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Die Dreggco Corporation hatte ihren Sitz in Venice Beach in der Main Street, nur einen Katzensprung entfernt vom Strand. Als Novak in den Parkplatz einbog, musterte Lena das einstöckige Gebäude und kam zu dem Schluss, dass es innerhalb der letzten drei bis vier Jahre gebaut worden sein musste. Die Verkleidung aus gewelltem Aluminium war makellos und wirkte frisch gestrichen, und zwar in einem Gelbton, eine Schattierung dunkler als Sand. Während das Erdgeschoss fensterlos war, war der erste Stock mit einer Front aus getöntem Glas versehen.
Sie stiegen aus und gingen durch den Nieselregen zu dem wasserblauen Baldachin über dem Eingang. Das Schild neben der Tür war zu klein, um es von der Straße aus lesen zu können.
DREGGCO CORPORATION
WIR ESSEN, DAMIT ES IHNEN SCHMECKT
Novak studierte den Slogan. Unterdessen drehte Lena sich zum Parkplatz um. Nach der Anzahl der Autos zu urteilen, beschäftigte das Unternehmen weniger als hundert Mitarbeiter. Doch am meisten erstaunte Lena das Fehlen wahrnehmbarer Sicherheitsvorkehrungen. Schließlich waren sie hier in Los Angeles. Hollywood mochte eine Kloake sein. Doch wenn man einen Stadtteil als Abfluss bezeichnen konnte, dann war das eindeutig Venice Beach.
»Siehst du dasselbe wie ich?«, fragte sie.
»Keine Überwachungskameras.«
»Und auch kein Tor und keinen Sicherheitsdienst, ja, nicht einmal eine elektronische Zugangskontrolle.«
Mit einem gequälten Lächeln streckte Novak die Hand nach der Tür aus. »Also keine Aufzeichnungen darüber, wer hier so alles ein und aus geht.«
»Oder um wie viel Uhr ein gewisser Jemand hier gewesen ist«, ergänzte Lena.
Beim Eintreten schlug ihnen warme Luft entgegen. Eine junge Frau, lässig in Jeans und schwarzen Pulli mit V-Ausschnitt gekleidet, saß hinter einer Theke, nahm Anrufe entgegegen und leitete sie weiter. Als Lena und Novak sich ihr näherten, bat sie sie mit erhobenem Finger um Geduld, während sie in einen Kopfhörer lauschte. Lena bemerkte einen Bücherstapel zu Füßen der Frau. Neben ihrer Teetasse auf der Theke lagen weitere Lehrbücher. Offenbar war die Empfangsdame im Hauptberuf Studentin.
Beim Warten trat Lena ein Stück zur Seite. Der Raum war spärlich, aber modern und teuer möbliert. An den Wänden hingen drei hochaufgelöste Fotos, beleuchtet mit winzigen Wolfram-Strahlern. Sie stellten einen Apfel, ein Ei und ein Reiskorn in der Hand eines Kindes dar. Eine Treppe führte in den ersten Stock. Von einem Aufzug fehlte jede Spur. Unten an der Treppe befand sich hinter einer doppelflügligen Glastür ein Flur, der einen offenbar ins Innere des Gebäudes brachte. Von diesem Flur gingen mehrere Türen ab. Wie der Haupteingang verfügten auch sie nicht über eine Zugangskontrolle.
»Entschuldigen Sie, dass es so lang gedauert hat«, sagte die Empfangsdame. »Kann ich Ihnen helfen?«
Lena drehte sich zur Theke um. Novak lächelte die junge Frau an.
»Kein Problem«, erwiderte er. »Wir möchten Milo Plashett sprechen. Er erwartet uns.«
Die Empfangsdame schaute zwischen Novak und Lena hin und her. Ihre ungezwungene Art war auf einmal wie weggeblasen, als ihr plötzlich klar wurde, wen sie vor sich hatte. Offenbar hatte es sich schon herumgesprochen. Da Plashett nicht verdächtigt wurde – der Besuch war reine Routine -, hatte Lena sich telefonisch angekündigt, damit er auch sicher im Haus sein würde. Wie Sánchez von Brant erfahren hatte, war Plashett der Inhaber der Dreggco Corporation und hatte ihn persönlich eingestellt.
Die Empfangsdame wies auf die Treppe und drückte dabei auf den ersten Knopf der Telefonkonsole. »Mr. Plashetts Büro ist am Ende des Flurs.«
Lena und Novak durchquerten die Vorhalle. Oben in der ersten Etage kam Milo Plashett ihnen schon entgegen, schüttelte ihnen die Hand und stellte sich vor.
»Hier entlang«, sagte er nervös. »Bitte sehr.«
Sie folgten ihm in den hinteren Teil des Gebäudes. Plashett war klein und untersetzt und hatte einen kräftigen und entschlossenen Schritt. Von seinem dunkelbraunen Haar war nicht mehr viel übrig, sein kahler Schädel war sonnengebräunt. Lena schätzte ihn auf etwa fünfzig. Als sie an einigen Türen vorbeikamen, erkannte sie eine, an der James Brants Name stand, und wies Novak mit einem Rippenstoß darauf hin. Plashett, der nicht gleich bemerkte, dass sie stehen geblieben waren, ging weiter, eilte dann aber zu ihnen zurück.
»Dürfen wir mal reinschauen?«, fragte Lena.
»Klar«, erwiderte Plashett, »unter den gegebenen Umständen hätte er sicher nichts dagegen.«
Unter den gegebenen Umständen würde er vielleicht ganz und gar nicht einverstanden sein, dachte Lena.
Sie betraten Brants kleines, unscheinbares Büro, wo sich auf dem Schreibtisch und dem Boden Akten und lose Papiere stapelten. Durch das Fenster konnte Lena ein Stück Ozean sehen, das zwischen den Gebäuden am Ende der Straße hervorlugte. Auf dem Fensterbrett stand ein Foto von Nikki Brant, die in die Kamera lächelte. Lena erkannte das Gebäude hinter ihr ebenso wie den Brunnen. Das Bild war vor dem L. A. County Museum of Art am Wilshire Boulevard aufgenommen worden.
Plashett räusperte sich. »Manchmal, wenn ich den Flur hinunterkam, sah ich ihn so dastehen und das Bild in seiner Hand anstarren wie Sie gerade. Was muss der arme Mann jetzt wohl durchmachen?«
»Uns hat er gesagt, seine Ehe sei glücklich gewesen«, meinte Lena.
»Ich habe ihn oft deswegen aufgezogen. Die beiden waren ja erst seit ein paar Jahren verheiratet. Schreibt euer Erfolgsrezept auf, habe ich James gesagt. Und wenn ihr die ersten zwanzig Jahre hinter euch habt, machen wir ein Buch daraus.« Plashetts Stimme erstarb. Er schien aufrichtig erschüttert zu sein.
»Also gab es bei ihm Ihres Wissens nach keine Seitensprünge?«, hakte Lena nach.
Plashett zögerte, allerdings nicht wegen Lenas Frage, sondern weil sein Blick auf ihren Gürtel gefallen war.
»Nein«, erwiderte er schließlich leise. »Keine Seitensprünge.«
»Ist irgendetwas, Mr. Plashett?«
Er sah Lena ins Gesicht. »Ihre Pistole«, antwortete er. »Frauen, die mit so einer Pistole herumlaufen, sind eine völlig neue Erfahrung für mich, und ich musste daran denken, wie die Welt sich verändert hat.«
»Da haben Sie Recht, Mr. Plashett. Die Welt hat sich verändert.«
Lächelnd sah er auf die Uhr. »Wir wollen in mein Büro gehen und uns dort weiter unterhalten. Um eins habe ich ein Seminar und muss bald los, damit ich mich nicht verspäte.«
Auf ihrem Weg den Flur entlang kamen sie an einem Zimmer vorbei, das wie ein Kontrollraum oder eine Kommandozentrale aussah. Fünfundzwanzig Schreibtische waren in Gruppen angeordnet, und zwar ohne Trennwände, damit die Mitarbeiter einander anschauen und sich verständigen konnten. Keiner der Menschen im Raum schien älter als dreißig zu sein.
»Unterrichten Sie?«, erkundigte sich Lena.
»Ich fürchte ja«, erwiderte er. »Genau genommen ist dieses Unternehmen ein Ergebnis meiner Lehrtätigkeit an der Universität. Irgendwann sind wir über den Seminarraum hinausgewachsen. Dass wir es einmal so weit bringen, hätte ich allerdings nie gedacht.«
Sie traten in sein Eckbüro. Nachdem Plashett die Tür geschlossen hatte, forderte er sie mit einer ausladenden Geste zum Platznehmen auf und umrundete seinen Schreibtisch. Lena ließ den Blick durch den Raum schweifen. Aus dem Fenster zur Rechten hatte man dieselbe Aussicht wie in Brants Büro, und auch der graue Resopalschreibtisch war identisch. Eine Arbeitsfläche, ebenfalls aus Resopal, an der hinteren Wand war offenbar der Platz, wo Plashett den Großteil seiner Zeit verbrachte. Hier stand sein Computer, und außerdem war alles mit Ringordnern, riesigen Papierbögen voller Diagramme und einer Unzahl von Aktenmappen bedeckt. Eine besondere Note erhielt das Büro jedoch durch die Fenster über der Arbeitsfläche, die sich über die gesamte Wand erstreckten. Sie waren groß und gingen auf die Rückseite des Gebäudes hinaus, sodass der Raum in ein weiches, fast träumerisches Licht getaucht wurde.
Während Lena sich setzte, blieb Novak stehen und sah sich beim Sprechen im Raum um.
»Was genau machen Sie hier, Mr. Plashett?«
»Wir haben eine neue Technologie entwickelt.«
»Vermutlich bringt sie viel Geld ein«, meinte Lena.
Plashett lächelte. »Sie wird unser aller Leben zum Positiven verändern, auch wenn es bis zur Marktreife noch einige Jahre dauern wird. Also, warum erzählen Sie mir jetzt nicht, warum Sie hier sind?«
»Nur ein paar Routinefragen«, verkündete Novak. »Brant hat uns gesagt, er habe die ganze Nacht gearbeitet. Und so haben wir beschlossen, mal hier vorbeizuschauen.«
»Er bereitet die Buchprüfung des Unternehmens vor. Außerdem hat er zusätzlich zu seinem Bericht noch einige Projekte und Geschäftsmodelle entwickelt.«
»Allein?«, erkundigte sich Lena.
Plashett lachte auf. »Wir mögen eine kleine Firma sein, aber so klein nun auch wieder nicht. Er hat zwei Assistenten. In letzter Zeit schuften sie etwa zwanzig Stunden pro Tag.«
Novak holte Notizbuch und Stift aus der Tasche. »Und Brant war letzte Nacht hier.«
Kurz hielt Plashett inne, räusperte sich und rutschte auf seinem Stuhl herum. Ihm schien nicht ganz wohl in seiner Haut zu sein.
»Es ist ein wenig heikel, Detective.«
»Heikel?«
»Sie müssen verstehen, dass James ein netter Junge ist. Er arbeitet von früh bis spät, und zwar für ein Viertel des Gehalts, das ihm eigentlich zustünde. Er ist tüchtig. Er beklagt sich nie. Wir entwerfen hier Pläne für die Zukunft, Detective, Dinge, die die Welt verbessern werden. Und wir sind alle eine große Familie.«
Lächelnd betrachtete Novak sein Gegenüber. »Schon gut. Aber was meinen Sie mit heikel?«
Seufzend lehnte Plashett sich zurück. »Seit zehn Tagen hält sein Team sich an denselben Zeitplan. Das habe ich gleich nach Ihrem Anruf überprüft. Gestern allerdings hat er seine Assistenten früher nach Hause geschickt.«
»Um wie viel Uhr war das?«, fragte Lena.
Wieder zögerte Plashett und senkte den Blick. »Gegen zehn«, erwiderte er.