KAPITEL 8

Auch nachdem der Exit wieder verriegelt ist, hält die durchdringende eisige Kälte an, sie scheint sogar zuzunehmen. Man hat den Eindruck, als hätte das Flugzeug seinen letzten Wärmevorrat aufgebraucht.

Aber erst in diesem Augenblick – als wir nicht mehr die Gegenwart des Inders spüren – wagen wir, uns zu bewegen, und denken daran, uns gegen die Kälte zu schützen. Wie auf Verabredung stehen alle gleichzeitig auf und tasten im Dunkeln wild durcheinander nach ihren Mänteln.

Mit schweren Beinen, die Brust wie in einen Schraubstock gespannt, finde ich mich wieder an meinem Platz. Mir kommt der absurde Einfall, mich in der Touristenklasse durch ein paar gymnastische Übungen warm machen zu wollen. Doch kaum habe ich den Vorhang zur Seite geschoben, schlägt mir eine solche Kälte entgegen, daß ich wie ein Betrunkener auf meinen Platz zurücktorkele. Trotz aller Vermummung – ich habe sogar meinen Hut aufgesetzt – wird mir nicht wohler. Der dicke Mantel, den ich übergezogen habe, scheint nur die Kälte einzuschließen, die in mir wohnt.

Seltsam, es gelingt mir nicht, mich zu erinnern, daß mir je in meinem Leben warm gewesen wäre, oder mir vorzustellen, daß ich jemals wieder milde Luft atmen könnte. Als das Licht wieder angeht, entringt sich mir ein Seufzer der Erleichterung – eine ebenso impulsive Reaktion wie das Augenblinzeln unter dem Eindruck der Helligkeit. In Wirklichkeit kann ich nicht richtig glauben, daß es im Flugzeug noch einmal warm werden wird.

Ich sehe die Stewardess an. Sie ist blau vor Kälte. Sie hat sich eine Decke über die Schultern geworfen, die sie jetzt abnimmt, als das Licht aufflammt. Sie schwankt auf ihren Beinen, reibt die Hände aneinander und sagt leise mit brüchiger Stimme: »Ich mache Kaffee.«

Dankbares Gemurmel ist die Antwort, kaum artikuliert, weil wir mit unseren Kräften haushalten müssen. Und Mrs. Banister haucht: »Könnte ich Tee haben?«

»Ich auch«, sagt Bouchoix mit ersterbender Stimme.

Er sitzt zusammengesunken auf seinem Sessel und zittert an allen Gliedern. Mit seiner wächsernen Haut und den eingefallenen Augen sieht er fast wie eine Leiche aus.

»Ja«, sagt die Stewardess, der sogar dieses »Ja« schwerzufallen scheint. Und sie geht wankend auf die Pantry zu.

Pacaud richtet sich auf, durchquert zögernd den rechten Halbkreis, nimmt mit zitternden Händen die Decke, die die Stewardess auf ihrem Sessel zurückgelassen hat, und breitet sie wortlos über Bouchoix’ Beine. Erst glaubte ich, Bouchoix hätte es nicht gemerkt, denn er sieht seinen Schwager nicht an und bedankt sich auch nicht. Aber etwas später bemerke ich, wie er nach der Decke greift und sie sich bis zum Kinn hochzieht.

Ich stehe nun ebenfalls auf, nicht ohne Mühe, und lasse meinen Hut auf dem Sessel liegen. Zu meinem großen Erstaunen hebt Blavatski den Kopf und fragt mit schwacher Stimme, jedoch nicht ohne eine gewisse Anmaßung: »Wo gehen Sie hin?«

»Ich will der Stewardess meine Hilfe anbieten.«

»Die Stewardess braucht Ihre Hilfe nicht.«

»Und ich brauche Ihre Ratschläge nicht, danke.«

So kurz dieser Wortwechsel ist, er ermüdet mich. Schwer atmend und mit dem unangenehmen Gefühl, daß alle meine Gelenke steif geworden sind, erreiche ich taumelnd die Pantry. Die Stewardess hat ihre Hände um einen mit Wasser gefüllten Topf gelegt, in dem ein Tauchsieder steckt. Als sie mich sieht, huscht über ihr Gesicht ein schwaches Lächeln des Dankes, aber sie scheint nicht erstaunt zu sein. Sie zittert am ganzen Körper.

»Das Wasser war nicht mehr warm genug«, sagt sie kaum hörbar.

Ich blicke auf ihre langen schmalen Finger, die das Metall umklammern.

»Sie müssen sie rechtzeitig wegnehmen, sonst könnten Sie sich verbrennen, ohne es zu merken.«

Sie nickt, und ich fahre fort:

»Man sollte den Passagieren auch einen Imbiß geben. Sie müssen essen, um warm zu werden.«

Sie nickt wieder und weist mit dem Kopf auf eine Tür hinter uns: Dort, will sie sagen, aber es kommt kein Ton aus ihrem Mund.

Der vermeintliche Wandschrank ist eine Art Kühlraum, und ich bin über die darin aufbewahrten Vorräte sehr erstaunt: Es ist unendlich mehr, als man braucht, um fünfzehn Passagiere für fünfzehn Stunden zu versorgen.

So gut ich kann, richte ich die Tabletts her und stelle sie auf den Servierwagen. Die Stewardess beobachtet mich dabei, immer noch zitternd und ohne zu sprechen, ohne sich zu bewegen, die Hände gegen den Metalltopf gepreßt. Das Wasser beginnt zu rauschen.

»Nehmen Sie die Hände weg, sonst verbrennen Sie sich«, sage ich schnell.

Sie rührt sich nicht. Abgesehen von ihren lebhaften, ausdrucksvollen Augen, scheint sie in einem Eisblock zu stecken und völlig willenlos zu sein. Ich stelle mich hinter sie, ergreife ihre beiden Handgelenke und reiße ihre Hände mit Gewalt von dem Topf los. Es war höchste Zeit: die Handflächen wurden schon langsam rot. Sie stößt einen leisen Seufzer aus und läßt sich zurückfallen, ihr Kopf sinkt auf meine Schulter.

Ihr so nahe, aber außerstande, sie zu begehren, fühle ich meine Zuneigung um so stärker. Ihre Handgelenke haltend, ihren Körper umschlingend, bin ich nur von dem Gedanken erfüllt, daß sie da ist, ohne etwas anderes zu wünschen, ohne jene Begierde nach der Zukunft, die einem meistens die Gegenwart verdirbt. Schwindlig im Kopf oder jedenfalls gerade noch so weit bei Sinnen, um zu wissen, daß ich glücklich bin, starre ich über ihr goldblondes Haar hinweg vor mich hin. Genauer: ich fasse unbewußt und dennoch aufmerksam das Metallgefäß ins Auge, in dem das Wasser zu kochen beginnt. In der Verworrenheit meiner geistigen Verfassung registriere ich einen Widerspruch zwischen dem Brodeln des Wassers und meinem Seelenzustand, denn das Glücksgefühl beraubt mich diesmal nicht der Ruhe.

Ich weiß nicht, warum die schönsten Augenblicke meistens durch uns selbst ein Ende finden müssen, als wären wir unsere eigenen Feinde. Die Stewardess macht keine Anstalten, sich aus meinen Armen zu befreien: ich löse mich von ihr. Ich gieße etwas kochendes Wasser über den Pulverkaffee und reiche ihr die Tasse.

»Nein, nein«, sagt sie tonlos. »Ich will nicht als erste trinken, noch vor den Passagieren.«

»Trinken Sie«, sage ich streng. »Sie müssen wieder zu Kräften kommen, und sei es nur, um die Passagiere zu bedienen.«

Sie ist zu schwach, um zu widersprechen, und als sie eingewilligt hat, löse ich auch für mich ein wenig Kaffeepulver in dem kochenden Wasser auf. Dicht beieinanderstehend, die Gesichter einander zugewandt, trinken wir schweigend in kleinen Schlucken, während unsere Hände dankbar die große heiße Tasse umspannen.

Die Klimaanlage muß wieder in Gang gekommen sein, denn ich spüre über meinem Kopf einen warmen Luftstrom. Ich habe drei Stück Zucker in meine Tasse getan, und ich sauge die warme süße Flüssigkeit in einem dünnen Strahl durch die Zähne hindurch ein. Über den Tassenrand hinweg betrachte ich die Stewardess und ihre unergründlichen grünen Augen. Mit allen Fasern meines Herzens fühle ich mich unwiderstehlich zu ihr hingezogen und stelle mir immer wieder die Frage: Warum hat die Stewardess soviel Vertrauen zu mir, soviel Anlehnungsbedürfnis, obwohl ich doch so häßlich bin? O nein, ich werde ihr diese Frage nicht stellen! Das wäre sinnlos. Ich kenne sie: im Ausweichen und im Nichtantworten ist sie unübertrefflich.

Ich schiebe das Wägelchen in die erste Klasse und helfe beim Servieren. Unterdessen stelle ich mit Erstaunen fest, daß sich während unserer Abwesenheit Veränderungen in der Sitzordnung vollzogen haben.

Chrestopoulos hat sich am äußeren Ende des rechten Halbkreises in dem Sessel des Inders niedergelassen. Dadurch ist der Platz rechts von Pacaud frei geworden, den Michou eingenommen hat, wahrscheinlich um von Manzoni wegzukommen. Robbie, dem diese Flucht sehr zustatten kommt, hat Michous Sessel zur Linken des Italieners mit Beschlag belegt, und Madame Edmonde, die sich Robbie auf Grund der paradoxen Idylle, die ich erwähnte, angeschlossen hat, ist einen Platz weitergerückt, so daß jetzt der Platz links neben der Stewardess frei ist.

Wir werden von allen dankbar empfangen, außer von Mrs. Banister, die mich hochmütig fragt: »Mr. Sergius, sind Sie zum Steward befördert worden?«

Ich weiß nicht, was ich von diesem Angriff halten soll, und reagiere nicht darauf, erlaube mir nur einen unfreundlichen Blick. Aber Robbie greift zu den Waffen, nicht so sehr zu meiner Verteidigung als gegen meine Angreiferin. Er beugt sich vor, um Mrs. Banister sehen zu können, und sagt:

»Ich dachte, daß derartige Bemerkungen aufgehört hätten, seitdem Madame Murzec nicht mehr da ist.« Und da Mrs. Banister nicht antwortet, fügt er ebenso bissig wie hinterhältig hinzu: »Sie werden sich damit abfinden müssen, daß die Männer, für die Sie sich nicht interessieren, sich für wen anders interessieren.«

Der Hieb sitzt.

»Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich von Ihnen in dieser Beziehung nie etwas erwartet habe«, erwidert Mrs. Banister mit heftigem Blinzeln ihrer japanischen Augen.

»Dann machen Sie doch nicht so ein enttäuschtes Gesicht«, sagt Robbie tückisch.

Er schüttelt seine blonden Locken, glättet das orangefarbene Halstuch und wirft Manzoni, der sich bei diesem Wortwechsel heraushält, als beträfe er ihn überhaupt nicht, einen triumphierenden Blick zu.

Madame Edmonde legt schützend ihre Hand auf Robbies Arm.

»Ach laß doch, Robbie«, sagt sie betont vulgär. »Du siehst doch, was das für eine Pute ist!«

Daß Madame Edmonde Robbie bereits mit einem Ausdruck liebevoller Inbesitznahme duzt, obwohl zwischen ihnen schwerlich von Seelenverwandtschaft die Rede sein kann, übertrifft alle Vorstellungskraft. Sogar Caramans ist erstaunt.

Während des Imbisses redet niemand außer Pacaud, der Bouchoix zu essen drängt, aber ohne Erfolg. Bouchoix, der sichtlich erschöpft ist, schafft es mit Mühe, eine halbe Tasse Tee zu trinken, und auch das nur mit Hilfe seines Schwagers.

Während ich selbst mit Heißhunger esse und bald auch nicht mehr friere, sondern mich wohlig warm fühle, beobachte ich die beiden Männer. Bislang glaubte ich, ihr Haß beruhe auf Gegenseitigkeit. Ich irrte mich: er ist einseitig. Und ich bewundere Pacaud, wie er so brüderlich einen Mann umsorgt, der ihm mitnichten Dank weiß, sondern ihm weiterhin unerbittlichen Groll entgegenbringt.

Ich helfe der Stewardess, die leeren Tabletts auf den Servierwagen zu stellen, und folge ihr in die Pantry. Als sie den Vorhang zugezogen hat, der uns von der ersten Klasse trennt, sage ich zögernd:

»Jetzt ist ein Sessel neben Ihnen frei. Gestatten Sie, daß ich mich dorthin setze?«

»Aber gewiß doch, wenn es Ihnen Freude macht«, antwortet sie mit einem flüchtigen Blick. »Ich nehme nicht an, daß Madame Edmonde die Absicht hat, sich dort wieder niederzulassen.«

Dieses »wenn es Ihnen Freude macht« ist wie immer zweideutig. Der Ton ebenfalls. Ihre Empfindungen scheinen dabei nicht berührt.

»Meinen Sie, daß ich Madame Edmonde fragen muß, ob sie nicht die Absicht hat, ihren Platz später wieder einzunehmen?«

Die Stewardess schüttelt den Kopf.

»Das ist nicht nötig. Madame Edmonde fühlt sich dort, wo sie ist, sehr wohl.«

Aber sie sagt das ohne das Lächeln und den Blick, die eine Brücke zwischen uns schlagen könnten. Sie hält die Augen gesenkt.

Ich wage mich weiter vor.

»Finden Sie es auch nicht aufdringlich, wenn ich mich neben Sie setze?«

»Aber nein, das ist doch selbstverständlich.«

Dieses »selbstverständlich« ist nicht recht überzeugend … Ich beschließe, noch einen Schritt weiter zu gehen.

»Wissen Sie«, sage ich, »Ihre Freundlichkeit mir gegenüber setzt mich in Erstaunen.«

»Aber Sie selbst …« Sie beendet den Satz nicht.

Will sie darauf anspielen, daß ich zweimal meinen Namen auf die Lose schrieb? Erklärt sich ihre Haltung aus Dankbarkeit? Ich weiß es nicht. Ich glaube es nicht. Bereits vor der Auslosung verhielt sie sich mir gegenüber so natürlich.

Jedenfalls wird sie jetzt nichts mehr sagen. Die Unterhaltung ist beendet. Ich betrachte ihr goldblondes Haar, ihre zarten Gesichtszüge und die hübsche, runde, füllige Brust, die durch ihre zierliche Figur besonders zur Geltung kommt. Die Verkörperung der Anmut. Einer rätselhaften Anmut.

Ich lasse es bewenden und begnüge mich mit dem, was man mir gewährt: eine Umarmung in der Pantry, einen Sessel neben ihr. Mit Worten ist sie jedoch wie immer ausweichend. Oder elusive, wie ich es lieber auf englisch sage. Nein, nichts deutet auf Verschlagenheit, nichts auf die üblichen Manöver der Koketterie. Vielleicht ist es nur das Gefühl, daß ihre Zuneigung keine Zukunft hat, wie unser aller Leben in der Chartermaschine.

Als wir in die erste Klasse zurückkehren, sind die Leuchttafeln eingeschaltet und die Passagiere – ich verwende dieses Wort nicht ohne Unbehagen – im Begriff, sich festzuschnallen. Ich setze mich neben die Stewardess; im Kreis werden einige Blicke getauscht, aber keine Bemerkungen gemacht, nicht einmal im Flüsterton und nicht einmal von seiten der viudas: Die Abfuhr, die Robbie Mrs. Banister erteilt hat, ist noch nicht vergessen.

Solange die Chartermaschine über die holprige Piste rollt, geschieht nichts und fällt kein einziges Wort. Aber als sie abhebt und an Höhe gewinnt – ich bewundere wiederum die außerordentlich ruhig laufenden Motoren –, spüre ich, daß ein Streit in der Luft liegt.

Diesmal verlagert sich die Aggressivität aus dem linken in den rechten Halbkreis, und Blavatski geht zum Angriff über.

»Mademoiselle«, sagt er zu der Stewardess, »dieser Flug ist zumindest ungewöhnlich, und ich halte den Augenblick für gekommen, Ihnen einige Fragen zu stellen.«

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Monsieur«, sagt die Stewardess höflich, macht aber kaum den Mund auf und wirkt müde. Es ist, als wollte sie zu verstehen geben, daß alle diese Fragen und auch ihre Antworten zu nichts führen werden.

»Wann haben Sie erfahren, daß Sie für diesen Flug eingesetzt werden?«

»Gestern am frühen Nachmittag. Ich war selbst erstaunt.«

»Warum?«

»Ich war erst am Morgen aus Hongkong zurückgekehrt und hätte normalerweise drei Ruhetage haben müssen.«

»Wie hat man sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«

»Telefonisch. Ich wurde zu Hause angerufen.«

»Ist das üblich?«

»Üblich nicht, aber es kommt vor.«

»Und was hat man Ihnen gesagt?«

»Die Fluggäste um 18 Uhr in Roissy in Empfang zu nehmen und auf dem Flug nach Madrapour zu begleiten.«

»Aber das ist doch schon ziemlich ungewöhnlich. Eine Hostess und eine Stewardess, das sind doch zwei verschiedene Dinge.«

»Sie haben recht«, sagt die Stewardess.

»Wer hat Sie angerufen?«

»Ein Direktor.«

»Wie heißt er?«

»Er hat seinen Namen genannt, aber ich habe ihn nicht verstanden. Die Verbindung war sehr schlecht.«

»Haben Sie sich den Namen nicht wiederholen lassen?«

»Ich kam nicht dazu. Er gab mir seine Anweisungen und legte auf.«

»Und wie lauteten diese Anweisungen?«

»Ich sagte es Ihnen schon: um 18 Uhr in Roissy zu sein …«

»Und weiter?«

»Fünf Minuten vor Abflug an Bord zu gehen.«

»Ist es normal, daß eine Stewardess so spät an Bord geht?«

»Nein. Gewöhnlich sind wir eine gute Stunde vor den Passagieren da, um alles vorzubereiten.«

»Hat man Sie angewiesen, nicht ins Cockpit zu gehen?«

»Nein.«

»Warum haben Sie es dann nicht getan?«

Die Stewardess ist ruhig und doch voll innerer Spannung, sie hält die Hände über den Knien gefaltet, scheint aber bisweilen nach Atem zu ringen. Obwohl sie einleuchtende Antworten zu geben weiß, scheint ihr nicht sehr behaglich zumute zu sein. Vielleicht ist das auf den aggressiven, mißtrauischen Ton Blavatskis zurückzuführen. Denn es ist eine Binsenwahrheit: wenn man die Menschen wie Schuldige behandelt, fühlen sie sich im Handumdrehen schuldig.

Die Stewardess sagt tonlos, so als erwartete sie nicht mehr, ihren Gesprächspartner überzeugen zu können: »Ich glaube nicht, daß eine Stewardess befugt ist, das Cockpit zu betreten, wenn sie nicht gerufen wird. Schon gar nicht, wenn sie den Bordkommandanten nicht kennt.«

»Und die Bordinformation?« fragt Blavatski grob. »Wer hat Ihnen die Bordinformation gegeben?«

»Niemand. Ich habe sie in der Pantry gefunden.«

»Was verstehen Sie unter Pantry?« fragt Caramans.

»Die Bordküche«, sage ich. »Die französischen Stewardessen benutzen das englische Wort.«

»Aha«, sagt Caramans und zieht seinen Flunsch.

»Aber diese Bordinformation war unvollständig, haben Sie das nicht gemerkt?« fährt Blavatski fort, ärgerlich über die Unterbrechung.

»Doch.«

»Und haben Sie nicht erwogen, den Bordkommandanten zu bitten, die Information zu vervollständigen?«

»Ich habe das nicht eigenmächtig tun wollen«, erwidert die Stewardess müde. »Es hätte so ausgesehen, als ob ich ihn kritisierte.«

In das folgende Schweigen hinein fängt Robbie an zu lachen. Alle Augen richten sich auf ihn.

»Entschuldigen Sie, Mr. Blavatski«, sagt er, »aber das alles ist so absurd, so amerikanisch.«

»So amerikanisch?« Blavatski runzelt die Brauen.

»Nehmen Sie es mir bitte nicht übel«, sagt Robbie mit einem kleinen spöttischen Schimmer in den Augen, »aber Sie stecken bis zum Hals in amerikanischen Klischees und merken es nicht einmal!«

»Was soll daran amerikanisch sein?« fragt Blavatski barsch.

»Alles«, sagt Robbie erheitert. »Die Ermittlung! Die crossexamination, die detective story! Es fehlt nichts! Und sehen Sie, das ist einfach … komisch!« fährt er lachend fort. »Damit hat das alles nichts zu tun! Sie sehen diese Geschichte aus einem völlig falschen Blickwinkel! Nächstens werden Sie uns erzählen, daß der Inder ein Gangster war!«

»Was war er denn?«

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls kein Gangster.«

»Er hat uns aber doch ausgeraubt!« sagt Chrestopoulos entrüstet.

»Aus Jux, oder weil er uns eine Lehre erteilen wollte. Vielleicht beides.«

»Aus Jux!« schreit Chrestopoulos, und diesmal hat er die viudas auf seiner Seite. »Vielleicht war es für Sie ein Jux!«

Robbie lacht nur wieder, sagt aber nichts. Ich nutze die Gelegenheit und wende mich an Blavatski.

»Auch ich finde das Polizeiverhör, dem Sie die Stewardess unterwerfen, völlig fehl am Platze. Sie scheinen die Stewardess für verdächtig, wenn nicht gar für schuldig zu halten.«

»Aber keineswegs!« ruft Blavatski aus.

»Ein wenig doch«, sagt Caramans, Mäßigung vortäuschend. »Ich würde nicht gleich von einem Polizeiverhör sprechen, aber Ihr inquisitorischer Ton ist nicht sehr angenehm.«

»Die Herren verteidigen die Stewardess bewundernswert«, sagt Mrs. Banister scharf, weniger um Blavatski zu Hilfe zu kommen, als um Manzoni zu warnen.

Tatsächlich richtet der Italiener seit Beginn des Verhörs seine Augen mit solcher Beharrlichkeit auf die Stewardess, daß nicht nur Mrs. Banister irritiert ist.

Vorübergehend tritt Schweigen ein. Blavatski gibt sich einen Ruck.

»Ob es Ihnen gefällt oder nicht«, sagt er schonungslos, »ich werde mit meinen Fragen fortfahren. Ihnen ist es vielleicht gleichgültig, wenn Sie nichts verstehen und im dunkeln tappen, mir aber liegt daran, die Situation zu klären. Mademoiselle«, fährt er fort, jedoch viel höflicher, »gestatten Sie mir noch einige Fragen: Wer hat Sie aufgefordert, außer den Pässen auch das Bargeld und die Reiseschecks der Gäste einzusammeln?«

»Der Mann, der mich angerufen hat.«

»Eine sehr ungewöhnliche, ich möchte sagen: schockierende Verfahrensweise. Haben Sie dem Mann keine Fragen gestellt?«

»Ich habe es schon gesagt: Ich kam nicht dazu. Er hat aufgelegt.«

»Sie hätten zurückrufen sollen.«

»Wie denn? Ich wußte doch den Namen nicht.«

Schweigen, und Blavatski fährt fort:

»Ich möchte auf die Bordinformation zurückkommen. Madame Murzec hatte darauf bestanden, daß Sie die Bordinformation vervollständigen. Sie betreten daraufhin das Cockpit und finden es leer. Das muß doch für Sie ein Schock gewesen sein?«

»Gewiß«, sagt die Stewardess.

»Und dennoch schweigen Sie, als Sie in die erste Klasse zurückkehren. Warum?«

»So klären Sie überhaupt nichts, Blavatski«, sage ich ärgerlich. »Sie treten auf der Stelle. Madame Murzec hat der Stewardess diese Frage bereits gestellt, und die Stewardess hat darauf geantwortet.«

»Gut, lassen Sie diese Antwort wiederholen.«

»Meine Aufgabe besteht nicht darin, die Passagiere zu beunruhigen, im Gegenteil.«

»Das ist Ihre berufliche Motivation. Haben Sie noch eine andere?«

»Was für eine andere könnte ich haben?« fragt die Stewardess lebhafter, als ich erwartet hätte. »Schließlich befand sich das Flugzeug in der Luft, es war ohne Besatzung gestartet. Also konnte es auch landen. Warum sollte ich die Passagiere in Unruhe stürzen?«

»Kommen wir zu einem anderen Punkt«, sagt Blavatski. »Nachdem der Inder uns die Uhren und den Schmuck abgenommen hatte, ließ er Sie von seiner Assistentin durchsuchen. Warum nur Sie? Warum nicht auch die anderen?«

Ich sehe die Stewardess erbleichen und komme ihr zu Hilfe.

»Diese Frage hätten Sie dem Inder stellen müssen!«

»Halten Sie endlich den Mund, Sergius!« ruft Blavatski und hebt wütend seine kurzen Arme. »Sie bringen mit Ihrem idiotischen Dazwischenreden alles durcheinander!«

»Ich gestatte niemandem, so mit mir zu sprechen! Sie sind der Idiot«, sage ich, während ich meinen Gurt löse und mich halb aufrichte.

Caramans muß den Eindruck haben, daß ich mich auf Blavatski stürzen will, denn er beugt sich mit ausgestreckten Händen vor und sagt beschwörend: »Meine Herren! Meine Herren! Versuchen wir doch, sachlicher miteinander zu reden!«

Im selben Augenblick ergreift die Stewardess meine Hand und zieht mich energisch zurück. Ich setze mich wieder hin.

»Mir scheint, Mr. Blavatski sollte sich nicht von seinem Temperament hinreißen lassen«, sagt Caramans, der mit größtem Vergnügen den Schiedsrichter zwischen den beiden »Angelsachsen« spielen möchte. »Und Mr. Sergius seinerseits …«

»Wenn Mr. Blavatski zugibt, daß er angefangen hat, bin ich bereit, das Wort ›Idiot‹ zurückzunehmen«, sage ich verdrossen.

»Schon gut, mein Lieber«, sagt Blavatski mit diabolischer Unverfrorenheit und genau im Tonfall eines Mannes, der eine Entschuldigung akzeptiert. »Ich nehme es Ihnen überhaupt nicht übel.«

»Gut, dann ziehe ich nichts zurück«, sage ich wütend, ohne im geringsten witzig sein zu wollen.

Aber der Kreis faßt es humorvoll auf und bricht in allgemeines Gelächter aus, in das Blavatski mehr oder weniger freiwillig einstimmt. Auch ich finde mich zu einem Lächeln bereit, und der Zwischenfall ist abgeschlossen.

»Ich muß jedoch sagen«, fährt Caramans fort, wieder die Rolle des Richters übernehmend, »daß mir die Frage von Mr. Blavatski sehr wichtig erscheint. Mademoiselle, wären Sie bereit, darauf zu antworten? Wir möchten erfahren, warum Sie als einzige von den Indern durchsucht worden sind.«

»Aber ich habe mich nie geweigert zu antworten«, sagt die Stewardess sanft. »Ich war lediglich überrascht, wie Mr. Blavatski seine Frage gestellt hat. Es klang so, als hätte ich im voraus wissen müssen, warum der Inder mich allein durchsuchen ließ.«

»Im voraus nicht«, sagt Caramans. »Aber hinterher?«

»Hinterher, natürlich, hinterher habe ich begriffen, warum er mich hat durchsuchen lassen.«

»Und wollen Sie uns nicht verraten, Mademoiselle, was Sie begriffen haben?«

»Das ist ja gerade die Schwierigkeit«, sagt die Stewardess beklommen. »Ich weiß nicht, ob ich es sagen soll.«

Caramans zuckt die Brauen.

»Warum?« fragt er mit einem Schwanken in der Stimme.

Alle Blicke richten sich auf die Stewardess. Sie wirkt ruhig. Da ich aber neben ihr sitze, kann ich sehen, wie ihre Nasenflügel beben.

»Wenn ich es sage, werden die … Reisenden möglicherweise sehr beunruhigt sein.« (Ich glaubte schon, sie würde »Passagiere« sagen, ein Wort, bei dem es mir jetzt kalt den Rücken herunterläuft.)

Ein perlendes, flötendes Lachen wird laut: Mrs. Banister bringt sich bei uns in Erinnerung. Ich begreife nicht, wie dieses Lachen so geziert klingen kann. Vielleicht weil es seinen Weg durch diesen langen, präraffaelitischen Hals nimmt?

»Mademoiselle, Sie müssen Ihre Rücksichtnahme nicht übertreiben«, sagt sie, mit eleganter Pose die ungeheure Distanz zwischen sich und der Stewardess hervorkehrend. »Wir brauchen weder eine Mutter noch einen Mentor, sondern bestenfalls eine Serviererin.«

Ich freue mich über die Reaktion der Stewardess: kein Blick und kein Wort. Caramans tut so, als hätte er nicht zugehört. Eine der verschleierten Unverschämtheiten der Diplomaten.

»Mademoiselle«, sagt er, »Sie haben zuviel oder zuwenig gesagt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, Sie müssen uns alles erklären.«

»Gut«, sagt die Stewardess mit einem Seufzer. »Als die Assistentin mich durchsuchte, hat sie mir meine kleine Taschenlampe weggenommen.«

»Die Taschenlampe, die der Inder benutzt hat, um die … Initiativen von Mr. Chrestopoulos zu beleuchten?«

»Ja.«

»Ist das alles?«

Die Stewardess schweigt.

»Ist das alles?« wiederholt Caramans.

»Nein. Sie hat mir auch den Schlüssel weggenommen.«

»Welchen Schlüssel?« brüllt Blavatski, noch bevor Caramans den Mund öffnen kann.

»Den Schlüssel zu dem Wandschrank, wo ich die Pässe und das Bargeld eingeschlossen hatte …«

»Himmelherrgott!« schreit Blavatski, während er seinen Gurt löst und mit erstaunlicher Beweglichkeit aufspringt. »Kommen Sie, Mademoiselle! Zeigen Sie mir, welcher das ist!«

Er stürzt in die Pantry, die Stewardess folgt ihm. Zwei Sekunden später taucht er wieder auf und sagt mit düsterem Gesicht, in dem sich auch die Genugtuung widerspiegelt, einen entscheidenden Punkt gewonnen zu haben:

»Der Wandschrank ist leer. Sie haben alles mitgenommen.«

 

Die Bestürzung erreicht jetzt ihren Höhepunkt: Wutausbrüche, lautes Klagen. Außerdem herrscht ein großes Durcheinander, denn nachdem die Leuchttafeln erloschen sind und die Temperatur sich wieder normalisiert hat, sind die Reisenden vor Verzweiflung und Zorn so in Hitze geraten, daß alle zur gleichen Zeit ihre Mäntel ausziehen, als hätte einer den anderen angesteckt. Das Schimpfen hört dabei nicht auf. Die Erregung ist unglaublich, Flüche und Kommentare in verschiedenen Sprachen und hier und da sogar kindische Streitereien über den Platz für die Mäntel. Diese Reibungen, die in den folgenden Stunden noch zunehmen, sind offensichtlich die Folge der Müdigkeit, des fehlenden Schlafs, der extremen Temperaturschwankungen und der Schicksalsprüfungen, von denen die letzte zwar nicht die schlimmste ist, aber um so schmerzlicher empfunden wird, als sie auf all die anderen folgt.

Ich fühle mich vom Verlust meines Passes, meines Bargeldes und meiner Schecks stärker berührt, als ich es vernünftigerweise hätte sein dürfen. Denn schließlich läßt sich ein Paß ersetzen, und viel Geld hatte ich nicht bei mir, zehn französische Hundertfrancsscheine. Wie also erklären, daß ich das Gefühl habe, meines Besitzes beraubt zu sein? Und wie vor allem meine Empfindung erklären – so betrüblich und traumatisch –, daß ich mit dem Paß meine Identität verloren hätte?

Ich deute diese seelische Verfassung nicht. Ich registriere sie. Und schließlich ist sie gar nicht so abwegig, denn in dem Augenblick, da Sie nicht mehr beweisen können, wer Sie sind, werden Sie zu einer Nummer unter Millionen. Ein anonymer Zustand, der einen auf schwindelerregende Weise mit dem Tod konfrontiert, so als gliche man bereits jenen Toten auf den alten Friedhöfen, deren Namen auf den Grabsteinen verwittert sind.

Während ich solchen Gedanken nachhänge, begeben sich die anderen in einem absurden Defilé zur Pantry, um sich, Blavatskis Beispiel folgend, mit eigenen Augen zu überzeugen, daß der Wandschrank wirklich leer ist und daß unsere Pässe und unser Geld nicht anderswo hingeraten sind. Am verbissensten suchen Chrestopoulos und Madame Edmonde, die in allen Winkeln und Ecken der kleinen Küche herumstöbern, rot vor Wut und Erbitterung. Ich höre sie ununterbrochen leise miteinander sprechen. Ich verstehe nicht, was sie sagen, aber ihre Wut steigert sich bis zum Paroxysmus: an ihre Plätze zurückgekehrt, werfen sie der Stewardess bösartige Blicke zu. Chrestopoulos brummelt griechisch in seinen dichten schwarzen Bart hinein, und Madame Edmonde stößt plötzlich wüste Beschimpfungen aus, die ich nicht alle wiedergeben kann.

»Dreckiges kleines Weibsstück!« schreit sie. »Du wußtest von Anfang an, daß sie alles haben mitgehen lassen!«

»Von Anfang an – wann soll das gewesen sein?« fragt Robbie, der seine zarte Hand auf Madame Edmondes kräftigen Arm legt, während ich ihr wütende Blicke zuwerfe.

Aber meine Visage macht weniger Eindruck auf sie als die Frage von Robbie; mitten in ihren Schmähungen hält sie inne und starrt ihn fasziniert an.

»Einen Moment! Einen Moment!« sagt Blavatski, der sich nicht abdrängen lassen will, nachdem er die Dinge in die Hand genommen hat. »Das ist jetzt nicht der rechte Augenblick, die Nerven zu verlieren! Wir wollen der Reihe nach vorgehen. Mademoiselle, hat die Inderin in Ihrer Gegenwart den Wandschrank geöffnet, in den Sie die Pässe und das Geld eingeschlossen hatten?«

»Nein«, sagt die Stewardess müde.

»Aber Sie konnten sich denken, daß sie das, sobald sie allein war, machen würde?«

»Ja, ich dachte es mir«, sagt die Stewardess. »Wozu hätte sie sonst den Schlüssel verlangt?«

Die Hände auf den Knien verschränkt, antwortet sie mit klarer, höflicher Stimme, verrät aber zugleich eine gewisse Resignation, als fände sie diese Fragen überaus sinnlos.

»Als Sie zurückkamen, waren Sie also überzeugt, daß die Inderin alles mitnehmen würde?«

»Ja, davon war ich überzeugt.«

»Und trotzdem haben Sie nichts gesagt!« schlußfolgert Blavatski in anklagendem Ton.

Die Stewardess zuckt leicht die Schultern, dann nimmt sie die Hände von den Knien und kehrt die Handflächen nach außen, als wollte sie die Selbstverständlichkeit des Gesagten unterstreichen.

»Was hätte Ihnen das genützt? Die Inder waren bewaffnet.«

Blavatskis Augen funkeln.

»Und als der Inder weg war, haben Sie da nicht daran gedacht, den Inhalt des Wandschranks zu überprüfen?«

»Nein«, sagt die Stewardess.

»Sie sind zumindest nicht neugierig«, sagt Blavatski mit Entschiedenheit.

Die Stewardess sieht ihn mit ihren grünen Augen ruhig an.

»In dem Moment wußte ich doch schon, daß der Wandschrank leer war.«

»Ah, Sie wußten es!« ruft Blavatski triumphierend aus, als hätte er sie in eine Falle gelockt. »Und woher wußten Sie es?«

»Als die Inderin aus der Pantry zurückkam, war ihre Kunstledertasche bis oben hin vollgestopft.«

Kurzes Schweigen.

»Gut, aber dann haben sich die Inder aus dem Staub gemacht. Warum wollten Sie uns in dem Moment immer noch nicht sagen, daß sie den Wandschrank ausgeräumt hatten?«

Die Stewardess läßt sich ziemlich lange Zeit, bevor sie eine Antwort gibt, die sogar ich befremdend finde.

»Ich hätte es machen können«, sagt sie. »Aber die Passagiere hätten sich darüber sehr erregt, und so wichtig war es doch nicht.«

Großes Gezeter.

»Das reichte Ihnen wohl noch nicht?« schreit Chrestopoulos.

»Einen Augenblick!« sagt Blavatski gebieterisch. »Mademoiselle«, fährt er mit funkelnden Augen fort, »das ist die Höhe! Sie hatten das Geld und die Pässe eingesammelt und beides in Verwahrung genommen. Und da erscheint es Ihnen ›nicht so wichtig‹, wenn die Sachen verschwinden?«

»Ich will damit nur sagen, daß mich in jenem Augenblick etwas anderes mehr beunruhigt hat.«

»Was?«

Die Stewardess zögert.

»Ich kann es nicht sagen. Es ist nicht meine Aufgabe, unter den Passagieren Unruhe zu verbreiten.«

Wieder hagelt es Proteste.

»Sie wollen sich drücken!« schreit Madame Edmonde.

Blavatski hebt die Hand und sagt mit schmetternder Stimme: »Mademoiselle, können Sie den Beweis erbringen, daß Sie in Paris tatsächlich die Anweisung bekommen haben, die Pässe und das Geld der Passagiere einzusammeln?«

»Wie sollte ich?« fragt die Stewardess. »Man hat mir diese Anweisung telefonisch gegeben.«

»Genau!« sagt Blavatski triumphierend. »Es gibt keinen Beweis, daß Sie die Anweisung bekommen haben.«

»Ebensowenig gibt es einen Beweis, daß die Stewardess die Anweisung erfunden hat«, sage ich mit zornbebender Stimme. »Ich erinnere Sie, Blavatski, an einen juristischen Grundsatz: nicht die Stewardess muß ihre Unschuld beweisen, sondern Sie müssen ihre Komplizenschaft beweisen.«

»Aber ich habe niemals behauptet …«

Ich falle ihm ins Wort.

»Aber ja! Und ob Sie es behauptet haben! Madame Murzec reicht Ihnen nicht! Sie suchen sich jetzt einen anderen Sündenbock und wollen die Stewardess zur Schuldigen stempeln.«

Robbie lächelt.

»Sergius hat recht, Blavatski, selbst wenn er seine eigenen Gründe hat, die Unschuld zu verteidigen. Ich wiederhole, das alles ist absurd, Ihre Untersuchung ist abwegig! Die Tatsache allein, daß die Stewardess da ist, macht alle Ihre Vermutungen über die Komplizenschaft der Stewardess zunichte! Sie ist nicht mit dem Inder mitgegangen. Sie sitzt mit uns in demselben Boot und ist demselben Schicksal ausgeliefert.«

Er gibt dem Wort »Schicksal« eine Betonung, bei der Resignation und Fatalismus mitschwingen, und seine Feststellung wirkt beinahe lähmend auf uns, selbst auf Blavatski, der sich über die Anfechtbarkeit der Indizien, auf die er seine »Untersuchung« gründet, durchaus im klaren sein muß.

Caramans macht daraufhin eine sehr bezeichnende Bemerkung: was er sagt, ist nicht falsch, geht aber an der wirklichen Frage vorbei.

»Mr. Blavatski«, sagt er, »ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf folgende Tatsache lenken: Sie sind durch nichts autorisiert, gegenüber einer Französin in einem französischen Flugzeug den Untersuchungsrichter zu spielen. Und Sie sind ebensowenig berechtigt, aus eigener Machtbefugnis hier eine leadership wahrzunehmen, die Ihnen niemand zugesteht.«

»Ich habe wie jeder andere das Recht, Fragen zu stellen!« sagt Blavatski mit zornfunkelnden Augen, doch gelingt es ihm auf bewundernswerte Weise, sich unter Kontrolle zu halten und sogar eine gewisse Umgänglichkeit an den Tag zu legen.

»Das Recht haben Sie, aber Sie mißbrauchen es«, sagt Caramans, der froh ist, eine alte Rechnung begleichen zu können, ohne es allzusehr merken zu lassen. »Ich sage Ihnen in aller Freundschaft, Mr. Blavatski, daß Sie an einer typisch amerikanischen Krankheit leiden: dem Interventionismus.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine damit, daß Sie sich ständig einmischen. Wie der CIA. Und zwar genauso unüberlegt. Beispiel: Sie machen einen Putsch in Athen und setzen dort die Obristen ein. Wenige Jahre später machen Sie dann einen Putsch auf Zypern. Ergebnis: Wut in Athen, und Ihre griechischen Obristen werden verabschiedet. Ihr zweiter Putsch hebt den ersten auf.«

»Was soll dieses dumme Gerede?« schreit Blavatski unbeherrscht. »Ich habe weder mit Athen noch mit Zypern etwas zu schaffen!«

»Und mit uns auch nicht«, sagt Caramans, die Lippen zusammenkneifend. Und er schweigt mit abweisender, steifer Miene, wie eine Katze, die sich von der Welt absondert und den Schwanz um die Pfoten ringelt.

»Das alles bringt uns nicht weiter!« sagt Blavatski und steuert angriffslustiger denn je wieder auf sein Ziel los. »Kehren wir zur Stewardess zurück, denn darum geht es ja. Ich behaupte nicht, daß sie eine Komplizin des Inders ist. Aber wenn sie es wäre …«

»Sie haben auch nicht das Recht, eine solche Vermutung öffentlich auszusprechen!« sage ich wütend. »Sie verdächtigen die Stewardess und tun ihr damit größtes Unrecht!«

»Mr. Sergius«, sagt die Stewardess mit ruhiger Stimme, »ich fühle mich von diesen Unterstellungen keineswegs betroffen. Lassen Sie Mr. Blavatski den Glauben, daß er noch seinen Beruf ausübt; denn offensichtlich bereitet ihm das Vergnügen.«

Obwohl die Stewardess diese Bemerkung ohne jegliche Hinterhältigkeit macht, wirkt sie auf Blavatski viel nachhaltiger als meine Proteste. Er blinzelt hinter seinen dicken Brillengläsern, und als er seinen Angriff fortsetzt, geschieht es ohne großen Elan, nur weil er nun einmal in Fahrt ist.

»Nehmen wir an, die Stewardess wäre eine Komplizin des Inders«, sagt er matt. »Sie ist zwar hier, aber wer hindert sie nach der Ankunft, sich wieder mit dem Inder in Verbindung zu setzen, um ihren Anteil an der Beute zu bekommen?«

Robbie bricht in schallendes Gelächter aus, und alle Augen richten sich auf ihn.

Er ist ohnehin eine auffällige Erscheinung, allein schon durch seine Kleidung. Mit seiner hellgrünen Hose, seinem azurblauen Hemd und seinem orangefarbenen Halstuch ist er unbestritten das farbigste Element des Kreises. Und wenn er sich amüsiert, bekommt seine Mimik etwas Paroxystisches. Er begnügt sich nicht zu lachen. Er windet sich und flattert auf seinem Sessel, die endlos langen Beine ineinanderverwickelt, die langen schmalen Finger an die Wangen gepreßt, als hätte er Angst, daß sein Kopf platzen könnte. Er bringt kein Wort hervor, so schüttelt ihn das Lachen. Als es ihm aber gelingt, seiner Stimme wieder Herr zu werden, spricht er mit größtem Ernst.

»Hören Sie, Blavatski«, sagt er, während noch die Lachtränen in seinen lebhaften Augen funkeln, »Sie sind doch ein hochintelligenter Mann. Wie können Sie so etwas sagen! Haben Sie denn nicht zugehört? Für den Inder als Buddhisten ist das Leben völlig unannehmbar. Verstehen Sie, Blavatski? un-an-nehm-bar. Als er das Flugzeug verließ, haben Sie genauso wie ich seine Worte gehört, er hat sich für immer vom Rad der Zeit losgerissen, an das wir hier alle gefesselt sind. Und es liegt auf der Hand – selbst für ein Kind! –, daß der Inder unsere Welt verlassen hat und daß wir ihn nie wiedersehen werden! Weder ihn noch die Kunstledertasche!«

»Warum hat er sie dann mitgenommen?« brüllt Chrestopoulos.

»Gewiß nicht, um sich zu bereichern«, sagt Robbie, »sondern um uns zu erleichtern!«

»Genau das meinte ich«, entgegnet Chrestopoulos. »Er hat uns sogar ordentlich erleichtert!«

Robbie sieht den Griechen unverwandt mit kühler Höflichkeit an. »Entschuldigen Sie, aber ich glaube, daß wir dem Wort ›erleichtern‹ nicht den gleichen Sinn geben.«

Schweigen. Dann sagt Blavatski leidenschaftlich:

»Das Rad der Zeit! Sie wollen mir doch nicht erzählen, Sie glaubten ernsthaft an solchen …«

Die Gegenwart der viudas hält ihn wohl zurück, das Wort auszusprechen, das sich ihm aufdrängt, denn er sagt lediglich »Stuß«, ein harmloser Ausdruck, gemessen an der Heftigkeit seines Protestes. Nach dem beifälligen Gemurmel zu schließen, stößt er im Kreis gleichsam auf einmütige Zustimmung. Robbies Interpretation scheint keine einzige Stimme zu bekommen, außer vielleicht meiner eigenen, weil sie nämlich die Stewardess entlastet.

Doch ich bin in dieser Hinsicht völlig beruhigt. Es ist wohl wahr, daß die Stewardess durch ihr Schweigen, durch die Zweideutigkeit ihrer Haltung und durch ihre teilweise befremdenden Antworten den Verdächtigungen Vorschub leistete. Aber letztendlich wurde sie beschuldigt wie ein Beamter des Finanzamtes, wenn jemand zu hohe Steuern zahlen muß: die Schelte galt nicht ihr, sondern der Institution, die hinter ihr steht. In Wirklichkeit glaubt niemand an ihre Schuld. Nicht einmal Blavatski. Für ihn ist die »Komplizenschaft« der Stewardess nur eine verführerische Hypothese gewesen, die es ihm möglich machte, in den ihm vertrauten Kategorien zu denken, und gleichzeitig ein beinahe verzweifelter Versuch, das Unerklärliche zu erklären.

Der Beweis ist, daß Blavatski Robbies Intervention zwar verächtlich zurückgewiesen hat, nun aber schweigt und wortlos darauf verzichtet, hinter dem Geschehen ein »Komplott« zu sehen, an dem die Stewardess beteiligt gewesen wäre. In seinen Augen und in den Augen aller, auch Madame Edmondes, verliert sich diese falsche Spur im Sand.

 

Das folgende Schweigen möchte keiner brechen. Ich nicht, weil ich neben der Stewardess sitze. Caramans, weil Blavatskis Rückzieher ihm Genugtuung verschafft hat. Pacaud, weil er zwischen der Sorge um Bouchoix’ Gesundheitszustand und der Nähe Michous, die rechts neben ihm sitzt und mit töchterlicher Zutraulichkeit ihre Hand in die seinige gelegt hat, hin und her gerissen ist. Mrs. Boyd, weil der Alptraum vorbei ist und sie an ihre wiedergewonnenen Annehmlichkeiten denken kann. Und Mrs. Banister, weil sie nur Augen für Manzoni hat, ohne ihn direkt anzusehen.

Gebrochen wird es schließlich, weil Manzoni Schwierigkeiten hat, die ihm zugedachte Rolle zu spielen. Er dürfte sich eigentlich nur mit Mrs. Banister beschäftigen, aber nach dem Verhör hat er erneut nur noch Augen für Michou. Seit das junge Mädchen ihn verlassen und sich Pacaud zugewandt hat, ist sie für ihn nicht mehr eine Nummer in einer Serie, sondern eine unbegreifliche Niederlage. Denn mit seinem kahlen Schädel, seinen hervorquellenden großen Augen, seinem kleinen Schmerbauch und seinem unförmigen Anzug dürfte Pacaud Michou eigentlich nicht so viele zärtliche Empfindungen einflößen, schon gar nicht nach Madame Edmondes Enthüllungen über seine Gewohnheiten. Und dennoch hat das Vögelchen unter dem Flügel des gerupften Vogels Zuflucht gesucht, als wollte es Beistand gegen ihn, Manzoni, erbitten, der ihr doch in ihrer Todesstunde seine innigsten Tröstungen hatte zuteil werden lassen.

Da ich, wie schon gesagt, schöne Männer nicht mag, vergesse ich die Angst des Augenblicks und mache mich ein wenig lustig. Manzoni ist durch Michous Undankbarkeit so demoralisiert, daß er nicht auf die messerscharfen Blicke aus den japanischen Augen von Mrs. Banister achtet. Dabei könnte man mit etwas Phantasie beinahe sehen, wie die Schnittwunden seine rechte Gesichtshälfte entstellen und wie das Blut tropfenweise die Wangen hinunterrinnt.

Der Bedauernswerte merkt nichts. Er weiß nicht, welche Hypothek an Groll sich in seiner unmittelbaren Nähe anhäuft und welche Rechnung er wird bezahlen müssen, wenn er sich endlich entschließt, seine Huldigungen den Hügeln darzubringen, wo sie von Anbeginn erwartet wurden.

Dort ist die Hölle los. Ein Hurrikan verwüstet die innere Landschaft Mrs. Banisters, entwurzelt die Bäume wie Karotten, hebt die Dächer ab und zerschmettert Michou auf dem Asphalt. Man bedenke, was Mrs. Banister, die geborene de Boitel, alles aufzuweisen hat gegenüber dieser jämmerlichen Michou, die platt wie eine Flunder ist, verkommen, verworfen, ungebildet und haltlos: Nicht nur die Geburt, die Eleganz, die Lebenserfahrung, sondern einen prachtvollen Körper, der von den Jahren verschont geblieben ist; einen Hintern, der ein Hintern ist und nicht ein knochiges kleines Etwas zum Hinsetzen; Brüste, die richtige Brüste sind und nicht leere, schlaffe Hautsäcke; schließlich einen Bauch, so weich und lieblich wie das molligste Kissen der Welt, nicht diese fipsige Kollektion von Organen, die an Verstopfung leiden …

Während Mrs. Banister dieses klägliche Häuflein Michou mit ihrem Messer aufspießt und in den Müll wirft, verläßt mich die Stewardess, um die Pantry in Ordnung zu bringen. Ihre Abwesenheit stürzt mich in unerträgliche Leere, gibt mir aber gleichzeitig den Blick für meine Mitreisenden wieder.

Ich erkenne sofort, daß wir unsere letzten Minuten des Schweigens verleben. Mit undurchdringlichem Gesicht, aber die Finger auf ihrem Rock leicht verkrampft, schleudert Mrs. Banister nicht nur gegen Manzoni grausame Samurai-Blicke, sondern gegen alle anwesenden Männer, weil sie wie er zu Füßen ihres Throns knien und ihre anbetungswürdigen Füße küssen müßten.

Ich staune über so viel Leidenschaft, die sich auf einen einzigen Punkt konzentriert. Ich staune auch über meine eigene. Ich nutze die Abwesenheit der Stewardess, um einen klaren Gedanken zu fassen. Genaugenommen ist es einfach unglaublich, daß wir jetzt alle mit unseren Liebschaften und unserem sonstigen Kram beschäftigt sind. Caramans, der eine Akte vor sich liegen hat, denkt wieder an sein Erdöl und an seine Waffenverkäufe; Pacaud träumt von seinem Furnierholz und von Michou; Chrestopoulos und Blavatski vom Rauschgift; Mrs. Boyd von dem Vier-Sterne-Hotel. Alle vergessen, daß wir nicht wissen, wer dieses Flugzeug steuert, welches Ziel es hat und ob es überhaupt eines hat.

Mrs. Banister hat keine Anstrengungen nötig, um von dieser Situation Abstand zu gewinnen. Sie ist ganz von der Kränkung erfüllt, die ihre Hintersassen ihr angetan, indem sie sie vernachlässigten. Und in dem Moment, als ich höre, wie hinter mir der Vorhang zur Seite geschoben wird, und ich darauf warte, daß die Stewardess wieder ihren Platz in ihrem Sessel einnimmt, in dieser Sekunde biegt Mrs. Banister ihren langen eleganten Hals zur Seite, stellt durch Bewegungen des Oberkörpers ihren Busen zur Schau und sagt bissig, ohne Manzoni anzusehen:

»Da ich von so aufmerksamen und intelligenten Männern umgeben bin, möchte ich ihnen eine Frage stellen: Wie erklären sie sich die eisige Kälte im Flugzeug, als der Inder und seine Begleiterin ausgestiegen sind?«

Ich höre neben mir die Stewardess Atem holen. Dann wechselt der Rhythmus ihrer Atemzüge, und ein Seitenblick verrät mir, daß Mrs. Banisters Frage sie besorgt macht und daß sie eine Diskussion zu diesem Punkt befürchtet. Aber keiner der Männer (und nur an sie hatte Mrs. Banister sich gewandt) denkt daran, zu antworten, die spezifische Angriffslust der Fragestellerin ist zu offensichtlich. Außerdem erwartet Mrs. Banister keine Antwort; sie hat eigentlich gar keine Frage gestellt, sie hat mit dem erstbesten Einfall, der ihr in den Sinn kam, die Männer herausfordern wollen, die sie »umgeben«: ein aufschlußreicher Ausdruck, denn Mrs. Banister stellt es so dar, als säße sie im Mittelpunkt des Kreises und wir um sie herum.

Die erste, allerdings stumme Reaktion kommt von Caramans, der weder sich einschalten noch die Tochter des Herzogs von Boitel ein zweites Mal ohne Antwort lassen will. Mit dem Lächeln eines Mannes von Welt und hochgezogenen Brauen sieht er Manzoni mit einer Miene galanter Komplizenschaft an.

Diese Ermahnung, seine Pflicht zu tun, läßt Manzoni kalt. Er starrt wie abwesend auf Michous zarte Hand, die Pacaud in seiner behaarten Pranke hält. Kein Zweifel, es ist nur Zärtlichkeit, aber eine Zärtlichkeit, die ihm, Manzoni, entzogen wird, und er entbehrt sie vielleicht zum ersten Mal, seitdem eine ihn abgöttisch liebende Mutter ihn in ihren Armen gewiegt hat.

Daraufhin antwortet Pacaud Mrs. Banister, aber auf eine für sie wenig befriedigende Weise, schon allein weil er einen Punkt berührt, der die Aufmerksamkeit von ihr ablenkt.

»Es stimmt«, sagt er, »das war eine schreckliche Kälte. Und mir krampfte sich das Herz zusammen, als ich Madame Murzec in ihrer leichten Wildlederjacke in die eisige Nacht hinausgehen sah.«

Verlegenes Schweigen. Ein Beweis, daß wir fast alle dieselbe Empfindung wie Pacaud hatten, jedoch nicht wagten, es auszusprechen. An den Blicken, die wir wechseln, beteiligt Manzoni sich nicht, das ihm widerfahrene Unrecht nimmt ihn völlig in Anspruch. Mrs. Banister aber läßt ihre Wut über die Gleichgültigkeit ihres Nachbarn an Pacaud aus und sagt mit schneidender Stimme:

»Wenn Sie ein so weiches Herz haben, Monsieur Pacaud, hätten Sie Madame Murzec nicht drohen sollen, sie ›rauszuschmeißen‹!«

“My dear!” sagt Mrs. Boyd, die gerade aufgewacht ist.

»Aber das habe ich nie gesagt!« ruft Pacaud aus, ehrlich entrüstet. »Ich habe ihr geraten, sich in die Touristenklasse zurückzuziehen. Blavatski hat ihr nahegelegt, das Flugzeug zu verlassen!«

»Stimmt«, sagt Blavatski mit kaltem Blick. »Ich war es. Aber ein bißchen später haben Sie genau das von Mrs. Banister zitierte Wort verwendet.«

»Auf keinen Fall!« protestiert Pacaud mit der Überzeugung des halb gewollten Vergessens.

»Aber ja!« sagt Mrs. Banister. »Sie haben es verwendet. Später haben Sie sogar gedroht, ihr ein paar Ohrfeigen zu geben! Eine seltsame Drohung gegenüber einer Dame!«

Madame Edmonde kann die triumphierende Miene von Mrs. Banister nicht ertragen. Sie beugt sich vor und sagt:

»Die Murzec ist genausowenig eine Dame wie Sie.«

Mrs. Banister ignoriert diese Bemerkung. Robbie schüttelt seine Locken und meint:

»Im Grunde ist es doch gleichgültig, wer was gesagt hat! Wir haben alle das Unsrige beigetragen, damit sie geht! Und wir alle tragen die Verantwortung dafür!«

»Alle, bis auf die Stewardess«, werfe ich ein.

»Das stimmt«, sagt Robbie.

»Nein«, sagt die Stewardess verwirrt. »Das stimmt nicht ganz. Ich habe zu Madame Murzec nur gesagt, daß sie das Recht hätte zu bleiben. Ich habe nicht darauf bestanden, daß sie bleibt.«

An dieser Stelle überrascht mich Blavatski. Dabei hatte er eine gewisse Fähigkeit zum Mitleiden schon bewiesen, als er mit Pacaud, der Stewardess und mir dafür stimmte, daß eine zweite Auslosung ohne Michous Namen stattfinden sollte. Aber noch fällt es mir schwer, ihm diese Eigenschaft zuzuerkennen, vielleicht wegen seiner inquisitorischen Manie.

»Ich bedauere, vorgeschlagen zu haben, daß Madame Murzec das Flugzeug verläßt«, sagt er mit dumpfer Stimme. »Für mich war es ein Versuch, Druck auf sie auszuüben, damit sie schweigt! Ich war verblüfft, daß sie es wörtlich nahm! Denn allein in der Nacht und bei solcher Kälte auszusteigen, ohne zu wissen wo, das ist für mich eine völlig unverständliche Entscheidung!«

Caramans, der ein reines Gewissen zu haben glaubt, da er sehr wenig gegen die Murzec aufgetreten ist, schließt sich Blavatskis Selbstkritik nicht an.

»Ach wissen Sie, sie schien von diesem Inder fasziniert zu sein. Sie wollte ihm möglicherweise folgen und (kurzer Seitenblick und Flunsch in Robbies Richtung) mit ihm … das Rad der Zeit verlassen.«

Diese Deutung ist nicht von der Hand zu weisen, aber zu meiner großen Überraschung pflichtet Robbie ihm nicht bei. Er schweigt und sieht Blavatski mit größter Aufmerksamkeit unverwandt an.

»Nein, nein«, sagt Blavatski, die Augen hinter den dicken Brillengläsern verborgen, »wir haben sie mit unseren Beschimpfungen vertrieben!«

Schweigen.

»Sie haben recht, Mr. Blavatski, wir hätten sie zurückhalten müssen«, sagt plötzlich Mrs. Banister mit sanfter Stimme. »Ich meine nicht, als sie gegangen ist. Nein. Vorher. Man hätte auf ihre Sticheleien anders reagieren müssen.«

Sie stößt einen leichten Seufzer aus.

“That was difficult, my dear”, sagt Mrs. Boyd. “The woman was the limit!”1

»Das stimmt«, sagt Mrs. Banister mit engelgleicher Miene und einer kleidsamen Aureole um ihr schwarzes Haar. »Aber man hätte ihr Spiel nicht mitspielen und ihr nicht jeden Schlag vergelten müssen. Man muß es schon sagen: wir haben ihr geholfen, so aus der Rolle zu fallen.«

Solche sensiblen Worte klingen erstaunlich, aber angesichts des gerade vorherrschenden Klimas der Nächstenliebe bleiben sie nicht ohne Wirkung. Und ich glaube, daß sogar ich sie für bare Münze genommen hätte, wäre Mrs. Banisters Eichelhäherblick nicht zwischen den Lidern hindurch zu Manzoni geglitten, seine Reaktion zu erkunden.

Unwissentlich oder absichtlich (denn sie ist vielleicht nicht so naiv, wie sie aussieht) macht Mrs. Boyd der Nummer ihrer Freundin ein Ende, indem sie sich von ihrem Sessel erhebt.

»Ich gehe mir die Nase pudern«, sagt sie mit einer Andeutung von Koketterie.

Kindisch lachend durchquert sie trippelnd mit ihrer Krokodilledertasche in der Hand den linken Halbkreis, schiebt den Vorhang zur Seite und verschwindet in der Touristenklasse.

Man hört einen Entsetzensschrei. Ich springe auf, durchquere den Kreis, der Vorhang teilt sich erneut. Mrs. Boyd kommt zurück, bleich und einer Ohnmacht nahe, die linke Hand gegen das Herz gepreßt. Sie wankt, und ich kann sie gerade noch auffangen. Sie sieht mich mit geweiteten Augen an und sagt mit erstickter Stimme:

»Wie gräßlich! Ich habe ein Gespenst gesehen.«

»Aber nein, Madame«, sage ich mit Bestimmtheit. »Es gibt keine Gespenster.«

»Ich habe es gesehen, so wie ich Sie jetzt sehe«, stammelt Mrs. Boyd.

Mrs. Banister steht auf und kommt heran, die Stewardess ebenfalls.

»Lassen Sie sie, ich kümmere mich um sie, Mr. Sergius«, sagt Mrs. Banister mit zuckenden Wimpern.

»Danke«, sage ich. »Inzwischen seh ich mal nach, was sie erschreckt hat.«

Ich schiebe den Vorhang zur Seite und betrete die Touristenklasse. Ich komme nicht dazu, einen zweiten Schritt zu machen. Ich erstarre. In der dritten Reihe rechts sitzt auf dem Sessel am Kabinenfenster Madame Murzec. Ich sehe sie im Profil, ihre Hände liegen auf ihrer Tasche, sie hat die Augen geschlossen, und ihre Gesichtshaut spannt sich wie bei einer Mumie.

»Madame!« sage ich mit erstickter Stimme.

Keine Antwort. Sie rührt sich nicht. Bin ich jetzt ebenfalls Opfer einer Halluzination? Ich trete näher, strecke die rechte Hand vor und berühre mit den Fingerspitzen ihre Schulter.

Die Reaktion erfolgt blitzartig. Madame Murzec dreht sich mit einem Ruck um und versetzt mir mit dem Handrücken einen kurzen heftigen Schlag auf die Hand.

»Was sind das für Manieren?« sagt sie aufgebracht. »Was fällt Ihnen ein? Was wollen Sie von mir?«

Ich höre hinter mir ein kurzes Auflachen. Ich drehe mich um. Blavatski.

»Irrtum ausgeschlossen!« sagt er in seinem schleppendsten Tonfall. »Das ist sie!«