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Nur eines wusste Lena genau. Sie war nicht vergewaltigt worden. Martin Fellows konnte fotografieren, so viel er wollte. Doch wenn er eines seiner Opfer angerührt hatte, war die betreffende Frau aufgewacht und hatte bemerkt, was geschah.
Wie sie in ihrer Angst reagiert hatten, stand auf einem anderen Blatt. Einige Opfer hatten vielleicht mitgespielt, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Andere hatten sich vergeblich gegen das mit Steroiden vollgepumpte Ungeheuer gewehrt. Ein paar der Opfer hatten Anzeige erstattet, manche es für sich behalten. Und wieder andere hatten es, wie die Frau, die sich an eine unbefleckte Empfängnis klammerte, einfach geleugnet, weil sie es nicht einmal sich selbst eingestehen konnten, dass ihnen so etwas zugestoßen war.
Es war halb neun. Novak saß neben ihr am Schreibtisch, als sie drei der sechs Kartons mit Beweismitteln durchsahen, die sie aus Martin Fellows’ Haus in Venice Beach abtransportiert hatten. Die Steuererklärungen, Kontoauszüge und Stromrechnungen der letzten fünf Jahre. Alles, ganz gleich, wie belanglos und unwichtig es ihnen auch erscheinen mochte, konnte ein Hinweis auf einen zweiten Wohnsitz sein. Sánchez und Rhodes durchsuchten auf ihrer Seite des Büros die anderen drei Kartons, trugen dabei aber ausgesprochen mürrische Mienen zur Schau. Lieutenant Barrera hatte alle anderen nach Hause geschickt und sich mit Dr. Bernhardt von der Abteilung Verhaltensforschung im Büro des Captain verschanzt. Nun saßen sie schon seit einigen Stunden in dem verglasten Raum. Seit ihrer Rückkehr vom Tatort am Einkaufszentrum, wo zwei Detectives von der Spezialeinheit mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden worden waren.
Zwei Kollegen tot und Martin Fellows verschwunden. Fernsehkameras drängten sich am Eingang des Parker Center, während die Reporter den Santa-Ana-Winden und dem Qualm der Feuer trotzten, die noch immer in den Hügeln nördlich der Stadt loderten. Als Lenas Blick zum Fernseher auf Barreras Schreibtisch wanderte, bemerkte sie, dass Tito Sánchez, sein Mobiltelefon in der Hand, den Raum verließ. Wahrscheinlich wollte er seine Frau anrufen. Im nächsten Moment stellte sie fest, dass Rhodes sie anstarrte. Sie wandte sich ab. Er hatte noch immer den abwesenden Augenausdruck, vor dem ihr gruselte.
Lena schob das Gefühl beiseite, weil sie wusste, dass es nicht anders ging. Mit den Ergebnissen ihrer Überprüfung von Fellows war sie ganz und gar nicht zufrieden. Rhodes hatte nur Banalitäten wie einen Streit mit einem Restaurant-Geschäftsführer und einen Fall von Nötigung im Straßenverkehr vor zwei Jahren zutage gefördert, allerdings nichts, was ihnen einen besseren Eindruck von der Person des Verdächtigen vermittelt hätte. Nichts, was ihnen verraten hätte, wie dieser Mann tickte. Und trotzdem musste es da Zwischenfälle gegeben haben, die ganz sicher auch irgendwo gespeichert waren. Denn so wie Martin Fellows wurde man nicht über Nacht.
Sie griff zum Telefon. Da Fellows in Venice Beach wohnte, wurden sie bereits von den Kollegen von der Pacific Division unterstützt. Auf der Rückfahrt von West Hollywood hatte Lena sich an Matt Kline gewandt, einen Detective und ehemaligen Mitstudenten von der Polizeiakademie. Doch das war schon über zwei Stunden her, und er hatte noch nicht zurückgerufen.
»Entschuldige, Lena, ich wollte mich gerade bei dir melden.«
»Hast du was über Fellows gefunden?«
»Nein«, erwiderte er, »aber über seine Schwester, das dir vielleicht weiterhelfen wird.«
Die Ermittlungen gegen Martin Fellows dauerten erst knapp neun Stunden. Keine der befragten Personen hatte erwähnt, dass Fellows eine Schwester hatte.
»Was hat sie angestellt?«
»Sie wurde ermordet, Lena. Ihr Name steht auf einer Mordakte. Tilly Fellows. Es hat eine Weile gedauert, die Unterlagen aufzuspüren, aber ich habe sie jetzt vor mir liegen.«
Lena drehte sich zu Novak um und schaltete den Raumlautsprecher ein.
»Mein Kollege kann mithören«, meinte sie zu Kline. »Wer hat Fellows’ Schwester denn umgebracht?«
Novaks Augen leuchteten auf. Kline räusperte sich.
»Der Fall wurde niemals aufgeklärt. Inzwischen ist die Spur eiskalt. Sie war erst vierzehn, als es geschah. Zwei Jahre jünger als ihr Bruder. Also muss es vor dreiundzwanzig Jahren passiert sein. Anfangs dachte ich, dass die Mordakte im Piper Tech Staub ansetzt. Als man sie dort nicht finden konnte, habe ich das Büro auf den Kopf gestellt, und siehe da, sie lag im Schreibtisch des Lieutenant.«
»Wir brauchen die Akte«, antwortete Lena.
»In einer knappen Stunde ist sie bei dir.«
»Was kannst du mir vorab erzählen?«
»Tilly Fellows wurde vergewaltigt und erschlagen. Es gab Hinweise auf jahrelangen sexuellen Missbrauch. Der Vater war in Vietnam gefallen, die Mutter kurz darauf verschwunden. Beide Kinder wuchsen bei den Großeltern auf, Maurice und Alma Fellows. Soweit ich feststellen kann, haben sich die Kollegen damals sehr für Maurice interessiert. Er war der einzige Verdächtige. Doch da die DNA-Analyse in dieser Zeit noch ein feuchter Traum war, gab es keine Beweise.«
»Und jetzt?«, flüsterte Novak.
Lena wiederholte die Frage. »Ist noch etwas übrig, das wir ins Labor schicken könnten?«, fügte sie hinzu.
»Ich hatte keine Zeit, das nachzuprüfen«, antwortete Kline. »Maurice ist zwei Jahre nach seiner Enkelin gestorben, also weiß ich nicht, was das bringen soll. Aber jetzt wird es spannend. Maurice und Alma kamen am selben Tag ums Leben. Der Autopsiebericht liegt der Mordakte bei, da die Todesumstände verdächtig waren und man einen Zusammenhang vermutete.«
»Woran sind sie denn gestorben?«, erkundigte sich Lena.
»Lebensmittelvergiftung. Alle beide.«
»War an dem Datum etwas Besonderes?«
»Genau das war es, was dem Kollegen damals aufgefallen ist«, entgegnete Kline. »Sie starben an Martins achtzehntem Geburtstag.«
Die Worte schlugen ein wie eine Brandbombe.
Lena sah Novak an. Feuer und Rauchwolken spiegelten sich in seinen Augen. Die nächste Dreiviertelstunde lief sie unruhig im Büro auf und ab. Als der Kurier endlich erschien, bedankte sie sich bei ihm und eilte mit dem Ringordner zu ihrem Schreibtisch.
Hier hatten sie den Schlüssel zu Martin Fellows’ Persönlichkeit. Nun wussten sie, wie er tickte.
Novak rollte seinen Stuhl näher heran, während Lena hastig den Ordner aufschlug und zu lesen begann. Tilly Fellows war in einem leer stehenden Haus am Ende der Straße vergewaltigt und umgebracht worden. Martin hatte die Leiche seiner Schwester gefunden. Damals war er sechzehn Jahre alt und laut Aufzeichnungen des Detectives, der ihn befragte, so erschüttert, dass er ärztlich behandelt werden musste. Martin hatte in heller Aufregung die Polizei alarmiert. Und Martin war es auch gewesen, der seinen Großvater beschuldigt hatte.
Rasch blätterte Lena zu Sektion 12, um Fellows’ tatsächliche Aussage zu lesen. Es war keine einfache Lektüre, was vor allem daran lag, dass er mit seinen sechzehn Jahren von der Situation völlig überfordert gewesen war und um Hilfe gefleht hatte. Er beschrieb den Detectives die Szene am Tatort, gefolgt von einer langen Liste dunkler Geheimnisse, die er von seiner Schwester wusste. Fellows sagte aus, sein Großvater habe Tilly abends gern bei geschlossener Tür zu Bett gebracht, und zwar täglich seit inzwischen fünf Jahren. Nun war sie tot, und der Sechzehnjährige machte sich Vorwürfe.
Das beigefügte Foto zeigte einen mageren Jungen mit langem Haar und einem schiefen Lächeln. Nachdem Lena es lange Zeit betrachtet hatte, blätterte sie zu dem Bild von einem unrasierten Mann mit grauem Haar und dunklen Ringen unter den Augen. Maurice Fellows saß auf dem Sofa, neben sich Alma, eine verhärmte Frau in einer billigen Kittelschürze. Die Aufnahme dieses seltsamen Paars erinnerte Lena an die Arbeiten von Diane Arbus, einer Fotografin aus den sechziger Jahren, die sie sehr bewunderte.
»Wir wollen uns die Tatortfotos anschauen«, sagte Novak.
Lena blätterte zur vorangegangenen Sektion. Das erste Bild verriet alles. Tilly Fellows lag auf dem Boden und sah eher aus wie eine Puppe als wie ein vierzehnjähriges Mädchen. Ihre blauen Augen standen offen. Sie wirkten, als bestünden sie aus Plastik, und starrten auf einen Punkt neben der Kamera. Der Täter hatte ihr die Kleider vom zierlichen Körper gerissen. An der Wand lehnte ein Baseballschläger. Aber es war das Gesicht, das Lena innehalten ließ.
Tilly Fellows’ Gesicht war unverletzt. Und es glich dem von Harriet Wilson fast wie ein Ei dem anderen. Die Haarfarbe. Die Form ihrer Wangen. Die anmutig geschwungene Nase und die Stirn.
Lena suchte die weiteren mit dem Verbrechen zusammenhängenden Berichte heraus. Die nächsten beiden Jahre hatte Martin Fellows völlig isoliert mit seinen Großeltern gelebt. Die Hilfe, die der Junge so dringend gebraucht hätte, war nie gekommen.
Obwohl er der Polizei alles erzählt hatte, was er wusste, hatte die Polizei dem Großvater nichts nachweisen können. Außerdem hatte Alma zu ihrem Mann gehalten und ihm ein Alibi gegeben, auch wenn die ermittelnden Detectives ihr kein Wort glaubten. Lena entnahm den Unterlagen, dass Maurice ohne Beisein eines Anwalts vernommen worden war. Die Verhöre dauerten viele Stunden, und es kam auch Schlafentzug zum Einsatz. Doch der Mann gestand nicht. Es gab keine Beweise dafür, dass Maurice seine Enkeltochter sexuell missbraucht oder ermordet hatte. Nur die Aussage von Martin Fellows, der eine Woche nach dem Verbrechen plötzlich nicht mehr reden wollte und ein blaues Auge hatte.
Zwei Jahre später waren Maurice und Alma Fellows tot. Und wenn man den Berichten trauen konnte, wies alles auf Martin Fellows als Täter hin.
Das todbringende Gericht stammte offenbar aus der Salatbar eines Restaurants am Sunset Strip. Martin räumte zwar ein, zur Feier seines achtzehnten Geburtstages mit seinen Großeltern dort gewesen zu sein, fügte jedoch hinzu, er und drei weitere Gäste seien ebenfalls leicht erkrankt. Laut Spurensicherung wurden auf dem Boden, insbesondere rund um den Büffettisch, Reste von Rattengift gefunden. Obwohl der Geschäftsführer abstritt, etwas von dem Gift zu wissen, war das Restaurant schon öfter wegen Verstößen gegen die Hygienevorschriften behördlich abgemahnt worden. Außerdem hatte eine Gesundheitssendung im Fernsehen das Lokal ausdrücklich als schwarzes Schaf erwähnt. Die Detectives waren sicher, dass Fellows diese Sendung gesehen und das Restaurant wegen seines schlechten Rufs ausgesucht hatte. Allerdings konnte man ihm unter den gegebenen Umständen nichts nachweisen.
Lena lehnte sich zurück und dachte an die versiegelten Kartons aus dem Krematorium, die Maurices und Almas Asche enthielten und nun schon seit einundzwanzig Jahren Staub ansetzten. Fellows hatte bis zu seinem achtzehnten Geburtstag gewartet, um nicht mehr auf einen gesetzlichen Vertreter angewiesen zu sein. Nun konnte er sein eigenes Leben führen, seinen mageren Körper in eine Muskelmaschine verwandeln und seinen Neigungen folgend Biologie und Chemie studieren.
Sie warf einen Blick auf den Fernseher. Gerade fingen die Elf-Uhr-Nachrichten an. Novak griff nach der Fernbedienung und machte lauter. Die Nummer der Hotline wurde eingeblendet. Die ersten fünfzehn Minuten der Sendung behandelten die so genannten Liebesmorde von Romeo. Aus verschiedenen Teilen der Stadt wurde live berichtet. Die Brände, die noch immer in den Hügeln wüteten, schienen niemanden zu interessieren.
Vielleicht würden sie auf diese Weise wenigstens ein paar sachdienliche Hinweise bekommen, dachte Lena. Als die Sendung endete, hörte sie im Büro des Captain das Telefon läuten. Sie hoffte, dass der Anruf aus der Chefetage kam. Fünf Minuten später verließ Barrera das verglaste Büro. Als Lena seine aschfahle Haut sah, wusste sie, worum es in dem Telefonat gegangen war, denn das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Für seine Entscheidung, Fellows nicht unverzüglich festzunehmen, würde er sich nun einen Rüffel abholen müssen.
»Nichts«, sagte er. »Bei der Hotline ist kein einziger verwertbarer Anruf eingegangen.«
Alle schwiegen. Barreras Hände zitterten. Er steckte sie in die Jackentaschen.
»Es ist spät«, fuhr er fort. »Morgen wird ein langer Tag. Ich möchte, dass Sie jetzt alle Ihre Sachen packen und nach Hause fahren.«
»Was ist mit Harriet Wilson?«, fragte Novak.
Barrera musterte ihn eine Weile, bevor er antwortete.
»Sie haben es vor gut sechs Stunden selbst gesagt, Hank. Das Mädchen ist tot. Wir können nichts mehr für sie tun.«
Entgeistert schüttelte Novak den Kopf. »Aber ich könnte mich auch irren. Ich hoffe sogar, dass es so ist.«
»Sie irren sich nicht. Ich bin es, der einen Fehler gemacht hat. Jetzt sind zwei Kollegen tot. Belassen wir es dabei. Und jetzt gehen Sie nach Hause. Das ist ein Befehl von ganz oben. Die Brände sind außer Kontrolle geraten, und es besteht die Möglichkeit, dass die Freeways gesperrt werden. Wenn Sie jetzt nicht gleich losfahren, bleiben Sie vielleicht unterwegs irgendwo liegen.« Barrera machte einen Schritt vorwärts und hielt dann noch einmal inne, als sei ihm etwas eingefallen. »Lena, Dr. Bernhardt möchte Sie sprechen, bevor Sie gehen.«
Barrera nahm seine Schlüssel aus der Tasche und verschwand. Lena lauschte auf seine Schritte, die sich auf dem Flur entfernten. Dann läutete die Aufzugglocke, und die Türen schlossen sich.
»Lena, könnte ich kurz mit Ihnen reden?«
Als sie sich umdrehte, sah sie Dr. Bernhardt hinter sich stehen. Nach einem Blick auf Novak folgte sie dem Psychiater in den verglasten Raum.
»Setzen Sie sich«, forderte Bernhardt sie auf. »Es dauert nicht lang.«
Verdattert starrte sie ihn an. Sie begriff nicht, was Bernhardt von ihr wollte oder warum Barrera und die Herren in der Chefetage plötzlich umschwenkten. Also starrte sie auf die Behälter mit chinesischem Essen vom Lieferservice auf dem Konferenztisch und wartete ab, bis der kräftig gebaute Mann Platz genommen hatte. War er in seiner Funktion als Psychiater bei der Abteilung für Verhaltensforschung hier? Oder im Auftrag der Abteilung für interne Ermittlungen, die inzwischen Innenrevision und Qualitätsmanagement hieß?
Kerzengerade saß sie da.
»Immer locker«, meinte er. »Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie ärztliche Hilfe brauchen.«
Lena schüttelte den Kopf. Was für eine abstruse Frage.
»Weshalb sollte ich das?«
Offensichtlich verlegen, zuckte er die Achseln. »Ich habe die Fotos gesehen, die Fellows gemacht hat.«
Es war spät. Sie jagten einen Verbrecher. Lena hatte keine Zeit für solche Gespräche.
»Mir geht es gut.«
Er nickte nachdenklich. »Gibt es wirklich nichts, worüber Sie sprechen möchten? Etwas, das Sie auf dem Herzen haben?«
»Nicht hier und nicht jetzt.«
»Ich frage mich, ob Sie nicht vielleicht unter Realitätsverleugnung leiden, Lena. So wie die Frau in der Zeitung. Wir haben über dieses Thema doch schon einmal gesprochen, als Sie den Tod Ihres Bruders nicht verarbeiten konnten.«
Lena spürte, wie in ihr eine Saite riss. Wut, die jeden Moment in Rage umschlagen konnte. Sie stand auf, schloss die Tür, schob ihren Stuhl weg und beugte sich über den Tisch.
»Ich hätte da wirklich eine Frage, und zwar eine, die nur Sie mir beantworten können«, sagte sie leise.
»Und die wäre?«
»Wurde Rhodes vor oder nach dem Mord an meinem Bruder aus psychischen Gründen beurlaubt?«
»Was tut das hier zur Sache?«
»Beantworten Sie die Frage, Doktor.«
»Danach«, erwiderte er beschwichtigend.
»Wie viel Zeit haben Sie mit Gesprächen über den Mord verbracht?«
Bernhardt zögerte. Ein Fehler. »Sie wissen, dass jedes Wort, das in meiner Praxis fällt, durch das Arztgeheimnis geschützt ist. Ich darf darauf nicht antworten.«
»Das haben Sie durch Ihr Schweigen bereits getan. Es steht Ihnen ins Gesicht geschrieben. Wenn Rhodes den Mord erwähnt hat, unterdrücken Sie Beweise und behindern damit polizeiliche Ermittlungen. Sie können unmöglich genug über den Fall wissen, um in der Lage zu sein, zu beurteilen, welche Informationen wichtig sind und welche nicht.«
Bernhardts Blick wurde feindselig. »Mäßigen Sie sich, Detective. Sie folgten einer falschen Fährte. Ihre Andeutungen sind einfach absurd.«
»Ich deute überhaupt nichts an. Hier geht es nicht um ein Spiel oder eine Denksportaufgabe. Martin Fellows kannte Molly McKenna nicht. Ganz gleich, was das Labor auch sagt, kann er sie nicht getötet haben. Holt hatte sie ebenfalls noch nie zuvor gesehen, weshalb die Selbstmord-Theorie beim besten Willen nicht aufgeht. Er hat meinen Bruder nicht umgebracht. Der Tatort war inszeniert.«
Bernhardt gähnte und betrachtete Lena, als wäre sie ein kleines Kind. Als er sich abwandte, folgte sie seinem Blick zu dem Behälter mit Reis und den drei Glückskeksen auf dem Tisch.
»Vielleicht hilft Ihnen das ja weiter«, meinte er und kratzte sich am Bart. »Ich glaube, ich verstoße nicht gegen das Arztgeheimnis, wenn ich das sage, da es ohnehin offiziell bekannt ist. Rhodes war in jener Nacht mit Ihrem Bruder zusammen. Er macht sich wegen des Mordes Vorwürfe, weil er früher gegangen ist.«
Allmählich ging ihr ein Licht auf, und sie versuchte, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen.
Nun wusste sie, warum Rhodes sich die Mordakte ausgeliehen hatte.
Lena hatte sie von vorne bis hinten gelesen. Wenn sie vollständig gewesen wäre, hätte sich eine Aussage von Rhodes ebenso darin befinden müssen wie die Mitschrift der Befragung von Zeugen, die ihn im Club gesehen hatten. Offenbar hatte Rhodes die fraglichen Seiten entfernt. Und da die ermittelnden Detectives von damals inzwischen im Ruhestand waren, war es niemandem aufgefallen.
Rhodes hatte sich an jenem Abend mit David getroffen, war aber früher gegangen.
Wortlos beobachtete sie, wie Dr. Bernhardt nach einem Glückskeks griff, und ging hinaus.