Mutter der Schlangen
Diese Geschichte hat sich vor vielen Jahren, kurz nach dem Aufstand der Sklaven, zugetragen. Die Sklaven waren nach vielen vorangegangenen blutigen Auseinandersetzungen durch Toussaint l'Ouverture, Dessalines und König Christophe von der französischen Willkürherrschaft befreit worden. Sie hatten daraufhin ein Königreich gegründet, dessen Grausamkeiten und Härten die der vorherigen Regierung jedoch bei weitem in den Schatten stellten.
Die Schwarzen auf Haiti waren in jenen Tagen alles andere als glücklich. Sie hatten zu viele Quälereien und Metzeleien miterlebt. Den Sklaven und den Nachkommen dieser Sklaven war das sorglose Leben ihrer westindischen Nachbarn völlig unbekannt.
Auf Haiti war ein seltsames Rassengemisch entstanden. Es bestand aus Angehörigen der wilden Stämme aus Ashanti, Damballah und der Guineaküste, aus finsteren Kariben und dunkelhäutigen Nachkommen von abtrünnigen Franzosen, aus Mestizen und Mulatten. Die Küsten wurden von verschlagenen, heimtückischen Halbblütigen beherrscht; doch die Menschen, die in den darunterliegenden Bergen hausten, waren noch weitaus übler als die Küstenbewohner.
Große Flächen Haitis bestanden aus undurchdringlichem Dschungel. Die weiten Sumpfgebiete, in denen Schlingpflanzen wucherten, beherbergten giftige Insekten und waren verseucht. Der weiße Mann wagte sich nicht in den Dschungel, ihn erwartete dort nicht nur der Tod, sondern auch die Hölle, denn dieser Dschungel war mit fleischfressenden Pflanzen, giftigen Reptilien und Sumpforchideen angefüllt; dieser Dschungel verbarg ein Grauen, das selbst Afrika nie kennengelernt hat.
In den Bergen, die vom Dschungel umgeben waren, blühte die Hexerei. Man sagte, daß dort die Nachkommen von entflohenen Sklaven mit Mördern und Wilden zusammenlebten. Es sollte versteckte Ansiedlungen geben, in denen der Kannibalismus noch ausgeübt wurde und in denen es finstere religiöse Riten gab, die grauenhafter und perverser waren als die, die vom Kongo bekannt sind. Geisterbeschwörungen, Teufelsanbetungen, Zauberei und abscheuliche Ausübungen der Schwarzen Messe waren etwas Alltägliches. Der ›Schatten des Todes‹ war allgegenwärtig. Über das Opfern von Hähnen und Ziegen brauchte man gar nicht erst zu sprechen, und auch das Darbringen von Menschenopfern war nichts Ungewöhnliches. An den Altären des Hexenwahns verfielen die Tänzer in wilde Ekstase und tranken das Blut ihrer Opfer zu Ehren irgendwelcher dunkler Götter.
Jeder auf Haiti wußte das.
Nacht für Nacht dröhnte das monotone Trommeln aus den Bergen, und über dem Dschungel zuckte der Feuerschein.
Auch an der Küste selbst lebten einige Wunderärzte und Medizinmänner. Doch niemand störte sie in der Ausübung ihrer Tätigkeit. Fast alle der ›zivilisierten‹ Schwarzen glaubten immer noch an Zauberei und die Wirkung von Liebestränken. Selbst die bekehrten Schwarzen, die zur Kirche gingen, verließen sich im Notfall lieber auf einen Talisman oder eine Zauberformel als auf das Wort Gottes. Auch die sogenannten ›gebildetem Neger der Gesellschaft in Port-au-Prince konnten ihre Abstammung von den barbarischen wilden Stämmen nicht immer verleugnen. Trotz ihrer nach außen hin gezeigten Zivilisation zog es sie immer wieder zu den blutigen Priestern hin, die im Verborgenen herrschten.
Skandale konnten natürlich nicht ausbleiben. Hin und wieder verschwanden gewisse Leute unter mysteriösen Umständen von der Bildfläche, worauf die emanzipierten Bürger gelegentlich protestierten. Aber die Proteste waren nur schwach, denn es war nicht ratsam, sich mit denen zu verfeinden, die sich vor der ›Schwarzen Mutter‹ verneigten, oder sich den Ärger der alten Männer zuzuziehen, die im Schatten der ›Schlange‹ lebten.
So etwa war es mit Haiti bestellt, als die Insel eine Republik wurde.
Die Leute fragen sich oft, wie es möglich ist, daß die Hexerei auch heute noch dort existieren kann. Zugegeben, sie geht jetzt mehr im geheimen vor sich; aber sie hat trotzdem die Zeiten überlebt. Dieselben Leute wundern sich, daß man die abscheulichen Zulukaffern nicht ausgerottet hat und daß es der Regierung nicht gelungen ist, die blutigen Kulte, denen sich die Bewohner des Dschungels auch heute noch hingeben, abzuschaffen.
Vielleicht kann diese Geschichte dazu beitragen, eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Es ist eine alte, geheime Geschichte der neuen Republik. Und die offiziellen Stellen, die sich an diese Geschichte erinnern, scheuen sich auch heute noch, der Sache nachzugehen.
Denn der Schlangenkult wird auf Haiti niemals aussterben; auf Haiti, dieser phantastischen Insel, deren gekrümmte Küstenlinie eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einer Schlange hat.
Einer der ersten Präsidenten von Haiti war ein gebildeter Mann. Er war zwar auf der Insel geboren, aber er war in Frankreich zur Schule gegangen und hatte dort sehr intensiv gelernt. Als er sein Regierungsamt auf Haiti übernahm, galt er allgemein als ein aufgeklärter, umsichtiger, moderner Mensch. Wenn er allein in seinem Büro war, zog er selbstverständlich seine Schuhe aus, aber er zeigte niemals seine nackten Zehen bei einer offiziellen Besprechung. Verstehen Sie das richtig: Dieser Mann war kein blaublütiger Herrscher – er war nur ein polierter pechschwarzer Gentleman, dessen natürliche Ursprünglichkeit ab und zu die Schranken der Zivilisation durchbrach.
Auf alle Fälle war er ein sehr gescheiter Mann, der genau wußte, was er wollte. Genauso mußte er auch sein, um es in jenen Tagen bis zum Präsidenten zu bringen. Nur besonders gescheiten Männern wurde diese Ehre zuteil. Man muß dazu nur wissen, daß das Wort ›gescheit‹ zu jener Zeit auf Haiti eine höfliche Umschreibung für ›rücksichtslos, korrupt und unehrlich‹ war.
Ihm sind während seiner kurzen Regierungszeit nur wenige Gegner entgegengetreten. Und die, die sich gegen ihn auflehnten, verschwanden für gewöhnlich. Hinter der niedrigen Stirn dieses großen, kohlrabenschwarzen Mannes mit dem Gorillagesicht verbarg sich ein scharfsinniges Gehirn.
Seine Fähigkeiten waren tatsächlich erstaunlich. Seine erste Tätigkeit war, sich einen genauen Einblick in die Finanzen des Landes zu verschaffen. Er profitierte von diesem Einblick sowohl dienstlich als auch privat. Immer wenn es ihm einfiel, die Steuern zu erhöhen, vergrößerte er zunächst einmal die Armee, damit auf jeden staatlichen Steuereintreiber zumindest ein bewaffneter Soldat kam. Seine Handelsabkommen mit anderen Ländern waren Meisterstücke ungesetzlicher Legalität. Dieser schwarze Machiavelli wußte genau, daß er es schnell zu etwas bringen mußte, denn die Präsidenten von Haiti hatten alle das Pech, nicht lange am Leben zu bleiben. Dieser Präsident arbeitete wahrlich schnell, und er verrichtete ganze Arbeit.
Im Hinblick auf seine bescheidene Herkunft war das wirklich sehr bemerkenswert. Sein Vater war unbekannt. Seine Mutter war eine Hexenmeisterin in den Bergen, die – obwohl sie sich einiger Beliebtheit erfreute – sehr arm war. Der Präsident war in einem altersschwachen Blockhaus geboren worden. Das vereinbarte sich alles so prächtig mit seiner zukünftigen Würde als Präsident! Seine Kindheit verlief bis zu dem Tage sehr eintönig, als ihn ein mildherziger protestantischer Pfarrer adoptierte. Er war damals dreizehn. Er lebte ein Jahr lang im Hause dieses gütigen Mannes und machte sich als Mädchen für alles nützlich. Dann wurde der arme Priester krank und verschied nach längerem Leiden. Das war um so bedauerlicher, weil er recht wohlhabend gewesen war, seine Krankheit aber das ganze Geld verschlungen hatte. Wie dem auch sei: Der reiche Priester starb, und der arme Sohn der Hexenmeisterin dampfte nach Frankreich ab, um dort die Universität zu besuchen.
Was die Hexenmeisterin angeht, so kaufte sie sich einen neuen Maulesel und sagte zu der ganzen Entwicklung kein einziges Wort. Durch ihre Geschicklichkeit im Umgang mit Kräutern hatte sie ihrem Sohn eine Chance in der Welt verschafft. Das reichte ihr. Sie war zufrieden.
Acht Jahre vergingen, ehe der junge Mann zurückkam. Er hatte sich in der Zwischenzeit beachtlich verändert. Nach seiner Rückkehr bevorzugte er den Umgang mit Weißen und hellhäutigen Mischlingen in Port-au-Prince. Man sagt, daß seine alte Mutter für ihn nicht mehr existierte. Im Kreise seiner neuen Freunde wurde ihm unangenehm bewußt, wie ungebildet und einfältig seine Mutter doch war. Zudem war er ungemein ehrgeizig und legte überhaupt keinen Wert darauf, daß seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu dieser notorischen Hexe bekannt wurden.
Denn auf ihre Art war sie ziemlich berühmt. Keiner wußte, woher sie eigentlich kam und wer ihr ihre Fähigkeiten verliehen hatte. Trotzdem war ihre verfallene Hütte in den Bergen jahrelang der Anziehungspunkt für Hilfesuchende und der Treffpunkt von Teufelsanbetern und den Verehrern dunkler Götter. An ihrem verborgenen Steinaltar in den Bergen rief sie die dunklen Mächte an, wobei sie ständig von einer Schar von Anhängern umgeben war. In mondlosen Nächten stieg ihr rituelles Feuer zum nächtlichen Himmel empor; Ochsen wurden zerrissen und auf grausame Weise den schleichenden Wesen der Nacht‹ zum Opfer gebracht. Denn sie war eine ›Priesterin der Schlange‹.
Der Schlangengott gehörte zu den wichtigsten Gottheiten des Kultes ›Schatten des Todes‹. Die Schwarzen in Dahomey und Senegal hatten die Schlange seit Menschengedenken angebetet. Sie hatten ihre eigene Art, dieses Reptil zu verehren; für sie gab es einen verborgenen Zusammenhang zwischen der Schlange und dem Neumond.
Der Schlangenaberglaube ist etwas Seltsames. Die Schlange taucht schon im Paradies als Versucherin auf, und dann weiß die Bibel noch von Moses und seinen Schlangen zu berichten. Und der Gott der Hindus war eine Kobra. Man scheint in der ganzen Welt die Schlangen gleichermaßen gehaßt und verehrt zu haben. Und immer schienen sie das Symbol des Bösen darzustellen. Die Indianer glaubten an die Macht der Schlangen, und die Azteken folgten ihrem Beispiel.
Die afrikanischen Legenden über die Anbetung der Schlangen sind schon furchtbar, aber sie werden von den Zeremonien auf Haiti bei weitem in den Schatten gestellt.
Zur Regierungszeit des Präsidenten sollten einige der Zauberer in den Bergen die Schlangen regelrecht gezüchtet haben. Die Gerüchte besagten, daß sie sie direkt von der Elfenbeinküste herübergeschmuggelt hätten, um sie für ihre Zwecke zu benutzen. Es waren Geschichten im Umlauf, denen zufolge zehn Meter lange Pythonschlangen Kinder verschluckt hätten, die ihnen am Schwarzen Altar als Opfer gereicht wurden. Andere Geschichten besagten, daß giftige Schlangen zu den Gegnern der Anbeter geschickt würden, damit sie diese töteten.
Da es erwiesen ist, daß von Anhängern eines Kultes, die Gorillas anbeteten, einige Menschenaffen ins Land geschmuggelt worden waren, erhebt sich die Frage, warum die Legende mit den Schlangen nicht auch stimmen sollte.
Wie dem auch sei: Die Mutter des Präsidenten war eine Priesterin. Und sie war auf ihre Art genauso berühmt wie ihr distinguierter Sohn.
Er hatte seit seiner Rückkehr Stufe um Stufe der Leiter zur Macht erklommen. Zuerst war er Steuereintreiber, dann Schatzmeister, und schließlich wurde er Präsident. Einige seiner Rivalen starben unter merkwürdigen Begleitumständen. Nach einiger Zeit hielten es seine Widersacher für zweckmäßiger, ihren Haß ihm gegenüber zu verbergen. Denn sie fanden sehr schnell heraus, daß er im Grunde seines Herzens immer noch ein Wilder war; und die Wilden pflegen ihre Feinde zu peinigen. Einige wollten wissen, daß er sich unter seinem Palast eine Folterkammer eingerichtet hatte. Die Geräte sollten rostig sein, was aber nicht bedeutete, daß er sie nicht benutzte.
Der Bruch zwischen dem jungen Staatsmann und seiner Mutter machte sich schon vor seiner Amtsübernahme bemerkbar. Der Anlaß war seine Eheschließung mit der Tochter eines fast hellhäutigen Farmers von der Küste. Die Mutter war nicht nur über die Tatsache ergrimmt, daß ihr Sohn das Blut der Familie verunreinigte (sie war eine Vollblutnegerin), sondern sie fühlte sich auch sehr gedemütigt, daß sie nicht zur Hochzeit eingeladen worden war.
Die Hochzeit fand in Porte-au-Prince statt. Außer der Hautevolee von Haiti waren auch noch die ausländischen Botschafter anwesend. Die liebliche Braut war gerade aus der Klosterschule gekommen, und es gab keinen, der ihr nicht die gebührende Hochachtung zuteil werden ließ. Der gescheite Bräutigam hielt es daher für unangebracht, die Hochzeitsfeierlichkeiten durch die Anwesenheit seiner nicht salonfähigen Mutter zu entweihen.
Aber sie ließ es sich nicht nehmen, trotzdem zu kommen. Sie verfolgte die ganzen Zeremonien aus angemessener Entfernung. Es war gut, daß sie sich nicht bemerkbar machte, denn sie hätte damit nicht nur ihren Sohn in Verlegenheit gebracht, sondern auch die anwesenden Gäste schockiert.
Was sie von ihrem Sohn und der Braut sah, stimmte sie alles andere als heiter. Ihr Sohn war jetzt ein affektierter Dandy, und die Braut war eine dumme Gans. Der Pomp und das ganze Drum und Dran konnten ihr nicht im mindesten imponieren. Sie wußte, daß die meisten der Anwesenden, die jetzt ein überhebliches Gesicht zur Schau trugen, im Grunde ihres Herzens nichts weiter als abergläubische Neger waren, die bei den ersten Anzeichen einer Gefahr zu ihr gerannt kämen, um sich von ihr ein Wundermittel geben zu lassen. Trotz dieser Erkenntnis unternahm sie nichts. Sie lächelte nur bitter vor sich hin und humpelte dann nach Hause. Denn trotz alledem liebte sie ihren Sohn immer noch.
Jedoch die nächste Beleidigung, die ihr angetan wurde, konnte sie nicht so gelassen hinnehmen. Es handelte sich um die Amtseinweihung des neugewählten Präsidenten. Obwohl sie zu diesem festlichen Anlaß ebenfalls nicht eingeladen worden war, erschien sie wieder. Und diesmal verbarg sie sich nicht im Schatten. Als der neue Präsident seinen Eid auf die Verfassung abgelegt hatte und sich gerade mit dem deutschen Botschafter unterhielt, marschierte sie direkt auf ihn zu und sprach ihn an. Alle blickten erstarrt auf diese dunkelhäutige alte Vettel, die unbeholfen vor dem neuen Präsidenten stand. Sie war kaum einsfünfzig groß, barfuß und in Lumpen gehüllt.
Ihr Sohn schaute über sie hinweg und nahm von ihrer Gegenwart überhaupt keine Notiz. Das alte vertrocknete Weib fuhr sich zuerst in tödlichem Schweigen mit der Zunge über den zahnlosen Gaumen, und dann fing sie ganz langsam an, ihren Sohn zu verfluchen. Nicht auf französisch, sondern in dem Eingeborenendialekt der Bewohner der Berge. Sie beschwor den Zorn ihrer dunklen, blutigen Götter auf sein undankbares Haupt herab und drohte sowohl ihm als seiner jungen Frau mit ihrer Rache und der Vergeltung der Götter. Die selbstherrliche Haltung der beiden würde nicht ungestraft bleiben.
Die anwesenden Gäste waren schockiert.
Der Präsident war auch schockiert, aber er beherrschte sich. Er machte einen völlig ruhigen Eindruck, als er seiner Wache ein Zeichen gab, die daraufhin die alte hysterische Hexe abführte. Er würde mit ihr später abrechnen!
Als er am nächsten Abend Zeit hatte und in den Kerker ging, um seine Mutter zur Rede zu stellen, mußte er feststellen, daß sie nicht mehr da war. »Sie ist verschwunden«, murmelten die Wachen und verdrehten die Augen. Er ließ den Kerkermeister erschießen und ging dann in seine Amtsräume zurück. Die Sache mit dem Verfluchen beunruhigte ihn ein wenig. Er wußte, wozu seine Mutter fähig war. Die Drohungen, die sie gegen seine Frau ausgestoßen hatte, gefielen ihm gar nicht. Nach einigen Überlegungen ließ er am nächsten Tag ein paar Silberkugeln gießen und besorgte sich von einem Wunderarzt, den er kannte, einige wirksame Kräuter. Er würde die Zauberei mit Zauberei bekämpfen.
Nachts erschien ihm in seinen Träumen eine riesige Schlange mit grünen Augen, die ihm menschliche Worte zuflüsterte. Als er im Schlaf nach ihr schlug, zischte sie schrill und höhnisch. Am nächsten Morgen war sein Schlafzimmer von Schlangengeruch erfüllt, und auf seinem Kopfkissen waren Schleimspuren, von denen derselbe Gestank ausging. Da wußte der Präsident, daß ihn nur seine Wunderkräuter gerettet hatten.
Am Nachmittag berichtete ihm seine Frau, daß sie einige ihrer Pariser Modellkleider vermisse. Darauf nahm sich der Präsident seine Diener vor und befragte sie in seiner privaten Folterkammer. Er wagte seiner jungen Frau nicht zu sagen, was er zu hören bekommen hatte, aber er machte danach einen niedergeschlagenen Eindruck. Er hatte früher schon erlebt, wie seine Mutter mit kleinen Wachsfiguren herumhantierte. Diese Figuren waren das Ebenbild von irgendwelchen lebenden Personen gewesen und in Stücke der gestohlenen Kleidung gehüllt. Manchmal steckte seine Mutter Nadeln in die Wachsfiguren, und manchmal röstete sie sie langsam über einem offenen Feuer. Und immer wurden dann die Personen, die sie darstellten, krank und starben. Durch dieses Wissen wurde der Präsident jetzt sehr unglücklich. Und als er von den zurückkehrenden Boten erfuhr, daß seine Mutter ihre Hütte verlassen und sich in die Berge zurückgezogen hatte, fand seine Unruhe keine Grenzen.
Drei Tage danach starb seine Frau an einer schmerzenden Wunde in der Seite, für die kein Arzt eine Erklärung fand. Sie kämpfte bis zum Ende verzweifelt um ihr Leben, und man sagt, daß ihr Körper kurz vor dem Tode blau wurde und fast zur doppelten Größe anschwoll. Ihr Gesicht sah so aus, als wäre es von der Lepra zerfressen, und nach ihren geschwollenen Gelenken zu urteilen, hätte sie ein Opfer der Elephantiasis sein können. Diese ekelhaften Tropenkrankheiten wüteten auf Haiti, aber keine von beiden führte innerhalb von drei Tagen zum Tode …
Nach diesem Ereignis schäumte der Präsident vor Wut.
Er befahl eine Hexenverfolgung, die nur im Mittelalter ihresgleichen gefunden hätte. Polizei und Soldaten durchkämmten die Küstengebiete, Späher ritten zu den Hütten in den Bergen hinauf, und bewaffnete Patrouillen stießen in die abgelegenen Gebiete vor, in denen die Hexen und Teufelsanbeter hausten und mit glasigen Augen unaufhörlich den Mond anstarrten. Die Mamalois wurden bei der Befragung über offenes Feuer gehalten und die Besitzer von verbotenen Büchern über einer Flamme geröstet, die von eben diesen verbotenen Büchern genährt wurde. Bluthunde jaulten in den Bergen, und die Priester starben an den Altären, an denen sie sonst ihre Opfer darzubringen pflegten. Die Häscher hatten völlig freie Hand. Es gab nur einen einzigen Sonderbefehl: Die Mutter des Präsidenten sollte lebend gefaßt und ihr sollte nichts angetan werden.
Der Präsident saß im Palast und wartete. Seine Hände zuckten, und in seinen Augen glomm ein böses Feuer, das zur lodernden Flamme wurde, als seine Wachen das alte verhutzelte Weib ins Zimmer stießen. Man hatte sie im Sumpf, in der Nähe ihres Altars, aufgegriffen.
Auf seinen Befehl hin brachten die Wachen die alte Hexe, die sich wehrte und wie eine Wildkatze um sich biß und kratzte, nach unten. Dann zogen sich die Wachmänner zurück und ließen sie mit ihrem Sohn allein. Allein in der Folterkammer. Keiner hörte, wie sie ihren Sohn verfluchte, als sie auf der Folterbank festgeschnallt war. Keiner sah sein vor Wut verzerrtes Gesicht, seinen irrsinnigen Blick und das große silberne Messer in seiner Hand …
Der Präsident verbrachte während der nächsten Tage einige Stunden in der Folterkammer. Er war kaum noch im Palast zu sehen und hatte Anweisungen gegeben, daß er nicht gestört werden wolle. Als er am vierten Tag zum letztenmal die verborgene Treppe hinaufstieg, war das wahnsinnige Feuer aus seinen Augen verschwunden.
Es wird sich nie herausstellen, was sich in diesem Verlies wirklich zugetragen hat. Das ist vielleicht auch ganz gut so. Denn der Präsident war im Grunde seines Herzens immer ein Wilder geblieben, und die Wilden geraten in Ekstase, wenn sie die Qual ihrer Feinde verlängern können …
Es wird jedoch berichtet, daß die alte Hexe mit ihrem letzten Atemzug ihren Sohn mit dem Schlangenfluch behaftet hat; und dieser Fluch ist der schlimmste von allen. Aber aus dem Verhalten des Präsidenten kann man sich ungefähr vorstellen, was in der Folterkammer passiert war, denn er hatte einen bösen Humor und einen makabren Sinn für Vergeltung. Seine Mutter hatte erst eine Wachsfigur nach dem Ebenbild seiner Frau angefertigt, ehe sie sie getötet hatte. Er beschloß, etwas zu tun, was in derselben Richtung lag.
Als er zum letztenmal die verborgene Treppe heraufkam, sahen seine Diener, daß er eine große Kerze in der Hand trug; eine Kerze, die aus Menschenfett hergestellt war. Und da kein Mensch je wieder seine Mutter zu Gesicht bekam, lagen gewisse Vermutungen auf der Hand, woher er das Menschenfett gewonnen haben könnte. Aber aus gutem Grund wagte niemand, eine Frage zu stellen …
Das Ende der Geschichte ist rasch erzählt.
Der Präsident kehrte direkt zu seinen Amtszimmern im Palast zurück und stellte die Kerze in einen Ständer auf seinem Schreibtisch. Ihn erwartete viel Arbeit, denn er hatte in den letzten Tagen seine Pflichten reichlich vernachlässigt. Trotzdem saß er jetzt erst minutenlang schweigend an seinem Schreibtisch und starrte die Kerze mit einem zufriedenen, unergründlichen Lächeln an, ehe er sich über seine Papiere beugte.
Er arbeitete die ganze Nacht über und hatte befohlen, daß während dieser Zeit zwei Posten vor seiner Tür Wache standen. Er brütete bei Kerzenschein – beim Licht jener Kerze, die aus Menschenfett hergestellt war – über seiner Arbeit. Der Fluch seiner Mutter schien ihn nicht im mindesten zu beunruhigen. Er war zufrieden, daß er seinen Blutdurst gestillt hatte, und hielt die Möglichkeit einer Rache für ausgeschlossen. Er war nicht so abergläubisch, anzunehmen, daß die Hexe aus dem Grab zurückkehren könnte. Er saß ruhig und gelassen an seinem Schreibtisch und erweckte ganz den Eindruck eines zivilisierten Mannes. Die Kerze flackerte und warf unheilvolle Schatten in den Raum. Er bemerkte es nicht – bis es zu spät war!
Als er schließlich aufblickte, sah er, daß sich die Kerze aus Menschenfett schlängelte und zu grauenhaftem Leben erwachte.
Der Fluch seiner Mutter …
Die Kerze aus Menschenfett – lebte! Es war ein gewundenes gekrümmtes Etwas, das sich voller böser Absichten hin und herbewegte.
Die Flamme leuchtete intensiv auf und nahm plötzlich ein erschreckendes Aussehen an, das sich unter den erstaunten Blicken des Präsidenten in ein wildes Gesicht verwandelte – in das Gesicht seiner Mutter! Das kleine, schrumplige Gesicht war von Flammen umgeben und schien sich mühelos zu bewegen.
Die Kerze schien auf eigenartige Weise zu schmelzen, denn sie wurde immer länger. Sie wuchs und wuchs und schlängelte sich zielbewußt und fordernd auf den Mann zu.
Der Präsident von Haiti schrie gellend auf – aber es war zu spät!
Er starrte hypnotisiert in die immer größer werdende Flamme und war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Er schrie und schrie!
Er schrie auch dann noch, als die Kerze zu rußen anfing und flackernd am Verlöschen war. Der Raum versank in eine unheilvolle Dunkelheit, die von einem einzigen Stöhnen erfüllt war. Das qualvolle Stöhnen kam aus dem Mund eines Mannes, der geschlagen und besiegt wurde. Dann wurde das Stöhnen schwächer und schwächer …
Als die Wachen den Raum betraten und Licht anmachten, war alles still und vorbei.
Die Wachen wußten von der Kerze aus Menschenfett und dem Fluch der Hexe, die die Mutter ihres Gebieters gewesen war. Deshalb waren sie auch die ersten, die den Tod des Präsidenten von Haiti bekanntgaben. Sie schossen ihn zuerst noch in die Schläfe und unterrichteten dann die Bevölkerung davon, daß der Präsident Selbstmord begangen hätte.
Seinem Nachfolger erzählten sie jedoch die wahre Geschichte, worauf dieser sofort die Hexenverfolgungen einstellte, denn er gedachte, recht lange am Leben zu bleiben, und war ebenfalls ein gescheiter Mann …
Die Wachen hatten ihm erklärt, daß sie den Präsidenten in die Schläfe geschossen hatten, um seinen Tod als Selbstmord erscheinen zu lassen. Und der Nachfolger wollte alles vermeiden, um sich dem Schlangenflucht nicht auszusetzen.
Denn der Präsident von Haiti war von der Kerze aus dem Fett seiner Mutter erwürgt worden. Als man ihn fand, war die Kerze wie eine Riesenschlange um seinen Hals gewunden.