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Im Carport stand kein Wagen. Durch den Rauch betrachtete Novak das Haus auf dem Hügel und dachte nach.
Es war eine Frage der Gerechtigkeit, sagte er sich, und es kam darauf an, einen Ausgleich zu schaffen, um geschehenes Unrecht wiedergutzumachen.
Wenn Lena gerade eben Recht gehabt hatte, war Fellows inzwischen auf dem Heimweg. Novak schätzte, dass er mindestens drei Minuten hatte, um ins Haus einzudringen, das Mädchen zu suchen und es herauszuholen, wenn es noch lebte. Drei Minuten, die vielleicht ein Leben retten würden. Da Fellows wegen der schlechten Sichtverhältnisse möglicherweise länger brauchte, konnten es auch fünf Minuten sein.
Er sah auf die Uhr. Der Sekundenzeiger schien auf der zehn zu verharren. Als er sich wieder bewegte, wurde Novak klar, dass mit seiner Uhr alles in Ordnung war. Es war auch kein schlechtes Omen. Nur ein Fall von überreizten Nerven.
Sein Blick wanderte zurück zu dem leeren Carport. Fellows war nicht da. Also konnte er das Haus ungestört durchsuchen und so schnell ihn seine Beine trugen durch alle Zimmer laufen.
Als er die Treppe hinaufstieg, klopfte sein Herz heftig, aber regelmäßig. Oben angekommen, schlich er auf die Rückseite des Gebäudes und entdeckte ein Fenster hinter einem hohen Baum, das genau die richtige Lage hatte.
Novak zog die Pistole, stieß die Mündung durch die Scheibe und entfernte die Scherben vom Rahmen. Dann kletterte er ins Wohnzimmer und steuerte auf die Treppe zu.
Nur das Tempo zählt, sagte er sich. Vergeude keine Zeit und suche nach dem Mädchen. Und falls doch etwas dazwischenkommt, fang an zu schießen. Drück einfach so lange ab, bis du den Zombie erledigt hast.
Er durchquerte das Schlafzimmer und kontrollierte Wandschränke und Bad. Dahinter befand sich ein zweites Zimmer, das bis ins letzte Detail genauso eingerichtet war wie das erste. Novak schaltete sein Gehirn ab, blendete diese Merkwürdigkeit aus und ging weiter. Er sah in jedes Zimmer. Im ersten Stock war niemand. Als er nach unten hastete, schaute er auf die Uhr. Zweieinhalb Minuten waren vorbei.
Er brauchte mehr Energie, musste schneller werden. Novak eilte den Flur hinter der Treppe entlang und stieß auf ein Arbeitszimmer, ein Ankleidezimmer und eine Gästetoilette, allerdings nicht auf Harriet Wilson. Wieder in der Küche, warf er einen Blick in die Speisekammer und entdeckte die Kellertür. Als er Licht machte, bemerkte er auf dem Betonboden getrocknetes Blut. Nun wusste er, wo das Mädchen war.
Zehn lange Sekunden horchte er in die Stille hinein. Er spürte, wie ihm die Zeit ausging. Doch statt zu verschwinden, kontrollierte er noch einmal seine Waffe und lief die Treppe hinunter.
Martin Fellows brauchte sofort ein Glas Mineralwasser. Etwas Frisches und Sauberes, um seine Wut zu lindern und seine Turbinen zu kühlen. Er hatte noch eine Erektion. Nichts war nach Plan gelaufen. Am liebsten hätte er etwas kaputtgeschlagen und die Eingeweide herausgezerrt.
Fellows schloss die Eingangstür auf und trat in die Küche. Im Wohnzimmer blieb er plötzlich stehen. Das Fenster war zerbrochen. Scherben lagen auf dem Boden.
Jemand war im Haus.
Er zwang sich zur Ruhe und schnupperte. Der Geruch des Eindringlings lag noch in der Luft. Ein leichter Hauch von Schweiß. Es war ein Mann.
Fellows spitzte die Ohren und zerlegte die Stille in ihre verschiedenen Bestandteile. Da war das Geräusch seines wild klopfenden Herzens. Die Motoren von Löschzügen und die Stimmen ihrer Besatzungen auf dem Weg zum Stausee, die durch das eingeschlagene Wohnzimmerfenster drangen. Und dann die Ruhe. Eine schwere Ruhe, an der Harriet Wilson nicht mehr teilnahm. Die dumme Kuh hatte so undankbar auf ihr Geburtstagsgeschenk reagiert, dass er gezwungen gewesen war, ihr den Mund zuzukleben. Also kam die Ruhe nicht von Harriet. Es musste also noch jemand im Haus sein und seine gottverdammte Nase in sein Privatleben stecken.
Als Fellows auf den Teppich schaute, stellte er fest, dass noch immer Blut von seiner Hand tropfte. Die Form von Lena Gambles breitem Mund hatte sich für immer in seine Hand eingegraben. Er reckte den Hals und spähte in die Küche. Jemand hatte die Kellertür offen gelassen.
Er spürte, wie Kraft seine Schultern durchströmte. Hitze drang in seine Wangen und Stirn und brachte Hände und Beine zum Glühen. Lautlos schlich er in die Küche, bereitete eine Spritze vor und fand am Arm eine Stelle zum Hineinstechen. Dann nahm er ein dreißig Zentimeter langes Messer aus dem Messerblock und ging die Treppe hinunter.
Lautlos. Ruhig. Ohne das geringste Geräusch.
Auf der letzten Stufe blickte er um die Ecke. Ein Mann stand in dem Tunnel vor Harriets Zimmer. Fellows duckte sich in den Schatten.
Es war Lenas Partner. Der Polizist, den er im Pink Canary gesehen und über den er etwas in der Times gelesen hatte. Offenbar war der Detective, den ein Reporter als »erfahren« bezeichnet hatte, allein.
Fellows betrachtete das Gesicht des Mannes. Den Schweiß, der ihm die Stirn hinunterlief und seinen Anzug durchweichte. Die Pistole in seiner Hand.
Wahrscheinlich war er gerade erst eingetroffen. Er machte einen aufgeregten und besorgten Eindruck und sah ständig auf die Uhr. Sicher war er ohne Verstärkung hier und glaubte, er könnte das Mädchen retten. Nun starrte er auf die an das Feldbett gekettete Harriet, spähte in den dunklen Flur und hoffte, dass es still blieb, damit er auf mögliche Gefahren lauschen konnte.
Fast hatte Fellows ein wenig Mitleid mit diesem naiven Mann. Er hörte, wie die Sprungfedern des Feldbettes quietschten. Anscheinend war Harriet hysterisch und tat ihrem Retter nicht den Gefallen, sich ruhig zu verhalten. Als der Detective die Anspannung nicht mehr ertrug und in den Raum stürmte, versteckte sich Fellows hinter dem Heizkessel, um besser sehen zu können.
Harriets große blaue Augen waren wild wie die einer Katze, als sie trotz des Klebebandes zu schreien versuchte. Der Polizist, ein wahres Nervenbündel, kehrte ihr den Rücken zu und wühlte auf der Suche nach dem Schlüssel in dem Haufen von Handschellen herum, die auf der Werkbank lagen.
Fellows pirschte sich zur Tür. Sein Gegner war im mittleren Alter und Rechtshänder. Obwohl er leicht übergewichtig war und vermutlich keinen Sport mehr trieb, machte er den Eindruck, als könne er noch recht kräftig zuschlagen. Nach einiger Überlegung kam Fellows zu dem Schluss, dass er ihn überrumpeln musste. Wenn er die rechte Hand des großen Mannes ausschaltete, würde er in Panik geraten und aufgeben.
Novak kramte weiter zwischen den Handschellen herum, fand den Schlüssel und eilte zum Feldbett. Er spürte, wie die Zeit verging. Furcht bohrte sich in seinen Magen und schoss ihm durch die Brust.
Harriet Wilson war offensichtlich gefoltert worden und musste sofort in ärztliche Behandlung. Nackt und schweißüberströmt lag sie ausgestreckt auf einer schmutzigen Matratze. Die Innenseiten ihrer Oberschenkel waren voller Blut, und sie starrte auf ihren Schritt. Außerdem zitterte sie am ganzen Leibe und schien kurz davor, in Schockstarre zu fallen. Novak war nicht sicher, ob sie seine Gegenwart überhaupt wahrgenommen hatte.
Er beugte sich über sie und versuchte, die Pistole immer noch in der Hand, die Handschellen aufzuschließen. Doch als sie anfing, mit den Armen zu zappeln, rutschte ihm der Schlüssel aus den Fingern und landete auf dem Boden. Er hob ihn auf und steckte die Pistole ins Halfter. Dann griff er über ihren Kopf und hielt ihr die Hände fest, damit er den Schlüssel ins Schloss stecken konnte.
Und in diesem Moment klickte die Handschelle an seinem eigenen Handgelenk zu. Es war überflüssig geworden, auf die Uhr zu sehen.
Vergeblich kämpfe Novak gegen die Panik an. Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Martin Fellows an der anderen Handschelle zerrte und sie in das Metallrohr am Fußende des Feldbettes einhakte. Sein Herz klopfte, als er das unverkennbare Geräusch hörte. Er versuchte, die Pistole zu ziehen, konnte sie aber nicht erreichen. Seine schweißnassen Fingerspitzen berührten nur knapp den Griff. Er musste sich konzentrieren. Immer wieder bemühte er sich, an die Waffe heranzukommen. Doch schon im nächsten Moment war alle Hoffnung verloren, denn Fellows nahm die Pistole aus dem Halfter und trat zurück.
Novak musterte den Wahnsinnigen, der in der Ecke stand und ihn mit stumpfen Augen betrachtete. Die Lippen hatte er fest zusammengepresst. Als Novak das Bett anhob, um mit der linken Faust nach ihm auszuholen, zuckte der Mistkerl nicht einmal zusammen.
Fellows warf die Pistole auf die Werkbank.
Es ist vorbei, dachte er. Offenbar wusste der Eindringling das auch, denn inzwischen zitterte er am ganzen Leibe. Er sah, dass der Mann an der Handschelle zerrte und am Feldbett rüttelte. Verzweifelt würde er sich abmühen, bis Panik seine Sinne überflutete und alles gefühllos wurde.
Wenn man die rechte Hand ausschaltete, würde der große Mann aufgeben.
Fellows holte die Kamera aus der Tasche und machte rasch drei Fotos. Als er sie auf dem Display ansah, fand er sein Werk einfach genial. Die Todesangst in den Augen des Mannes. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Der gespenstische Ausdruck auf seinem Gesicht, als er dem eigenen Tod entgegenblickte.
Fellows nahm das Messer und umfasste mit seiner blutigen Hand den geschwungenen Griff. Der Schmerz verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Das Blitzen und Glitzern der Edelstahlklinge erhellte den ganzen Raum. Er sah, dass Harriet sich wieder auf der Matratze hin und her warf und durch das Klebeband grunzende Geräusche ausstieß. Das Schicksal reckte den schwarzen Daumen nach unten. Die letzte Aufforderung loszulegen.
Der verängstigte Mann wich bebend an die Wand zurück. Platz und Zeit gingen ihm aus. Als Fellows das Messer hob und nähertrat, holte der Mann noch einmal hilflos nach ihm aus und schlug daneben. Er traf nur leere Luft.