30

 

Lena hatte vier Stunden gebraucht, um ihren Anteil an Fallzusammenfassungen durchzuarbeiten. Insgesamt waren es einhunderteinundvierzig sexuelle Übergriffe auf Frauen im Alter zwischen sechzehn und vierundachtzig Jahren, die im Umkreis von Los Angeles wohnten. Es war anstrengend gewesen. Wieder einmal eine lange Nacht.

Sie holte die Weinflasche aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas ein. Nach einem raschen Schluck warf sie einen Blick auf den Anrufbeantworter. Beim Nachhausekommen hatte sie eine Nachricht von Staatsanwalt Roy Wemer vorgefunden, die sie noch immer bestürzte. Es war eine Hasstirade, wirres Gerede, Worte, die er im Büro niemals geäußert hätte. Anfangs hatte es noch wie eine Standpauke geklungen, weil Lena ihn nicht sofort über die DNA-Ergebnisse informiert hatte. Dann jedoch hatte er sich immer mehr in seine Wut hineingesteigert. Als er zu schreien angefangen hatte, war Lena klar geworden, dass er ihr die Schuld am Irrtum im Fall López gab. Er ging sogar so weit zu behaupten, er könne López ungeachtet der Laborergebnisse wieder ins Gefängnis bringen. Danach hatte er Lena als blöde Fotze bezeichnet, worauf sie es sich erspart hatte, den Rest der Nachricht abzuhören.

Leider ging man bei der Staatsanwaltschaft von Los Angeles nach einer Gewinn-Verlust-Rechnung vor, einer Auflistung, die dann gerne im Wahlkampf zu Felde geführt wurde. Allerdings barg eine derartige Statistik die Gefahr, dass Leute wie Wemer nur noch die gewonnenen Prozesse im Blick hatten. Da sie außerdem wenig über die korrekte Aufklärung einer Straftat aussagte, war man in vielen Städten wieder von dieser Methode abgerückt. Für Lena war dieses buchhalterische Denken eine der schlimmsten Schattenseiten ihres Berufs, und sie hatte mit ihren Freunden bei der Abteilung für ungelöste Fälle schon mehr als einmal darüber gesprochen.

Eine nachträgliche DNA-Analyse in Fällen, die noch vor Einführung dieser neuen Technik abgeschlossen worden waren, hatte eine Fehlurteilquote von fünfundzwanzig Prozent ergeben. Ob es an den ermittelnden Detectives, der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung, einem Informanten, einem Augenzeugen, der log oder sich einfach nur geirrt hatte, oder gar an unwilligen Geschworenen oder einem unfähigen Richter lag – jedenfalls war der Fehler im System begründet. Zwar hatte noch jeder Angeklagte, dem Lena je begegnet war, seine Unschuld beteuert, doch es konnte durchaus sein, dass einer von vier Zelleninsassen tatsächlich die Wahrheit sagte.

Bei Wemer war offenbar eine Sicherung durchgebrannt, weshalb es ratsam war, diese Nachricht aufzubewahren, um später etwas gegen ihn in der Hand zu haben.

Lena nahm die Kassette aus dem Gerät, drehte sie um, legte sie wieder ein und spulte Seite zwei zum Anfang zurück. Als sie den Deckel schloss, sah sie die Nummer auf dem Block neben dem Telefon. Sie hatte vergessen, warum sie sie notiert hatte, und es dauerte eine Weile, bis ihr die Nachricht vom Samstagabend wieder einfiel. Tim Holt, das ehemalige Bandmitglied ihres Bruders, der sich mit ihr treffen wollte.

Lena sah auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Vermutlich war Holt unterwegs, machte entweder eine Kneipentour oder trat irgendwo auf. Ein ausgezeichneter Zeitpunkt also, um ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Dann würden sie nicht miteinander reden müssen, und Lena würde nicht gezwungen sein, nein zu sagen, wenn Holt sie bat, das Tonstudio ihres Bruders wieder zu eröffnen. Sie wählte die Nummer. Nach viermal läuten sprang der Anrufbeantworter an. Holt klang so frisch wie vor zwei Tagen. Er schien clean zu sein. Plötzlich hatte Lena ein schlechtes Gewissen, weil sie mit dem besten Freund ihres Bruders Telefonspielchen trieb.

»Tim, ich bin es«, sagte sie nach dem Piepton. »Tut mir leid, dass ich nicht da war, als du angerufen hast, aber ich arbeite gerade an einem Fall. Vielleicht können wir uns ja nächste Woche treffen. Ich versuche es morgen gegen Mittag bei dir. Wenn nicht, telefonieren wir am Wochenende.«

Der CD-Spieler schaltete von John Coltranes My Favorite Things zu Pete Jollys Little Bird. Nachdem Lena aufgelegt hatte, lauschte sie, wie Jolly sich am Klavier austobte, und nahm sich fest vor, Holt anzurufen, wenn er sicher zu Hause sein würde. Dann ging sie mit ihrem Weinglas um den Küchentresen herum zu dem Tisch am Wohnzimmerfenster und warf einen Blick auf die Zusammenfassungen, die sie beiseitegelegt hatte, um sie sich näher anzusehen. Wider Erwarten war sie auf drei Fälle gestoßen, die sich von den anderen unterschieden. Jedes Mal war der Vergewaltiger bei seiner Tat gestört worden, sodass keine DNA-Spuren vorlagen. Alle drei Frauen waren unter fünfunddreißig und lebten allein. Doch was Lena am meisten auffiel, war die Vorgehensweise, die sich mit ihrer Theorie deckten, wie Nikki Brant den Tod gefunden hatte.

Jedes Opfer war mitten in der Nacht von einem Eindringling im Schlafzimmer geweckt worden.

Im ersten Fall hatte der Hund des Opfers den Täter verjagt. Das zweite Opfer hatte Licht gemacht, als es das Fenster quietschen hörte, worauf der Mann die Flucht ergriffen hatte. Leider hatte er eine Sturmhaube getragen und konnte deshalb nicht identifiziert werden. Allerdings schockierte der dritte Fall Lena am meisten. Der Mann hatte sich tatsächlich nackt ausgezogen und wollte gerade unter die Bettdecke schlüpfen, als die Frau aus dem Zimmer und aus dem Haus floh und im Vorgarten laut um Hilfe rief.

In allen drei Fällen schien derselbe Täter am Werk gewesen zu sein. Daran gab es für Lena nichts zu rütteln, insbesondere im Licht von Dr. Bernhardts Ausführungen an diesem Morgen. Romeo war vom Vergewaltiger zum Mörder geworden und eskalierte seine Methoden.

Lena stellte das Glas weg und ordnete die Zusammenfassungen chronologisch. Wie die Morde waren zwei der drei Vergewaltigungsversuche im Abstand von einem Monat verübt worden. Außerdem hatten sich alle drei Übergriffe in dem halben Jahr vor dem ersten Mord ereignet. Sie schlug ihren Wochenplaner auf und blätterte sich zum Kalender vor. Der erste sexuelle Übergriff hatte im Oktober letzten Jahres stattgefunden. Während im November nichts geschehen war, waren der zweite und der dritte Vergewaltigungsversuch im Dezember und im Januar erfolgt. Der Februar war ebenfalls ereignislos geblieben, doch Teresa López war im März, Nikki Brant einen Monat und drei Tage später ermordet worden. Wenn die an den Tatorten sichergestellten CDs eine Rolle spielten, fehlten ihr nun nur noch die entsprechenden Taten für die Symphonien Nummer zwei und fünf. Vermutlich befanden sie sich in den Unterlagen, die Sánchez an die übrigen Mitglieder des Teams verteilt hatte.

Lena holte den Thomas Guide, ein Buch mit den Straßenkarten des gesamten Landkreises, aus ihrem Aktenkoffer. An der Innenseite des vorderen Buchdeckels befand sich ein Faltplan, den sie noch nie zuvor benutzt hatte. Sie schob das Weinglas weg, breitete die Karte auf dem Tisch aus und nahm einen Markierstift zur Hand. Vielleicht war es ja doch mehr als eine bloße Theorie. Es konnte durchaus sein, dass sie mit ihren Ermittlungen nicht etwa zu spät dran waren, sondern zu früh, um ein Muster zu erkennen.

Ein Serienvergewaltiger in der Übergangsphase, sagte sie sich. Romeos Verwandlung in einen Mörder.

Nachdem sie den ungefähren Schauplatz des ersten Vergewaltigungsversuchs auf der Karte gefunden hatte, schrieb sie das Datum und den Namen des Opfers auf. Dann suchte sie die anderen beiden Tatorte, markierte zu guter Letzt auch die Adressen von Teresa López und Nikki Brant und stand schließlich auf, um die Karte aus der Vogelperspektive zu betrachten.

Der Mordfall López wich von den anderen ab, da er als einziger auf der anderen Seite der Stadt stattgefunden hatte. Obwohl er mit Sicherheit Teil der Serie war, durfte sie die Karte nicht außer Acht lassen. Der Mord an Nikki Brant und alle versuchten Vergewaltigungen waren in einem Radius von drei Kilometern in der Westside geschehen. Wenn man die Punkte miteinander verband, trafen sich die Linien in Venice Beach.

Obwohl Lena nicht viel Erfahrung mit Sexualverbrechen besaß, hatte sie in genügend Fällen von Raub ermittelt, um zu wissen, dass die Anordnung der Tatorte dem Gebiet entsprach, in dem der Täter sich sicher fühlte. Außerdem war sie überzeugt, dass diese Theorie weder eine Vermutung noch ein vages Gefühl und auch nicht auf das Glas Wein zurückzuführen war.

Der Täter hatte am Strand begonnen, weil er dort wohnte. Hier hatte er für den Notfall Fluchtwege parat und wusste, wie man so schnell wie möglich nach Hause kam, wenn man verfolgt wurde. Sicher hatte er aus diesem Grund in einem der Fälle eine Sturmhaube getragen: Der Mann hatte sein Gesicht verborgen, da er befürchtete, in seinem näheren Wohnumfeld wiedererkannt zu werden. Schließlich ging er hier auf den Straßen spazieren, stieg aus dem Auto, tankte oder schob einen Einkaufswagen durch den Supermarkt.

Der Täter, womöglich sogar Romeo selbst, wohnte also in Strandnähe. Und wenn er wirklich Romeo war, war vor zwei Monaten etwas passiert, das ihn entfesselt hatte.

Lena betrachtete die Karte. Etwas machte ihr zu schaffen, obwohl sie es nicht in Worte fassen konnte. Doch als ihr Blick zum Jachthafen glitt, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Avis Payton lebte im näheren Wohnumfeld des Täters.

Obwohl Novak derselben Ansicht gewesen war, zweifelte Lena inzwischen an ihrer Entscheidung. Nachdem sie sich die Aussage der Frau von der Bank hatte bestätigen lassen und sich außerdem vergewissert hatte, dass ihr Vater tatsächlich Polizist in Salt Lake City war, hatte Lena die Kollegen von der Pacific Division verständigt, anstatt ein Überwachungsteam bei der Spezialeinheit SIS anzufordern. Eigentlich wurde das SIS hinzugezogen, wenn es galt, einen Verdächtigen zu beschatten, weshalb Lena das Gefühl gehabt hatte, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, wenn sie wegen eines einen Monat alten Handtaschendiebstahls ein Haus beobachten ließ. Dennoch wurde ihr mulmig, als sie nun die Straße, in der Payton wohnte, auf der Karte heraussuchte und feststellte, wie nah es von dort aus nach Venice Beach war.

Das Telefon läutete. Da es ein Uhr war, fragte sie sich, ob es Novak oder gar Rhodes sein könnten. Als ihr Blick beim Greifen nach dem Telefon auf ihre Hand fiel, erinnerte sie sich an ihr Erlebnis mit Rhodes im Aufzug. Daran, wie seine Augen ihre Finger fixiert hatten. An ihre Gedanken, als er prüfend ihre Beine und Hüften musterte. Ein wenig hoffte sie sogar, es möge Rhodes sein.

»Entschuldigen Sie die späte Stunde«, sagte eine Männerstimme. »Hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt. Ich bin Teddy Mack vom FBI und hatte vorher keine Zeit.«

Lena setzte sich auf einen Barhocker an den Küchentresen. Die Schiebetür stand offen. Ein Windhauch spielte mit der Karte auf dem Tisch.

»Ich kann Sie kaum verstehen«, erwiderte sie. »Wo sind Sie?«

»An einem Ort, wo Sie sicher niemals hinmöchten. Obwohl es mitten in der Nacht ist, haben wir noch über dreißig Grad. Ich stehe vor meinem Motel. Die einzige Stelle, wo ich Empfang habe, ist ein ein Meter breiter Bereich vor der Rezeption. Falls die Verbindung abbrechen sollte, rufe ich zurück.«

Er klang angespannt und schlecht gelaunt. Im Hintergrund hörte Lena Papiere rascheln und dachte an den Wind. Wer in der Wüste lebte, brauchte eine Schutzschicht.

»Hatten Sie Gelegenheit, den Bericht zu lesen?«

»Ich habe mir einige Dinge herausgeschrieben«, erwiderte er. »Soweit ich informiert bin, haben Sie ein Problem und wollen darüber reden.«

Ein Problem. So nannte das FBI das also. Lena betrachtete die drei Zusammenfassungen vor sich auf dem Tisch.

»Ein Problem«, wiederholte sie. »So könnte man es bezeichnen.«

»Halten wir uns nicht mit Wortklaubereien auf. Lassen Sie uns lieber damit anfangen, warum er sich von Nikki Brants Haus in eine Porno-Webseite eingeklickt hat.«

»Und dazu noch mit einer gestohlenen Kreditkarte«, ergänzte sie. »Aus welchem Grund er sich nach dem Mord noch am Tatort herumgedrückt hat, will uns einfach nicht in den Kopf.«

»Dazu kommen wir noch«, entgegnete Mack. »Finden Sie es nicht auch seltsam, dass er sich hinter einer gestohlenen Kreditkarte versteckt, obwohl er mühelos hätte Mitglied werden und sich die Webseite ohne Risiko oder Rücksicht auf die Folgen zu Hause hätte ansehen können?«

Dasselbe hatte Rhodes bei der Besprechung mit Dr. Bernhardt auch gefragt.

»Meinen Sie, er hat einen Fehler gemacht?«, erkundigte sie sich.

»Nicht unbedingt. Meiner Ansicht nach handelt es sich um den Beweis dafür, dass es auf unsere Frage zwei mögliche Antworten gibt. Entweder steht der Typ auf Pornos oder er ist auf einer verrückten Mission und lehnt sie strikt ab. Dass er die Leichen nach dem Vorbild religiöser Motive arrangiert, deutet für mich eher auf den Wunsch nach Abstand hin. Er will das Zeug nicht bei sich zu Hause haben. Damit möchte ich sagen, dass Romeo sich aus Gründen für diese beiden Webseiten interessiert, die für uns nicht so leicht nachvollziehbar sind. Kennen wir den Karteninhaber?«

Lena schilderte Mack rasch die Ereignisse des Tages und auch, wie sie die letzten fünf Stunden verbracht hatte. Sie fügte hinzu, Teresa López und Nikki Brant könnten Romeos erste Mordopfer sein.

»Das bringt uns wieder dazu, wie er die Opfer arrangiert hat«, sagte Mack. »Ich halte es für möglich, dass Sie auf der richtigen Spur sind. In Ihrem Bericht steht, Sie hätten alte Mordakten durchgearbeitet, ohne dass etwas gepasst hätte. Eine weitere ähnlich gelagerte Tat wäre Ihnen sicher sofort ins Auge gesprungen. Westbrook durchsucht gerade unsere Datenbanken. Warten Sie einen Moment.«

Sie hörte, wie Mack die Hand über die Sprechmuschel hielt und jemandem etwas zuflüsterte. Kurz darauf meldete er sich wieder.

»Verzeihung«, sagte er. »Jetzt komme ich zum eigentlichen Grund meines Anrufs. Bernhardt hat grundsätzlich Recht. Aber etwas fehlt.«

Lena griff nach dem Block und dem Stift, die neben dem Telefon lagen. »Schießen Sie los.«

»Romeos besondere Eigenschaft ist, dass er gerne beobachtet, auch wenn wir den Grund dafür nicht kennen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Das erkläre ich Ihnen gleich.«

»Gut«, erwiderte sie. »Also ist der Kerl ein Voyeur.«

»Genau. Er braucht Distanz. Nehmen wir einmal an, Sie lägen richtig. Die Vorgehensweise stimmt überein, und Romeo hat versucht, die drei Frauen, die Sie gerade erwähnt haben, zu vergewaltigen. Für eine Vergewaltigung gibt es eine Menge Motive, doch das wichtigste davon ist Kontrolle. Als ihm die Situation entglitten ist, ist er geflohen. Er hat weder die Frau angegriffen, die Licht gemacht hat, noch hat er das nächste Opfer verfolgt, das aus dem Haus gelaufen ist. Die Morde jedoch weisen auf eine pathologische Veränderung hin. Einen Neuanfang. Auf eine Entwicklung und sein Bedürfnis, bis zum Äußersten zu gehen. Er braucht die absolute Kontrolle, koste es, was es wolle. Können Sie mir folgen?«

»Ich schreibe mit, Teddy. Aber es klingt ganz ähnlich wie das, was Bernhardt gesagt hat.«

»Meiner Meinung nach müssen Sie sich Folgendes vor Augen halten: Sie suchen einen Menschen, der sich optimal an seine Umgebung anpasst. Jemanden, der wirkt, als gehöre er dorthin, bis man ihn enttarnt und erkennt, wie seltsam er in Wirklichkeit ist.«

»Wir reden hier von Venice Beach.«

»Schon gut, Lena, ich weiß, dass es dort von Ausgeflippten nur so wimmelt. Aber da wäre noch etwas. Der Mann, hinter dem Sie her sind, hat ein schweres Trauma erlitten und sehnt sich nun nach jemandem, der seine Gefühle teilt. Den größten Kick bekommt er, wenn jemand zusieht, wie er den Mord begeht.«

»Und das entnehmen Sie alles dem Material, das ich Ihnen geschickt habe?«

»Zum Teil«, erwiderte Mack. »Doch eigentlich bin ich darauf gekommen, als mir klar wurde, warum er nach dem Mord noch so viel Zeit am Tatort verbringt.«

Lena zog die Augenbraue hoch. »Und aus welchem Grund tut er das?«

»Das Besondere an diesem Typen ist, dass er gerne beobachtet, richtig?«

»Das habe ich kapiert. Aber warum bleibt er dann am Tatort?«

Mack senkte die Stimme. »Weil er die Reaktion des Ehemannes auf den Mord sehen will.«

Es dauerte eine Weile, bis Lena verstand. Als sie endlich begriff, verschlug es ihr vor Entsetzen den Atem.

Romeo hatte die Tagebücher seiner Opfer gelesen und ihre Kontoauszüge und persönlichen Aufzeichnungen durchwühlt. Er hatte die Zeit totgeschlagen, indem er Pornowebseiten besuchte. Er hörte Musik und hatte ein Faible für Beethoven. Wenn die Zeitung geliefert wurde, löste er das Kreuzworträtsel.

Romeo wartete darauf, dass der Ehemann nach Hause kam. Er arrangierte seine Opfer, um den ersten Menschen zu schockieren, der sie fand – nicht die Polizei.

Mack räusperte sich. »Die Reaktion des Ehemannes, wenn er seine geliebte Frau findet, ist das Schlüsselelement. Für den Täter ist es so wichtig wie die Vergewaltigung oder sogar der Mord selbst. Womöglich tötet er sogar nur aus diesem einen Grund. Und deshalb haben Sie meiner Ansicht nach ein Problem. Der Typ kommt von einem anderen Planeten und sprengt sämtliche Kriterien.«

Lena hatte es die Sprache verschlagen, und sie musste an José López und James Brant denken. Den Anblick, den man ihnen aufgezwungen hatte und der sie nun nie wieder loslassen würde. Vielleicht wollte José López deshalb lieber im Gefängnis sterben, als frei zu sein. Vielleicht hatte Brant aus diesem Grund den LügendetektorTest nicht bestanden. Ganz gleich, wie man ihm die Fragen auch stellte, er hatte nicht vergessen können.

Als Lena wieder einen Ton herausbrachte, war ihre Stimme nicht viel lauter als ein Flüstern. »Romeo will, dass der Ehemann genauso leidet wie er. Darum muss er es sehen.«

»Und so wartet er, bis der Ehemann nach Hause kommt. Ich wette, er hatte sich im Haus versteckt und beobachtet, wie Brant die Leiche seiner Frau entdeckt hat.«

Wieder hielt Mack die Hand über die Sprechmuschel und wechselte einige Worte mit jemandem. Lena hörte ein digitales Piepsen, Schritte und einen Wagen. Offenbar würde Mack heute Nacht nicht schlafen, sondern in der Wüste herumfahren.

»Ich muss Schluss machen, Lena.«

»Danke für die Infos«, erwiderte sie. »Vielleicht können wir …«

Doch es war nur noch ein statisches Knistern zu vernehmen. Lena starrte auf das Telefon und schaltete es ab. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, dass im Hintergrund ein Saxophon spielte. Der CD-Spieler war mit allen fünf CDs fertig und inzwischen bei Art Peppers Winter Moon angelangt. Aber auch die Musik konnte das Bild nicht aus ihrem Kopf vertreiben: Romeo, der zusah, wie Brant die Leiche seiner Frau fand. Es war unvorstellbar.

Lena legte sich einen Pullover über die Schultern, nahm ihr Glas und trat nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Der Wind hatte die Richtung gewechselt, kam nun von Osten und trieb den Nebel aufs Meer hinaus, sodass ein sternenloser Himmel zu sehen war. Als Lena sich an den Pool setzte und an ihrem Wein nippte, hörte sie in der Dunkelheit ein Geräusch und spähte in den Garten am Fuße des Hügels. Ein Kojote betrachtete das Wasser, leckte sich die Lefzen und warf ihr einen langen Blick zu, bevor er sich mit gesenktem Schwanz ins Gebüsch trollte. Er würde mit dem Trinken warten müssen, bis die Luft rein war.

Lena drehte sich in Richtung Stadt und blickte über das Lichtermeer zum gut sieben Kilometer entfernten Venice Beach. Romeos näheres Wohnumfeld. Die Gegend, wo er jeden Fluchtweg kannte und sich schnell nach Hause verdrücken konnte.

Sie zog den Pulli fester um sich und leerte ihr Glas.

Heute Nacht konnte die Aussicht ihr keine Geborgenheit vermitteln. Nur Stille. Eine kühle Brise. Und die Aussicht auf ein zweites Glas Wein, damit sie vielleicht endlich die Augen schließen und in einen traumlosen Schlaf fallen konnte.

Todesqual
titlepage.xhtml
Todesqual_split_000.html
Todesqual_split_001.html
Todesqual_split_002.html
Todesqual_split_003.html
Todesqual_split_004.html
Todesqual_split_005.html
Todesqual_split_006.html
Todesqual_split_007.html
Todesqual_split_008.html
Todesqual_split_009.html
Todesqual_split_010.html
Todesqual_split_011.html
Todesqual_split_012.html
Todesqual_split_013.html
Todesqual_split_014.html
Todesqual_split_015.html
Todesqual_split_016.html
Todesqual_split_017.html
Todesqual_split_018.html
Todesqual_split_019.html
Todesqual_split_020.html
Todesqual_split_021.html
Todesqual_split_022.html
Todesqual_split_023.html
Todesqual_split_024.html
Todesqual_split_025.html
Todesqual_split_026.html
Todesqual_split_027.html
Todesqual_split_028.html
Todesqual_split_029.html
Todesqual_split_030.html
Todesqual_split_031.html
Todesqual_split_032.html
Todesqual_split_033.html
Todesqual_split_034.html
Todesqual_split_035.html
Todesqual_split_036.html
Todesqual_split_037.html
Todesqual_split_038.html
Todesqual_split_039.html
Todesqual_split_040.html
Todesqual_split_041.html
Todesqual_split_042.html
Todesqual_split_043.html
Todesqual_split_044.html
Todesqual_split_045.html
Todesqual_split_046.html
Todesqual_split_047.html
Todesqual_split_048.html
Todesqual_split_049.html
Todesqual_split_050.html
Todesqual_split_051.html
Todesqual_split_052.html
Todesqual_split_053.html
Todesqual_split_054.html
Todesqual_split_055.html
Todesqual_split_056.html
Todesqual_split_057.html
Todesqual_split_058.html
Todesqual_split_059.html
Todesqual_split_060.html
Todesqual_split_061.html
Todesqual_split_062.html
Todesqual_split_063.html
Todesqual_split_064.html
Todesqual_split_065.html
Todesqual_split_066.html
Todesqual_split_067.html
Todesqual_split_068.html
Todesqual_split_069.html
Todesqual_split_070.html
Todesqual_split_071.html
Todesqual_split_072.html
Todesqual_split_073.html
Todesqual_split_074.html