Als erster reagiert nicht Blavatski, wie man hätte erwarten können, sondern Caramans. Mit aufgeworfener Lippe sagt er in jenem förmlichen Ton, der auf mich stets wie eine Parodie seiner selbst wirkt: »Sie verletzen die Gebote der Höflichkeit, Monsieur. Ich möchte Sie bitten, sich wieder zu setzen.«
Und Chrestopoulos, der anscheinend ein für allemal beschlossen hat, im eigenen Interesse Rücksicht auf Caramans zu nehmen, sagt keinen Mucks, setzt sich wieder hin, vertieft sich in seine Karten und verschwindet völlig aus der Diskussion, in die er so polternd eingebrochen ist. Aber der Streit geht ohne ihn weiter, mit einer um so erstaunlicheren Oberflächenlogik, als deren Finalität überhaupt nicht erkennbar ist. Denn was soll diese Auseinandersetzung bezwecken? Wohin führt sie? Welchen Nutzen hat sie? Ist es in diesem bestimmten (oder unbestimmten) Moment unserer Reise angebracht, ausgerechnet über so etwas zu diskutieren?
»Madame«, sagt Caramans, an die Murzec gewandt, »meinerseits identifiziere ich mich nicht mit den gegen Sie erhobenen Beschuldigungen. Aber Ihr Bericht setzt mich in Erstaunen.«
Die Murzec wendet ihm den Kopf zu, antwortet aber nicht. Gewiß, ihr mageres gelbliches Gesicht wirkt müde. Sie hat soeben eine große Anstrengung unternommen, um sich an eine Einzelheit zu erinnern, die ihr unter dem Eindruck des Entsetzens entfallen war. Wie aber soll man sich erklären, daß sie plötzlich so passiv und friedfertig wird, daß sie Caramans’ Unterstellung widerspruchslos hinnimmt? Denn wenn ein Diplomat sagt: »Ihr Bericht setzt mich in Erstaunen«, zieht er die Glaubwürdigkeit des Gesagten in Zweifel. Das ist von Chrestopoulos’ Beschuldigung »Sie lügen« nicht weit entfernt, höchstens taktvoller formuliert.
»Dieser Bericht setzt Sie in Erstaunen?« fragt Robbie mit unverhohlener Herausforderung. Und als zöge er in einem großen Waffengang zur Verteidigung Madame Murzecs das Schwert, fährt er mit Bravour fort: »Warum?«
Caramans blinzelt aus halbgeschlossenen Augen. Ihm liegt nichts daran, gegen Robbie zu polemisieren – obwohl er ihm mit »einigen Vorbehalten« begegnet. Andererseits ist er sichtlich sehr darauf bedacht, seinen Standpunkt bezüglich der Kunstledertasche durchzusetzen. An die Murzec gewandt, als ob dieses »Warum« von ihr gekommen wäre, sagt er: »Weil Ihr Bericht etwas spät kommt, geben Sie es zu, Madame.«
Ehe Madame Murzec antworten kann, stürzt sich ihr Ritter mit erhobenem Schwert in die Schlacht.
»Spät! Ich sehe darin keinen Grund, ihm zu mißtrauen. Letzten Endes hat Madame Murzec bei der Landung ein schreckliches Erlebnis gehabt. Sie hat selbst von ihrem Entsetzen gesprochen. Und ich muß Sie auch bitten, sich daran zu erinnern, daß Madame Murzec, als sie uns das erstemal zu erzählen versuchte, was sich auf der Erde abgespielt hat, bei einigen von uns auf entmutigenden Unglauben gestoßen ist. Ihr Bericht ist durch die dauernden Interventionen buchstäblich zerhackt worden.« Robbie sagt das sehr verdrossen, ohne indes Blavatski anzusehen. »Kurzum, man hat kein Mittel gescheut, eine als unerwünscht geltende Wahrheit zurückzudrängen und Madame Murzec zum Schweigen zu bringen. Unter solchen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, daß ihr eine Erinnerung, selbst eine so wichtige Erinnerung, entfallen ist.«
Robbies These ist stichhaltig und weist Caramans in die Schranken, so daß ich erwarte, dieser werde die Partie aufgeben, zumal ein Festhalten an seinem Skeptizismus für Madame Murzec eine unverhohlene Beleidigung darstellen würde. Aber ohne daß ich zu begreifen vermag, worauf es ihm in dieser Diskussion wirklich ankommt, klammert sich Caramans äußerst hartnäckig an seinen Standpunkt. Eine merkwürdige Situation, denn Madame Murzec begnügt sich damit, ihn mit ihren blauen Augen anzusehen; und weil sie beharrlich schweigt und sich nicht zum Kampf stellt, muß Caramans sich bescheiden, die Klinge mit Robbie zu kreuzen – was er nur lustlos tut, da er ohne Zweifel jeden Augenblick eine hinterhältige Attacke seitens eines Individuums befürchtet, das offenbar alle Regeln zu verletzen bereit ist und dies bei der Partnerwahl im sexuellen Bereich schon demonstriert.
Caramans senkt die Augenlider, um den intensiven blauen Blick der Murzec zu filtern; höflich ihr zugewendet, vermeidet er, sie anzusehen, und sieht, während er antwortet, auch über Robbie hinweg.
»Es versteht sich von selbst, daß ich Madame Murzecs Aufrichtigkeit mitnichten in Zweifel ziehen will. Aber sie kann sich geirrt haben. Die Nacht war stockfinster, sie selbst hat es betont. Aus rund zwanzig Meter Entfernung hat Madame Murzec von den Indern in dem spärlichen Lichtschein einer Taschenlampe nur Umrisse erkennen können. Vielleicht ist sie von einem Schattenspiel getäuscht worden, zumal sie in dem bewußten Augenblick in heller Panik war.«
Caramans gibt also, was die Lüge betrifft, Boden auf, macht den Verlust aber durch seine These von der optischen Täuschung wett.
Robbie spürt genau, daß nur Madame Murzec selbst diesem verfänglichen Skeptizismus begegnen könnte. Er wirft ihr einen Blick zu, um sie aufzufordern, sich zu äußern. Verlorene Mühe. Die Murzec sieht nichts. Sie heftet ihre Augen starr auf Caramans’ Gesicht.
»Was halten Sie davon, Madame?« fragt Robbie, schwankend zwischen Ehrerbietung und Ungeduld und gleichsam verdrossen, daß seine Mandantin so wenig an ihrer eigenen Verteidigung mitwirkt.
»Ach nichts«, erwidert die Murzec, ohne die Richtung ihres Blicks zu ändern. »Wenn Monsieur Caramans mir nicht glauben will, ist es seine Sache.«
Weder im Ton noch im Inhalt ist ihre Bemerkung aggressiv, und doch hätte Madame Murzec Caramans nicht tiefer kränken können.
»Madame!« sagt er, mit strengem Blick sich aufrichtend. »Es ist doch nicht so, daß ich Ihnen nicht glauben will! Aber Ihre Darstellung der Tatsachen ist absolut unwahrscheinlich. Überlegen Sie doch! da ist ein Mann, der sich selbst als ›Wegelagerer‹ bezeichnet, der uns unserer Pässe, unseres Bargelds, unserer Reiseschecks, unseres Schmucks und sogar unserer Uhren beraubt! Es gelingt ihm, die Landung des Flugzeugs zu erzwingen, indem er mit der Hinrichtung einer Reisenden droht; er flieht mit seiner Beute, und nun sagen Sie uns, daß er diese Beute beim Verlassen des Flugzeugs ins Wasser geworfen hat! Wer soll das glauben?«
Diese leidenschaftliche Rede, leidenschaftlich zumindest in dem Maße, wie eine Rede von Caramans es zu sein vermag, findet lautstarke Zustimmung bei Chrestopoulos, der sich für eine Sekunde von seinen Karten losreißt, bei Madame Edmonde und, auf diskretere Weise, bei der Mehrzahl der Passagiere; ablehnend verhalten sich Robbie, die Stewardess, die Murzec und ich selbst. Mich verdrießt die rhetorische Wendung, die Caramans seinem Auftreten gegeben hat, die aber nach meiner Ansicht nicht zu bemänteln vermag, daß er seine ursprüngliche Behauptung im Grunde wiederholt hat. Ohne darauf einzugehen und auch ohne stellvertretend für Robbie sprechen zu wollen, will ich dem Diplomaten wenigstens einen Stein vor die Füße werfen.
»Es stimmt, daß der Inder erklärt hat: I am a highwayman«, werfe ich mit tonloser Stimme ein, deren Schwäche mich erstaunt (denn mein Geist ist wach geblieben). »An Ihrer Stelle, Monsieur Caramans, würde ich in diesem Satz jedoch kein Eingeständnis sehen. Der Inder hatte einen sehr eigenwilligen Humor, seine meisten Aussagen waren ironisch, und es wäre ein großer Irrtum, sie für bare Münze zu nehmen.«
»Trotz des Diebstahls?« fragt Caramans. »Ein Diebstahl, der weitgehend die Definition rechtfertigt, die der Inder von seiner Person gegeben hat! Mit oder ohne Humor«, fügt er bissig mit einem wenig freundlichen Blick hinzu.
Aus seiner Sicht hat dieses Argument mich außer Gefecht gesetzt; voller Zufriedenheit, so schnell mit mir fertig geworden zu sein, reckt er die Schultern und wendet sich Robbie zu, den er zu seinem Erstaunen lächeln sieht.
»Monsieur Caramans«, sagt Robbie mit seiner flötenden Stimme, in unverschämter Weise seinen Charme hervorkehrend, »Sie haben in Ihren kurzen Ausführungen einen ungeheuren Denkfehler gemacht. Sie haben die Behauptung, die Sie beweisen wollten, von vornherein als gegeben hingestellt.«
Caramans zuckt zusammen, in seiner cartesianischen Überzeugung tief getroffen.
»Aber ja, aber ja!« sagt Robbie. »Ihr Gedankengang ist folgender: Der Inder hat uns unser Geld, unseren Schmuck, unsere Uhren genommen, also ist er ein Dieb. Und wenn er ein Dieb ist, kann er die Tasche, die die Beute enthielt, nicht ins Wasser geworfen haben. Folglich lügt Madame Murzec, wenn sie behauptet, daß er es getan hat.«
»Oder sie irrt sich«, sagt Caramans.
»Oder sie irrt sich, wie Sie wollen«, sagt Robbie, ein Lächeln andeutend. »Auf jeden Fall gehen Sie von Ihrer eigenen Interpretation einer Tatsache aus (Diebstahl des Inders), um eine andere Tatsache, die von einem Augenzeugen bestätigt worden ist, zu leugnen. Aber wenn man umgekehrt einmal gelten läßt, daß der Inder die Tasche wirklich ins Wasser geworfen hat, wie Madame Murzec behauptet, dann ist Ihre Interpretation der Persönlichkeit des Inders sofort null und nichtig. Der Inder hat uns zwar beraubt, ist aber deshalb noch lange kein Dieb, denn er schätzt die Beute so gering, daß er sie ins Wasser wirft. Und das wohlgemerkt ohne zwingenden Grund, da er ja nicht einmal verfolgt wird.«
Schweigen. Caramans sitzt reglos da, und würde er nicht unentwegt mit dem rechten Daumen seinen linken Daumen massieren, könnte man glauben, daß er sich mit seiner Niederlage abgefunden hat.
Aber das hieße den brillanten Schüler der Ordensbrüder unterschätzen. Einen Augenblick später schnauft er mit unverkennbarer Verachtung durch die Nase und sagt, seiner selbst wieder sehr sicher:
»In einem Punkt gebe ich Ihnen recht. Ich habe die Persönlichkeit des Inders tatsächlich interpretiert. Aber meine Interpretation ist vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes überaus einleuchtend. Der Inder hat uns bestohlen. Also ist er ein Dieb. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, daß auch Madame Murzec eine Interpretation der Persönlichkeit des Inders gibt. Der Inder hat uns bestohlen. Desungeachtet ist er kein Dieb. Mitnichten. Er ist ein Weiser, ein Prophet, ein Heiliger …«
»Weder ein Prophet noch ein Heiliger«, sagt die Murzec mit fester Stimme. »Aber ein Weiser, ja. Oder wenn es Ihnen mehr zusagt, ein Lehrmeister.«
»Sehr gut!« sagt Caramans triumphierend. »Und als er das Flugzeug verläßt, folgen Sie ihm wie der Jünger seinem Herrn. Ein Jünger, der es selbstverständlich für undenkbar hält, daß sein verehrter Meister ein gewöhnlicher Dieb ist. Demzufolge ist es nötig, daß der Inder sich seiner Beute entledigt – und eben das glauben Sie gesehen zu haben …«
Die Pause ist nur kurz. Die Murzec, die Caramans noch immer unverwandt ansieht, sagt mit klarer Stimme:
»Bedauerlich, Monsieur, für Ihre beruhigende These ist, daß ich nicht gesehen zu haben glaube, wie der Inder die Tasche in den See warf: ich habe es gesehen.«
In der Art, wie sie spricht, und in dem blitzenden blauen Blick, der ihre Worte begleitet, deutet sich gleichsam eine Wiederauferstehung der alten entnervenden Murzec an.
»Beruhigend!« ruft Caramans, mit hochrotem Gesicht sich aufrichtend. »Und wieso ist diese These für mich beruhigend, können Sie mir das sagen?«
Eine Schwelle ist überschritten: die Schwelle der Selbstbeherrschung eines Diplomaten. Aber noch überraschender ist die sichtliche Veränderung der Murzec. Kaum hat die Luft gezittert von Caramans’ Entrüstung, scheint die Murzec zu erschlaffen, von Zerknirschung gepackt. Sie legt ihre Hände flach auf die Knie, senkt die Augen, krümmt den Rücken, läßt die Schultern hängen und sagt reuevoll:
»Monsieur, wenn meine Worte Sie gekränkt haben, nehme ich sie zurück und bitte Sie aufrichtig um Verzeihung.« Und da Caramans schweigt, setzt sie mit einem Seufzer hinzu: »Leider ist es so, daß Leute, die wie ich ihr Leben lang bösartig waren, sich nicht so schnell von einem gewissen Automatismus befreien können. Aggressiv sein, das ist so einfach. Sehen Sie«, fährt sie mit einer poetischen Anwandlung fort, die mich ebenso erstaunt wie ihre Aufrichtigkeit, »bei mir sind das Gift dem Herzen und die verletzenden Worte den Lippen so nahe … Ich bitte Sie, Monsieur, noch einmal demütig um Verzeihung.«
Es folgt tiefe Stille – wenn man von den Ansagen der Pokerspieler absieht. Ich beobachte mit gemischten Gefühlen, wie diese kleine französische Frömmlerin in vollen Zügen die bitteren Wonnen der Selbstanklage genießt.
Caramans beißt sich in die zum Flunsch verzogenen Lippen. Wer in seinem ganzen Leben – von den Ordensbrüdern des heiligen Jean-Baptiste bis zum Quai d’Orsay – immer der Brillanteste gewesen ist, darf sich von niemandem in den Schatten stellen lassen, und sei es in der Demut.
»Madame«, sagt er würdevoll und mit erstaunlich gut gespielter Zerknirschung, »ich bin es, der sich bei Ihnen entschuldigen muß, da ich mir erlaubt habe, die Wahrheitstreue, wenn nicht gar die Aufrichtigkeit Ihres Berichtes anzuzweifeln.«
Ich sehe ihn an. Die »Wahrheitstreue, wenn nicht gar die Aufrichtigkeit Ihres Berichtes«! Mein lieber Caramans! Gute alte Rhetorik! Und gutes altes Frankreich, wo niemand hoffen kann, in die höchsten Ämter der Verwaltung oder der Regierung zu gelangen, wenn er im Gymnasium nicht die besten Noten für lateinische Übersetzungen erhalten hat.
»Nein, nein«, erwidert die Murzec, während sie mit nicht zu bremsender Gewissensqual den Kopf schüttelt, »Sie hatten allen Grund, meinen Bericht in Zweifel zu ziehen und mich für verrückt zu halten.«
Unruhig wirft Caramans mir einen lebhaften Blick zu, um zu erfahren, ob ich der Murzec unser Gespräch vom Morgen wiedergegeben habe. Ich schüttele den Kopf, und noch immer fest entschlossen, der Reumütigere zu sein, sagt er noch leiser und in ernstem Tonfall:
»Ich habe Sie niemals für … gehalten, Madame, aber ich habe den großen Fehler begangen, Ihre Aussage in einer Weise anzufechten, daß Ihnen mein Zweifel beleidigend erscheinen mußte.«
Hier bricht Robbie in Gelächter aus und erntet von allen Seiten strenge Blicke. Als es ihm schließlich gelingt, wieder ernst zu werden, sagt er, ein letztes Glucksen unterdrückend:
»Wenn dieser kleine Wettstreit in Nächstenliebe zwischen unseren beiden guten Christen beendet ist, könnten wir vielleicht zum eigentlichen Problem zurückkehren …«
Er kommt nicht weiter, denn Blavatski tritt mit heruntergeklapptem Visier unüberhörbar in die Schranken.
»Madame Murzec«, sagt er, »nach Ihrer Darstellung ließ der Inder im Gehen seine schwarze Kunstledertasche über dem Wasser pendeln. Plötzlich streckte er den Arm aus und machte die Hand auf. Stimmt das?«
»Ja«, erwidert die Murzec, »so ist es gewesen.«
»Danke. Und können Sie mir sagen, was für ein Gesicht der Inder bei dieser Geste gemacht hat?«
»Das konnte ich nicht sehen, da er mir ja den Rücken zukehrte«, sagt die Murzec schlicht.
Robbie fängt wieder an zu glucksen.
»Aber Blavatski, was für eine kindische Falle! Once a cop, always a cop!1 Und warum stellen Sie Madame Murzec die Falle? Sind Sie so darauf erpicht, daß sie lügt oder sich irrt? Und ist auch Ihnen so viel an der beruhigenden These gelegen, daß der Inder ein Dieb ist?«
Caramans streift Robbie mit einem flüchtigen Blick, und seine Stimme zittert vor unterdrücktem Ärger, als er ihn fragt: »Könnten Sie mir nicht endlich sagen, was Sie unter ›beruhigend‹ verstehen? Oder handelt es sich um eines der magischen Wörter des heutigen Jargons, die überhaupt keinen Sinn haben müssen?«
»Ich bin gern bereit, es Ihnen zu erklären«, sagt Robbie mit einem schwachen Glitzern in seinen hellbraunen Augen. »Zunächst aber eine Feststellung: Sie werden zugeben, Monsieur Caramans, daß es für die Passagiere kaum einen Unterschied bedeutet, ob der Inder die schwarze Tasche nur mitgenommen oder ins Wasser geworfen hat. In beiden Fällen werden wir den Inhalt nie wiedersehen. Also (er macht mit seinem langen Arm eine anmutige fragende Gebärde), wozu die Aufregung? Warum soviel Aufwand, um Madame Murzec des Irrtums oder der Lüge zu überführen? Ich will es Ihnen sagen: Wenn der Inder die Tasche wirklich ins Wasser geworfen hat, muß uns seine Persönlichkeit unendlich viel mehr beunruhigen. Er ist dann weder ein Luftpirat noch ein Verbrecher. Er ist etwas anderes. Ein Weiser oder ein Lehrmeister, sagt Madame Murzec. Und wer weiß dann, ob nicht seine Feindschaft zum BODEN nur vorgetäuscht war? Wer weiß, ob er nicht in Wirklichkeit vom BODEN entsandt worden ist, uns zu lehren, erleichtert zu werden?«
»Pfff!« macht Blavatski.
»Das ist ja der reinste Roman«, ruft Caramans.
Diese geringschätzigen Reaktionen bringen Robbie keineswegs aus der Ruhe. Er hat sie erwartet. Er schüttelt seine langen Locken und lächelt, Schalk in den Augen, mit penetranter Unschuldsmiene. Ich falle nicht darauf herein. Ich durchschaue ihn allmählich: seine Manieriertheit ist Bestandteil seiner pubertären Aggressivität, die er nie zu überwinden vermochte. Aber darunter ist meistens ein ernsthafter Gedanke verborgen.
»Nehmen Sie dagegen an, daß Madame Murzec sich irrt«, fährt er sarkastisch fort. »Oh, dann ist alles in bester Ordnung! Wir sind gerettet! Wir waren Opfer eines banalen Überfalls! Der Inder ist ein gewöhnlicher Strolch! Und diese Reise ist trotz des kleinen Zwischenfalls eine Reise wie jede andere! Wir können sogar hoffen, eines Tages irgendwo zu landen!« Er hebt die Stimme: »Vielleicht in Madrapour, wer weiß! In einem Vier-Sterne-Hotel am Ufer eines Sees! …« Er lacht. »Und deshalb, Monsieur Caramans, ist die These von dem diebischen Inder für Sie so beruhigend.«
Caramans zuckt leicht die Schulter, was sein Desinteresse kundtun soll. Dann senkt er den Blick, stellt die Beine nebeneinander und igelt sich ein: wieder erinnert er mich an eine Katze. Als hoher Beamter kennt er sich offenbar aus in der Kunst, eine lästige Akte zu begraben. Man ringelt den Schwanz um die Pfoten und setzt sich drauf.
“Balls!”2 sagt Blavatski, der keine so gute Erziehung genossen hat.
Ich warte, aber er läßt es dabei bewenden. Er hakt nicht ein. Auch er kneift.
Erschöpft von dieser Szene, schließe ich die Augen. Ich entdecke ein neues Element: es gibt jetzt im Kreis eine Mehrheit und eine Minderheit, voneinander unterschieden durch das Bild, das sie sich von dem Inder und infolgedessen von der Bedeutung dieser Reise machen.
Zu dieser Minderheit, der die Murzec, Robbie und ich selbst angehören (obwohl ich mich, wie eben ein Engländer tut, nur am Rande engagiert habe), rechne ich auch die Stewardess trotz ihres Schweigens, das sie in der Diskussion gewahrt hat. Sie hat mir eigentlich nie anvertraut, was sie von der Persönlichkeit des »Piraten« hält, aber ich weiß hingegen, wie sie über den Flug dieser Chartermaschine denkt. Ich erinnere mich genau: als ich ihr beim Aufwachen empfahl, sich wegen Bouchoix nicht zu beunruhigen, da wir von unserem Ziel nicht mehr sehr weit entfernt sein könnten, hat sie zweifelnd gefragt: »Glauben Sie das?«
Gewiß, ich könnte sie immer wieder fragen und zu erfahren versuchen, was wirklich in ihr vorgeht, wenn sie einen solchen Skeptizismus an den Tag legt. Ich werde mich hüten. Ich kenne die ausweichenden Antworten, die sie mir geben würde. Im übrigen glaube ich nicht, daß sie über diesen Flug mehr weiß als wir. Aber dank ihrer Erfahrungen als Stewardess werden ihr Einzelheiten aufgefallen sein, die uns entgehen und aus denen sie pessimistische Schlüsse zieht.
Am »weitesten« in Front liegt bei der Minderheit unverkennbar Robbie. Ich weiß, woher sein Mut kommt, sich nichts vorzumachen und die Illusionen der Mehrheit zurückzuweisen. Beim Militär, kann ich mir denken, ist es meistens der latente oder bewußte Homosexuelle, der sich zu den Himmelfahrtskommandos meldet. Er ist aus dem Stoff, aus dem ein Held gemacht ist. Von Natur aus dem Zyklus der Transmission des Lebens ausgeschlossen, ist er eher zu sterben bereit.
Ein Mann wie Caramans wird stets Sorge um seine Nachkommenschaft tragen: Frau und Kinder, alles Geiseln, mit denen er sich der Zukunft verpflichtet hat. Fesseln, die er sich selbst geschmiedet hat, um sich noch fester ans Rad der Zeit zu ketten. Durch diese Ketten hat das Leben ihn in der Gewalt, er muß sich daran klammern, angesichts der ihn umgebenden Gefahren sich durch Optimismus und Blindheit beruhigen.
Ich möchte daran erinnern: Robbie hatte sich freiwillig fürs Jenseits gemeldet, als der Inder drohte, eine Geisel zu erschießen. Daß er jetzt in unserem Kreis eine so wichtige Stellung einnimmt, überrascht mich. Mit seinen bloßen Füßen und den rotlackierten Zehennägeln, seiner hellgrünen Hose, seinem azurblauen Hemd und seinem orangefarbenen Halstuch war er mir anfangs zwar sympathisch erschienen, ein bißchen provokatorisch und pittoresk, aber besonderes Format habe ich ihm nicht zugetraut.
Dieses Vorurteil muß ich fallenlassen. Sobald Robbie jetzt den Mund aufmacht, wird es still, und alle hören ihm zu, selbst Caramans, der bemüht ist, über ihn hinwegzusehen, und das Wort nie direkt an ihn richtet. Mit solchem Gehabe wird er nicht lange Erfolg haben. Damit nun niemand glaubt, ich überschätzte Robbie, nachdem ich ihn unterschätzt habe, möchte ich betonen, daß Robbie trotz allem eine gefährdete Position innehat, auch gegenüber der Minderheit, deren Wortführer er ist. Weder ich noch vermutlich die Stewardess sind bereit, das Schicksal der Passagiere so absolut hoffnungslos zu sehen. Was Madame Murzec betrifft, so zeugt die Tatsache, daß sie kniend im Cockpit betet, von ihrer Erwartung eines glücklichen Ausgangs, sei es durch ein Eingreifen des Himmels, sei es durch das Wohlwollen des BODENS.
Ein Punkt, den erstaunlicherweise noch keiner berührt hat, nicht einmal Robbie, ist die Frage des Treibstoffs.
Unmöglich, zu sagen, wie spät es war, als die Maschine in der Nacht gelandet ist. Aber selbst wenn die eisige Zwischenlandung erst kurz vor Tagesanbruch erfolgte – jetzt steht die Sonne im Zenit, und seit gestern abend ist offensichtlich viel mehr Zeit verflossen, als der Treibstoffvorrat bei einem Nonstopflug gestattet. Daß der BODEN die improvisierte Landung nutzte, um die Tanks aufzufüllen, ist kaum wahrscheinlich. Wir haben nichts gehört und nichts gesehen.
Bei dieser Sachlage besteht die einfachste Lösung in der Annahme, daß die Maschine, in der wir fliegen und die keiner von uns zu identifizieren vermochte, ein mit Atomkraft betriebenes Versuchsmodell ist. In einem solchen Falle könnte sie mit der ersten Beschickung ihres Reaktors monatelang fliegen.
Ich werde darüber später Robbie befragen, der netterweise neben mir Platz nimmt und sich teilnahmsvoll nach meiner Gesundheit erkundigt, während die Stewardess in der Pantry beschäftigt ist.
Robbie lächelt ironisch, schüttelt seine blonden Locken und sagt in fröhlichem Tonfall, den seine Worte sofort Lügen strafen: »Doch, doch, Monsieur Sergius, das ist sehr beängstigend. Wir stehen vor einem heiklen Problem. Aber glauben Sie mir, das hat nichts mit Science-fiction zu tun …«
Ich esse widerstrebend die Hälfte der Mahlzeit, die die Stewardess uns serviert. Mein Zustand stürzt mich in völlige Verwirrung, zumal mir Ähnliches bisher nicht zugestoßen ist. Nie habe ich eine so extreme Schwäche kennengelernt, die ohne Krankheitssymptome, ohne Schmerzen, ohne Fieber auftritt und die sich auch nicht allmählich eingestellt hat: keine sinkende Kurve, die hoffen ließe, daß es später wieder mit mir aufwärtsgeht. Schlagartig befinde ich mich auf dem Tiefpunkt. Als der Kreis meine Aufmerksamkeit nicht mehr in Anspruch nimmt, packen mich Angst und sinnlose Panik. Mich überkommt eine verzweifelte Lust, aufzustehen, mich aus dem Flugzeug zu stürzen und mich in diesem Meer sonnenbeschienener weißer Wolken zu verstecken, die ich durch das Kabinenfenster zu meiner Rechten sehen kann. Ein Fieberwahn, der nicht einmal durch Fieber gerechtfertigt ist.
Solche Augenblicke des Entsetzens sind kurz, aber sie laugen mich aus, denn mein ganzer Körper ist gleichsam vom Starrkrampf befallen in dem heftigen Wunsch, um jeden Preis diesem Flugzeugrumpf zu entrinnen, der mich gefangenhält. Ich weiß, das ist von himmelschreiender Absurdität. In Wirklichkeit will ich mich verzweifelt meines inneren Feindes entledigen, der wie ein Wurm an meinen Kräften nagt.
Ich durchlebe abwechselnd zwei Arten von Angst: die unbestimmte, an den Nerven zerrende, fiebrige Angst, die alles in allem erträglich ist, wo die Erwartung (und die Verweigerung) eines gefürchteten Ereignisses mich am Leben hält; und die geschilderte spasmische Angst, ein kurzer paroxystischer Zustand, der sich durch Schweißausbruch ankündigt: Der Schweiß rinnt nicht tropfenweise, sondern fließt in Strömen. Ich spüre ihn auf der Brust, unter den Achseln, am Hals, auf den Handflächen und im Rücken zwischen den Schulterblättern. Mein ganzer Körper vibriert und zittert in einem unbezähmbaren Drang zu fliehen, ich fühle niederschmetternd und unkontrollierbar die absolute Gewißheit in mir auf steigen, daß ich sterben werde.
Als ich aus dieser Krise emportauche und mir mit dem Taschentuch, das ich mühsam aus meiner Jackentasche ziehe, den Schweiß vom Gesicht wische, hilft Chrestopoulos mir unwissentlich, zu meinem normalen Zustand zurückzufinden – wenn ich die vage Angst, von der ich sprach und die ich mit allen »Passagieren« teile, auch mit denen der Mehrheit, als »normal« bezeichnen darf.
Der Grieche hat eine merkwürdige Art der Nahrungsaufnahme. Seine table manners fallen mir gerade jetzt auf, weil er zu Beginn der Mahlzeit Michou hat weichen müssen – auf deren brutale, kindische Aufforderung hin (He, Sie Bärtiger, runter von meinem Platz!) – und nun am oberen Ende des rechten Halbkreises sitzt, wo ursprünglich die Begleiterin des Inders gesessen hat. Von diesem Platz trennen mich nur der Gang zwischen den beiden Halbkreisen und der leere Sessel der Stewardess. Ich sehe den Griechen also aus unmittelbarer Nähe, und nicht genug damit: ich rieche ihn, denn der Gestank von Patschuli, Schweiß und Knoblauch kommt in Schwaden zu mir herüber.
Er ißt nicht, er frißt. Er kaut nicht, er schlingt. Er stürzt sich auf sein fades Stück gefrosteter Lammkeule wie ein ausgehungerter Wolf auf die dampfenden Eingeweide eines Hasen. Ein Wunder, daß er überhaupt noch sein Besteck zu Hilfe nimmt. Wenn er glaubt, das Essen nicht schnell genug in sich hineinzustopfen, schiebt er mit den Fingern nach. Seine Wangen sind prall wie Hamsterbacken, und ich befürchte ständig, daß ihm der große Klumpen, den er kaum kaut, bevor er ihn hinunterschluckt, in der Kehle steckenbleiben wird. Aber nein, er spült einen kräftigen Schluck Wein hinterher, den Klumpen aufzuweichen, damit er rutscht, und man sieht ihn rutschen in seinem Hals, ganz wie bei einer Boa, die ein Kaninchen verschlingt.
Chrestopoulos ist natürlich als erster fertig, und nachdem die Stewardess sein Tablett weggeräumt hat, zündet er sich eine lange, stinkende schwärzliche Zigarre an, zieht dann mit zufriedener Miene aus der Innentasche seines Jacketts ein Bündel Toilettenpapier, zählt sorgfältig, nimmt einen kleinen Stapel und reicht ihn Pacaud.
»Monsieur Pacaud«, sagt er, die lange Zigarre im rechten Mundwinkel, »ich gebe Ihnen die 10 000 Schweizer Franken zurück, die Sie mir vorgeschossen haben.«
»Danke«, sagt Pacaud und nimmt mechanisch die Zettel entgegen, wobei seine Augen vor Überraschung mehr als gewöhnlich hervorquellen. »Das war doch gar nicht nötig. Ich glaube nicht, daß Emile noch eine Partie spielen will.« Und da Bouchoix, der mehr denn je wie eine Leiche aussieht, die Augen nicht aufschlägt, fügt Pacaud mit einem angedeuteten Lächeln leise hinzu: »Wissen Sie, er verliert nicht gerne. Und Sie haben ihn ausgenommen. Mich auch. Wir sind eben keine sonderlich guten Spieler.«
»Na gut, dann könnten wir ja abrechnen«, meint Chrestopoulos. Er breitet die ihm verbliebenen Toilettenpapierzettel fächerartig wie Spielkarten in seinen Händen aus und sagt: »Ich habe hier Scheine für 18 000 Schweizer Franken, Monsieur Pacaud, die Sie bei der Ankunft nach Gutdünken in Schweizer Franken oder französischen Francs einlösen können, wie Sie es wünschen.«
»Was!« schreit Pacaud, dessen Schädel zusehends dunkelrot anläuft. »Ich soll Ihnen diese wertlosen Zettel bezahlen? Sie haben vielleicht Humor!«
Schweigen.
“I told you so, Mr. Pacaud!”3 sagt Blavatski schadenfroh.
Caramans setzt die zufriedene Miene des Gerechten auf, dem der Ablauf der Ereignisse recht gegeben hat, aber er bewahrt Schweigen, denn der Gerechte, noch dazu wenn er einer guten französischen Tradition angehört, besitzt zuviel Takt, um angesichts vollendeter Tatsachen öffentlich zu triumphieren.
»Das sind keine wertlosen Zettel«, sagt Chrestopoulos mit der entrüsteten Miene eines Ehrenmannes, den stinkenden Qualm seiner Zigarre von sich blasend, »das sind Schuldanerkenntnisse, die Sie datiert und unterschrieben haben …«
»Auf Arschwischen!« schreit Pacaud.
“My dear!” sagt Mrs. Boyd, die bei ihrem bißchen Französisch wenigstens dieses Wort kennt.
»Das Papier tut nichts zur Sache!« entgegnet Chrestopoulos mit einer Heftigkeit, die seine Zigarre und seinen Schnurrbart zum Zittern bringt. »Wir haben genommen, was wir fanden. Was zählt, ist der Text, den Sie geschrieben haben, Monsieur Pacaud. Sie werden doch wohl zu Ihrer Unterschrift stehen!«
»Aber das war doch nur Spiel!« ruft Pacaud keuchend und fährt, als er die Atemnot überwunden hat, fort: »Ein Jux! Nicht mehr! Sehen Sie, Monsieur Chrestopoulos, allein der Gedanke, Klopapier als Banknoten zu verwenden, nahm der Angelegenheit jeglichen Ernst! Und stempelte das Ganze zu einem Ulk!«
»Keineswegs«, sagt Chrestopoulos, die lange schwärzliche Zigarre immer noch im Mund. »Außerdem haben diese Herren (er weist mit seinem kurzen Arm auf Caramans und Blavatski) Sie gewarnt. Und wenn Sie Ihre Unterschrift in dem Glauben geleistet haben, daß das keine Konsequenzen nach sich ziehen würde – was mich bei einem Geschäftsmann erstaunt –, dann ist das Ihre Sache. Ich befinde mich jedenfalls im Recht, wenn ich von Ihnen die Bezahlung einer Spielschuld fordere!«
»Spielschuld!« ruft Pacaud, völlig außer sich. »Wer sagt mir denn, ob Sie nicht falschgespielt haben?«
»Monsieur Pacaud!« zetert Chrestopoulos, nimmt die Zigarre aus dem Mund und steht auf, als wollte er sich auf seinen Gesprächspartner stürzen. »Sie beleidigen mich und mein Land! Ich habe diesen Rassismus satt! Für Sie ist ein Grieche ein Betrüger! Das kann ich nicht hinnehmen! Entweder Sie entschuldigen sich auf der Stelle, oder ich schlage Sie ins Gesicht!«
»Mich entschuldigen!« Pacaud stützt die Hände auf die Seitenlehnen und ist ebenfalls sprungbereit. »Mich entschuldigen, weil Sie versuchen, mir 18 000 Schweizer Franken abzugaunern!«
»Fassen Sie ihn nicht an, Sie Dreckskerl!« sagt Michou plötzlich und tritt vor den Griechen hin. »Oder ich kratze Ihnen die Augen aus!«
Bei diesen Worten versetzt sie ihm entgegen jeglicher Logik und völlig überraschend einen Tritt ans Schienbein. Chrestopoulos heult vor Schmerz.
»Das Gör ist verrückt geworden«, schreit er. »Ich werde ihr eine Ohrfeige geben! Was anderes hat sie nicht verdient!«
Dennoch kann er sich nicht dazu entschließen, vielleicht weil ihm seine Zigarre hinderlich ist, die er in der rechten Hand hält. Es tritt Verwirrung ein, die Situation scheint zwischen Gewaltanwendung und Komödie zu schwanken. Pacaud zieht Michou an der Hand, damit sie sich wieder setzt; Michou wehrt sich und sieht gleichzeitig den Griechen herausfordernd an; und der Grieche ist erstaunt, zwei Gegner vor sich zu haben, wo er nur einen erwartete.
Da packt Blavatski, dessen Augen hinter den dicken Brillengläsern funkeln, die Gelegenheit beim Schopfe und handelt.
»Alles hinsetzen! Das ist ein Befehl!« schreit er.
Seine energische Stimme setzt sich in dieser unentschiedenen Lage durch: alle drei gehorchen, ohne zu fragen, ob Blavatski überhaupt das Recht hat, ihnen Befehle zu erteilen.
»Und jetzt werden wir alles klären«, sagt Blavatski mit vorgeschobenem Kinn, glücklich, seine leadership wiedererlangt zu haben.
Ich gestehe, daß mir sein triumphierender Gesichtsausdruck ein Gefühl der Ironie einflößt. Wie kann ein intelligenter Mann auch nur eine Sekunde lang glauben, daß er in dieser unserer Situation mehr kontrolliert als bestenfalls einen schäbigen Streit?
»Monsieur Pacaud«, fährt Blavatski fort, »beschuldigen Sie Monsieur Chrestopoulos, falschgespielt zu haben?«
»Ich habe keinen Beweis dafür, aber ich halte es für wahrscheinlich«, sagt Pacaud.
»Weil ich Grieche bin!« sagt Chrestopoulos, die Augen zum Himmel erhoben, zwischen Entrüstung und Wehklagen hin und her gerissen. Aber ein so guter Schauspieler er ist, mißbraucht er doch zu unverschämt unsere antirassistischen Empfindungen für seine Zwecke.
Er will darin schon fortfahren, den Finger erneut auf die Wunde legen, als Bouchoix seine abgezehrte Hand hochhält; seine Lider heben sich in den eingesunkenen Augenhöhlen, und er sagt mit außerordentlich dünner Stimme:
»Er … hat nicht … falschgespielt. Ich habe ihn … aus der Nähe … überwacht. Und es sind … meine Karten … nicht irgendwelche.«
Daraufhin wendet er langsam den Kopf, sieht Pacaud mit einem von schwärzester Tücke geprägten Lächeln an und schließt die Augen. Das Lächeln erstarrt auf seinem Totenschädel zu einem Grinsen. Unheimlich. Ein Schweigen besonderer Art lastet auf uns, als hätte ein Hauch der Hölle unsere Gesichter gestreift. Nicht daß ich glaube, die Hölle befände sich außerhalb des Menschen. Im Gegenteil, ich bin sicher, im Falle Bouchoix’ ist sie sehr verinnerlicht – der nagende Haß auf seinen Schwager hat zu seiner eigenen Zerstörung geführt und nach und nach seine Lebenskraft aufgezehrt.
»Wenn Monsieur Chrestopoulos nicht falschgespielt hat, müssen Sie, Monsieur Pacaud, sich bei ihm entschuldigen«, sagt Blavatski und vergißt, daß er selbst zu Beginn der Partie die Ehrlichkeit des Griechen angezweifelt hatte.
»Ich mich entschuldigen bei diesem … diesem …« Pacaud beendet seinen Satz nicht, denn bei aller Wut ist ihm wenig daran gelegen, sich erneut ins Unrecht zu setzen.
»Ich kann auf die Entschuldigung Monsieur Pacauds verzichten«, sagt Chrestopoulos, an uns alle gewandt. Er spricht mit einem würdevollen Ausdruck, wie wir ihn nie zuvor an ihm gesehen haben und der in dem Moment in sein Gesicht trat, als Bouchoix ihm ein Ehrlichkeitszeugnis ausstellte. Das Toilettenpapier schwenkend, fährt er fort: »Hingegen wünsche ich, daß Monsieur Pacaud öffentlich seine Schulden anerkennt: 10 000 Schweizer Franken, die ich ihm bei einem ehrlichen Spiel abgewonnen habe, und 8 000 Franken, die ich von Monsieur Bouchoix bekomme! Insgesamt wie gesagt: 18 000.«
»Aber warum soll Monsieur Pacaud die Schulden von Monsieur Bouchoix bezahlen?« fragt Mrs. Banister mit einer graziösen Wendung ihres langen Halses und legt versehentlich ihre Hand auf Manzonis Hand. Gleichzeitig sieht sie ihn mit einem fragenden hilflosen Blick an, als ob die schwierigen Geschäfte der Männer ihr schwaches weibliches Begriffsvermögen überstiegen.
»Weil doch Monsieur Pacaud die Scheine unterschrieben hat«, erwidert Manzoni mit einem so gönnerhaften Geckenlächeln, daß ich im Hinblick auf die Zukunft Mitleid mit ihm bekomme. »Es versteht sich von selbst, daß Monsieur Pacaud jederzeit seine Außenstände bei Monsieur Bouchoix einziehen kann«, fügt er ohne allzuviel Takt hinzu.
Wir sehen fasziniert, wie sich Bouchoix’ Totenkopf ein zweites Mal belebt. Was an Haut und Muskeln verblieben ist, verzieht sich erneut zu einem Lächeln voller Boshaftigkeit. Der Haß auf seinen Schwager hatte ihn verzehrt, sagte ich: offensichtlich hält er ihn in diesem Stadium am Leben, da der Sterbende noch die Kraft findet, sich bei dem Gedanken an den Verlust, den Pacaud durch ihn erleidet, zu freuen. Denn das Schreckliche daran ist ohne Zweifel, daß Pacaud kein Kartenspieler ist und nur aus Freundlichkeit in dieses Spiel eingewilligt hat.
»Also, mein Herr, schlagen Sie sich das aus dem Kopf!« sagt Pacaud, die Stimme hebend, mit einer ausladenden Armbewegung, als wollte er das Toilettenpapier, das sein Widersacher ihm entgegenstreckt, ins Nichts zurückstoßen. »Sie können gewiß sein, Monsieur Chrestopoulos, daß ich mich von Ihnen nicht prellen lasse! Sie bekommen von mir nichts! Nichts! Keinen Sou! Keinen Cent! Keinen Penny! Und dieses Papier können Sie seinem Verwendungszweck zuführen!«
»Genial!« sagt Michou lachend.
Aber ihr Lachen bricht unvermittelt ab, weil keiner einstimmt.
»Sie sollten sich diese Ausfälle sparen«, sagt Chrestopoulos mit jenem würdigen Gesichtsausdruck, der auf die Dauer immer weniger überzeugt. »Sie schulden mir 18 000 Schweizer Franken, Monsieur Pacaud, und wenn Sie nicht zahlen, bringe ich Sie vor Gericht!«
Bei diesen Worten faltet er die Zettel sorgfältig und läßt sie demonstrativ in die Innentasche seines Jacketts gleiten.
»Vor Gericht!« rufen Robbie und Blavatski gleichzeitig.
Indessen sind sie weit entfernt, das gleiche zu meinen. Robbie begleitet seinen Ausruf mit einem höhnischen Lachen und der üblichen Mimik (Hand vor dem Mund, zuckender Unterleib, ineinander verwickelte Beine): Ihm erscheint die Anrufung der Justiz durch einen Passagier dieser Chartermaschine einfach absurd. Für Blavatski dagegen ist solche Anrufung nicht an sich ausgeschlossen, sondern scheint nur von Chrestopoulos’ Seite sehr unwahrscheinlich zu sein.
»Und an welches Gericht werden Sie sich wenden, Monsieur Chrestopoulos?« fragt Blavatski mit eiskaltem Blick. »An ein französisches oder an ein griechisches?«
»Natürlich an ein französisches«, entgegnet Chrestopoulos mit spürbarer Verlegenheit.
»Und warum an ein französisches?«
»Weil Monsieur Pacaud doch Franzose ist.«
»Und warum nicht an ein griechisches, weil Sie doch Grieche sind? Haben Sie einen Grund, Monsieur Chrestopoulos, der es Ihnen nicht wünschenswert erscheinen läßt, sich an ein griechisches Gericht zu wenden?«
»Ich habe keinen«, sagt Chrestopoulos und wahrt seine Haltung ganz gut, aber der Schweiß verrät ihn, der ihm auf die Stirn tritt und längs seiner Nase hinunterrinnt. Gleichzeitig wird der Geruch, den er ausströmt und der möglicherweise auf andere Absonderungen zurückzuführen ist, unerträglich.
»Aber ja doch«, sagt Blavatski und schiebt sein kräftiges Kinn vor. »Hatten Sie nach dem Sturz des Obristenregimes nicht einige Schwierigkeiten mit der Justiz Ihres Landes, Monsieur Chrestopoulos?«
»Keineswegs!« ruft Chrestopoulos und drückt ohne jegliche Notwendigkeit seine stinkende Zigarre aus.
Vielleicht tut er das, um Haltung zu bewahren und Gelegenheit zu haben, die Augen zu senken. Aber er hat sich verrechnet, der ganze Kreis blickt auf seine Finger und sieht, daß sie zittern. Er bemerkt es selbst, denn er läßt die Zigarre halb ausgedrückt im Aschenbecher liegen und steckt seine Hände in die Taschen, was nicht einfach ist, da seine Hose sich über seinem Bauch spannt.
Schweigen. Chrestopoulos bläst in seinen Schnurrbart.
»Ich habe mich nie um Politik gekümmert«, fügt er mit ehrbarer Miene hinzu.
»Stimmt«, sagt Blavatski.
»Und ich bin niemals unter Anklage gestellt worden.«
»Stimmt auch«, sagt Blavatski. »Doch Sie sind als Zeuge im Prozeß gegen einen Offizier vorgeladen worden, der unter dem Obristenregime ein Lager politischer Gefangener befehligte. Dieser Offizier soll mit Ihnen zusammen die für das Lager bestimmten Nahrungsmittel gewinnbringend verhökert haben …«
»Das war eine völlig legale Sache«, sagt Chrestopoulos, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß allein dieses Adjektiv ein Eingeständnis ist.
»Vielleicht«, sagt Blavatski in schneidendem Ton. »Legal nach den Gesetzen jener Zeit. Jedenfalls haben Sie es vorgezogen, Griechenland zu verlassen, anstatt Ihre Zeugenaussage vor diesem Gericht zu machen. Was nicht zugunsten Ihrer Unschuld spricht.«
»Ich habe Griechenland aus persönlichen Gründen verlassen«, sagt Chrestopoulos mit aufzüngelnder Entrüstung, die nur ein Strohfeuer bleiben wird.
»Aber gewiß! Und aus persönlichen Gründen begeben Sie sich jetzt nach Madrapour?«
»Ich habe auf diese Unterstellungen bereits gebührend Antwort gegeben«, ruft Chrestopoulos mit einer Heftigkeit, die niemanden täuscht.
Ein Rauchvorhang, um seine Niederlage zu verbergen, die nun vollständig ist. Sein Gesichtsverlust hinterläßt bei uns eine peinliche Empfindung, die keineswegs gemildert wird, als die Murzec leise sagt: »Ich werde für Sie beten, Monsieur.«
»Lassen Sie mich mit Ihren Gebeten in Ruhe!« brüllt Chrestopoulos unbeherrscht und zieht die Schultern hoch, aber seine Hände bleiben tief in den Taschen, wie von unsichtbaren Handschellen festgehalten.
Wie sehr mir auch seine Vergangenheit Abscheu einflößt, in diesem Augenblick bedaure ich ihn fast, genauer gesagt: ich würde ihn bedauern, wenn nicht seine lange schwärzliche Zigarre weiter in dem Aschenbecher qualmte. Ich kann mich jedoch nicht entschließen, das Wort an ihn zu richten, nicht einmal, damit er die Zigarre ausmacht. Beim Anblick dieses Mannes, der politische Gefangene ausgehungert hat und jetzt in meiner Nähe sitzt, spüre ich Scham und fast ein Schuldgefühl, als ob in mir wie in ihm die Menschlichkeit durch sein Verbrechen erstickt worden wäre.
Wir hofften, nach dieser aufregenden Mahlzeit in Ruhe den mittelmäßigen, aber stärkenden Kaffee genießen zu können, den die Stewardess uns serviert. Aber wir haben nicht den Eifer der Murzec einkalkuliert. Sie beugt sich zu Blavatski vor.
»Monsieur, Sie lassen es gegenüber Monsieur Chrestopoulos abermals an Barmherzigkeit fehlen. Und Ihre Unterstellung bezüglich seiner Reise nach Madrapour ist um so absurder, als es jetzt völlig ausgeschlossen ist, daß wir jemals in Madrapour ankommen.«
»Ausgeschlossen?« fragt Blavatski mit unverhohlener Ironie und einer Gereiztheit, die zu verbergen er sich nicht einmal die Mühe gibt. »Völlig ausgeschlossen? Das ist eine wichtige Nachricht, Madame! Es wäre angebracht, daß Sie uns sagen, woher Sie die haben!«
»Ich habe nachgedacht«, erwidert die Murzec.
Sie sucht in ihrer Handtasche – nicht wild drauflos, wie Michou getan haben würde, sondern so systematisch wie möglich, um die Gegenstände nicht durcheinanderzubringen –, holt ein mit Wildleder bezogenes kleines Notizbuch heraus, blättert darin und sagt:
»Ich habe hier den Plan der Linienflüge nach New Delhi. Um 11.30 Uhr fliegt eine Maschine in Paris ab. Erste Zwischenlandung: Athen, 15.30 Uhr. Abflug aus Athen: 16.30 Uhr. Zweite Zwischenlandung: Abu Dhabi. Am Persischen Golf«, fügt sie nach kurzer Überlegung hinzu.
»Danke, das ist mir bekannt«, sagt Caramans steif.
Aber die Murzec beachtet den Einwurf nicht. Sie geht ganz in ihrer Berechnung auf.
»Ankunft in Abu Dhabi: 22.35 Uhr. Abflug aus Abu Dhabi: 23.50 Uhr. Und schließlich Ankunft in New Delhi: 4.20 Uhr am darauffolgenden Morgen.«
»Was schließen Sie daraus?« fragt Blavatski herausfordernd.
»Rechnen Sie doch selbst nach«, antwortet die Murzec. »Von Paris nach Athen sind es vier Flugstunden. Sechs Flugstunden von Athen nach Abu Dhabi. Und viereinhalb Stunden von Abu Dhabi nach New Delhi.«
»Und?« fragt Blavatski ungeduldig.
Die Murzec sieht ihn mit ihren blauen Augen fest an.
»Wir sind weder in Athen noch in Abu Dhabi zwischengelandet«, sagt sie ruhig, »und wenn die Chartermaschine demselben Zeitplan und derselben Route wie das Linienflugzeug folgt, was naheliegt, müßten wir bereits in New Delhi sein. Stimmt das, Mademoiselle?« fragt sie und wendet sich unvermittelt an die Stewardess. »Sie müßten es uns sagen können, da Sie bereits auf dieser Strecke geflogen sind.«
»Es stimmt«, antwortet die Stewardess.
Die Hände brav über den Knien verschränkt, setzt sie dem kein einziges Wort hinzu. Aber sie stößt einen leichten Seufzer aus und sieht der Murzec mit ihren grünen Augen vorwurfsvoll ins Gesicht.