22
Es waren drei Dinge, die Lena die ganze Nacht wach gehalten hatten. Drei Gedanken, die sie beschäftigten und sie einfach nicht in Ruhe ließen.
Erstens war morgen Montag. Das kriminaltechnische Labor öffnete wieder seine Türen, sodass sie endlich ungehindert ermitteln konnten. Zweitens hatten sie den gestrigen Nachmittag damit verbracht, die Datenbank des Dezernats für Raub und Tötungsdelikte nach den ersten fünf Morden zu durchforsten. Leider ohne Ergebnis. Also blieb zu befürchten, dass sie dem Täter aus Mangel an Beweisen niemals auf die Schliche kommen würden. Allerdings hatte Lena sich vermutlich vor allem aus einem Grund fast die ganze Nacht herumgewälzt oder aus dem Fenster gestarrt: Irving Samples Entdeckung bedeutete einen schwachen Hoffnungsschimmer.
Lena wusste, dass die Abteilung für Urkundenfälschung maßgeblich an der Aufklärung des Mordes an Ennis Cosby beteiligt gewesen war. Nur so hatte Mikhail Markhasev, ein neunzehnjähriger Zuwanderer aus der Ukraine, zu einer Haftstrafe verurteilt werden können. Ein direkter Vergleich belastender Briefe mit Schriftproben des Verdächtigen hatte nämlich gezeigt, dass Markhasev sich beim Schreiben des Buchstaben S einer ungewöhnlichen Methode bediente, ein Beweis, der die ermittelnden Detectives und schließlich auch die Geschworenen überzeugt hatte.
Jedoch war ein Verdächtiger genau das, was ihnen fehlte. Lena war sicher, dass Irving Sample über genug Material verfügte, um dem Mann zwei Morde anzulasten. Dann würde er zumindest lange genug in Untersuchungshaft wandern, damit sie mit einem Durchsuchungsbefehl seine Wohnung auf den Kopf stellen konnten.
Es war halb sieben Uhr morgens. Im Großraumbüro war es still. Die Besprechung mit Dr. Bernhardt würde erst in anderthalb Stunden stattfinden. Lena war früher gekommen, denn sie hatte im Laufe der letzten beiden Monate bemerkt, dass man in der Abteilung Computerkriminalität merkwürdige Arbeitszeiten pflegte, die vom Morgengrauen bis spät in die Nacht dauern konnten. Der Auflistung der Telefonverbindungen hatte sie entnommen, dass Brants Computer in der Mordnacht um drei Uhr online gewesen war. Der Täter hatte zwei Stunden lang im Internet gesurft, bis der Zeitungsbote erschien, und dann erst das Gerät abgeschaltet. Also war es der nächste logische Schritt, herauszufinden, was er am Computer getrieben hatte. Vielleicht war es ja ihre einzige Chance.
Die Abteilung Computerkriminalität, eine Unterabteilung des Dezernats für Wirtschaftsverbrechen, residierte auf derselben Etage. Lena ging den Flur entlang zur anderen Seite des Gebäudes. Die Tür stand offen, die Deckenbeleuchtung war abgeschaltet. Als sie in den dunklen Raum trat, blickte ein Informatiker von seinem Neunzehn-Zoll-Flachbildschirm auf und verzog das Gesicht, als fühle er sich gestört. Er war etwa in Lenas Alter oder ein wenig jünger und machte einen mürrischen Eindruck. Sein Haar war so kurz, dass man die Farbe nicht bestimmen konnte. Auf seiner Nase saß eine billige Lesebrille, wie man sie im Drogeriemarkt oder im Kaufhaus bekam. Am rechten Brillenglas befand sich noch ein Rest des Aufklebers. Seine Jeans schienen eine Wäsche nötig zu haben, sein Jeanshemd schrie nach einem Bügeleisen. Ein Skateboard hätte gut zu ihm gepasst, doch Lena konnte keines entdecken.
»Offenbar haben Sie sich verlaufen«, sagte er in patzigem Ton. »Ich bin sehr beschäftigt. Falls Sie eine Wegbeschreibung brauchen, fragen Sie jemand anderen.«
Mit diesen Worten drehte er sich wieder zu seinem Monitor um und straffte abwehrend den Rücken. Anscheinend wollte der Kerl sie abwimmeln.
Aber Lena ließ sich davon nicht beirren. Auf einem Regal entdeckte sie, in Plastikfolie gewickelt und mit einem Etikett versehen, Brants Computer. Lena war dem jungen Mann zwar nie begegnet, kannte jedoch seinen Namen und hatte einige Gerüchte gehört. Keith Upshaw war im Alter von fünfzehn Jahren verhaftet worden, weil er sich in den Computer der Telefongesellschaft AT&T eingehackt hatte. Im Jahr darauf drang er in das Netzwerk von American Express ein, wurde allerdings von einem Freund verraten, bevor er Schaden anrichten konnte. Niemand wusste, ob es an seiner Jugend, an der Angst vor Strafe, an einem vertraulichen Gespräch mit einem Jugendrichter oder daran lag, dass AT&T und American Express sich erboten, ihm ein College-Studium zu finanzieren, jedenfalls wechselte Upshaw die Seiten und machte einen ausgezeichneten Abschluss in Informatik. Und nun saß er hier, klopfte hektisch mit dem Turnschuh auf den Boden und schien sein schlechtes Benehmen regelrecht zu kultivieren. Offenbar brauchte er auch einen starken Kaffee, um sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, denn neben ihm stand ein Becher aus dem Blackbird Café.
Lena erkannte das Logo und betrachtete es als gutes Zeichen. Sie zog sich einen Stuhl von einem anderen Schreibtisch heran und setzte sich dicht neben Upshaw, um einen Blick auf seinen Bildschirm zu werfen.
»Ich bin auch sehr beschäftigt«, sagte sie. »Und ich habe mich nicht verlaufen. Das, woran Sie da gerade arbeiten, ist mein Fall.«
Er nahm die Hände von der Tastatur und musterte sie eingehend. Nach einer Weile wurde seine finstere Miene von einem spöttischen Grinsen abgelöst, und er lachte auf.
»Jetzt weiß ich, dass Sie sich wirklich verlaufen haben«, meinte er.
Er lächelte immer noch, als sie sich miteinander bekannt machten. Dann wandte Lena sich dem Bildschirm zu.
»Wie weit sind Sie?«
»Was Sie da sehen, ist eine exakte Kopie von Brants Festplatte. Eine Aufnahme des Computers in dem Moment, als der letzte Benutzer ihn abgeschaltet hat.«
»Genau für diesen letzten Benutzer interessiere ich mich«, erwiderte sie.
»Momentan kann ich Ihnen nur sagen, dass er sich mit Computern auskennt. Das merkt man an dem Browser, mit dem er im Internet gesurft ist. Er wusste genug, um den Verlauf sogar aus dem Papierkorb zu löschen. Ich werde eine Weile brauchen, um rauszukriegen, was er getrieben hat.«
»Und haben Sie schon eine Vermutung?«
Upshaw sah sie an, als wäre sie geistig zurückgeblieben. »Er hat Pornos geguckt. Ich habe Reste von Fotos in der Systemdatei gefunden.«
Er klickte sich durch einige Fenster, bis Teile eines Frauengesichts zu sehen waren. Ein Auge, eine Nase und Lippen, so aufgequollen von Collagenspritzen, dass sie kurz vor dem Platzen zu sein schienen.
»Die Stücke gehören zu einer Grafik«, erklärte er. »Man kann sie zu einem Ganzen zusammensetzen.«
»Woher wissen Sie, dass wir es mit Pornografie zu tun haben?«
Sein Grinsen wurde breiter, als er wortlos das nächste Fenster anklickte. Lena betrachtete die aufgepumpten Brüste der Frau, die ebenfalls aussahen, als stünden sie unter Druck. Sie hatte verstanden. Upshaw schloss das Fenster.
»Der Web-Anbieter der Brants sitzt an der Ostküste. Als ich heute Morgen ins Büro kam, habe ich dort angerufen. Sie haben versprochen, mir innerhalb der nächsten Stunde einen Bericht zu schicken.«
»Was sonst noch?«
Upshaw zog die Tastatur näher heran und griff nach der Maus. »Der Typ hat mindestens eine halbe Stunde lang Dateien von der Festplatte abgerufen, bevor er ins Netz gegangen ist.«
»Was für Dateien?«
»Die Brants führen mit einem Computerprogramm Buch über ihre Finanzen und ihre Kreditkarten. Um es zu starten, braucht man ein Passwort. Der letzte Benutzer kannte dieses Passwort.«
»Woran merken Sie das?«
»Schauen Sie sich die Uhrzeiten und die Daten an.« Upshaw wies auf den Bildschirm. »Das ist die Datumsdatei. Das Programm sichert automatisch alle Arbeitsschritte, wenn man es abschaltet.«
»Haben Sie das Passwort schon rausgekriegt?«
»Beim ersten Versuch. Es war so leicht, dass wohl jeder dahintergekommen wäre. Sie haben einfach ihre Adresse genommen. Neun-achtunddreißig. Übrigens sind sie pleite. Dreißigtausend Dollar Kreditkartenschulden.«
Lena überlegte. Vor vierundzwanzig Stunden hätte die Information, dass jemand das richtige Passwort eingegeben hatte, einen weiteren Minuspunkt gegen Brant bedeutet. Nun jedoch hieß es nur, dass der Gesuchte gebildet war, Technikverstand besaß und sich für die Lebensverhältnisse seiner Opfer interessierte.
»Wie ich annehme, war das noch nicht alles«, sagte sie.
Upshaw nickte. »Er hat sich auch das Textverarbeitungsprogramm angeschaut.«
»Und persönliche Dateien geöffnet«, ergänzte sie, »Briefe an Freunde und so weiter.«
Er lachte auf. »Sind Sie Hellseherin?«
Lena würdigte das keiner Antwort. Stattdessen fragte sie sich, ob sie nicht gerade herausgefunden hatte, warum der Täter nach den Morden den Tatort nicht sofort verließ. Im Fall Brant hatte er sich Zugang zu Computerdateien verschafft. Auf Teresa López’ Nachtkästchen hatte man ein Tagebuch gefunden, ihm aber damals keine Wichtigkeit beigemessen. Vielleicht musste der Mörder sich ein intimes Verhältnis zu seinen Opfern vorgaukeln. Womöglich brachte es ihn den Frauen näher und steigerte die Erregung, ihre privaten Gedanken zu lesen.