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Du bist ein Niemand. Du zählst nicht. In Amerika zählt jeder, bis auf dich…
Die Worte durchströmten Fellows’ ganzen Körper. Fast war es, als könnte er sie im Autoradio hören. Immer wieder dieselben Worte.
Du bist ein Niemand.
In Harriets Leben zählst du nicht.
Jeder x-Beliebige zählt in ihrem Leben. Nur du nicht.
Fellows bog links ab und fuhr in seinem 98er Ford Taurus die Fairfax Avenue entlang nach Norden. Er wünschte, er hätte die Worte aus seinem Kopf vertreiben können, aber er wusste, dass er weder seine eigene Stimme noch die von Harriet hörte, sondern die von Mick Finn, der ihn heute beim Mittagessen über den Tisch hinweg böse angesehen hatte. Fellows fand, dass es sehr nach einem Streit geklungen hatte. Finn hatte gesagt, es sei Zeit zum Aufwachen, und bezeichnete es als Realitätstest.
Er müsse die Welt realistisch sehen.
Fellows hatte Burell ermordet, weil er Harriet dadurch zu retten hoffte. Er hatte gedacht, sie würde sich dann zu ihm hingezogen fühlen. Aber sie war davongelaufen. Der Traum war vorbei. Am schlimmsten jedoch war, dass die Polizei laut Finn mittlerweile einen Zusammenhang zwischen den Fällen Burell, Teresa López und Nikki Brant vermutete. Und was hatten die unbekannte Tote und Tim Holt damit zu tun? Fellows habe sich nicht mehr im Griff und gehe unnötige Risiken ein. Er ließe sich von den Presseberichten kirre machen. Und wofür? Für eine Hure, die ein Doppelleben führte, nicht mehr zu retten sei, ihn nicht liebte und ihn auch niemals lieben würde.
Fellows schaltete das Radio ein, suchte den Sender KFWB und drehte, in der Hoffnung, dass die Spätnachrichten einen Zusammenbruch verhindern würden, den Ton lauter. Dann sah er in den Rückspiegel.
Der Merdeces war wieder da. Dasselbe silberne Coupé, das ihm schon vom Freeway 10 gefolgt war, als er beschlossen hatte, lieber Seitenstraßen zu nehmen. Sein Blick wanderte zurück zur Windschutzscheibe, und er versuchte, sich zu konzentrieren. Der Regen hatte aufgehört. Trotz der späten Stunde hätte man meinen können, dass alle 7,9 Millionen im Laufe des letzten Jahres bei der Zulassungsstelle dieser Stadt gemeldeten Fahrzeuge gleichzeitig unterwegs waren. Wahrscheinlich musste der Fahrer des Mercedes ebenfalls nach Hollywood und kannte die Abkürzung.
An der Willoughby Road, einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße, bog er rechts ab. Sie war eine Ost-West-Verbindung und führte durch eine Reihe von Wohnvierteln. Als er in den Spiegel sah, stellte er fest, dass der Mercedes ebenfalls abgebogen war, Gas gab und abbremste, kurz bevor es zu einem Zusammenstoß kam.
Fellows drohte mit der Faust, holte tief Luft und überlegte, wie hoch die Chancen waren, dass er tatsächlich verfolgt wurde. Vielleicht hatte Finn Recht, weshalb die Fahrt zum Tatort – zu Tim Holts Haus – heute Nacht das Risiko nicht wert war. Er betrachtete die Digitalkamera auf dem Beifahrersitz und träumte einen Moment von den Fotos, die er möglicherweise im Haus würde schießen können. Von der Dunkelheit und Grabesstille, die sich in einem Haus einnisteten, in dem ein Mensch gestorben war. Wie würde es sich anfühlen, durch die Räume zu gleiten? Er brauchte einen Ort zum Nachdenken. Eine Gelegenheit, sich wieder zu fangen. Finns offensichtliche Erfahrung in Sicherheitsfragen war heute überflüssig, denn die Hausbesitzer waren bereits tot.
Plötzlich begann der Taurus zu schlingern. Fellows wurde flau im Magen. Der Wagen war in ein Aquaplaning geraten. Fellows starrte auf die riesige Pfütze, die die rechte Fahrbahnseite bedeckte. Dann riss er das Steuer nach links herum, sah in den Spiegel und trat auf die Bremse. Er spürte einen Stoß. Dann scherte der Mercedes hinter ihm aus und prallte gegen einen Baum.
Eine Weile verging. Fellows sah, dass die Kamera im Fußraum lag, und hoffte, dass sie unversehrt geblieben war. Nachdem er den Hebel auf PARKEN gestellt hatte, öffnete er die Wagentür. Als er den Schaden an seinem Ford sah, wurde er wütend. Die Stoßstange war zwar noch intakt, aber das linke Rücklicht fehlte. Die Plastikstücke entdeckte er auf dem Boden. Im nächsten Moment hörte er den Fahrer des anderen Wagens etwas rufen und hob langsam den Kopf.
Der Mann war Mitte zwanzig. Er kniete vor seinem Mercedes und untersuchte die Dellen.
Fellows wusste sofort, mit wem er es zu tun hatte. Geschorener Schädel. Baseballtrikot. Schlabberhose. Ein arbeitsscheuer Sozialschmarotzer, der in einem offenbar nagelneuen Mercedes CL65 AMG Coupé herumkurvte. Unter der verbeulten Motorhaube verbarg sich ein Doppelturbo-V-12-Motor. Listenpreis 178.220 Dollar.
Fellows fragte sich, ob das Auto gestohlen war, vermutete aber, dass solche Kerle mit ihren krummen Geschäften genug verdienten, um sich so einen Wagen zu kaufen oder zu leasen. Seine Hände zitterten, und er wusste, dass er kurz vor dem Ausflippen stand, wenn er es zuließ.
»Du bist zu dicht aufgefahren«, sagte er leise.
Der kleine Dreckskerl glotzte ihn nur an, richtete sich auf und spuckte aus. »Zu dicht, Arschloch? Du bist schuld. Schau, was du mit meinem Auto gemacht hast. Scheiße!«
Der Mann stand nur drei Meter entfernt. Seine Armmuskeln waren unzureichend definiert, und Fellows schätzte, dass er fünfundzwanzig Kilo Übergewicht hatte. Es würde höchstens fünfzehn Sekunden dauern, den Burschen zu erledigen. Und zwar lautlos, ehe der Stinker wusste, wie ihm geschah. Ohne die Augäpfel zu bewegen, musterte Fellows die erleuchteten Fenster entlang der Straße. Jemand beobachtete sie. Das konnte er spüren. Er sah einen Schatten am Fenster im ersten Stock.
»Du bist zu dicht aufgefahren«, wiederholte er. »Ist alles in Ordnung?«
»Fick dich.«
Der Mann sprang in seinen Wagen und raste davon. Als er ein paar Meter entfernt war, drückte er auf die Hupe und zeigte Fellows heldenhaft den Stinkefinger.
Aber wenigstens war es vorbei. Fellows hatte unter Beweis gestellt, dass er die Fähigkeit, sich und seine übermenschlichen Kräfte zu beherrschen, noch nicht verloren hatte. Als er zum Taurus zurückkehrte und seine Kamera untersuchte, wünschte er, Finn wäre dabei gewesen, um zu sehen, wie gut er sich im Griff hatte.
Er schaltete die Kamera an und drückte auf den Knopf. Das Blitzlicht spiegelte sich in der Windschutzscheibe und erfüllte das Wageninnere mit einem Schein, der greller war als die Sonne und ihm in den Augen weh tat. Nachdem der Blitz verloschen war, betrachtete er das Foto. Kein Schaden. Die Kamera funktionierte ausgezeichnet.
Er umrundete die Pfütze auf der Straße und fuhr auf der Willoughby Road weiter nach Osten. Fünf Minuten später bog er in der Vine Street links ab und konnte in einem guten Kilometer Entfernung am Ende der Straße die Hügel von Hollywood sehen. Das Radio lief noch. Nach einer Unwetterwarnung und einem Bericht über einen Erdrutsch in Malibu ging es wieder einmal um Romeo, von dem inzwischen die ganze Stadt sprach. In einem Interviewausschnitt verkündete der Polizeipräsident, man mache zwar Fortschritte, aber Ermittlungen wie diese brauchten eben ihre Zeit.
Romeo. So nannten sie ihn inzwischen.
Romeo.
Ihm gefiel der Klang des Namens und die Bedeutung, die in ihm mitschwang. Sogar die herzförmigen Rähmchen, in denen die Bilder seiner Opfer im Fernsehen erschienen, fand er in Ordnung.
Er stoppte an der Ampel und betrachtete durch die Windschutzscheibe die Häuser, die sich in die Hügel schmiegten. Die erleuchteten Fenster. Tim Holts Haus war nicht zu sehen, weil dort kein Licht brannte. Niemand wohnte mehr darin.
Als die Ampel auf Grün umsprang, lächelte er. Die ganze Stadt der Engel suchte nach ihm. Alle wollten wissen, wer wer war. Er griff nach seiner Wasserflasche und trank einen großen Schluck. Martin Fellows mochte nicht zählen, Romeo schon.