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Es hatte nur eine Stunde gedauert, den Inhalt des Badezimmers sicherzustellen. Nun wurde er in einem schwarzweißen Streifenwagen in Windeseile den Freeway 10 hinunter ins Labor gebracht.

Barrera blieb noch, verbrachte aber die meiste Zeit am Telefon. Während Lena Fellows’ Schreibtisch im Wohnzimmer durchsuchte, konnte sie mithören, wie er vor der Eingangstür mit seinem neuen besten Freund Stan Rhodes telefonierte. Offenbar hatte Rhodes Erkundigungen über Fellows eingezogen, aber nichts in Erfahrung bringen können. Tito Sánchez, sein getreuer Partner, stimmte die Überwachung des Verdächtigen mit der Spezialeinheit ab. Die Kollegen würden Fellows während der vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden, die das Labor für ein vorläufiges Ergebnis brauchte, nicht mehr aus den Augen lassen. Dafür hatte Novak gesorgt. Nach dem Mittagessen im Pink Canary war Fellows zum Einkaufszentrum in West Hollywood gefahren. Soweit Lena feststellen konnte, betrachteten Barrera und Rhodes das als Hinweis darauf, dass der Mann seine Beschatter nicht bemerkt hatte. Doch je länger Lena darüber nachdachte, desto mehr kam ihr das spanisch vor. Was hätte sie wohl getan, wenn sie einen Verfolger hätte abschütteln wollen? Sie hätte sich als Erstes ein Parkhaus mit mehreren Ausfahrten in einem belebten Viertel gesucht. Und das Einkaufszentrum an der Ecke Beverly Boulevard und La Cienega Boulevard besaß genau so eines.

Lena schaltete die Ohren auf Durchzug, öffnete die letzte Schublade und entdeckte dort Fellows’ Scheckbuch und die Rechnungen. Mit den Rechnungen fing sie an, konnte aber keine einzige entdecken, die sich nicht auf das Haus in Venice Beach bezog. Als sie das Scheckbuch aufschlug und die Eintragungen durchblätterte, war jeder von Fellows ausgestellte Scheck einem der Unternehmen zuzuordnen, die dieses Haus mit Energie, Wasser, Fernsehanschluss und Telefonverbindung versorgten. Nichts wies auf einen zweiten Wohnsitz hin.

Ihr Blick wanderte durch den Raum. Über dem Kaminsims hing ein Gemälde, das ihr aus unerklärlichen Gründen bekannt vorkam.

Lena stand auf. Das Bild war kein Original, sondern ein gerahmter Kunstdruck. Eine junge blonde Frau stand nachts wartend an einer roten Ampel, während Männer in Anzügen unverhohlen ihren nackten Körper musterten. Die Gebäude im Hintergrund waren mit Graffiti beschmiert. Als Lena näher herantrat, stellte sie fest, dass sie nicht mit dem Pinsel aufgemalt, sondern mit Tusche gezeichnet waren. Die Gebäude selbst erinnerten an Tätowierungen auf menschlicher Haut.

Da der gesamte Raum sich in der Glasscheibe spiegelte, war es nur schwer festzustellen. Außerdem war die Qualität des Drucks so schlecht, dass Lena sich fragte, ob es sich vielleicht um eine Raubkopie handelte. Doch auch das konnte nicht verhindern, dass sich die gewalttätige Stimmung des Bildes durchsetzte. Je länger Lena das Bild betrachtete, desto sicherer war sie, dass der Künstler Menschenhaut verwendet hatte.

Lena wandte sich ab und wünschte, sie hätte die Zeit gehabt, eine Zigarette zu rauchen. Sie setzte sich an den Schreibtisch, wo sie auf das Scheckbuch starrte. Seltsamerweise hatte Fellows sich eines mit kariertem Papier ausgesucht. Bei einem zweiten Griff in die Schublade förderte Lena einen Stapel eingelöster Schecks zutage und studierte die wie mit der Maschine getippte präzise Handschrift des Mannes, die ihr inzwischen so vertraut war. Anders als die meisten Menschen schrieb Fellows nicht einfach quer über den Scheck, sondern füllte die Kästchen aus wie bei einem Kreuzworträtsel.

Lena holte ihr Notizbuch heraus und blätterte zu den Aufzeichnungen zurück, die sie sich während des Treffens mit Irving Sample von der Abteilung für Urkundenfälschung am Sonntag gemacht hatte. Sample hatte festgestellt, dass Romeo den Buchstaben P auf ungewöhnliche Weise schrieb. Wie sie sich erinnerte, hatte er das als ein Merkmal, so eindeutig wie ein Fingerabdruck, beschrieben. Lena war zwar keine Handschriftenexpertin, doch schließlich handelte es sich um eine so offensichtliche Eigenart, dass sie sogar ihr auffiel. Martin Fellows begann den Buchstaben unten an der Schleife und beendete ihn, ohne abzusetzen. Das reichte für einen Haftbefehl. Im Mordfall Ennis Cosby war es sogar genug für eine Verurteilung gewesen. Also war es überflüssig, achtundvierzig Stunden auf die Laborergebnisse zu warten.

»Lena!«, rief Novak da. »Schnell.«

Seine Stimme kam aus dem Schlafzimmer. Lena hastete durch die Vorhalle, sah, wie Barrera ins Haus eilte, und stürmte die Treppe hinauf. Novak kniete zwischen den Betten auf dem Boden. Er hatte den Teppich weggezogen und einige Dielenbretter entfernt. Zwei Kriminaltechniker standen daneben, als Lamar Newton mit Automatikkamera und Blitzlicht in rascher Folge drei Fotos schoss.

Als Lena eintrat, warf Novak ihr einen aufgeregten Blick zu.

»Die Bretter waren lose«, verkündete er. »Da unten liegt eine Aktenmappe. Offenbar einige Zentimeter dick.«

Endlich war Lamar fertig und machte Platz. Novak griff in das Loch, holte die Mappe heraus und schlug sie auf.

»Was ist das?«, fragte Barrera. »Was hat er da versteckt?«

Die ersten Seiten sahen aus wie ein offizielles Dokument: Fotokopien von Harriet Wilsons Personalakte und ihrer Krankengeschichte. Novak blätterte um, und Lena stellte fest, dass seine Finger vor Anspannung zitterten.

Unter der Personalakte befand sich ein Stapel Fotos, die Frauen in ihren Schlafzimmern zeigten. Allerdings waren die Aufnahmen nicht gestellt. Die Frauen auf den Bildern ahnten nichts von Fellows’ Anwesenheit. Er hatte ein Nachtobjektiv benutzt und sie in der Dunkelheit beim Schlafen fotografiert.

Grauen ergriff Lena, als Novak die Bilder nacheinander betrachtete. Eine unfassbare Anzahl namenloser Frauen, die, allein in ihren Betten, schliefen und träumten.

Als sie auf einige Aufnahmen von Harriet Wilson stießen, setzte sich Lena neben ihren Partner, um besser sehen zu können. Es war eine ganze Bilderserie, in der Wilson unterschiedliche Nachthemden trug. Offenbar begehrte Fellows diese Frau so sehr, dass er mehrere Besuche riskiert hatte und öfter bei ihr eingebrochen war. Nachdem Novak das letzte Foto von Wilson auf den Stoß gelegt hatte, griff Lena nach dem Bild der nächsten Frau.

»Kennst du sie?«, fragte Novak.

»Über sie wurde letzte Woche in der Zeitung berichtet. Sie ist schwanger, hat aber angeblich seit zwei Jahren keinen Sex mehr gehabt.«

»Die Braut Jesu«, ergänzte Lamar. »Es stand letzten Freitag in der Times

Lena nickte. Sie hatte den Artikel entnervt beiseitegelegt, als sie zu der Stelle kam, an der die Frau sich auf die unbefleckte Empfängnis berief. Es war wieder Märchenstunde in L. A. Eine jener religiösen Fanatikerinnen, die man sich in den Vereinigten Staaten standhaft als Problem zu sehen weigerte.

Novak nahm das nächste Foto zur Hand. Diese Frau kannten sie beide. Es war Avis Payton, die junge Frau mit dem metallisch roten Haar.

Lena stellte fest, dass sich Entsetzen im Blick ihres Partners malte, so sehr er sich auch bemühte, sich nichts anmerken zu lassen.

Fellows hatte sich mit Paytons Kreditkarte auf Burells Webseite angemeldet. An dem Tag, als sie und Novak Payton besucht hatten, war sie an einer Art Darmgrippe erkrankt gewesen und hatte behauptet, ihre Handtasche sei gestohlen worden. Inzwischen jedoch wussten sie, was die junge Frau ihnen verheimlicht hatte, und zwar weil sie nicht wollte, dass ihr Polizisten-Vater in Salt Lake City davon erfuhr. Lena hatte noch den neuen Riegel an der Balkontür vor sich. Martin Fellows hatte Avis Payton sein übliches Geschenk gemacht und ihr eine Wunde zugefügt, die nie wieder heilen würde. Er hatte sie vergewaltigt. Und nun war sie schwanger und trug das Kind eines Ungeheuers unter dem Herzen.

Wortlos blätterte Novak zum nächsten Bild weiter. Doch Lena merkte ihm an, wie sehr ihn die Erkenntnis traf, denn er musste sich etwas aus dem Auge wischen. Dann kamen die folgenden zehn Fotos – das Grauen ließ sich offenbar noch steigern.

Diese Frauen schliefen nicht. Sie waren tot.

Außerdem machten sie eher den Eindruck, als stammten sie von Lamar anstatt von Martin Fellows. Tatortfotos von Teresa López, ausgestreckt auf einem mit ihrem eigenen Blut gemalten Kreuz. Nikki Brants nackte Leiche auf dem Bett, Gesicht und Hände in Einkaufstüten gewickelt.

Novak hielt inne, obwohl sie noch nicht den ganzen Stapel gesichtet hatten.

»Was meinen Sie, Lieutentant?«, wandte er sich mit leiser, heiserer Stimme an Barrera. »Es gibt keinen Grund mehr, auf die Laborergebnisse zu warten.«

Barrera steckte die Hände in die Taschen und trat einen Schritt zurück. Offenbar fiel ihm die Entscheidung nicht leicht. Um ihm aus seiner Zwickmühle zu helfen, berichtete Lena von den im Schreibtisch gefundenen Handschriftenproben. Nachdenklich wandte sich Barrera ab. Ein Schweißtropfen fiel von seiner Stirn zu Boden.

»Das Mädchen könnte noch leben«, meinte er schließlich. »Vielleicht führt er uns ja zu ihr.«

Novak schüttelte den Kopf. »Dieses Arschloch tickt nicht wie wir Normalmenschen. Harriet Wilson ist vermutlich tot. Wir dürfen den Kerl nicht länger frei herumlaufen lassen.«

»Doch wir wissen nicht genau, ob sie tot ist.«

Lena schwieg. Zum ersten Mal in den letzten beiden Tagen teilte sie Barreras Auffassung. Alle anderen Opfer waren in ihrem eigenen Zuhause angegriffen worden, während Fellows Harriet Wilson aus bislang ungeklärten Gründen offenbar entführt hatte. Lena malte sich die Szene aus, wie Brant Fellows die Webseite gezeigt hatte. Gewiss hatte er die Frau lachend eine Hure genannt und Fellows mit seiner Schwärmerei für sie aufgezogen. Allerdings bedeutete sie Fellows etwas, und zwar so viel, dass er Brants Frau umgebracht und am Tatort gewartet hatte, um die Reaktion des Ehemanns beim Auffinden der verstümmelten Leiche zu beobachten. Bei Harriet Wilson würde er hingegen anders vorgehen. Sie zu töten stürzte ihn sicher in einen inneren Konflikt, weshalb es durchaus möglich war, dass er sie noch eine Weile am Leben lassen und zu ihr zurückkehren würde.

Barrera wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Solange die Spezialeinheit ihn beschattet, kann er niemandem etwas schaden.«

»Theoretisch richtig«, widersprach Novak. »Aber wollen Sie das Risiko wirklich eingehen?«

»Ich denke, wir sollten nichts überstürzen, Hank. Geben wir der Spezialeinheit ein paar Stunden, um festzustellen, wo er hinfährt. Wenn Fellows uns nicht zu dem Mädchen führt, nehmen wir ihn fest und hoffen, dass wir ihn zum Reden bringen können.«

Novak verzog das Gesicht und schlug mit der Faust auf den Fotostapel, den er noch in der Hand hielt. Als die Bilder zu Boden schwebten, stieß er plötzlich einen entsetzten Schrei aus. Lena und alle anderen folgten seinem Blick. Im ersten Moment begriff sie nicht ganz, was sie da sah. Dann schnürte es ihr die Brust zu, und der Raum fing an, sich zu drehen.

Wieder waren es drei Fotos einer Frau, die in ihrem Bett schlief, eine Bilderserie, geschossen von einem Wahnsinnigen in der Dunkelheit.

Lena starrte auf die Fotos. Sie bemerkte eine Pistole auf dem Nachtkästchen. Daneben lagen Dienstausweis und Polizeimarke. Als ihre Augen endlich auf ihrem eigenen Gesicht ruhten, sah sie zwar, dass Novak ihre Hand nahm, aber sie spürte es nicht.

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