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Die Pressekonferenz ließ sich nicht vermeiden, denn heute sollte ein Unschuldiger aus dem Gefängnis freikommen.
Die vorläufigen Laborberichte besagten, dass die DNA der in Teresa López’ Körper sichergestellten Samenflüssigkeit mit den Proben von dem Laken zwischen Nikki Brants Beinen und vom Teppich im Arbeitszimmer der Brants übereinstimmte. Romeo hatte beide Frauen vergewaltigt und getötet. José López und James Brant waren somit entlastet.
Der neue Polizeipräsident und seine rechte Hand Albert Ramsey standen am Mikrofon und wehrten die Fragen einer aufgebrachten Pressemeute ab, die wissen wollte, warum López gestanden hatte, obwohl er gar nicht der Täter war. Auch wenn Lena der Pressekonferenz unfreiwillig beiwohnte und mit ihren Kollegen hinter dem Podium stand, musste sie den Polizeipräsidenten für seine Fähigkeit bewundern, Seitenhiebe einzustecken, ohne mit der Wimper zu zucken.
Worauf die Reporter anspielten, lag auf der Hand. Doch als ein Mitarbeiter von Channel 2 schließlich das Wort erhielt, war die Frage endlich offen auf dem Tisch.
Hatten die Detectives der Polizei von Los Angeles ein falsches Geständnis aus José López herausgeprügelt?
Lena spähte durch die grellen Scheinwerfer der Kameras ins Publikum, während der Polizeipräsident über diese Frage nachdachte. Sie konnte weder Staatsanwalt Roy Wemer noch López’ Verteidiger entdecken. Nur ein strahlender Buddy Paladino saß in der letzten Reihe und fletschte seine berühmtberüchtigten Zähne.
»Ich weiß nicht, wie gut Sie über moderne Vernehmungsmethoden informiert sind«, wandte sich der Polizeipräsident an die Reporter. »Denn das, worauf Sie hier anspielen, steht aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht in unserem Drehbuch. Der erste davon ist, dass es zwecklos wäre. Keiner meiner Mitarbeiter hat José López auch nur ein Haar gekrümmt. Mr. López hat den Mord an seiner Frau aus freien Stücken gestanden. Deshalb würde ich Ihnen vorschlagen, diese Frage Mr. López zu stellen, nachdem er aus der Haft entlassen worden ist. Wenn ich Reporter wäre, würde ich auch seinem Anwalt die Gelegenheit zu einer Stellungnahme geben. Schließlich befand er sich im selben Raum wie die beiden Detectives, als sein Mandant gestanden hat.«
Lena überlegte, ob der Polizeipräsident wohl erwähnen würde, was sie vor einer Stunde im Büro gehört hatte. López hatte sich trotz der entlastenden Beweise in seiner Zelle verbarrikadiert, weigerte sich herauszukommen und brüllte, er könne ohne seine Frau Teresa nicht leben, auch wenn sie eine elende Hure sei. López wollte schuldig gesprochen und durch die Giftspritze von seinem Schmerz erlöst werden. Noch schlimmer war, dass es ganz danach aussah, als wolle er noch heute Abend seinem Leben ein Ende setzen, indem er einen Wachmann so lange provozierte, bis dieser abdrückte.
Sie wartete darauf, dass der Polizeipräsident diese neue Entwicklung ansprach, aber er tat es nicht. Stattdessen schilderte er die Rolle, die die forensische Wissenschaft bei der Entlastung des Mannes gespielt hatte, und ging dann zum nächsten Thema über. Als man ihn aufforderte, den Mord an Nikki Brant näher zu beschreiben, erwiderte er, die Ermittlungen liefen erst seit einer knappen Woche, nannte keine Einzelheiten und bestätigte nur, die DNA-Untersuchung habe einen Zusammenhang zwischen den beiden Verbrechen ergeben.
Das Hin und Her dauerte noch eine Weile, bis der Polizeipräsident die Pressekonferenz für beendet erklärte. Lena folgte Novak durch die Menschenmenge, ohne auf die Fragen einzugehen, die man ihnen nachrief. Sie stiegen mit Sánchez und Rhodes in den Aufzug.
Nach einem Blick auf die Uhr wandte sich Novak an Sánchez. »Wie weit bist du am Computer gekommen?«
»Du wolltest, dass ich jeden sexuellen Übergriff auf Frauen ab sechzehn raussuche. Ich bin also noch ganz am Anfang.«
Rüttelnd keuchte der Aufzug hinauf in den zweiten Stock, wo sich zitternd die Türen öffneten. Novak marschierte voran ins Großraumbüro.
»Es ist halb sieben«, verkündete er. »Wir teilen die Fälle auf und verschwinden dann so schnell wie möglich.«
Mit einem erleichterten Nicken ging Sánchez zu seinem Schreibtisch. Der Stapel von Fallzusammenfassungen schien etwa fünfzehn Zentimeter dick zu sein. Lena steckte ihren Anteil in den Aktenkoffer und setzte sich an ihren Computer, um ihre E-Mails abzufragen. Beim Verlassen des Aufzugs hatte sie bemerkt, dass die Tür zur Abteilung Computerkriminalität geschlossen war. Seit Upshaw ihr Charles Burells Adresse gegeben hatte, hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen und hoffte, dass sein Tag erfolgreicher verlaufen war als ihrer. Doch es waren nur Werbemails eingegangen, nichts also, was ihr weitergeholfen hätte. Schließlich schaltete sie den Computer ab. Inzwischen war nur noch Novak da, der sich über eine aufgeschlagene Akte auf Lieutenant Barreras Schreibtisch beugte.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Der DNA-Bericht.«
Kopfschüttelnd nahm Novak die Akte und ließ sich neben Lena an seinem Schreibtisch nieder.
»Gibt es Probleme?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte er. »Was ist ein CCR5-Gen?«
Davon hatte Lena noch nie gehört. Sie zuckte die Achseln.
»Es ist mutiert«, sagte er.
Sie rollte ihren Stuhl zu ihm hinüber, um in die Akte sehen zu können. Als ihr das Wort Pest ins Auge stach, las sie weiter. Romeos CCR5-Gen war zu etwas mutiert, das Molekularbiologen als Delta 32 bezeichneten. Dem Bericht zufolge kam so etwas selten vor und war vermutlich vor dreihundertfünfzig Jahren bei Romeos Vorfahren während einer Pestepidemie aufgetreten. Wer das mutierte Gen in sich trug, überlebte die Seuche. Wer nicht, starb einen grausigen und einsamen Tod. Delta 32 war im Rahmen der modernen HIV-Forschung entdeckt worden, da die beiden Krankheiten auf ähnliche Weise die weißen Blutkörperchen schädigten. Aus noch unbekannten Gründen waren Menschen, die das mutierte Gen geerbt hatten, immun gegen Aids. Doch was Lena vor allem aufmerken ließ, war das Auftreten der Pest in den verschiedenen Erdteilen. Die Seuche hatte ausschließlich in Europa gewütet. Also konnte Romeo weder Asiate noch Afrikaner sein. Nur Menschen europäischer Herkunft besaßen das mutierte Gen.
Lena sah Novak an. »Warum hat Barrera kein Wort darüber verloren?«
»Wahrscheinlich hat er den Bericht nicht zu Ende gelesen, sondern nur nach der Übereinstimmung gesucht. Sobald er wusste, dass der DNA-Vergleich ein Treffer war, war ihm klar, dass es in der Sache López Ärger geben würde. Also ist er hoch zum Chef, um die Wogen zu glätten.«
Lena überlegte. Obwohl es in diesem Fall bis jetzt noch keine sachdienlichen Hinweise gab, entstanden vor ihren Augen die ersten noch nicht klar umrissenen Puzzleteilchen, die sich irgendwann zu einem Porträt des Täters zusammensetzen würden.
»Romeo trägt das Delta-32-Gen in sich«, meinte sie. »Also steht fest, dass er ein Weißer ist.«
»Was noch?«
»Er hinterlässt keine Haare. Könnten wir es mit einem Serienvergewaltiger zu tun haben, der sich am ganzen Körper rasiert?«
Novak drehte seinen Stuhl zum Fenster und starrte ins Leere, während draußen der Nebel wie Rauchschwaden zwischen den Gebäuden waberte.
»Er könnte trotz europäischer Vorfahren dunkelhäutig sein«, sagte er. »Halten wir uns lieber an die Fakten.«
»Er ist Linkshänder«, fuhr sie fort. »Und nach der Tiefe der Wunden zu urteilen, ist er jung und stark.«
»Ich stimme zu.«
»Außerdem besitzt er Bildung. Er löst Kreuzworträtsel mit dem Kugelschreiber, hört klassische Musik und kann darüber hinaus noch etwas, von dem du keine Ahnung hast.«
Novak blickte sie an. »Und das wäre?«
»Der Dreckskerl weiß, wie man mit einem Computer umgeht.«
Novak lächelte müde und lehnte sich dann wieder zurück. »Was ist mit seiner Handschrift?«
»Ausgesprochen ordentlich«, antwortete Lena. »Aber er hat eine eigenartige Methode, den Buchstaben P zu schreiben, und zwar eine so außergewöhnliche, dass sie laut Irving Sample genauso beweiskräftig ist wie ein Fingerabdruck.«
»Weiter.«
»Viel mehr habe ich nicht. Er steht auf Pornos. Er zeigt ein auffälliges Interesse am Leben seiner Opfer und ist neugierig, wie viel sie verdienen und was in ihnen vorgeht. Beim Arrangieren der Leichen verwendet er religiöse Motive. Also muss da ein moralischer Aspekt sein. Und zu guter Letzt kümmert er sich nicht um DNA-Spuren und hinterlässt seine Körperflüssigkeiten wie Visitenkarten.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Als Novak sich vom Fenster wegdrehte, schien er um einen Tag gealtert. Er schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, erkundigte sich Lena.
Er stand auf und fing an, seine Sachen zusammenzupacken. »So ein Fall lässt sich nicht mit kriminalistischen Methoden aufklären, Lena. Vielleicht erfahren wir, wie wir Romeo identifizieren könnten, sofern wir ihm je begegnen. Doch die Chancen stehen schlecht. Wir kriegen ihn nur, wenn er einen Fehler macht oder wenn wir ihn auf frischer Tat ertappen. Und das dauert möglicherweise noch einige Zeit.«
Lena verstand, worauf er hinauswollte, sagte aber nichts, denn ihrem Partner standen Enttäuschung und Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben. Nachdem er sich verabschiedet hatte und hinausgegangen war, lehnte sie sich zurück und ließ den Blick durch den leeren Raum schweifen. Man brauchte nicht viel Berufserfahrung, um zu erkennen, dass das Leben einer weiteren unschuldigen Frau der Preis war, den sie bezahlen mussten, um Romeo das Handwerk zu legen. Vielleicht würde es sogar noch zwei oder drei weitere Opfer bis hin zu Nummer neun und zehn geben. Und weder sie noch Novak konnten etwas dagegen tun.
Lena griff nach ihrem Aktenkoffer und drängte Niedergeschlagenheit und Panik zurück. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Während sie auf den Lift wartete, beschloss sie, vor der Heimfahrt noch ein wenig frische Luft zu schnappen und zu Fuß zum Blackbird Café zu gehen.
Die Türen öffneten sich. Rhodes stand allein im Aufzug. Vielleicht lag es am Funkeln in seinen Augen oder an ihrer Stimmung am heutigen Abend. Jedenfalls zögerte sie kurz, bevor sie eintrat und sich an die Wand lehnte. Er wandte sich ab und drückte den Knopf fürs Erdgeschoss. Lena bemerkte die Mordakte López und die abgewetzte Ledermappe unter seinem Arm und vermutete, dass er gerade der Kriminaltechnik im dritten Stock einen Besuch abgestattet hatte. Nachdem die Türen sich geschlossen hatten, vollführte er eine halbe Drehung, allerdings ohne Lena anzusehen. Da sie dachte, dass er etwas auf dem Boden ansah, folgte sie seinem Blick und stellte fest, dass er auf ihre Hand starrte. Er musterte sie eindringlich. Sie spürte, wie seine dunklen Augen ihre Finger entlang bis zur Handfläche und dann über Hüften und Beine glitten. Er zog sie mit Blicken aus.
Sie rührte sich nicht und schwieg.
Als sich die Tür im Parterre öffnete, bemerkte er es nicht sofort. Dann sah er ihr kurz in die Augen, trat auf den Flur hinaus und hastete davon.