34

 

»Du siehst spitze aus«, sagte Okolski. »Wie lange ist es her, Lena? Drei Jahre?«

Warren Okolski war Chef von Blue Moon Records, der Plattenfirma, die David Gamble und Tim Holt unter Vertrag genommen und ihrer Karriere auf die Sprünge geholfen hatte. Okolski hatte alle drei Alben produziert und war oft bei Lena und David zu Besuch gewesen. Außerdem hatte er offenbar ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Zuletzt hatte Lena Okolski wirklich vor drei Jahren getroffen, und zwar zufällig auf der Strandpromenade in Santa Monica. Die Begegnung hatte zu einem Abendessen, einigen Drinks und einer Partie Darts in einem obskuren Pub geführt.

Sein Gesicht rötete sich, als er sich hinter seinem Schreibtisch erhob. Seine Assistentin, eine junge Blondine, schien sich zu wundern, dass ihr Chef sich tatsächlich freute, eine wildfremde Frau zu sehen, die ohne Termin bei ihm hereinschneite und deren Name ihr kein Begriff war.

»Das ist Lena«, stellte Okolski sie vor. »David Gambles Schwester.«

Obwohl der Groschen endlich gefallen schien, machte das Mädchen noch immer einen leicht konsternierten Eindruck. Lena nahm an, dass es mit der Pistole an ihrem Gürtel zu tun hatte. Doch das kümmerte sie nicht. Sie fiel Okolski um den Hals, denn sie hatte ihn schon immer gemocht und seine Gesellschaft genossen.

»Kann ich dir etwas anbieten?«, fragte er. »Kaffee, Wasser, alles, was du willst. Dein Wunsch ist mir Befehl.«

Aus Erfahrung wusste sie, dass sein Angebot ernst gemeint war, schüttelte aber dennoch den Kopf. Als die Assistentin mit einem giftigen Blick auf Lenas offenen Blazer hinausging, wies er sie an, keine Anrufe durchzustellen.

»Setz dich und sag mir, was los ist«, forderte er Lena dann auf.

Lena ließ sich auf dem Sofa nieder. Es gefiel ihr gar nicht, Überbringerin einer Hiobsbotschaft zu sein. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und griff nach einer Mineralwasserflasche. Als sein Blick auf den Computerbildschirm fiel, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Was ist denn so komisch?«, fragte Lena.

»Meine Assistentin hat mir gerade eine E-Mail geschickt.«

»Und was steht drin?«

»Dass du bewaffnet und gefährlich bist, weil du eine dicke Kanone bei dir hast.«

Sie lachten. Während Okolski sich in dem Ledersessel auf der anderen Seite des Couchtischs niederließ, versuchte Lena, sich zu beruhigen.

»Wann gibst du dich endlich geschlagen, Lena. Mein Angebot steht noch. Wenn du einen Job willst, hast du ihn. Hoffentlich bleibst du zum Mittagessen.«

»Ich glaube, ich kann nicht.«

Okolski musterte sie fragend und fuhr dann zusammen, als dämmere ihm endlich, dass da etwas im Argen lag. Der Musikproduzent war Ende dreißig, mager und hochgewachsen. Seine Augen wirkten eher golden als braun, und er hatte ein weiches, entspanntes und absolut faltenloses Gesicht. Das hellbraune Haar trug er in einem Pferdeschwanz. Lena hatte ihn noch nie anders als in Jeans und schwarzem T-Shirt gesehen. Seinen Erfolg verdankte Warren Okolski seinem Gehör. Blue Moon Records galt als alternatives Label, weil die meisten der dort unter Vertrag stehenden Musiker keine Musikvideos aufnahmen und sich nicht am Massengeschmack orientierten. Zum Pech für die Musik als Kunstform lagen die Standards in der Branche jedoch inzwischen so niedrig, dass man Okolskis Philosophie als eigenbrötlerisch, ja, sogar als merkwürdig betrachtete. Für Okolski war es nämlich zweitrangig, wie ein Musiker vor der Kamera aussah. Außerdem arbeitete er grundsätzlich nicht mit Sängerinnen und Tänzerinnen zusammen, die bei den Cheerleadern besser aufgehoben gewesen wären. Ihm ging es einzig und allein um die Musik und die Weiterentwicklung eines Stils. Im Laufe der Jahre hatte sich sein Faible für das Entdecken neuer Musikrichtungen bezahlt gemacht, denn mittlerweile beneideten ihn alle großen Plattenfirmen der Stadt um die Liste der bei ihm unter Vertrag stehenden Künstler. Er hatte das Wort cool neu erfunden, und die Liebhaber von Jazz, Blues und alternativem Rock überschlugen sich vor Begeisterung. Lena erinnerte sich an ein Gespräch vor sechs oder sieben Jahren. Damals hatte David noch gelebt. Sie saßen am Küchentresen, tranken das dritte oder vierte Bier, und Lena hatte gerade die Tequilaflasche mit zwei Schnapsgläsern hingestellt. Okolski hatte verkündet, alles sei nur eine Frage des Stils. Je ausgeprägter der Stil eines Musikers sei, desto mehr fehle es ihm an Substanz. Er persönlich interessiere sich nicht für Leute, die genauso gut in Vegas auftreten könnten.

Nun öffnete er die Mineralwasserflasche und trank einen großen Schluck. Als er endlich das Wort ergriff, sprach er so leise, dass seine Stimme kaum zu hören war.

»Du bist nicht nur hier, um guten Tag zu sagen.«

Lena schüttelte den Kopf. »Nein, Warren, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.«

»Wie schlecht?«

»Schlechter geht es nicht«, erwiderte sie. »Tim ist tot.«

Okolski nahm die Hiobsbotschaft schweigend auf. Er ließ den Kopf sinken und wischte sich die Augen. Als es still im Raum wurde, hörte Lena durch das Fenster das gedämpfte Rumpeln eines die Straße hinaufkeuchenden Busses.

»Wie ist es passiert?«, stieß Okolski hervor.

»Sieht nach Selbstmord aus.«

Ein Bild entstand vor Lenas geistigem Auge: Tim Holts zusammengesackte Leiche im Sessel am Schlafzimmerfenster. Sie konnte die Wunde auf seiner Stirn sehen. Die Pistole in seiner Hand. Seine tote Freundin auf dem Bett.

»Alles lief doch so gut«, sagte Okolski. »Warum hätte er das tun sollen?«

»Er hat etwas gesehen, das er nicht verkraften konnte, Warren.«

Trotz seiner Trauer lachte Okolski auf. »Tim hatte starke Nerven. Erst gestern Abend haben wir noch an seinem neuen Album gearbeitet. Was für ein Mist läuft da?«

Als Lena antworten wollte, unterbrach Okolski sie mit einer Handbewegung. Sie nahm Block und Stift aus der Tasche.

»Gib mir einen Moment«, sagte er.

Er stand auf und begann, hin und her zu laufen. Als er sich endlich wieder setzte, erzählte Lena ihm so viel, wie er ihrer Ansicht nach wissen musste. Es habe eine Mordserie gegeben, erklärte sie. Tim habe ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, denn er habe etwas auf dem Herzen gehabt. Bis jetzt sehe es danach aus, als ob Tims Freundin das eigentliche Opfer gewesen sei. Offenbar habe Holt das Auffinden ihrer Leiche nicht verwunden.

»Das ergibt keinen Sinn«, meinte Okolski.

»Verrate mir, warum.«

»Dass er dich angerufen hat, hat er nicht erwähnt. Aber eines kann ich dir sagen: Es ging ihm nicht darum, das Tonstudio wieder zu eröffnen. Er kannte deine Einstellung dazu, und wir haben sie beide akzeptiert.«

Diese Worte von Okolski bestätigten Lena, was sie schon seit ihrem Zwischenstopp in der Vista Del Mar ahnte: Holt hatte versucht, sie zu erreichen, und zwar wegen eines Themas, das nichts mit Musik oder dem Tonstudio zu tun hatte.

»Wo sollten die Aufnahmen für das Album denn stattfinden?«

»Er hatte eine neue Band gegründet. Die Jungs sind wirklich gut. So gut, dass er unbedingt clean werden wollte. Also ist er freiwillig in eine Klinik in Arizona gegangen. Während er weg war, begannen die Bauarbeiten für sein eigenes Tonstudio. Als er zurückkam, war alles fertig, und Tim strotzte vor Tatendrang. Er war so stolz, Lena. Genau wie David. Er schwebte regelrecht im siebten Himmel. Außerdem hatte er ein Haus gekauft. Er war wieder im Geschäft, und der Laden brummte.«

»Du hast gesagt, ihr wärt gestern Abend zusammen gewesen.«

Okolski nickte. »Sie haben ein paar Lieder drüben im Viper Room gespielt. Ich wollte ein Gefühl für die Atmosphäre kriegen und hören, wie die neuen Sachen live klingen. Tim verschwand so gegen elf. Nach dem Auftritt bin ich mit ein paar Freunden zu einem späten Abendessen ins Pinot gegangen. Wir haben darüber geredet, wie es gelaufen ist.«

Lena ließ den Stift sinken und sah Okolski an, der zusammengesackt dasaß.

»Dich stört doch noch etwas«, meinte sie. »Was ist los?«

»Die Sache mit seiner angeblichen Freundin. Du hast gesagt, er hätte sie ermordet aufgefunden und sich deshalb umgebracht.«

»Zumindest macht es diesen Eindruck. Wo liegt das Problem?«

»Wir standen uns sehr nah, Lena. Tim und ich haben fast jeden Tag telefoniert.«

»Und was hat das mit seiner Freundin zu tun?«

Okolski räusperte sich. Sie sahen einander an.

»Er hat nie erwähnt, dass er eine hatte.«

Todesqual
titlepage.xhtml
Todesqual_split_000.html
Todesqual_split_001.html
Todesqual_split_002.html
Todesqual_split_003.html
Todesqual_split_004.html
Todesqual_split_005.html
Todesqual_split_006.html
Todesqual_split_007.html
Todesqual_split_008.html
Todesqual_split_009.html
Todesqual_split_010.html
Todesqual_split_011.html
Todesqual_split_012.html
Todesqual_split_013.html
Todesqual_split_014.html
Todesqual_split_015.html
Todesqual_split_016.html
Todesqual_split_017.html
Todesqual_split_018.html
Todesqual_split_019.html
Todesqual_split_020.html
Todesqual_split_021.html
Todesqual_split_022.html
Todesqual_split_023.html
Todesqual_split_024.html
Todesqual_split_025.html
Todesqual_split_026.html
Todesqual_split_027.html
Todesqual_split_028.html
Todesqual_split_029.html
Todesqual_split_030.html
Todesqual_split_031.html
Todesqual_split_032.html
Todesqual_split_033.html
Todesqual_split_034.html
Todesqual_split_035.html
Todesqual_split_036.html
Todesqual_split_037.html
Todesqual_split_038.html
Todesqual_split_039.html
Todesqual_split_040.html
Todesqual_split_041.html
Todesqual_split_042.html
Todesqual_split_043.html
Todesqual_split_044.html
Todesqual_split_045.html
Todesqual_split_046.html
Todesqual_split_047.html
Todesqual_split_048.html
Todesqual_split_049.html
Todesqual_split_050.html
Todesqual_split_051.html
Todesqual_split_052.html
Todesqual_split_053.html
Todesqual_split_054.html
Todesqual_split_055.html
Todesqual_split_056.html
Todesqual_split_057.html
Todesqual_split_058.html
Todesqual_split_059.html
Todesqual_split_060.html
Todesqual_split_061.html
Todesqual_split_062.html
Todesqual_split_063.html
Todesqual_split_064.html
Todesqual_split_065.html
Todesqual_split_066.html
Todesqual_split_067.html
Todesqual_split_068.html
Todesqual_split_069.html
Todesqual_split_070.html
Todesqual_split_071.html
Todesqual_split_072.html
Todesqual_split_073.html
Todesqual_split_074.html