worin unterscheiden wir uns so von Ihnen?«

»In allem natürlich! Sie werden doch nicht etwa Vergleiche ziehen wollen!« schreit die Murzec mit so gellender und zitternder Stimme, daß mir scheint, als ob sie plötzlich innerlich einen Sprung bekommen hätte. »Gott sei Dank habe ich nichts mit diesen abstoßenden Kreaturen des Untermenschentums zu schaffen, von denen ich umgeben bin.«

Stürmische Proteste sind die Folge. Es hebt ein allgemeines Gezeter an, das sekundenlang anschwillt. Glücklicherweise ist Madame Murzec eine Frau und sind wir alle angeschnallt, denn die erste Reaktion des Kreises ist gleichsam, sie zu lynchen; die zweite, sie zu verjagen. Das Signal dazu gibt übrigens Pacaud, der mit hervorquellenden Augen und hochrotem Schädel wütend schreit: »Stecken wir sie in die Touristenklasse, und damit basta!«

Blavatski hebt die Hand, ohne zu bemerken, daß die Assistentin des Inders ihre Waffe auf ihn richtet, und seine laute Stimme übertönt unser Gezeter. Bisher kannte ich von ihm zwei Ausdrucksweisen, eine gewollt vulgäre und ein offizielles, korrektes Englisch, dessen er sich in den Diskussionen mit Caramans bediente. Jetzt entdecke ich eine dritte: die schwerfällige und nasale Stimme eines Predigers.

»Wenn wir für Sie Untermenschen sind, Madame«, sagt er, und er betont das Wort »Untermenschen« mit verhaltenem Zorn, »ist es das beste, Sie verlassen diese Maschine, sobald sie landet!«

Sein Anerbieten wird mit zustimmendem Gejohle aufgenommen, welches – ich schäme mich, es zu sagen – dem Heulen einer Hundemeute gleicht, die hinter einem Wild her ist. Von allen Seiten hagelt es in verschiedenen Sprachen auf die Murzec nieder: »Raus! Out with you! Dehors!«

Die Stewardess wendet mit sanfter Stimme ein: »Madame Murzec hat ein Ticket nach Madrapour.«

Sie spricht den Satz auf eine Weise, die uns begreiflich machen müßte, daß die symbolische Bedeutung die wörtliche vielleicht noch übertrifft. Doch uns steht nicht der Sinn danach, diese Nuancen wahrzunehmen. Wir trampeln genüßlich auf der Murzec herum.

»Nötigenfalls werden wir Sie rausschmeißen«, brüllt Pacaud mit puterrotem Kopf und geschwollenen Schläfen.

»Das wird nicht nötig sein«, sagt die Murzec.

Dieser Satz und die Gelassenheit, mit der sie ihn spricht, stellt die Ruhe wieder her. Aber ich bin sicher, die Gelassenheit der Murzec ist nur äußerlich, denn so unerschrocken sie auch auftritt – die Wirkung unseres Hasses muß verheerend gewesen sein. Ihre Augenlider zittern, ihr gelblicher Teint ist heller geworden. Mir fällt auch auf, daß sie entgegen den Anweisungen des Inders die Arme über der Brust kreuzt und ihre Hände unter die Achseln steckt.

»Ich werde gehen, sobald die Maschine aufgesetzt hat«, fügt sie mit fester Stimme hinzu.

Nach einem ziemlich langen Schweigen sagt die Stewardess mit neutraler, unpersönlicher Stimme: »Madame, Ihr Flugticket gibt Ihnen das Recht, Ihren Platz in diesem Flugzeug bis zur Ankunft zu behalten.«

Mit anderen Worten, sie bittet die Murzec keineswegs, zu bleiben. Sie erinnert sie ein weiteres Mal daran, daß sie das Recht dazu hat. Die Stewardess erfüllt ihre Pflicht, aber ohne Wärme.

Die Murzec hört diesen Unterton sofort heraus, und ihre blauen Augen flammen auf.

»Können Sie mir denn mit Gewißheit sagen, daß diese Maschine wirklich nach Madrapour fliegt?«

»Ja, Madame«, sagt die Stewardess in demselben neutralen, offiziellen Ton.

»Ja, Madame«, äfft die Murzec sie mit verächtlichem Grinsen nach. »In Wirklichkeit wissen Sie es überhaupt nicht. Und dennoch haben Sie uns von Anbeginn unaufhörlich in der Illusion einer falschen Sicherheit gewiegt.«

»Ich, Madame?« fragt die Stewardess.

»Ja, Sie! Ich lasse mich nicht für dumm verkaufen, daß Sie es endlich wissen! Mit Ihrem Rühr-mich-nicht-an-Gehabe sind Sie hier die Schlimmste von allen! Eine Lügnerin und Heuchlerin! Denn Sie werden doch nicht behaupten wollen«, sagt sie, lauter werdend, um sich gegen unsere Proteste durchzusetzen, »Sie hätten nicht gewußt, daß sich niemand im Cockpit befand! Sie wußten es von Anfang an! Sie wußten es von dem Augenblick an, als ich Sie bat, Ihre Bordinformation zu vervollständigen.«

Unter der plötzlichen Empfindung, daß die Murzec recht hat, erstarrt der Kreis. Sie wird uns dadurch nicht sympathischer, im Gegenteil. Aber wir sind wenigstens gezwungen zu schweigen. Und unsere wütenden Blicke, die sich von ihr abwenden, bleiben an der Stewardess haften, gemildert zwar, aber zweifelnd, denn je länger die Antwort der Stewardess ausbleibt, um so deutlicher wird uns der Inhalt.

»Das stimmt«, sagt die Stewardess. »In dem Augenblick, als ich auf Ihr Ersuchen hin das Cockpit betrat …«

Sie vollendet den Satz nicht. Und sogar ich verspüre ein gewisses Unbehagen, obwohl ich für sie zittere und sie so gerne beschützen möchte. Reglos und unsicher sehen wir sie mit gemischten Gefühlen an, denn auch wenn bislang alle Passagiere ihre Freundlichkeit zu schätzen wußten, lassen ihre Worte jetzt einige Zweifel in uns aufkommen. Blavatski runzelt die Brauen und senkt den Kopf, und ich befürchte, daß er zum Angriff übergehen wird.

Hätte die Murzec angesichts dieser Konstellation geschwiegen, wäre sie wohl gerettet gewesen. Aber sich zurückzuhalten, das gerade ist das einzige, was sie nicht kann. Sie lacht ganz widerwärtig, und erfüllt von dem Gedanken, sich an einem von uns rächen zu können, fragt sie: »Und Sie haben niemand vorgefunden?«

»Nein«, sagt die Stewardess mit erhobenem Kopf, die Hände brav über den Knien gefaltet und so hübsch, so bescheiden, daß mein Herz höher schlägt.

Ohne länger abzuwarten, was sie sagen wird, beschließe ich, ihr zu glauben und ihr zu helfen.

»In diesem Falle wäre es Ihre Aufgabe gewesen, den Passagieren die Wahrheit zu sagen«, erwidert die Murzec gehässig.

»Ich habe mir selbst die Frage gestellt, ob ich es tun soll«, sagt die Stewardess. (Ganz aufrichtig, wie mir scheint, aber ich bin ihr wieder völlig ausgeliefert.) »Doch habe ich es vorgezogen, nichts zu sagen«, fährt sie nach kurzem Schweigen fort. »Letzten Endes besteht meine Aufgabe an Bord nicht darin, die Passagiere zu beunruhigen, im Gegenteil.«

In das folgende Schweigen hinein sage ich: »Das ist ein Gesichtspunkt, der mir gerechtfertigt erscheint.«

Die Murzec grinst.

»Das Tier eilt der Schönen zu Hilfe! Also gut, Mademoiselle«, fährt sie zähneknirschend fort, »beruhigen Sie jetzt diese Leichtgläubigen! Sagen Sie ihnen, daß die Maschine nach Madrapour fliegt!«

Die Stewardess bleibt stumm.

»Sehen Sie, Sie wagen das nicht zu wiederholen!« schreit die Murzec voller Gift und Galle.

»Madame«, sagt die Stewardess mit verschlossenem Gesicht, »ich wüßte nicht, inwiefern meine Meinung irgend jemand interessieren könnte. Sie ist völlig bedeutungslos: nicht ich steuere das Flugzeug, sondern der BODEN.«

Obwohl diese Worte zweideutig sind (oder vielleicht gerade deshalb), verspürt niemand das Bedürfnis, sie in Zweifel zu ziehen. Nicht einmal die Murzec, die jegliches Interesse für die Stewardess und ihre Antworten verliert, als die Landemanöver einsetzen. Sie springt unversehens auf, denkt selbstvergessen nach und scheint alle ihre Kräfte anzuspannen, um in ihrer Entscheidung bis zum Äußersten zu gehen.

»Wo landen wir?« fragt sie den Inder mit leicht zitternder Stimme.

»Wie soll ich das wissen?« sagt der Inder in einem Ton, der nicht zum Gespräch ermuntert.

Die Maschine verliert spürbar an Höhe, und niemand ist zum Reden aufgelegt, bis das Flugzeug in finsterster Nacht – am Himmel ist kein Stern zu sehen und auf der Erde kein einziges Licht, das auf einen Flughafen oder einen bewohnten Ort hindeuten könnte – mit einem so heftigen Ruck aufsetzt, daß es uns den Atem verschlägt. Die Inderin, die am Vorhang zur Touristenklasse stehengeblieben war, wird mit Wucht nach vorn geschleudert und wäre ohne Zweifel gestürzt, wenn ihr Gefährte sie im Vorbeifliegen nicht noch hätte am Arm festhalten können.

Während die Chartermaschine über eine offensichtlich sehr unebene Piste holpert, richtet sich der Inder auf und sagt in überaus höflichem Ton:

»Rühren Sie sich nicht und lösen Sie auch die Gurte nicht. Sobald sich der Exit öffnet, werden alle Lichter ausgehen. Erschrecken Sie nicht. Diese Dunkelheit ist Bestandteil meiner Forderungen. Sie wird nur wenige Minuten dauern.«

Und da sich Madame Murzec entgegen seiner Anweisung bereits erhebt, ihr Handgepäck auf den Sessel legt und eine Wildlederjacke überzieht, sagt der Inder leise und mit taktvoller Diskretion, als spräche er zu seiner eigenen Beruhigung und ohne Aussicht, etwas zu erreichen:

»Madame, mir scheint, Sie geben sich falschen Hoffnungen hin, wenn Sie glauben, darüber entscheiden zu können, ob Sie nach Madrapour fliegen oder nicht.«

Wir spitzen bei diesem erstaunlichen Satz die Ohren. Aber die Murzec scheint ihn zu überhören. Und der Inder fügt nichts hinzu. Langsam und bedächtig setzt er seinen Turban auf. Er ist warm angezogen, trägt sogar Handschuhe. Den Revolver immer noch in der linken Hand, postiert er sich hinter seinem Sessel und sieht uns aus seinen glänzenden schwarzen Augen mit einem Ausdruck an, den zu beschreiben ich zögere, so sehr mischen sich darin Ironie und Mitleid.

Die Chartermaschine bleibt stehen, und in der einsetzenden Stille höre ich – oder glaube ich zu hören –, wie die Treppe ausgefahren wird und vor dem Exit zum Halten kommt. In diesem Augenblick verlöschen die Lichter, und eine der Frauen, vermutlich Mrs. Boyd, stößt einen Schrei aus.

Die Dunkelheit ist von tiefer Schwärze ohne die geringsten Abstufungen von Grau. Um mich herum raschelt es mehrmals, wie ich glaube, meine Handflächen werden feucht, und ich presse die Arme gegen meinen Körper, als wollte ich mich schützen.

In diesem Moment höre ich hinter meinem Rücken die peitschende Stimme des Inders.

»Setzen Sie sich, Mr. Chrestopoulos! Und rühren Sie sich nicht mehr. Sie hätten beinahe Madame Murzec erstochen.«

Im selben Augenblick flammt hinter mir eine Taschenlampe auf. Der Lichtkegel fällt auf Chrestopoulos, der mit einem Taschenmesser in der Hand vor seinem Sessel steht, nur wenige Schritt entfernt von Madame Murzec, die ihm den Rücken kehrt und offensichtlich im Begriff war, auf den Exit zuzugehen, als die Stimme des Inders sie zum Stehen brachte. Die Inderin, nur in verschwommenen Umrissen erkennbar, steht mit der Kunstledertasche in der Hand in der Nähe des Exits.

Chrestopoulos setzt sich. Mit einem kurzen Klicken läßt er sein Messer wieder einschnappen. Der Lichtkegel wandert über Blavatski zu Bouchoix und Pacaud, die alle drei erstarrt sind, und verharrt schließlich auf dem Genick des Griechen. Der Inder streckt seine behandschuhte Rechte vor, und der Grieche hält ihm wortlos das Messer hin.

»Mr. Chrestopoulos, können Sie sich ausmalen, was passiert wäre, wenn wir im Dunkeln auf Sie geschossen hätten?« sagt der Inder ohne jeglichen Zorn in der Stimme. »Wieviel Leute zu Schaden gekommen wären … Und das alles für ein paar Ringe.«

Er seufzt und macht die Taschenlampe aus; wieder hüllt uns die Dunkelheit ein, dann herrscht Stille. Ich weiß nicht, ob ich es höre, wie die Tür sich öffnet, oder ob sich dieses Geräusch mit meinen Atemzügen vermischt. Aber ich spüre einen kalten Luftzug, und ich kauere mich frierend in meinen Sessel, denn die einströmende eisige Luft verschlägt mir den Atem.

»Ihr seid gerettet«, sagt der Inder. Seine ernste Stimme dröhnt wie eine Glocke in meinem Kopf. »Ihr seid gerettet. Vorläufig. Aber wäre ich an eurer Stelle, würde ich dem Wohlwollen des BODENS nicht unbedingt vertrauen. Es ist nicht sicher, ob das Schicksal, das er für euch bereithält, sich erheblich von dem unterscheidet, das ich euch zugedacht hatte, wenn das Flugzeug nicht gelandet wäre. Um es deutlicher zu sagen: vielleicht läßt auch der BODEN euch einen nach dem andern sterben. Denn auf der Erde sterbt ihr letztendlich doch genauso. Einer nach dem andern. Allein mit dem Unterschied, daß der Abstand etwas länger ist und euch die Illusion gibt, daß ihr lebt.«

Er macht eine Pause und fährt fort:

»Nun gut, bewahrt euch diese Illusion, wenn sie die Angst euch nehmen kann. Aber wenn ihr das Leben liebt, wenn ihr es nicht gleich mir als unannehmbar betrachtet, verderbt euch diese kurzen Augenblicke nicht mit Streit. Vergeßt es nicht: so lang das Leben euch erscheinen mag, der Tod ist ewig.«

Ich lausche. Ich höre keine Schritte. Nichts, was auf einen Weggang deutet. Nur unser pfeifendes Atmen und das Stöhnen, das die eisige Kälte uns abringt. Innerlich wiederhole ich mir endlos die letzten Worte des Inders, wie das Leitmotiv eines Alptraums. Ich weiß nicht mehr, ob es diese Worte sind, die mich lähmen, oder der eisige Wind oder die unmenschliche Dunkelheit. Doch mich durchzuckt der Gedanke, daß ich schon im Grabe liege, eingeschlossen in die Nacht und den vereisten Boden, und daß ich mir im Tode noch – schreckliche Vorstellung – meines Zustandes bewußt bin.