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Der Schmerz war wie weggeblasen. Das hatte sie Zelda Clemens zu verdanken. Ihrem Anblick. Dem böswilligen Müll, den diese Frau von sich gab. Der Ausflug in die Vergangenheit hatte Lena gestärkt.
Sie zog die Schublade auf und suchte zwischen den Münzen und Ringen ihres Bruders nach dem Gitarren-Plektron. Sie war im Zimmer oben an der Treppe, in dem sie anfangs nach dem Einzug gewohnt hatte. Ein Jahr nach Davids Ermordung hatte sie die Möbel zwar nicht ausgeräumt, aber die Zimmer getauscht, um einen Neuanfang zu machen und die Trauer zu verscheuchen. Als sie die Sachen ihres Bruders nach oben gebracht hatte, hatte sie das ganze Haus nach dem Plektron durchkämmt. Sie hatte sich sogar einen ganzen Tag lang ins Studio gewagt und erfolglos alle dreiundvierzig Gitarrenkoffer durchgekramt.
Obwohl die Möglichkeit bestand, dass ihr Bruder das Plektron an einem geheimen Ort versteckt und sein Wissen mit ins Grab genommen hatte, war es, wie Lena eher vermutete, bereits vor langer Zeit gestohlen worden. Auch wenn die Vergangenheit des herzförmigen Plättchens nicht bewiesen werden konnte, bestand es aus vierzehnkarätigem Gold und war wertvoll und klein genug, um es unbemerkt in der Tasche verschwinden zu lassen, falls einem der Sinn danach stand.
Lena erinnerte sich noch, wie sie es zum ersten Mal auf Davids ausgestreckter Handfläche gesehen hatte. Es war ein Geschenk von einem Kollegen und Bewunderer, einer Musiklegende, die eines Abends bei einem Konzert erschienen und Gefallen daran gefunden hatte. Bei einigen Drinks hatte das Goldplättchen den Besitzer gewechselt. Die Kanten waren abgewetzt, die Oberfläche zerkratzt. Doch was das Stück so besonders machte, war die kunstvolle Arbeit des Graveurs. In das Gold war die Abbildung eines Mondes eingeritzt, der sich majestätisch aus einem Bett traubenförmiger Wolken erhob. David erklärte, das Gesicht des Mondes sei von Georges Méliès inspiriert, und zwar von einem Film aus dem Jahr 1902, der den Titel Die Reise in den Mond trug. Wie im Film rauchte der Mann einen Zeppelin wie eine Zigarre.
Lena schloss die Schublade und öffnete die nächste.
Anfangs hatte sie die Haushälterin, die David eingestellt hatte, unter Verdacht gehabt, denn sie hatte der Frau kündigen müssen, weil sie sich ihr Gehalt nicht mehr leisten konnte. Eine weitere Möglichkeit war, dass Holt das Plektron in Erinnerung an ihre Freundschaft an sich genommen hatte. Doch je länger Lena darüber nachdachte, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, dass Zelda Clemens die Diebin gewesen war. Zelda kannte das Plektron. Sie hätte gewusst, dass vor allem seine Herkunft es so wertvoll machte.
Einige behaupteten, Jimi Hendrix habe das Stück entworfen und als Zeichen seiner Verehrung Muddy Waters geschenkt. Andere sagten, Waters habe es Hendrix verehrt, und zwar als Dank, weil er den Blues beim Mittelschichtpublikum bekannt gemacht habe, sodass er nun endlich ordentlich von seiner Musik leben könne. Aber damit waren die Gerüchte noch nicht zu Ende. Es wurde nämlich gemunkelt, Buddy Guy habe das Plektron eine Weile benutzt, bevor er es an Eric Clapton weitergab. Keith Richards sollte es Kurt Cobain zugesteckt haben, ehe es irgendwann bei Neil Young landete. Allerdings war keine dieser Geschichten dokumentiert, und Lena hatte noch nie einen Musiker öffentlich darüber reden hören. Doch wenn das Plektron wirklich gestohlen worden war, war sicher Zelda Clemens die Täterin.
Ein Geräusch, das sich an der Decke brach, riss sie aus ihren Erinnerungen. Jemand klopfte draußen mit dem Fuß auf den Asphalt. Als Lena aus dem Fenster schaute, sah sie in der Auffahrt einen Crown Vic mit offenem Kofferraum. Novak saß auf der Vortreppe. Er hatte die Krawatte gelockert. Sein grauer Anzug war zerknittert wie ein leeres Zigarettenpäckchen.
Lena klopfte ans Fenster. Da Novak nicht reagierte, lief sie nach unten, schob den Riegel zurück und öffnete die Tür.
»Warum hast du denn nicht geklingelt?«
Novak drehte sich zu ihr um. »Ich brauchte ein bisschen Ruhe zum Nachdenken, und da schien mir die Idylle hier oben genau das Richtige zu sein. Meine Kühlbox im Kofferraum ist so heiß, dass man darin Würstchen kochen könnte. Hast du was zu trinken da?«
Sie nickte. Sein Blick wirkte genauso unsicher wie seine Stimme, und sein Gesicht war so blass, dass sie befürchtete, er könnte krank sein. Er stand auf und streckte die Beine.
»Wo ist Rhodes?«
»In Glendale«, antwortete er. »Wir haben das Geschoss aus der Wand in Holts Haus geholt. Morgen ist ›offener Mittwoch‹. Deshalb wollte er so viel Material wie möglich sammeln.«
Die kriminaltechnischen Labors waren dezentral untergebracht. So residierte beispielsweise die Abteilung für Schusswaffen im Nachbargebäude der Northeast Division in der San Fernando Road. Wie in allen anderen Abteilungen hatte sich dort inzwischen ein Rückstau von über zweitausend Fällen angesammelt, weshalb man Monate, wenn nicht sogar Jahre auf das Ergebnis einer ballistischen Untersuchung warten musste. Die Dringlichkeit der Fälle wurde nach dem Prozessdatum eingestuft. Was neu hereinkam, landete automatisch unten auf der Liste. Deshalb hatte der Laborleiter im Sinne des Bürokratieabbaus einen Tag in der Woche bestimmt, an dem jeder Detective seine Beweisstücke unangemeldet vorbeibringen und sich Rat bei einem Schusswaffenexperten holen konnte. Diesem neuen System war es zu verdanken, dass die Trefferquote bei Abgleichen mit der Datenbank der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen ATF die höchste in den Vereinigten Staaten war.
»Was ist mit Sánchez?«, fragte Lena.
»Er hat sich mit einem Polizeizeichner zusammengesetzt«, erwiderte Novak. »Wir können das verdammte Mädchen einfach nicht identifizieren.«
Sein Blick verschleierte sich, als er auf die Küche zusteuerte. Seit Lena wusste, dass er keinen Kaffee mochte und kein Bier mehr trank, hatte sie immer einen Sechserpack Cola Light im Haus. Sie sah zu, wie er die Dose öffnete und einen großen Schluck nahm. Er war ungewöhnlich still und machte einen ziemlich besorgten Eindruck. Als er die Karte an der Wand bemerkte, ging er hin, um sie sich genauer anzuschauen. Er nahm sich Zeit, ihre Notizen zu lesen und die Fallzusammenfassungen durchzublättern, die sie beiseitegelegt hatte. Lena merkte ihm an, wie es in seinem Verstand arbeitete.
»Der Mord geschah gegen Mitternacht«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Etwa um die Zeit, als du dort angerufen hast und niemand rangegangen ist. Die Körpertemperatur der beiden Leichen ist nahezu identisch. Laut Gainer muss sich der Selbstmord innerhalb einer Stunde nach der Ermordung des Mädchens zugetragen haben.«
Er bezeichnete Holts Tod als Selbstmord. Lena schwieg, behielt ihre Gedanken für sich und setzte sich aufs Sofa.
»Das Messer, mit dem das Mädchen getötet wurde, wurde in der Geschirrspülmaschine gefunden«, fuhr Novak fort. »Die Autopsie ist für übermorgen angesetzt. Barrera möchte, dass sie von demselben Gerichtsmediziner durchgeführt wird, der Nikki Brant obduziert hat. Allerdings ist Art Madina gerade bei einem Kongress in Las Vegas und kann dort nicht weg. Wie ich schon sagte, ist das Mädchen eine Unbekannte. Wir haben alle Kartons durchsucht. Keine Schuhe, keine Kleidung. Sie hat nicht dort gewohnt.«
»Was ist mit ihrer Handtasche?«
»Wir haben den Führerschein überprüft. Die Ausweispapiere sind gefälscht.«
»Kreditkarten?«
»Sie hatte keine.«
Seine Stimme erstarb. Als er sich zu ihr umwandte, konnte er ihrem Blick nicht standhalten. Stattdessen stellte er seine Cola auf den Couchtisch und nahm Platz. Als er endlich das Wort ergriff, war sein Tonfall sehr sanft.
»Du darfst das nicht denken, Lena.«
Sie ließ ihren Partner nicht aus den Augen, während sie über seine Worte nachgrübelte. Ihre spontane Vermutung, dass Holt sich nicht selbst umgebracht hatte, schien sich bestätigt zu haben. Holt hatte die Frau gegenüber seinem Freund nie erwähnt. Im Haus war kein Kleidungsstück von ihr gefunden worden. Außerdem konnte Lena sich nicht vorstellen, dass Tim Holt ein sehr enges Verhältnis mit einer Frau gehabt hatte, die gefälschte Ausweispapiere benutzte. Aller Wahrscheinlichkeit nach ging dieser Mord nicht auf Romeos Konto. Die unbekannte Frau und Tim Holt waren von jemandem umgebracht worden, der Romeos Vorgehensweise kannte. Einem Täter, der sein wahres Motiv zu verschleiern versuchte, indem er die beiden Toten als Opfer eines Serienmörders hinstellte. Lena holte tief Luft und überlegte, was das zu bedeuten hatte. Jetzt musste sie unbedingt einen kühlen Kopf bewahren. Die Liste der Menschen, die Romeos Methode kannten, war verhältnismäßig kurz. Zum Beispiel waren die Einzelheiten seiner Vorgehensweise nie an die Öffentlichkeit gekommen. Lena wusste, dass Novak klug genug war, um von selbst darauf zu kommen. Sicher war er deshalb, nicht nur aus reiner Freundschaft, bei ihr hereingeschneit. Und dennoch weigerte er sich, Klartext zu reden. Offenbar wollte er es nicht wahrhaben.
»Du denkst an deinen Bruder«, meinte er schließlich. »An den merkwürdigen Zufall, dass er und Holt nun beide tot sind. Ich an deiner Stelle würde ganz genauso reagieren. Ich würde nach einem Zusammenhang suchen. Und deshalb warne ich dich davor, dich in diesen Gedanken zu verrennen. Du versteifst dich auf Holt, Lena. Aber Romeo wäre hinter dem Mädchen hergewesen.«
Der Einwand war nicht aus der Luft gegriffen und verdiente es, dass man ihn sorgfältig überdachte. Romeo brachte Frauen um. Holts Tod war vielleicht nur ein Kollateralschaden, eine kleine Zugabe, an der Romeo sicher großen Spaß gehabt hatte. Allerdings bestand auch die Möglichkeit, dass Holts Tod doch kein Zufall gewesen war. Dass es nur so hatte aussehen sollen wie der falsche Zeitpunkt in Kombination mit einer großen Portion Pech.
»Habt ihr einen Abschiedsbrief gefunden?«, fragte Lena.
Ihre Blicke trafen sich, allerdings nur kurz. Aber für Lena genügte es, um zu wissen, dass sie auf eine Schwachstelle gestoßen war. Im nächsten Moment stand Novak auf und ging zur Schiebetür, um hinauszuspähen.
»Holt war Autor«, beharrte sie. »Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
Novak schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn doch, ist er wie vom Erdboden verschluckt. Wir haben das ganze Haus auseinandergenommen.«
Bedrückendes Schweigen entstand. Lena merkte ihrem Partner an, dass ihm ihr Einwand zu schaffen machte und Möglichkeiten eröffnete, die ihm gar nicht gefielen. Er schob die Tür einen Spalt weit auf und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen.
»Ich versuche dich zu überzeugen, Lena, und dabei glaube ich es nicht einmal selbst. Mir gefällt die Selbstmord-Theorie auch nicht. Teresa López und Nikki Brant wurden bei sich zu Hause umgebracht. Das unbekannte Mädchen nicht. Warum?«
»Eine wichtige Frage«, erwiderte sie.
»Eigentlich wollte ich ganz friedlich in den Ruhestand gehen. Ich wollte meine Dienstmarke und meine Waffe abgeben und endlich ein Leben führen, in dem ein Mann sich nicht ständig umschauen muss und vielleich sogar beim Schlafen beide Augen zumachen kann. So habe ich es mir erträumt. Ein sauberer Schlussstrich. Ein Abschied mit dem Gefühl, dass ich trotz meiner Schnitzer den Großteil meiner Fälle aufgeklärt und gute Arbeit geleistet habe, ganz gleich, wer das Opfer gewesen sein mag.«
Lena hatte dasselbe gedacht. Wenn sie nun weiterbohrten, würden sie in ein Wespennest hineinstechen, und zwar mit unabsehbaren Konsequenzen für alle Beteiligten.
Novak lächelte wehmütig. »Du sagtest, du hättest Telefonspielchen mit Holt getrieben. Hast du eine Idee, was er von dir wollte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre die nächste Frage.«
Er drehte sich um und sah sie forschend an. »Wenn wir richtig liegen, hat jemand Romeo zwei Morde aufs Konto gutgeschrieben und manipuliert unseren Fall. Der Kerl will uns verarschen. Irren wir uns jedoch, heißt das, dass Romeo sein Tempo gesteigert hat und wir wie bei James Brant einem Phantom hinterherjagen. Ganz gleich, wie wir es anfangen – wir geraten immer tiefer in die Scheiße.«