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Freitagabend in der Tretmühle. Das Parker Center, Glashaus oder wie man das Gebäude auch sonst nennen mochte, war und blieb ein Dinosaurier, ein Symbol der Vergangenheit in einer Stadt, die sich schon seit über vier Jahrzehnten nach der Zukunft ausrichtete. Die Wasserrohre leckten, die papierdünnen Wände hatten Risse, und wenn Lena den Stecker eines elektrischen Geräts in die Steckdose schob, rechnete sie jedes Mal damit, dass die Lichter ausgingen.
Sie mochte das Gebäude nicht – ganz abgesehen davon, dass es nicht den Sicherheitsvorschriften entsprach.
Ihrer Ansicht nach hatte das Glashaus das Northridge-Erdbeben von 1994 lediglich auf dem Papier überstanden, eine reine Formsache auf der Grundlage der Kalkulation, was die Stadt der Abriss und ein Neubau gekostet hätten. Anstatt das sechsstöckige Gebäude wegen Baufälligkeit zu sperren, hatten die städtischen Kontrolleure es nur unter Kategorie gelb, also teilbeschädigt mit leichten Sicherheitsmängeln, eingestuft. Die Stadträtin, die dem Sicherheitsausschuss vorsaß, schien diese Einschätzung zu teilen und sagte, man werde das Gebäude mittelfristig abreißen oder instand setzen. Allerdings waren seit dem Erdbeben von Northridge inzwischen mehr als zehn Jahre vergangen. Die Menschen, die hier arbeiteten – einschließlich des neuen Polizeipräsidenten -, brauchten weder ein Team von Gutachtern noch die Hilfe der Politik, um zu wissen, in welche Kategorie das Gebäude wirklich gehörte. Die städtischen Angestellten sahen nur Stufe rot und flohen in Scharen. Wer sich nicht versetzen lassen konnte, kündigte. Lena zweifelte nicht daran, dass das Glashaus beim nächsten Erdbeben zu einem Schutthaufen zusammensacken würde. Dann würden die Gutachter mit ihren beschönigenden Berichten endlich ihre Pflicht und Schuldigkeit getan haben. Und die Politiker konnten ihre Debatten um des Kaisers Bart beenden.
Lena trank noch einen Schluck von ihrem heißen Kaffee und versuchte, sich nicht die Zunge zu verbrennen oder nachzurechnen, wie lange sie im Notfall wohl vom zweiten Stock bis hinaus ins Freie brauchen würde. Der aromatische starke Kaffee weckte ihre Lebensgeister. Allein im Großraumbüro, saß sie an ihrem Schreibtisch. Sie war froh über ihren Fensterplatz hinten im Raum. Hier war es nicht so laut, und außerdem wusste sie die Aussicht zu schätzen. Das Dezernat für Raub und Tötungsdelikte bestand aus vierundzwanzig zu Vierergruppen zusammengestellten Schreibtischen. Das Büro des Captain befand sich hinter ihr in einem kleinen Flur am Mittelgang. Lieutenant Barreras Schreibtisch stand vorne im Raum mit Blick zur Tür. Dazwischen gab es eine Trennwand und drei weitere Schreibtische. Das Büro war überfüllt, die Möblierung fünfzig Jahre alt. Im Keller unweit der Asservatenkammer war Asbest festgestellt worden. Drei Mitarbeiter, die über fünfzehn Jahre in diesem Gebäude tätig gewesen waren, waren an einer seltenen Krebsform erkrankt.
Anstatt die vorläufigen Berichte auf ihrem Schreibtisch zu studieren, musste Lena wieder an die dumme Pute aus dem Stadtrat denken. Als das Telefon läutete, nahm sie ab und erkannte die Stimme des Anrufers. Es war Jimmy Kim, ihr Kontaktmann bei der Telefongesellschaft. Lieutenant Barrera hatte die Genehmigung eingeholt, Brants Telefonverbindungen einzusehen. Vor einer Viertelstunde hatte Lena Kim vom Blackbird Café aus mit dem Mobiltelefon angerufen.
»Ich habe die Liste«, verkündete Kim. »Soll ich sie Ihnen faxen oder lieber mailen?«
»Mailen«, erwiderte Lena. »Wurde denn viel telefoniert?«
»Die Brants haben zwei Anschlüsse, einen fürs Telefon und einen fürs Internet. Auf der Telefonleitung der Brants ist gestern Abend um Viertel vor zehn ein Anruf eingegangen. Es wurde etwa acht Minuten gesprochen.«
»Von wo kam der Anruf?«
»Es war die Nummer, die Sie mir gegeben haben: Brants Büro.«
»Und später?«
»Auf der Telefonleitung war es das. Nur dieser eine Anruf. Sonst ist nichts rein-oder rausgegangen. Ich schicke Ihnen einen Ausdruck mit der Post.«
»Und was ist mit der zweiten Leitung?«
»Sie haben Glück«, antwortete Kim. »Die Datenübertragung läuft auf niedrigem technischen Niveau. Die Brants haben weder DSL noch ein Kabelmodem.«
Das hatte Lena gehofft. Denn wenn die Brants sich über DSL oder ihren Kabelanbieter ins Internet eingewählt hätten, wären sie immer im Netz gewesen. Dann hätte Lena sich an die Abteilung Computerkriminalität wenden müssen, um zu erfahren, wann genau der Computer benutzt worden war. Und dort wurde erst am Montagmorgen wieder gearbeitet.
»Man muss sich für jede Verbindung neu einwählen«, erklärte Kim. »Jemand ist um drei Uhr morgens ins Netz gegangen und hat den Computer erst um fünf wieder abgeschaltet.«
Auf Lenas Bildschirm erschien eine E-Mail. Als sie sie öffnete, hatte sie Jimmy Kims Bericht vor sich. Sie griff nach ihrem Becher, trank noch einen Schluck und war nicht sicher, ob das innere Vibrieren an der Überdosis Koffein oder an dem Adrenalinstoß lag, der sie beim Anblick des Berichts durchfuhr. Der Gerichtsmediziner hatte den Zeitpunkt von Nikki Brants Tod auf zwei Uhr morgens eingegrenzt. Und die Vorstellung, dass ein fremder Eindringling erst einen Mord beging und anschließend zwei Stunden im Internet surfte, war einfach absurd.
»Danke, Jimmy«, sagte sie. »Der Bericht ist angekommen. Ich bin Ihnen was schuldig.«
»Wie wahr, Lena, denn es ist Freitagabend. Ich weiß ja nicht, wie das bei Polizisten aussieht, aber ich habe ein Privatleben.«
Lena legte auf, lehnte sich zurück und fragte sich, wie sie sich anfangs so hatte irren können. Normalerweise war der Ehepartner in einem Mordfall doch der erste Verdächtige, dem man auf den Zahn fühlte. Häusliche Gewalt galt als das häufigste Motiv. Warum war sie nicht argwöhnisch geworden? Und Novak und Rhodes auch nicht?
Schließlich war der Fall O. J. Simpson nicht der einzige, dachte sie. Es waren viel zu viele.
Vor einem knappen Jahr hatte ein Fall im Norden von Kalifornien Schlagzeilen gemacht. Ein Mann wurde beschuldigt, seine schwangere Frau ermordet und die Tote am Weihnachtstag in die San Francisco Bay geworfen zu haben. Als die Leichen seiner Frau und seines ungeborenen Kindes an Land gespült wurden, kam es zum Prozess, und die Geschworenen befanden den Mann für schuldig. Lena hatte den Fall, so wie fast das ganze Land, aufmerksam verfolgt. Vermutlich kannte Brant die Fernsehberichte auch.
Lena dachte an die Ermordung von Teresa López. Ob Brant sich auch davon hatte inspirieren lassen? Und es gab noch viele ähnlich gelagerte Fälle. Eine unvorstellbar lange Liste. Letztes Jahr war in Los Angeles ein Mann wegen eines sogar noch grausigeren Verbrechens festgenommen worden. Anhand seiner Telefonrechnung hatte er erkannt, dass seine Frau einige Male eine Nummer in der Nähe von Oxnard angerufen hatte. Doch sie war ihm die Erklärung schuldig geblieben. Als sie ankündigte, sie müsse geschäftlich verreisen und werde erst am späten Samstagabend zurück sein, wurde der Mann argwöhnisch und beschloss, sie zu beschatten. Sie nahm sich zwar ein Hotelzimmer, doch es gelang ihm, sie bis zu einer Ranch zu verfolgen, wo er sie beim Ausreiten mit einem Fremden beobachtete. Der Mann fuhr nach Hause und wartete. Als seine Frau zurückkehrte, hatte er sich in eine rasende Wut hineingesteigert. Er tötete sie. Den größten Teil des nächsten Tages verbrachte er damit, sie mit einem Schnitzmesser in der Badewanne zu zerkleinern. Sein Plan war, die Teile zur Toilette hinunterzuspülen. Dann jedoch verstopfte das Rohr, und er beging den Fehler, einen Klempner zu rufen. Am nächsten Tag hielt ein Pick-up mit einem Pferdeanhänger vor dem Haus. Als die Detectives den Fahrer befragten, erfuhren sie, dass es sich um den Fremden handelte, den der Mörder beim Ausreiten mit seiner Frau gesehen hatte. Sie hatte ihrem Mann ein ganz besonderes Geschenk zum fünfzigsten Geburtstag machen wollen: ein Palomino namens Freddie. Die Frau hatte keine Affäre mit dem Züchter gehabt, sondern sich als kluge Kundin zwei Tage Zeit genommen, um das Pferd kennenzulernen.
Da Lena spürte, dass jemand hereingekommen war, wandte sie sich vom Fenster ab.
James Brant marschierte, flankiert von Sánchez und Rhodes, den Mittelgang entlang und starrte sie an. Die Vernehmungszimmer befanden sich in dem kleinen Flur gleich gegenüber vom Büro des Captain. Als die drei ihren Schreibtisch passierten, versuchte sie, Brants Miene etwas zu entnehmen. Er war geisterhaft bleich. Offenbar waren seine Tränen im Laufe des Tages versiegt, denn seine Augen wirkten so leer, stumpf und eiskalt wie bei einem Zombie. Sein Mund mit den fest zusammengepressten Lippen schien höhnisch zu grinsen.
Lena wusste nicht, warum ihr ausgerechnet jetzt einfiel, was Novak am Tatort auf ihre Frage, ob Nikki Brants Angehörige schon benachrichtigt seien, geantwortet hatte.
Außer uns hat sie nur noch ihn.
James Brant verhielt sich nicht mehr wie ein Familienmitglied eines Mordopfers, sondern eher wie ein Schauspieler, der Erinnerungen in den Taschen seines zerknitterten Anzugs herumträgt, um gegebenenfalls Requisiten zur Hand zu haben.