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Enttäuscht stellte Lena fest, dass Novak nicht in seinem Wagen auf sie wartete. Rhodes trat auf die Bremse und blockierte den Taurus, der im Carport stand. Aber von Novak fehlte jede Spur. Dabei war sie davon ausgegangen, dass er sich irgendwo in Rauchschwaden und Dunkelheit versteckte, bis die Verstärkung kam. Lena riss die Wagentür auf und hielt in der Finsternis Ausschau nach ihrem Partner.
Da knallten rasch aufeinander drei Schüsse und zerschmetterten die Windschutzscheibe. Lena schnappte sich ihre Pistole vom Vordersitz und duckte sich hinter die Tür. Ihr Blick glitt die Treppe hinauf zu dem Haus auf dem Hügel. Es brannte zwar kein Licht, doch sie hatte das Mündungsfeuer in einem Fenster im Parterre gesehen. Sie zückte ihre.45er und gab fünf Schüsse ab. Als sie von Rhodes nichts hörte, wirbelte sie herum und sah, dass er über dem Steuer zusammengesackt war. Blut spritzte aus seiner linken Schulter. Seine Augen waren glasig.
Sie warf sich über den Sitz, zog ihn zu sich hinüber und zerrte ihn hinter das Auto.
»Hörst du mich, Rhodes?«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Kannst du mich hören?«
Er nickte zwar, war aber offenbar nicht in der Lage, sich zu bewegen.
Lena öffnete seine Jacke, zog ihm das T-Shirt hoch und betrachtete die Wunde. Sie saß zwar ziemlich weit oben, sah aber übel aus. Vielleicht war ja die Lunge getroffen. Sie deckte einen Zipfel des T-Shirts darüber und drückte seine Hand darauf.
»Wie klappt es mit dem Atmen?«
»Es geht«, stieß er hervor. »Ich hätte das nie erwartet. Er hat doch noch nie eine Waffe benutzt.«
Lena hörte Sirenen in der Ferne, wusste aber, dass die Kollegen wegen der schlechten Sichtverhältnisse noch eine Weile brauchen würden. Die Hilfe würde kommen. Allerdings erst später. Sie blickte zwischen Novaks von Rauchschwaden umwabertem Crown Vic und dem Haus hin und her.
»Was hast du im Kofferraum?«
Rhodes sah sie an. »Du kannst da nicht rein.«
»Mein Partner ist im Haus. Was ist im Kofferraum?«
»Eine Winchester. Die Schlüssel sind in meiner …«
Sie kramte den Schlüssel aus seiner Jackentasche, öffnete den Kofferraum einen Spalt weit, spähte hinein und entdeckte den zwölfkalibrigen Vorderschaftrepetierer und eine Tasche mit Munition. Nachdem sie ein Sichtgerät am Lauf befestigt hatte, öffnete sie die Munitionstasche und riss eine Schachtel mit Patronen auf. Zufrieden stellte sie fest, dass es sich um Magnum-Patronen aus Messing handelte. Fellows hatte seine Dopingspritzen, sie die richtige Munition. Ein Schuss würde den Dreckskerl in der Luft zerfetzen.
Sie warf einen Blick auf Rhodes, der schlaff an der Stoßstange lehnte und seine Wunde hielt. Er sah sie an, während sie fünf Patronen einlegte, das Gleitstück vorschob und eine sechste lud. Der abwesende Augenausdruck war verschwunden, aber sie verstand noch immer nicht, was in ihm vorging.
»Kommst du zurecht?«, fragte sie.
Er nickte wieder und wollte etwas sagen, hielt jedoch inne. Ganz gleich, wessen sie ihn auch verdächtigen mochte, hatte er es nicht verdient, abgeknallt zu werden. Vielleicht ein Todesurteil von den Geschworenen. Oder sogar einen gezielten Schuss von ihr selbst. Aber Martin Fellows durfte nicht sein Henker werden.
Lena nahm weitere Patronen aus der Tasche und steckte sie ein. Nach einem letzten Blick auf Rhodes hastete sie die Stufen zur Eingangstür hinauf. Oben angekommen, senkte sie die Waffe, drückte ab und sah, wie die Kugel ein Loch von achtzehn Zentimetern Durchmesser in die Tür sprengte. Der Knall war ohrenbetäubend. Lena empfand den Geruch nach verbranntem Schießpulver als seltsam beruhigend.
Sie trat die Tür auf und tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Als sie ins Wohnzimmer schaute, wurde ihr klar, dass es überflüssig war, das Haus zu durchsuchen. Fellows hatte eine Blutspur auf dem weißen Teppich hinterlassen, und ihr fiel ein, dass sie ja ein Stück aus seiner Hand herausgebissen und es auf den Boden gespuckt hatte.
Allerdings war die Genugtuung darüber schlagartig wie weggeblasen, als sie mit den Augen den Blutstropfen folgte und die zerbrochene Fensterscheibe erkannte. Offenbar war Novak auf diesem Weg ins Haus eingedrungen, und Fellows hatte es bemerkt. Vermutlich hatte er eine Weile dort gestanden, denn an der fraglichen Stelle hatte sich eine Blutlache gebildet. Von dort aus führte die Spur quer durch den Raum in die Küche.
Dann gab es da noch eine zweite Spur, die in der Küche begann und durch das Wohnzimmer zum Fenster neben der Eingangstür reichte. Von dort war das Mündungsfeuer gekommen. Als Lena die gegenüberliegende Wand und die Decke musterte, entdeckte sie von den fünf Schüssen, die sie abgegeben hatte, Löcher im Putz. Ihr Blick wanderte wieder zu dem weißen Teppich und der Blutspur, die sich zurück in die Küche zog.
Martin Fellows war gesund und munter und befand sich irgendwo auf der anderen Seite dieser Wand.
Lena pirschte sich durchs Zimmer. Alles war totenstill. Sie spähte um die Ecke und folgte mit den Augen dem Blut auf den Fliesen zur offenen Kellertür. Das Licht brannte, und sie konnte auf der Arbeitsfläche neben der Spüle eine Ampulle und eine Spritze erkennen. Um Ruhe bemüht, schaute sie immer wieder zur Kellertür. Dann holte sie tief Luft und ging, eine Stufe nach der anderen, die Treppe hinunter, bis sie die Ecke erreichte. Der Keller war leer.
Im nächsten Moment hörte sie etwas. Ein Klirren. Ganz nah.
Ängstlich spähte Lena den Flur entlang. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie hatte das Gefühl, dass alle ihre Nerven unter der Haut vibrierten. Der Flur verlief in einer Betonröhre, sodass er an einen Tunnel errinnerte, der weit über die Grundfläche des Hauses hinausreichte. Da die Röhre in etwa fünfundzwanzig Metern Entfernung eine Kurve beschrieb, erkannte man nicht, wohin sie führte. Auf der rechten Seite waren von Glasscheiben geschützte Lampen angebracht. Baumwurzeln hatten sich durch die Wände gearbeitet und ragten in den Tunnel wie die Finger einer Hand. Lena bemerkte links von sich eine Stahltür. Die Wurzeln bewegten sich im Wind, der oben die Bäume schüttelte, hin und her.
Der Raum hinter der Stahltür war ein Atombunker, ein Überbleibsel aus den Sechzigern, als ein nuklearer Angriff zu drohen schien und ein Luftschutzkeller für geistige Leichtgewichte ein noch größeres Statussymbol bedeutet hatte als ein Mercedes. Als Lena den Tunnel betrachtete, nahm sie an, dass es auf dem Grundstück, in einigem Abstand zum Haus, noch einen zweiten Eingang gab. Als Rückversicherung sozusagen, falls das Gebäude bei einem Bombenangriff in die Luft flog. Vermutlich war Fellows auf diesem Weg geflohen.
Lena nahm den Fußboden unter die Lupe. Doch da die Blutstropfen einander zum Teil überdeckten, konnte sie kein Muster erkennen. Als sie in den Tunnel trat, wurde das Klirren lauter, und sie erkannte, dass es aus dem Luftschutzkeller kam. Den Finger am Abzug, starrte sie auf die Tür. Dann schaute sie vorsichtig um die Ecke – und spürte, wie es ihr den Magen umdrehte.
Sie zwang sich, genauer hinzusehen, obwohl sich alles in ihr dagegen wehrte. Es war ein Bild aus der Hölle. Ein Zeichen, gesetzt von einem seelisch verwüsteten Mann, der auch noch den letzten Rest von Menschlichkeit verloren hatte.
Novaks Leiche.
Der Täter hatte ihn nackt ausgezogen und einfach auf Harriet Wilson geworfen. Sein Kopf war zur Tür gewandt. Seine Augen standen offen, starrten jedoch verschleiert ins Leere. Lena trat näher heran und berührte sein Gesicht, um zu fühlen, ob die Haut noch warm war. Als sie nur Kälte spürte, begann in ihr etwas zu vibrieren. Sie stellte fest, dass sein Handgelenk mit Handschellen an dem Feldbett befestigt war. Mit Tränen in den Augen umfasste Lena die Waffe fester und wich zurück.
Die Matratze bebte. Lena machte einen Schritt über eine große Blutlache und betrachtete Harriet Wilson. Die Frau lebte noch und wand sich unter dem Gewicht von Novaks Leiche.
Lena holte tief Luft. Sie musste jetzt die Ruhe bewahren und einen Weg finden, der aus diesem Albtraum herausführte.
Sie schob die Leiche ihres Partners von dem Mädchen weg und an die Wand. Aus der großen Blutmenge schloss sie, dass Fellows ihm den Bauch aufgeschlitzt hatte, doch sie hielt den Blick starr auf Wilson gerichtet. Nachdem sie das Klebeband von ihrem Mund entfernt hatte, entdeckte sie die Schlüssel auf dem Boden und befreite Handgelenke und Fußknöchel der Frau. Allerdings änderte das nicht viel. Harriet Wilson war vor Angst unfähig, sich zu rühren. Als sie den Mund aufmachte, brachte sie keinen Ton heraus. Offenbar befand sie sich in einer anderen Welt, in der keine Worte möglich waren.
»Gleich kommt Hilfe«, flüsterte Lena und strich Wilson über das Haar. »Sie müssen jetzt durchhalten.«
Ihre Stimme begann zu zittern. Sie eilte hinaus und spähte mit erhobener Winchester den Tunnel entlang. Schieß zuerst, sagte sie sich. Schieß schnell.
Als Lena die Kurve erreichte, endeten die Lampen an der Wand. Sie schaltete das Sichtgerät ein und marschierte weiter durch die Dunkelheit. Hier waren die Wurzeln, die sich durch den Beton gebohrt hatten, dicker, wirkten beängstigender und versperrten ihr außerdem die Sicht. Am Ende des Tunnels befand sich eine in den Beton eingelassene Leiter aus Stahl.
Die Luke oben stand offen. Rauchschwaden wehten herein. Der Wind heulte.
Lena wischte sich die schweißnassen Hände an den Jeans ab. Das Gewehr fest in der Hand, kletterte sie hinauf, um nachzusehen, wohin der Mörder geflohen war. Doch als sie den Kopf aus der Luke streckte, traute sie ihren Augen nicht. Die bewaldeten Hügel mit Blick auf den Stausee von Hollywood brannten lichterloh. Das Feuer spiegelte sich im Wasser und schlug etwa siebzig Meter hoch in den Himmel. Es war ein Inferno. L. A. stand in Flammen.
Als Lena sich umschaute, konnte sie Fellows nirgendwo entdecken. Nur einige Feuerwehrleute auf der anderen Seite des Sees, die gerade von einem brennenden Haus zurückwichen.
Im nächsten Moment strich etwas über ihr Bein. Sie zuckte zusammen. Ehe sie sich umschauen oder gar flüchten konnte, packte jemand ihre Fußgelenke und zerrte daran. Das Gewehr fiel ihr aus der Hand und stürzte drei Meter in die Tiefe. Mit einem dumpfen Knall kam Lena unten auf dem Boden auf und hielt sich schützend die Arme vor den Kopf. Trotz der Dunkelheit sah sie, dass Martin Fellows mit einem langen Messer auf sie zukam.
Seine gewaltige Brust war nackt, seine Haut geölt. Er trug eine hautenge Sporthose und Basketballstiefel. Außerdem hatte er etwas um den Hals. Als er näher kam, konnte sie es erkennen. Es war eine Kette, an der zwei Zehen hingen. Die eine war alt, die andere neu. Lena musste an Nikki Brant denken. Die zweite Zehe stammte sicher von Harriet Wilson.
Fellows stieß ein Stöhnen aus und stach mit dem Messer nach ihr. Lena rappelte sich auf, doch der Hüne machte sofort einen Satz und rempelte sie um. Sie unterdrückte einen Aufschrei und ließ die Klinge, die durch die Dunkelheit sauste, nicht aus den Augen. Als das Messer nur wenige Zentimeter neben ihrem Gesicht auf den Boden traf, bemerkte sie hinter sich das Gewehr.
Fellows schwang das Messer, verfehlte sie jedoch wieder und traf auf Beton. Inzwischen hörte Lena laute Stimmen. Schritte polterten die Kellertreppe am anderen Ende des Tunnels hinunter. Wenn die Retter die Szene im Luftschutzkeller sahen, würden sie genauso stehen bleiben wie sie vorhin. Wie Novak. Die Hilfe würde zu spät kommen.
Lena griff nach dem Gewehr und riss es an sich. Als Fellows erneut mit dem Messer ausholte, stieß sie ihm mit aller Kraft die Fußballen in den Bauch. Dann legte sie das Gewehr an und blendete ihren Gegner mit dem Xenon-Licht.
Er kniff die Augen zusammen und taumelte rückwärts wie nach einem Magenschwinger. Währenddessen rappelte Lena sich auf, ging auf Abstand und senkte die Waffe. Fellows erstarrte. Er hielt sich schützend die Hände vor die lichtempfindlichen Augen und blickte in Richtung Leiter. Der Fluchtweg war ihm versperrt, die Liste seiner Alternativen gerade auf null zusammengeschrumpft. Als er die Füße in den Boden stemmte und auf Lena zustürmte, dachte sie nicht an ihn, ja, nicht einmal an ihr eigenes Überleben, sondern an ihren Partner. Ihren Mentor. Den Mann, von dem sie so viel gelernt hatte. Einen Polizisten kurz vor dem Ruhestand, der sein restliches Leben beim Angeln hatte verbringen wollen, aber von einem miesen Schwein ermordet worden war.
Sie zielte auf Fellows und drückte ab. Dann zog sie den Schieber zurück und schoss noch einmal.
Fellows’ Leiche wurde gegen die Wand geschleudert und sackte in sich zusammen. Während der Knall noch durch den Tunnel hallte, trat Lena nach seinem Kopf. Er hatte die Augen geöffnet und sah aus, als lächle er sie an. Sie zog den Schieber zurück und spürte das Gewicht der Waffe in ihrer Hand, als sie ihm eine Kugel in den Schädel jagte.