Ihr sehr ergebener
Jack the Ripper

 

Ich schau­te die­sen Bil­der­buch-Eng­län­der an. Er schau­te mich an.

»Sir Guy Hol­lis?« frag­te ich.

»Ganz recht. Ha­be ich das Ver­gnü­gen, mit John Car­mo­dy, dem Psych­ia­ter, zu spre­chen?«

Ich nick­te. Mei­ne Au­gen glit­ten über die Ge­stalt mei­nes dis­tin­guier­ten Be­su­chers. Er war groß und ha­ger, hat­te stroh­blon­des Haar und den tra­di­tio­nel­len bu­schi­gen Schnurr­bart. Selbst­ver­ständ­lich trug er einen Tweed­an­zug. Ich hat­te ihn in Ver­dacht, daß er in sei­ner Wes­ten­ta­sche ein Mo­no­kel ver­barg, und frag­te mich, ob er sei­nen Stock­schirm im Vor­zim­mer ge­las­sen hat­te.

Aber vor al­len Din­gen frag­te ich mich, was, zum Teu­fel, Sir Guy Hol­lis von der Bri­ti­schen Bot­schaft ver­an­laßt ha­ben könn­te, einen völ­lig frem­den Psych­ia­ter hier in Chi­ca­go auf­zu­su­chen.

Es wur­de mir auch nicht klar, als Sir Guy Hol­lis Platz ge­nom­men hat­te. Er räus­per­te sich, sah sich ner­vös um und klopf­te sei­ne Pfei­fe an der Sei­te mei­nes Schreib­ti­sches aus.

»Mr. Car­mo­dy«, be­gann er dann has­tig. »Ha­ben Sie schon ein­mal et­was von – Jack the Rip­per ge­hört?«

»Sie mei­nen den Mör­der?«

»Ja, den Mör­der. Das größ­te Un­ge­heu­er al­ler Zei­ten. Sei­ne Ta­ten stell­ten die von Dr. Crip­pen und Spring­heel-Jack in den Schat­ten. Jack the Rip­per! Der ›ro­te Jack‹!«

»Ich ha­be von ihm ge­hört«, sag­te ich.

»Ken­nen Sie sei­ne Ge­schich­te?«

»Sind Sie zu mir ge­kom­men, Sir Guy«, brumm­te ich är­ger­lich, »um mit mir über die be­rühm­ten Ver­bre­chen der Ver­gan­gen­heit zu trat­schen?«

Er warf mir einen ver­nich­ten­den Blick zu und hol­te tief Luft.

»Das ist kein Tratsch«, stieß er her­vor. »Das ist ei­ne Sa­che auf Le­ben und Tod!«

In sei­ne Au­gen trat ein Zug von Be­ses­sen­heit.

Ich seufz­te in­ner­lich. Viel­leicht war das sein Tick. Ich wür­de ihm al­so zu­hö­ren. Wir Psych­ia­ter wer­den schließ­lich da­für be­zahlt, daß wir zu­hö­ren.

»Al­so gut«, nick­te ich, »schie­ßen Sie los.«

»Lon­don 1888«, be­gann er, und sei­ne Ge­dan­ken schie­nen sich in der Ver­gan­gen­heit zu ver­lie­ren. »Es ging vom Spät­som­mer bis zum frü­hen Herbst. Aus dem Ne­bel, aus dem Nichts tauch­te Jack the Rip­per auf. Ein Schat­ten mit ei­nem Mes­ser in der Hand; ein Schat­ten, der den Os­ten von Lon­don un­si­cher mach­te. Ei­ne be­son­de­re Vor­lie­be hat­te er für die schmut­zi­gen Gas­sen in Whi­techa­pel und Spi­tal­fields. Kei­ner wuß­te, wo­her er kam. Aber er brach­te den Tod. Den Tod mit dem Mes­ser.

Sechs­mal durch­schnitt die­ses Mes­ser die Keh­len von Lon­do­ner Frau­en und zer­stückel­te ih­re Kör­per. Meist wa­ren es Hu­ren und leich­te Mäd­chen, die ihm zum Op­fer fie­len. Am 7. Au­gust zer­fleisch­te er die ers­te Frau. Als man sie fand, wies ihr Kör­per neun­und­drei­ßig Stich­wun­den auf. Er war ein grau­sa­mer Mör­der. Am 31. Au­gust muß­te sein nächs­tes Op­fer das Le­ben las­sen. Die Pres­se wur­de auf sein Trei­ben auf­merk­sam. Aber die Be­woh­ner der Slums in­ter­es­sier­ten sich fast noch mehr für ihn.

Wer war die­ser un­be­kann­te Mör­der, der un­ter ih­nen le­ben muß­te und in ih­ren Stra­ßen zu mit­ter­nächt­li­cher Stun­de wü­te­te? Und was noch wich­ti­ger war: Wann wür­de er das nächs­te­mal zu­schla­gen?

Er tat es am 8. Sep­tem­ber. Scot­land Yard ar­bei­te­te auf vol­len Tou­ren. Die Ge­rüch­te ver­mehr­ten sich und ver­brei­te­ten sich mit ra­sen­der Ge­schwin­dig­keit. Es wa­ren nicht so sehr die Mor­de selbst als die Grau­sam­keit, mit der sie aus­ge­führt wur­den, die die Men­schen be­schäf­tig­te.

Der Mör­der be­nutz­te sein Mes­ser mit ab­so­lu­ter Per­fek­tion. Er schnitt die Keh­len durch und trenn­te dann bei sei­nen toten Op­fern ge­wis­se Kör­per­tei­le ab. Er such­te sei­ne Op­fer und den Zeit­punkt der Tat mit teuf­li­schem Be­dacht aus. Kein Mensch sah oder hör­te et­was. Aber dann stol­per­ten die Po­li­zis­ten auf ih­rer Run­de über die zer­stückel­ten mensch­li­chen Über­res­te, die ein neu­es Werk von Jack the Rip­per wa­ren.

Wer war er? Was war er? Ein ver­rück­ter Chir­urg? Ein Schläch­ter? Ein wahn­sin­ni­ger Wis­sen­schaft­ler? Ein Ent­lau­fe­ner aus dem Ir­ren­haus? Ein de­ge­ne­rier­ter Ad­li­ger? Ein Mit­glied der Po­li­zei?

Dann er­schi­en in den Zei­tun­gen ein klei­ner Reim von ei­nem un­be­kann­ten Ver­fas­ser.

 

Ich bin kein Schläch­ter und kein Mann der Gos­se,

Kein Ju­de, Ne­ger oder Koh­len­schip­per,

Ich bin nichts wei­ter als ein lie­ber Zeit­ge­nos­se.

Ihr sehr er­ge­be­ner Jack the Rip­per.

 

Mit dem Ab­druck die­ses Ver­ses soll­ten die letz­ten Er­eig­nis­se ba­ga­tel­li­siert wer­den, aber die Wir­kung auf die Le­ser war ge­ra­de um­ge­kehrt. Die Men­schen wur­den nur noch ver­stör­ter.

Und am 30. Sep­tem­ber wur­den zwei wei­te­re Keh­len durch­schnit­ten.«

Ich rutsch­te un­ge­dul­dig auf mei­nem Stuhl hin und her und hat­te das drin­gen­de Be­dürf­nis, den Re­de­schwall Sir Guys kurz zu un­ter­bre­chen.

»Sehr in­ter­essant«, mur­mel­te ich, aber ich glau­be, der Sar­kas­mus in mei­ner Stim­me war nicht zu über­hö­ren.

Er zuck­te leicht zu­sam­men. Aber dann fuhr er un­be­irrt mit sei­ner Er­zäh­lung fort.

»Da­nach herrsch­te in Lon­don für ei­ne Wei­le Ru­he. Aber es war die Ru­he vor dem nächs­ten Sturm. Wann wür­de der ›ro­te Jack‹ wie­der zu­schla­gen? Der gan­ze Ok­to­ber ver­ging, oh­ne daß et­was ge­sch­ah. Aber die Angst war nicht von den Men­schen ge­wi­chen. Je­der Schat­ten im Ne­bel konn­te Jack the Rip­per sein. Er konn­te über­all und zu je­der Zeit auf sein nächs­tes Op­fer lau­ern. Der No­vem­ber kam und mit ihm der rau­he Wind. Lon­d­ons Stra­ßen­mäd­chen zit­ter­ten. Aber sie zit­ter­ten nicht nur vor Käl­te. Sie at­me­ten im­mer er­leich­tert auf, wenn der nächs­te Mor­gen an­brach.

 

9. No­vem­ber. Sie fan­den sie in ih­rem Zim­mer. Sie lag sehr ru­hig und or­dent­lich auf dem Fuß­bo­den aus­ge­streckt. Und ne­ben ih­ren Kör­per hat­te man eben­falls mit pe­dan­ti­scher Or­dent­lich­keit ih­ren Kopf und ihr Herz ge­legt. Jack the Rip­per hat­te sich selbst über­bo­ten.

Als die­ser Mord be­kannt wur­de, er­reich­te die Pa­nik ih­ren Hö­he­punkt. Aber die Pa­nik war un­nö­tig. Die Pres­se, die Po­li­zei und die Be­völ­ke­rung war­te­ten vol­ler Ent­set­zen auf die nächs­te Blut­tat – aber Jack the Rip­per schlug nicht mehr zu.

Mo­na­te ver­gin­gen. Als ein Jahr um war, war zwar die Furcht von den Men­schen ge­wi­chen, aber die Er­in­ne­rung blieb. Man sprach da­von, daß sich Jack nach Ame­ri­ka ab­ge­setzt hät­te. An­de­re woll­ten wis­sen, daß er Selbst­mord be­gan­gen hat. Bis zum heu­ti­gen Ta­ge wird über Jack ge­spro­chen und ge­schrie­ben. Es gibt tau­send Theo­ri­en, Ver­mu­tun­gen, Kom­men­ta­re und Ab­hand­lun­gen. Aber trotz al­lem weiß kein Mensch, wer Jack the Rip­per war. Oder warum er mor­de­te. Oder warum er auf­ge­hört hat, zu mor­den.«

Sir Guy schwieg. Er er­war­te­te of­fen­sicht­lich ei­ne Äu­ße­rung von mir.

»Sie ha­ben die Ge­schich­te gut er­zählt«, sag­te ich schließ­lich. »Wenn auch mit ei­nem ge­wis­sen ge­fühls­mä­ßi­gen Vor­ur­teil.«

»Ich ha­be mir al­le Un­ter­la­gen be­schafft«, sag­te Sir Guy Hol­lis. »Und ich ha­be das gan­ze Ma­te­ri­al sorg­fäl­tig stu­diert.«

Ich stand auf und tat so, als müß­te ich ein Gäh­nen un­ter­drücken. »Mir hat Ih­re klei­ne Ge­schich­te sehr ge­fal­len, Sir Guy. Ich fin­de es sehr nett von Ih­nen, daß Sie Ih­re Pflich­ten bei der Bri­ti­schen Bot­schaft ver­nach­läs­sigt ha­ben, um einen ar­men Psych­ia­ter mit Ih­ren An­ek­do­ten zu er­freu­en.«

Er warf mir einen ra­schen Sei­ten­blick zu.

»Ich neh­me an, Sie wol­len wis­sen, wes­halb mich die­se Ge­schich­te so sehr in­ter­es­siert, nicht wahr?« frag­te er, und sei­ne Stim­me klang et­was hei­ser.

»Ja, das möch­te ich wirk­lich wis­sen. Wie­so in­ter­es­siert Sie das?«

»Weil«, er­wi­der­te Sir Guy Hol­lis lang­sam und ließ je­des Wort auf der Zun­ge zer­ge­hen, »weil ich jetzt auf der Spur von Jack the Rip­per bin. Ich glau­be, daß er sich hier auf­hält. Hier, in Chi­ca­go!«

Ich ließ mich auf den Stuhl fal­len. »Sa­gen Sie das noch ein­mal«, stot­ter­te ich.

»Jack the Rip­per lebt! Hier in Chi­ca­go! Und ich wer­de ihn fin­den!«

»Mo­ment – Mo­ment mal«, sag­te ich. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?«

Er lach­te nicht. Er mach­te kei­nen Spaß.

»Wann, sag­ten Sie, ha­ben die Mor­de statt­ge­fun­den?« frag­te ich ein­dring­lich.

»Von Au­gust bis No­vem­ber 1888.«

»1888? Da man mit Si­cher­heit an­neh­men kann, daß Jack the Rip­per zum Zeit­punkt sei­ner Mor­de ein aus­ge­wach­se­ner Mann war, muß er längst tot sein. Men­schens­kind, selbst wenn er 1888 ge­bo­ren wä­re, müß­te er heu­te fünf­und­sieb­zig Jah­re alt sein!«

Sir Guy Hol­lis Lip­pen kräu­sel­ten sich zu ei­nem spöt­ti­schen Lä­cheln. »Müß­te er? Könn­te man nicht ge­nau­so sa­gen: müß­te sie? Jack the Rip­per kann doch auch ei­ne Frau ge­we­sen sein – oder nicht? Viel­leicht wa­ren es auch meh­re­re Per­so­nen –«

»Sir Guy«, sag­te ich mil­de. »Sie ha­ben gut dar­an ge­tan, zu mir zu kom­men. Es be­steht kein Zwei­fel, daß Sie die Hil­fe ei­nes Psych­ia­ters brau­chen.«

»Wer weiß … Ha­ben Sie das Ge­fühl, Mr. Car­mo­dy, daß ich ver­rückt bin?«

Ich schau­te ihn an und zuck­te die Ach­seln. Aber ei­ne di­rek­te Fra­ge ver­lang­te ei­ne di­rek­te Ant­wort.

»Of­fen­ge­stan­den – nein.«

»Dann darf ich Ih­nen viel­leicht er­klä­ren, wes­halb ich an­neh­me, daß Jack the Rip­per im­mer noch am Le­ben ist …«

»Al­so gut.«

»Ich be­schäf­ti­ge mich seit drei­ßig Jah­ren mit die­sem Fall. Ich ha­be die Ta­tor­te auf­ge­sucht. Ich ha­be mich bei den maß­ge­ben­den Be­hör­den in­for­miert, und ich ha­be mich mit den Freun­den und Be­kann­ten der ar­men Mäd­chen, die um­ge­bracht wor­den sind, un­ter­hal­ten. Die gan­ze Nach­bar­schaft ha­be ich zu­sam­men­ge­trom­melt. Das Ma­te­ri­al, das ich über Jack the Rip­per zu­sam­men­ge­tra­gen ha­be, dürf­te ab­so­lut voll­stän­dig sein. Kei­ne Theo­rie oder An­sicht konn­te so ver­rückt sein, daß ich mich nicht mit ihr be­schäf­tigt hät­te.

Es ist klar, daß ich mir da­nach mein ei­ge­nes Bild über den Fall ge­macht ha­be. Aber kei­ne Ban­ge – ich wer­de Sie nicht mit mei­nen Theo­ri­en und Schluß­fol­ge­run­gen lang­wei­len.

Ab­ge­se­hen von dem Rip­per-Fall in­ter­es­siert mich je­des un­auf­ge­klär­te Ver­bre­chen, je­der nicht ge­klär­te Mord­fall. Nen­nen Sie es ein Hob­by oder einen Tick von mir. Wie dem auch sei, ich be­schäf­ti­ge mich seit Jah­ren mit der Kri­mi­no­lo­gie.

Ich könn­te Ih­nen mei­ne Samm­lung von Zei­tungs­aus­schnit­ten zei­gen. Sie stam­men aus den größ­ten Städ­ten der Welt. Shang­hai, Kal­kut­ta, San Fran­cis­co, Pa­ris, Ber­lin, Ma­drid, Kai­ro, Mai­land … um nur ei­ni­ge zu nen­nen.

Vie­le der un­auf­ge­klär­ten Mor­de ha­ben ei­nes ge­mein­sam: So­weit es sich bei den Op­fern um Frau­en han­del­te, wur­den sie mit durch­schnit­te­nen Keh­len auf­ge­fun­den. Ih­re Kör­per wa­ren grau­sam ver­stüm­melt. Ich ha­be in­ten­siv die­se blu­ti­ge Spur ver­folgt. Sie führ­te von New York nach Wes­ten, quer durch den gan­zen Kon­ti­nent. Dann zum Pa­zi­fik, und von dort aus nach Afri­ka. Wäh­rend des ers­ten Welt­krie­ges ver­lor sie sich in Eu­ro­pa, da­nach tauch­te sie in Süd­ame­ri­ka auf und führ­te 1930 wie­der in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Und hier läßt sie sich bis auf den heu­ti­gen Tag wei­ter­ver­fol­gen. Im gan­zen sind es achtund­sieb­zig Mor­de. Je­der ge­schul­te Kri­mi­no­lo­ge müß­te sie für das Werk Jack the Rip­pers hal­ten.

Er­in­nern Sie sich an die Schau­der­ge­schich­ten aus Cle­ve­land, die vor kur­z­em durch die gan­ze Pres­se gin­gen? De­nen zu­fol­ge ein weib­li­cher Tor­so nach dem an­de­ren auf­ge­fun­den wur­de? Es war ei­ne grau­en­haf­te Mord­se­rie. Da­nach folg­ten jetzt zwei Mor­de hier in Chi­ca­go. Und al­le wie­sen die­sel­be Tech­nik auf. Soll das viel­leicht ein Zu­fall sein? Glau­ben Sie mir: All die­se Mor­de ge­hen auf das Kon­to von Jack the Rip­per!«

»Ei­ne lücken­lo­se Theo­rie«, sag­te ich. »Ich will Ih­re Be­wei­se und Schluß­fol­ge­run­gen nicht in Fra­ge stel­len, denn Sie sind der Kri­mi­no­lo­ge, wäh­rend ich nur ein Psych­ia­ter bin. Aber es gibt et­was, was Sie mir noch er­klä­ren müs­sen. Nur ei­ne Klei­nig­keit – aber man soll­te es doch nicht au­ßer acht las­sen …«

»Und das wä­re?« frag­te Sir Guy. »Wie soll­te ein Mann von – sa­gen wir – fünf­und­neun­zig Jah­ren in der La­ge sein, die­se Ver­bre­chen zu be­ge­hen? Denn wenn wir da­von aus­ge­hen, daß Jack the Rip­per 1888 zwan­zig Jah­re alt war, müß­te er heu­te fünf­und­neun­zig sein.«

Sir Guy Hol­lis schwieg.

Na al­so, dach­te ich, da­mit hät­ten wir ihn wohl …

Aber weit ge­fehlt!

»Neh­men Sie ein­mal an, er ist nicht äl­ter ge­wor­den«, flüs­ter­te Sir Guy.

»Wie soll ich das nun wie­der ver­ste­hen?«

»Kön­nen Sie sich nicht vor­stel­len, daß Jack the Rip­per nicht äl­ter ge­wor­den ist? Kön­nen Sie sich nicht vor­stel­len, daß er heu­te im­mer noch ein jun­ger Mann ist?«

»Nun ja«, seufz­te ich, »ich wer­de es mir einen Au­gen­blick lang vor­stel­len. Da­nach wer­de ich die Schwes­ter ru­fen und Ih­nen ei­ne Zwangs­ja­cke an­le­gen las­sen.«

»Ich mei­ne es völ­lig ernst«, sag­te Sir Guy be­stimmt.

Ich nick­te. »Sie mei­nen es al­le völ­lig ernst. Das ist ja der Jam­mer. Sie sind al­le über­zeugt da­von, die Stim­men zu hö­ren und die Dä­mo­nen zu se­hen. Aber sie ge­hö­ren al­le – oh­ne Aus­nah­me – in ei­ne An­stalt.«

Das war grau­sam von mir, aber es ver­fehl­te sei­ne Wir­kung nicht. Er er­hob sich und schau­te mich fest an.

»Ich weiß sel­ber, daß das ei­ne ver­rück­te Theo­rie ist«, sag­te er.

»Aber ver­ges­sen Sie nicht, daß al­le Theo­ri­en über Jack the Rip­per ver­rückt sind. Die Be­grün­dun­gen, wes­halb er ein Arzt oder ein Wahn­sin­ni­ger oder ei­ne Frau ge­we­sen sein soll, sind fa­den­schei­nig ge­nug. Warum al­so soll­te mei­ne Theo­rie un­glaub­wür­di­ger sein als die an­de­ren?«

Ich hob die Schul­tern. »Ganz ein­fach dar­um, weil die Men­schen äl­ter wer­den«, er­wi­der­te ich. »Auch Ärz­te, Ver­rück­te und Frau­en wer­den äl­ter.«

»Und was ist mit Zau­be­rern?«

»Zau­be­rern?«

»Ja, Zau­be­rer. Oder He­xen­meis­ter, wenn Ih­nen das bes­ser ge­fällt, oder We­sen, die die Schwar­ze Ma­gie aus­üben.«

»Wor­auf wol­len Sie hin­aus?«

»Im Zu­sam­men­hang mit den Mor­den ha­be ich mich auch ein­ge­hend mit den Da­ten be­faßt, an de­nen sie ver­übt wur­den. Da­bei ha­be ich fest­ge­stellt, daß sie ei­nem ge­wis­sen Rhyth­mus un­ter­wor­fen sind, ei­nem Rhyth­mus, der im Zu­sam­men­hang mit dem Son­nen- und Mond­sys­tem und den Stern­bil­dern steht. Ich bin zu der Über­zeu­gung ge­kom­men, daß die Mor­de ei­ne astro­lo­gi­sche Be­deu­tung ha­ben.«

Die­ser Mann war ver­rückt. Dar­über konn­te kein Zwei­fel be­ste­hen. Aber ich hör­te ihm wei­ter zu.

»Neh­men Sie ein­mal an, daß Jack the Rip­per nicht nur aus Freu­de am Tö­ten mor­de­te. Viel­leicht woll­te er – ein Op­fer dar­brin­gen …«

»Was für ein Op­fer?«

Sir Guy zuck­te die Ach­seln. »Man sagt, daß die dunklen Mäch­te dem ei­ne Gunst er­wei­sen, der ih­nen ein Blu­top­fer dar­bringt. Und wenn das Blu­top­fer zur rech­ten Zeit – wenn der Mond und die Ster­ne in ei­nem ge­wis­sen Ver­hält­nis zu­ein­an­der ste­hen – und mit der rech­ten Ze­re­mo­nie dar­ge­bracht wird, ge­wäh­ren die schwar­zen Göt­ter die Gna­de der Ju­gend. Der ewi­gen Ju­gend.«

»Das ist doch dum­mes Zeug!«

»Nein. Das er­klärt das Phä­no­men Jack the Rip­per!«

Ich stand auf. »Das ist zwei­fel­los die in­ter­essan­tes­te Theo­rie, die ich je ge­hört ha­be«, sag­te ich. »Aber kön­nen Sie mir er­klä­ren, wes­halb Sie zu mir ge­kom­men sind und mir die Ge­schich­te er­zählt ha­ben, Sir Guy? Ich bin we­der für Zau­ber­kräf­te zu­stän­dig noch bin ich ein Kri­mi­no­lo­ge. Ich bin ein prak­ti­zie­ren­der Psych­ia­ter. Ich wüß­te nicht, was ich für Sie tun könn­te –«

Sir Guy lä­chel­te.

»Aber Ihr In­ter­es­se ist ge­weckt, nicht wahr?«

»Nun ja – schon – aber …«

»Ich woll­te mich erst ver­ge­wis­sern, ob Sie in­ter­es­siert sind, ehe ich Ih­nen mei­nen Plan er­zäh­le.«

»Und – was schwebt Ih­nen vor?«

Sir Guy warf mir einen lan­gen Blick zu, ehe er fei­er­lich ver­kün­de­te: »Mr. Car­mo­dy – Sie und ich wer­den Jack the Rip­per fas­sen.«

 

So kam die­se Ge­schich­te ins Rol­len.

Ich hielt es für not­wen­dig, die­ses ers­te Ge­spräch mit Sir Guy Hol­lis in al­len Ein­zel­hei­ten wie­der­zu­ge­ben. Wenn Ih­nen auch man­ches lang­wei­lig vor­ge­kom­men sein mag, so trägt mei­ne aus­führ­li­che Schil­de­rung doch da­zu bei, daß Sie sich ein ge­nau­es Bild von Sir Guys Cha­rak­ter und sei­nen An­sich­ten ma­chen kön­nen. Und im Hin­blick auf das wei­te­re Ge­sche­hen …

Aber das wer­den Sie selbst se­hen.

Sir Guys Plan war sehr sim­pel.

Bei ge­nau­er Be­trach­tung war es noch gar kein fest um­ris­se­ner Plan. Es war mehr ein Ver­such aufs Ge­ra­te­wohl.

»Ich weiß, mit wel­chen Leu­ten Sie ver­keh­ren«, sag­te er. »Ich ha­be mich vor­her ge­nau er­kun­digt. Und des­halb bin ich zu Ih­nen ge­kom­men. Ich glau­be, daß Sie der ge­eig­ne­te Mann für mei­ne Zwe­cke sind. Ihr Be­kann­ten­kreis be­steht zum größ­ten Teil aus Schrift­stel­lern, Ma­lern und Poe­ten, mit ei­nem Wort: den so­ge­nann­ten In­tel­lek­tu­el­len. Die hun­dert­zehn­pro­zen­ti­gen Bo­he­miens.

Es wür­de zu weit füh­ren, Ih­nen das zu er­klä­ren, aber ich ha­be mei­ne Grün­de da­für, an­zu­neh­men, daß Jack the Rip­per Mit­glied die­ser Ge­sell­schafts­klas­se ist. Er hat sich ent­schlos­sen, die Rol­le ei­nes Ex­zen­tri­kers zu spie­len. Ich ha­be ein­fach das Ge­fühl, daß ich, wenn ich mich Ih­nen an­schlie­ßen darf und Sie mich bei die­sen Leu­ten ein­füh­ren, auf die Per­son, die ich su­che, sto­ßen könn­te.«

»Mir soll es recht sein«, sag­te ich. »Aber wie wol­len Sie Jack the Rip­per her­aus­fin­den? Sie sag­ten doch selbst, er kann über­all und je­der sein. Und Sie ha­ben kei­ne Ah­nung, wie er aus­sieht. Er kann jung oder alt sein. Er kann je­de Art von Be­ruf ha­ben. Viel­leicht ist es ein rei­cher Mann, ein ar­mer Mann, ein Bett­ler, ein Dieb, ein Arzt, ein Rechts­an­walt – wie wol­len Sie ihn er­ken­nen?«

»Das wird sich her­aus­stel­len.« Sir Guy seufz­te schwer. »Auf al­le Fäl­le muß ich ihn fin­den. Und zwar so­fort.«

»Warum die­se Ei­le?«

Sir Guy seufz­te wie­der. »Weil er über­mor­gen wie­der einen Mord be­ge­hen wird.«

»Sind Sie si­cher?«

»Das ist ge­nau­so si­cher wie das Stern­bild, das in zwei Ta­gen am Him­mel er­schei­nen wird. Ich sag­te Ih­nen ja schon, daß al­le Mor­de mit ei­nem ge­wis­sen astro­lo­gi­schen Rhyth­mus über­ein­stim­men. Es ist für einen Lai­en ein kom­pli­zier­tes Sys­tem, aber wenn man sich, so wie ich, jah­re­lang da­mit be­schäf­tigt hat, kommt man da­hin­ter. Und wenn ich mit mei­ner Ver­mu­tung recht ha­be, daß er Blu­top­fer dar­bringt, um sei­ne Ju­gend zu er­neu­ern, dann muß er ein­fach in zwei Ta­gen je­man­den tö­ten. Dar­um muß ich ihn ir­gend­wie vor­her fin­den.«

»Und wie stel­len Sie sich mei­ne Hil­fe vor?«

»Füh­ren Sie mich her­um. Neh­men Sie mich zu Par­ties mit. Stel­len Sie mich ih­ren Freun­den vor.«

»Aber bei wem soll man an­fan­gen? Ab­ge­se­hen da­von, daß mei­ne Freun­de das Ex­zen­tri­sche lie­ben, sind sie ganz nor­ma­le Bür­ger.«

»Das glei­che trifft für Jack the Rip­per zu. Ein ganz nor­ma­ler Bür­ger. Mit Aus­nah­me ge­wis­ser Näch­te …« In Sir Guys Au­gen trat wie­der der ab­we­sen­de Blick. »Dann ver­wan­delt er sich in ein zeit­lo­ses, krank­haft ver­an­lag­tes Un­ge­heu­er, das mit sei­nem Mes­ser durch die Gas­sen schleicht, um un­ter ei­nem ge­wis­sen Stern­bild ein Men­schen­le­ben zu op­fern.«

»Schon gut, schon gut«, be­eil­te ich mich zu sa­gen. »Sie kön­nen mich heu­te abend be­glei­ten, Sir Guy. Ich wür­de so­wie­so zu ir­gend­ei­ner Par­ty ge­hen. Nach al­lem, was ich heu­te nach­mit­tag von Ih­nen zu hö­ren be­kom­men ha­be, ha­be ich das drin­gen­de Be­dürf­nis, ei­ni­ge Drinks zu mir zu neh­men.«

Nach kur­z­em Über­le­gen ent­schloß ich mich für Les­ter Bas­tons Stu­dio.

Als uns der Fahr­stuhl sur­rend in das Dach­ge­schoß brach­te, hielt ich es für zweck­mä­ßig, Sir Guy zu war­nen.

»Bas­ton ist ein ech­ter Spin­ner«, sag­te ich ein­dring­lich. »Und sei­ne Gäs­te sind nicht viel an­ders. Man kann nie wis­sen, was ih­nen plötz­lich durch den Kopf schießt.« Ich zuck­te die Ach­seln. »Sie woll­ten es so, Sir Guy, aber Sie müs­sen auf al­les ge­faßt sein.«

»Das bin ich auch«, er­wi­der­te Sir Guy mit tod­erns­tem Ge­sicht. Er griff in sei­ne Ho­sen­ta­sche und brach­te einen Re­vol­ver zu­ta­ge.

Ich schnapp­te nach Luft. »Was, zum Teu­fel –«, be­gann ich.

»Sie se­hen, daß ich wirk­lich auf al­les ge­faßt bin.« Sir Guys Lä­cheln war oh­ne Hu­mor.

»Aber, Mann Got­tes, Sie kön­nen doch nicht mit ei­nem ge­la­de­nen Re­vol­ver in der Ta­sche auf ei­ner Par­ty her­um­ren­nen!«

»Kei­ne Sor­ge! Ich wer­de kei­ne Dumm­hei­ten ma­chen!«

Ich nag­te an mei­ner Un­ter­lip­pe. Man konn­te die­sen Sir Guy Hol­lis wahr­lich nicht als einen nor­ma­len Zeit­ge­nos­sen be­zeich­nen.

Als wir den Fahr­stuhl ver­las­sen hat­ten und auf Bas­tons Woh­nungs­tür zu­gin­gen, warf ich Sir Guy einen ra­schen Blick zu.

»Ne­ben­bei ge­sagt«, mur­mel­te ich, »wie wol­len Sie ei­gent­lich vor­ge­stellt wer­den? Soll ich de­nen« ich deu­te­te mit dem Dau­men auf die Tür – »sa­gen, wer Sie sind und was Sie su­chen?«

»Das ist mir egal. Aber wahr­schein­lich ist es am ge­schei­tes­ten, die Wahr­heit zu sa­gen.«

»Aber wür­de dann nicht ›the Rip­per‹, falls er oder sie durch ein Wun­der an­we­send sein soll­te, Lun­te rie­chen und sich völ­lig in das Schne­cken­haus zu­rück­zie­hen?«

»Ich glau­be eher, daß die be­tref­fen­de Per­son bei der Be­mer­kung, daß ich auf der Jagd nach Jack the Rip­per bin, so ver­dat­tert ist, daß sie sich durch ir­gend­ei­ne Ges­te ver­rät.« Sir Guy blick­te ver­son­nen vor sich hin.

»Sie wür­den selbst einen ganz gu­ten Psych­ia­ter ab­ge­ben«, mein­te ich lä­chelnd. »Ih­re Idee ist nicht schlecht. Aber ich muß Sie ernst­haft war­nen. Das kann sehr leicht ins Au­ge ge­hen. Be­den­ken Sie, daß Sie ei­ne An­samm­lung von Wil­den vor­fin­den wer­den.«

Aber Sir Guy lä­chel­te nur.

»Ich bin vor­be­rei­tet«, ver­kün­de­te er. »Ich ha­be mir einen klei­nen Schlacht­plan zu­recht­ge­legt. Ich dan­ke Ih­nen für Ih­re War­nung; aber ich möch­te Sie eben­falls war­nen. Was im­mer ich auch tun wer­de, las­sen Sie sich durch nichts aus der Fas­sung brin­gen!«

Das kann ja rei­zend wer­den, dach­te ich, aber ich sag­te nichts. Ich nick­te le­dig­lich und klin­gel­te.

Bas­ton riß die Tür auf und tor­kel­te uns ent­ge­gen. Sei­ne Au­gen wa­ren so rot wie die Ma­ra­schi­no-Kir­sche in sei­nem Cock­tail. Er schwank­te be­acht­lich, als sein Blick von mei­nem stei­fen Hom­burg zu Sir Guys Schnurr­bart wan­der­te.

»Aha«, lall­te er. »Hoch­wür­den ha­ben heu­te ein Wal­roß mit­ge­bracht …«

Ich stell­te Sir Guy vor.

Bas­ton schlug sich vor die Brust und ver­neig­te sich tief. »Herz­lich will­kom­men! Welch Glanz in mei­ner Hüt­te …« Mit ei­ner weit aus­ho­len­den Hand­be­we­gung for­der­te er uns auf, ein­zu­tre­ten. Er schob uns in sein ver­rückt ein­ge­rich­te­tes Wohn­zim­mer.

Ich schau­te auf die Men­ge, die sich rast­los durch den Zi­ga­ret­ten­qualm be­weg­te.

Die Zeit und dem­zu­fol­ge die Stim­mung war schon sehr fort­ge­schrit­ten. Je­de Hand hielt ein Glas, und je­des Ge­sicht hat­te einen hek­ti­schen ro­ten Schim­mer. In ei­ner Ecke des Zim­mers häm­mer­te je­mand wild auf dem Kla­vier her­um, aber die pro­fa­nen Lau­te der Kar­ten­spie­ler in ei­ner an­de­ren Ecke über­tön­ten den Rhyth­mus von ›I love you – don’t you for­get it‹.

Sir Guys Blick wan­der­te von ei­nem zum an­de­ren. Er sah, wie La­Ver­ne Gon­nis­ter, die Ly­ri­ke­rin, Hy­mie Kra­lik ein blau­es Au­ge schlug. Er sah, wie Hy­mie Kra­lik dar­auf­hin zu Bo­den ging und wein­te, bis Dick Pool, der sich einen neu­en Drink ho­len woll­te, ver­se­hent­lich auf sei­nen Ma­gen trat.

Er hör­te, wie die Ar­tis­tin Na­dia Vi­li­noff zu John­ny Od­cutt sag­te, daß sei­ne Tä­to­wie­run­gen das Al­ler­letz­te wä­ren, und er be­ob­ach­te­te, wie John­ny Od­cutts Frau mit Bar­clay Mel­ton un­ter den Tisch kroch.

Er hät­te sei­ne zoo­lo­gi­schen Be­trach­tun­gen ge­wiß noch lan­ge fort­set­zen kön­nen, wenn sich Les­ter Bas­ton nicht auf ein­mal mit­ten im Zim­mer auf­ge­baut hät­te und sich da­durch Ge­hör ver­schaff­te, daß er ei­ne Va­se auf den Bo­den schmiß.

»Wir ha­ben heu­te dis­tin­guier­te Gäs­te in un­se­rer Mit­te«, gröl­te er und schwenk­te sein halb­vol­les Glas in un­se­re Rich­tung. »Einen Pfar­rer und ein Wal­roß. Das Wal­roß ist Sir Guy Hol­lis, ein Edel­mann oder so et­was Ähn­li­ches von der Bri­ti­schen Bot­schaft. Hoch­wür­den ist, wie wir al­le wis­sen, un­ser ge­lieb­ter John Car­mo­dy, der be­rühm­te Er­lö­ser von all un­se­ren se­xu­el­len Nö­ten.«

Er tor­kel­te auf Sir Guy zu, pack­te ihn beim Arm und zog ihn in die Mit­te des Zim­mers. Einen Au­gen­blick lang dach­te ich, Sir Guy wür­de sich die­se Be­hand­lung ver­bit­ten, aber der ra­sche Blick, den er mir zu­warf, über­zeug­te mich von sei­nem Ent­schluß, mit den Wöl­fen zu heu­len.

»Es ist bei uns Sit­te«, quäk­te Bas­ton, »neue Gäs­te ei­nem Kreuz­ver­hör zu un­ter­zie­hen. Bei un­se­ren for­mel­len Zu­sam­men­künf­ten le­gen wir auf die­se klei­ne For­ma­li­tät wert. Sind Sie be­reit, Sir Guy Hol­lis, Fra­gen zu be­ant­wor­ten?«

Sir Guy grins­te und nick­te.

»So ist es recht«, grunz­te Bas­ton. »Freun­de, ich über­ge­be euch die­ses Bün­del aus Groß­bri­tan­ni­en zum Kreuz­ver­hör.«

Die Meu­te johl­te und be­stürm­te Sir Guy mit Fra­gen. Ich woll­te mir nichts ent­ge­hen las­sen, aber in die­sem Au­gen­blick ent­deck­te mich Ly­dia Dare und zog mich mit sanf­ter Ge­walt auf den Kor­ri­dor. Dort ver­wi­ckel­te sie mich in eins der be­lieb­ten Lieb­ling-ich-war­te-seit-Ta­gen-auf-dei­nen-An­ruf-Ge­sprä­che.

Als ich sie end­lich wie­der los­wur­de und ins Zim­mer zu­rück­kam, war das Fra­ge-und-Ant­wort-Spiel in vol­lem Gan­ge. So, wie sich die Meu­te ver­hielt, konn­te ich an­neh­men, daß sich Sir Guy auf ih­re Wel­len­län­ge ein­ge­stellt hat­te.

Aber dann stell­te Bas­ton ei­ne Fra­ge, die dem lär­men­den Spiel ei­ne un­ge­ahn­te Wen­dung gab.

»Und was – wenn ich mir die Fra­ge er­lau­ben darf – führt Sie heu­te in un­se­re Mit­te? Wel­cher Missi­on ha­ben wir Ih­re wer­te Ge­gen­wart zu ver­dan­ken?«

»Ich bin auf der Su­che nach Jack the Rip­per.«

Kei­ner lach­te.

Viel­leicht wa­ren sie al­le so be­trof­fen, wie ich es heu­te nach­mit­tag ge­we­sen war. Ich schau­te nach­denk­lich von ei­nem zum an­de­ren.

La­Ver­ne Gon­nis­ter. Hy­mie Kra­lik. Harm­los. Dick Pool. Na­dia Vi­li­noff. John­ny Od­cutt und sei­ne Frau. Bar­clay Mel­ton. Ly­dia Dare. Ei­ner war so harm­los wie der an­de­re.

Aber warum lä­chel­te Dick Pool so ge­zwun­gen? Und was hat­te das scheue und den­noch so selbst­be­wuß­te Grin­sen auf Bar­clay Mel­tons Ge­sicht zu be­deu­ten?

Aber ich ver­si­che­re Ih­nen, das war al­les ab­surd. Ich sah nur auf ein­mal die­se Leu­te in ei­nem an­de­ren Licht. Viel­leicht schau­te ich sie mir in mei­nem Le­ben zum ers­ten­mal wirk­lich an. Was wuß­te ich schon von ih­rem Le­ben? Im Grun­de gar nichts. Ich kann­te sie nur auf Par­ties; aber auch für sie be­stand das Le­ben nicht nur aus Par­ties …

Wie vie­le von ih­nen moch­ten ein Dop­pel­le­ben füh­ren? Wie vie­le möch­ten et­was zu ver­ber­gen ha­ben?

Wer von ih­nen könn­te He­ka­te an­be­ten und der Mond­göt­tin Blu­top­fer dar­brin­gen?

Selbst Les­ter Bas­ton könn­te ein Dop­pel­le­ben füh­ren.

Einen kur­z­en Au­gen­blick lang wa­ren wir al­le der glei­chen Stim­mung un­ter­wor­fen. Je­der hat­te tau­send un­aus­ge­spro­che­ne Fra­gen in sei­nem Blick.

Sir Guy war sich der Si­tua­ti­on, die er her­auf­be­schwo­ren hat­te, ab­so­lut be­wußt, und er schi­en Ge­fal­len dar­an zu fin­den.

Ich hät­te et­was dar­um ge­ge­ben, zu wis­sen, was mit Sir Guy wirk­lich los war. Sei­ne fi­xe Idee mit Jack the Rip­per muß­te doch einen Grund ha­ben. Viel­leicht hat­te er auch Ge­heim­nis­se zu ver­ber­gen … Es war schließ­lich Bas­ton, der die ei­gen­tüm­li­che Stim­mung zer­riß. Er schlug Sir Guy kräf­tig auf die Schul­ter und leg­te sei­nen Arm um ihn. Dann setz­te er zu ei­ner pa­the­ti­schen Re­de an.

»Freun­de, laßt euch sa­gen, daß das Wal­roß kei­nen Spaß macht. Un­ser Vet­ter aus Groß­bri­tan­ni­en ist wirk­lich dem ge­heim­ni­sum­wit­ter­ten Jack the Rip­per auf der Spur. Ich den­ke doch, daß ihr al­le schon von Jack the Rip­per ge­hört habt. Wenn ich mich recht er­in­ne­re, war er zu sei­ner Zeit ein recht be­kann­ter Hals­ab­schnei­der …«

Er ki­cher­te, ehe er fort­fuhr: »Aus ir­gend­ei­nem Grun­de glaubt un­ser Wal­roß hier, daß Jack the Rip­per noch am Le­ben ist und in die­sen Ta­gen mit sei­nem Pfad­fin­der­mes­ser durch die Stra­ßen Chi­ca­gos schlen­dert. Um ge­nau zu sein –«, Bas­ton leg­te ei­ne be­deu­tungs­vol­le Pau­se ein, ehe er ein büh­nen­rei­fes Flüs­tern her­vors­tieß,«– um ge­nau zu sein, hat er Grün­de an­zu­neh­men, daß sich Jack the Rip­per heu­te – hier – in un­se­rer Mit­te auf­hält!«

Das er­war­te­te Ki­chern und Gluck­sen der Gäs­te blieb nicht aus. Bas­ton schau­te Ly­dia Dare be­deu­tungs­voll an. Dann deu­te­te er mit dem Zei­ge­fin­ger auf sie und sag­te grin­send: »Du brauchst gar nicht so laut zu la­chen. Wuß­test du nicht, daß Jack the Rip­per in Wirk­lich­keit auch ei­ne Frau sein kann? So ei­ne Art ›Jill the Rip­per‹.«

»Soll das hei­ßen, daß tat­säch­lich ei­ner von uns ver­däch­tigt wird?« kreisch­te La­Ver­ne Gon­nis­ter und lä­chel­te Sir Guy ein­fäl­tig an. »Aber ist die­ser Jack the Rip­per nicht seit Ewig­kei­ten ver­schwun­den? War das nicht so um 1888?«

»Aha!« gröl­te Bas­ton. »Jun­ge Da­me, wie kommt es, daß du so gut Be­scheid weißt? Das ist ja sehr ver­däch­tig! Be­hal­ten Sie sie im Au­ge, Sir Guy – viel­leicht ist sie nicht mehr ganz so jung, wie sie er­scheint. Die­se weib­li­chen Poe­ten ha­ben meist ei­ne dunkle Ver­gan­gen­heit!«

Die Span­nung war ge­wi­chen; die ei­gen­tüm­li­che Stim­mung war ver­flo­gen. Das Gan­ze war zu ei­nem ver­rück­ten Par­ty­scherz ge­wor­den.

Der Pia­nist fing wie­der an, das Kla­vier zu be­ar­bei­ten, La­Ver­ne Gon­nis­ter stieß John­ny Od­cutt in die Rip­pen, und Ly­dia Dare ließ sich von Bar­clay Mel­ton einen neu­en Drink mi­xen.

Les­ter Bas­ton nahm sei­nen Arm von Sir Guys Schul­tern und ließ ihn sin­ken. Da­bei streif­te er zu­fäl­lig einen har­ten Ge­gen­stand in Sir Guys Ta­sche.

»Wißt ihr was, Freun­de«, schrie er. »Un­ser Wal­roß hat ei­ne Ka­no­ne bei sich.«

Ehe es Sir Guy ver­hin­dern konn­te, hat­te der an­de­re die Pis­to­le aus sei­ner Ta­sche her­vor­ge­zo­gen.

Ver­rück­te Freun­de hin, ver­rück­te Freun­de her, ich hat­te das Ge­fühl, daß das Gan­ze an­fing, ent­schie­den zu weit zu ge­hen. Aber als mir Sir Guy jetzt einen ra­schen Blick zu­warf, er­in­ner­te ich mich an sei­ne Wor­te, daß ich mich durch nichts aus der Fas­sung brin­gen las­sen soll­te.

Dar­um misch­te ich mich auch nicht ein, als Bas­ton jetzt ei­ne ech­te Schnaps­idee vor­brach­te.

»Wir wol­len un­se­rem Freund, dem Wal­roß, ei­ne faire Chan­ce ge­ben«, gröl­te er. »Sir Guy hat in sei­ner Missi­on den wei­ten Weg von Eng­land zu un­se­rer Par­ty nicht ge­scheut. Da kei­ner von euch be­reit zu sein scheint, ein Ge­ständ­nis ab­zu­le­gen, wür­de ich vor­schla­gen, daß wir un­se­rem Freund die Chan­ce ge­ben, die Wahr­heit selbst her­aus­zu­fin­den, ei­ne Chan­ce, bei der es al­ler­dings um ›al­les oder nichts‹ geht.«

»Fa­bel­haf­te Idee«, grunz­te John­ny Od­cutt. »Aber kannst du dich nicht deut­li­cher aus­drücken?«

»Ich wer­de ei­ne Mi­nu­te lang das Licht aus­ma­chen. Sir Guy kann hier mit sei­nem Re­vol­ver in der Hand ste­hen­blei­ben. Falls ei­ner in die­sem Raum Jack the Rip­per sein soll­te, kann er sich ent­we­der aus dem Stau­be ma­chen oder aber die Ge­le­gen­heit beim Schop­fe fas­sen und – nun ja, sei­nen Ver­fol­ger mund­tot ma­chen. Ist das ein fai­rer Vor­schlag?«

Die­ser Vor­schlag war viel­leicht noch ver­rück­ter, als er im ers­ten Au­gen­blick klang, aber er ent­sprach ge­nau der Men­ta­li­tät der An­we­sen­den. Sir Guys Pro­tes­te gin­gen in dem Stim­men­ge­wirr un­ter. Und ehe ich vor­tre­ten konn­te, um ein paar pas­sen­de Wor­te zu sa­gen, stand Les­ter Bas­ton schon beim Licht­schal­ter.

»Und daß sich kei­ner von der Stel­le rührt«, warn­te er mit ge­spiel­tem Ernst. »Ei­ne Mi­nu­te lang wer­den wir im Dun­keln blei­ben. Viel­leicht wird uns ein Mör­der da­für dank­bar sein. Wäh­len Sie Ih­re Part­ner, mei­ne Da­men und Her­ren.«

Das Licht er­losch.

Ir­gend je­mand ki­cher­te.

Ich hör­te Schrit­te in der Dun­kel­heit.

Ei­ne männ­li­che Stim­me mur­mel­te et­was.

Ei­ne Hand fuhr über mein Ge­sicht.

Mei­ne Arm­band­uhr tick­te auf­rei­zend laut. Aber et­was war noch lau­ter; und das war das Po­chen mei­nes Her­zens.

Es war ab­surd. Ich stand hier im Dun­keln zwi­schen ei­nem Hau­fen an­ge­trun­ke­ner Nar­ren. Aber den­noch: Ei­ne fins­te­re Ah­nung schi­en die An­we­sen­den zu be­fal­len; ein un­ge­ahn­tes Grau­en er­füll­te die Dun­kel­heit.

Jack the Rip­per wähl­te für sei­ne Streif­zü­ge die­se Dun­kel­heit. Und Jack the Rip­per hat­te ein Mes­ser. Jack the Rip­per hat­te einen kran­ken Geist. Die Ta­ten be­wie­sen sei­nen Wahn­sinn.

Aber Jack the Rip­per war tot.

Nach mensch­li­chem Er­mes­sen muß­te sich sein Kör­per schon vor vie­len, vie­len Jah­ren in Staub ver­wan­delt ha­ben.

Aber die mensch­li­che Lo­gik und Ver­nunft las­sen uns im Stich, wenn uns die Dun­kel­heit mit al­ler Macht zum Be­wußt­sein kommt; wenn wir ah­nen, was die Dun­kel­heit al­les ver­ber­gen kann. Wenn die Mas­ken von den Ge­sich­tern fal­len und sich Ge­dan­ken und Ab­sich­ten ins Herz ein­schlei­chen, die so fins­ter wie die Dun­kel­heit sel­ber sind …

Sir Guy Hol­lis schrie auf.

Dem Schrei folg­te ein dump­fer Auf­schlag.

Als Les­ter Bas­ton das Licht an­ge­schal­tet hat­te, schri­en al­le auf.

Sir Guy Hol­lis lag mit­ten im Zim­mer auf dem Fuß­bo­den aus­ge­streckt. Sei­ne Hand um­klam­mer­te im­mer noch den Re­vol­ver.

Ich schau­te von ei­nem zum an­de­ren und staun­te, wie ver­schie­den die Aus­drucks­fä­hig­keit der Men­schen ist, wenn sie ei­nem grau­en­haf­ten Ge­sche­hen ge­gen­über­ste­hen.

Ich ver­miß­te kein Ge­sicht in der Run­de. Kei­ner war ge­flo­hen. Und Sir Guy Hol­lis lag am Bo­den …

La­Ver­ne Gon­nis­ter jam­mer­te und ver­barg ihr Ge­sicht in den Hän­den.

»Das wär’s!«

Sir Guy sprang auf und lä­chel­te.

»Das war ein klei­nes Ex­pe­ri­ment, mei­ne Freun­de. Wenn sich Jack the Rip­per un­ter Ih­nen be­fun­den hät­te und ge­dacht hät­te, ich sei er­mor­det wor­den, wür­de er sich, so­bald das Licht an­ging, ir­gend­wie ver­ra­ten ha­ben.

Ich bin jetzt von der Un­schuld je­des ein­zel­nen über­zeugt. Ich ha­be mir nur einen klei­nen Scherz er­laubt, mei­ne Freun­de.«

Bas­ton glotz­te Sir Guy an. Auch die an­de­ren schau­ten nicht ge­ra­de geist­reich drein.

»Wol­len wir ge­hen, John?« wand­te sich Sir Guy an mich. »Ich glau­be, es ist spät ge­wor­den.«

Als wir gin­gen, sag­te kei­ner ein Wort.

Ich kann mir nicht vor­stel­len, daß an die­sem Abend die Par­ty noch sehr lus­tig ge­wor­den ist.

 

Ich hat­te mich mit Sir Guy für den nächs­ten Abend an ei­ner Stra­ßen­e­cke von South Hals­ted ver­ab­re­det.

Nach den Er­eig­nis­sen der letz­ten Nacht war ich so ziem­lich auf al­les vor­be­rei­tet. Sir Guy stand in einen dunklen Haus­ein­gang ge­preßt und er­war­te­te mich be­reits.

»Buh!« mach­te ich und sprang plötz­lich auf ihn zu.

Er lä­chel­te. Aber sei­ne ra­sche Hand­be­we­gung ver­riet mir, daß er in­stink­tiv zur Waf­fe ge­grif­fen hat­te.

»Wir wol­len al­so jetzt das Phan­tom auf­spü­ren, nicht wahr?« frag­te ich mit lei­sem Lä­cheln.

»Ja«, nick­te er. »Ich bin Ih­nen sehr dank­bar, daß Sie auf die­se Ver­ab­re­dung ein­ge­gan­gen sind, oh­ne viel zu fra­gen. Das be­weist mir, daß Sie Ver­trau­en zu mei­nem Un­ter­neh­men ha­ben.« Er nahm mei­nen Arm und zog mich auf die Stra­ße. Wir gin­gen lang­sam wei­ter.

»Es ist heu­te sehr neb­lig, John«, mur­mel­te Sir Guy nach ei­ner Wei­le. »Wie in Lon­don …«

Ich nick­te.

»Für No­vem­ber ist es auch schon be­acht­lich kalt.«

Ich nick­te wie­der und schlug au­to­ma­tisch den Man­tel­kra­gen hoch.

»Selt­sam«, mur­mel­te Sir Guy ver­son­nen. »No­vem­ber und Lon­do­ner Ne­bel. Die Zeit und der Schau­platz der Rip­per-Mor­de.«

Ich grins­te ihn durch die Dun­kel­heit an. »Aber darf ich Sie dar­auf auf­merk­sam ma­chen, daß das hier Chi­ca­go und nicht Lon­don ist? Es ist au­ßer­dem nicht der No­vem­ber 1888. Wir schrei­ben das Jahr 1963.«

Sir Guy er­wi­der­te mein Grin­sen oh­ne Fröh­lich­keit. »Ich bin da nicht so ganz si­cher«, sag­te er lei­se. »Schau­en Sie sich doch nur ein­mal um. Die Gas­sen sind ge­nau­so eng und wink­lig und schmut­zig wie in East End. Und ganz ge­wiß sind sie fünf­und­sieb­zig Jah­re alt, wenn nicht äl­ter.«

»Aber wir sind nicht in East End, son­dern im Ne­ger­vier­tel in der South Clark Street«, be­merk­te ich tro­cken. »Und warum Sie mich in die­se gott­ver­las­se­ne Ge­gend ge­schleift ha­ben, ist mir im­mer noch nicht klar.«

»Es ist ei­ne fi­xe Idee von mir«, gab Sir Guy zu. »Oder nen­nen Sie es ei­ne Vor­ah­nung, John. Ich möch­te hier in die­ser Ge­gend her­um­strei­fen. Die Gas­sen hier glei­chen de­nen, in de­nen sich Jack the Rip­per her­um­trieb und mor­de­te, wie ein Ei dem an­de­ren. Ich glau­be dar­um, daß wir ihn hier fin­den wer­den. Er scheut das Licht. Er lau­ert sei­nen Op­fern in der Dun­kel­heit auf.«

»Ha­ben Sie des­halb wie­der Ih­ren Re­vol­ver bei sich?« Mei­ne Fra­ge soll­te sar­kas­tisch klin­gen, aber mei­ne Ner­vo­si­tät war nicht zu über­hö­ren. Sein gan­zes Ge­re­de, sei­ne Be­ses­sen­heit von sei­ner Ver­si­on über Jack the Rip­per gin­gen mir mehr auf die Ner­ven, als ich mir ein­ge­ste­hen woll­te.

»Wir wer­den die Waf­fe viel­leicht brau­chen kön­nen«, ver­kün­de­te Sir Guy mit erns­ter Stim­me. »Heu­te ist im­mer­hin die Nacht, in der er mor­den muß

Wir wan­der­ten durch die neb­li­gen, aus­ge­stor­be­nen Gas­sen. Hin und wie­der leuch­te­te ei­ne schwa­che Lam­pe über ei­ner fins­te­ren Knei­pe auf. An­sons­ten gab es nur Dun­kel­heit und Schat­ten.

Wir ar­bei­te­ten uns schwei­gend und ver­bis­sen durch den dich­ten Ne­bel wie zwei klei­ne Wür­mer durch ein Lei­chen­tuch.

Als mir die­ser Ver­gleich ein­fiel, zuck­te ich zu­sam­men. Die­se Um­ge­bung und die gan­ze Stim­mung mach­ten mir lang­sam auch zu schaf­fen. Wenn ich mich nicht zu­sam­men­riß, wür­de ich bald ge­nau­so spin­nen wie Sir Guy.

Ich zupf­te un­ge­dul­dig an sei­nem Man­te­l­är­mel. »Sie se­hen doch selbst, daß in die­sen Stra­ßen kei­ne Men­schen­see­le ist«, sag­te ich.

»War­ten Sie ab. Er muß kom­men, weil es ihn ein­fach hier­her­treibt. Ich baue dar­auf, daß ihn die­se Gas­sen ma­gisch an­zie­hen. Wenn er sei­ne Op­fer über­wäl­tigt hat, ge­sch­ah es im­mer in den Slums.

Sei­ne Vor­lie­be für den Schmutz ist ei­ne sei­ner großen Schwä­chen. Dar­über hin­aus sind die Frau­en, die er für sei­ne Op­fe­run­gen be­vor­zugt, in den Ka­schem­men oder Knei­pen der Elends­vier­tel leich­ter zu fin­den.«

Ich grins­te. »Wie wä­re es, wenn wir ei­ne die­ser Ka­schem­men oder Knei­pen auf­such­ten?« schlug ich vor. »Mir ist kalt, und ich ha­be das drin­gen­de Be­dürf­nis, mich in­ner­lich auf­zu­wär­men. Die­ser ver­damm­te Ne­bel geht ei­nem durch Mark und Bein. Ihr Eng­län­der seid da ja här­ter im Neh­men, aber mir ist war­mer Mief lie­ber als kal­ter Ozon.«

Nach ei­ni­gen hun­dert Me­tern schim­mer­te uns ein schwa­ches blau­es Licht durch die wei­ßen Ne­bel­wol­ken ent­ge­gen, das sich beim Nä­her­kom­men als ei­ne nack­te Bir­ne ent­pupp­te, die über dem Ein­gang ei­ner Knei­pe bau­mel­te.

»Ein Ver­such kann nicht scha­den«, mein­te ich. »Mir klap­pern lang­sam die Zäh­ne vor Käl­te.«

»Wenn Sie vor­ge­hen wol­len«, sag­te Sir Guy und trot­te­te hin­ter mir her. Vor der Ein­gangs­tür blieb ich einen Au­gen­blick ste­hen. »Wor­auf war­ten wir?« woll­te Sir Guy wis­sen.

»Ich will erst einen kur­z­en Blick hin­ein­wer­fen«, er­klär­te ich ihm. »In die­ser fins­te­ren Ge­gend kann man nie wis­sen, wo man hin­ein­ge­rät, Sir Guy. Ich ha­be kei­ne Lust, in einen Streit ver­wi­ckelt zu wer­den. In ei­ni­gen die­ser Ne­ger­knei­pen hat man et­was ge­gen wei­ße Gäs­te.«

»Gut, wenn man so et­was weiß«, mur­mel­te Sir Guy.

Ich schau­te durch die Tür. »Es scheint leer zu sein«, warf ich Sir Guy über die Schul­ter zu. »Wir wer­den es ver­su­chen.«

Wir be­tra­ten einen düs­te­ren, schmut­zi­gen und übel­rie­chen­den Raum. Über der The­ke fla­cker­te ein schwa­ches Licht, des­sen Schein je­doch nicht bis in die ein­zel­nen Ni­schen zu drin­gen ver­moch­te.

Hin­ter der The­ke fle­gel­te sich ein rie­si­ger Ne­ger, ein Ko­loß mit ei­nem her­vor­sprin­gen­den Kinn und ei­nem af­fen­ar­ti­gen Kör­per.

Er rühr­te sich nicht von der Stel­le. Aber ich sah, daß sich sei­ne Au­gen leicht ver­eng­ten, und wuß­te, daß er uns be­merkt hat­te und uns ab­schät­zend be­trach­te­te.

»’n Abend«, sag­te ich.

Er schi­en sein Ur­teil über uns noch nicht ab­ge­schlos­sen zu ha­ben, denn er ließ sich mit der Ant­wort Zeit. Aber dann ver­zog sich sein Mund zu ei­nem brei­ten Grin­sen, »’n Abend, die Her­ren. Was darf’s sein?«

»Gin«, sag­te ich. »Zwei Glas Gin. Die Nacht ist kalt.«

»Das stimmt, Herr.«

Er schenk­te ein, ich zahl­te und trug die Glä­ser zu ei­ner der Ni­schen. Wir leer­ten sie in ei­nem Zu­ge. Der Al­ko­hol rann an­ge­nehm wär­me­nd durch un­se­re Keh­len.

Dar­auf­hin ging ich zur The­ke und kauf­te die gan­ze Fla­sche. Wäh­rend Sir Guy und ich uns jetzt sel­ber ein­schenk­ten, ließ sich der ge­wal­ti­ge Ne­ger hin­ter der The­ke auf einen Stuhl fal­len und dös­te vor sich hin. Ein halb of­fe­nes wach­sa­mes Au­ge ruh­te al­ler­dings stän­dig auf uns.

Die Uhr über der The­ke tick­te. Wir hör­ten drau­ßen den Wind pfei­fen. Er nahm rasch an Stär­ke zu und zer­riß die dich­te Ne­bel­wol­ke in Schwa­den. Aber Sir Guy und mir konn­te er nichts an­ha­ben. Wir sa­ßen ge­bor­gen in un­se­rer war­men Ni­sche und tran­ken Gin.

Der Al­ko­hol lös­te Sir Guys Zun­ge. Er re­de­te un­auf­hör­lich.

Zu­nächst ein­mal er­zähl­te er mir all das, was ich schon lang­sam aus­wen­dig kann­te. Er er­zähl­te es so aus­führ­lich, als hät­te ich noch nie et­was da­von ge­hört. So sind die ar­men Teu­fel eben, die von ei­ner Idee be­ses­sen sind.

Ich hör­te ihm ge­dul­dig zu. Ich schenk­te ihm noch einen Gin ein. Und noch einen.

Aber der Re­de­strom brach nicht ab. Ganz im Ge­gen­teil. Er stei­ger­te sich im­mer mehr in die­ses The­ma hin­ein. Er äu­ßer­te sich lang und breit über ri­tu­el­le Mor­de und über die un­na­tür­li­che Ver­län­ge­rung des Le­bens. Und na­tür­lich wie­der­hol­te er pau­sen­los, daß er über­zeugt wä­re, daß sich Jack the Rip­per heu­te nacht in die­sen Gas­sen her­um­trei­be.

Es wä­re bes­ser ge­we­sen, ihn nicht wei­ter an­zu­spor­nen, aber ich konn­te es mir nicht ver­knei­fen.

»Al­les schön und gut«, sag­te ich und konn­te nicht ver­hin­dern, daß mei­ne Stim­me et­was un­ge­dul­dig klang. »Wenn wir ein­mal an­neh­men, daß Ih­re Theo­rie stimmt wo­bei wir al­ler­dings je­de mensch­li­che Ver­nunft au­ßer acht las­sen müs­sen –, aber neh­men wir ein­mal der Dis­kus­si­on als sol­cher zu­lie­be an, daß Sie recht ha­ben. Dann ist al­so Jack the Rip­per der Mensch, der ent­deckt hat, daß man sein Le­ben durch Blu­top­fer ver­län­gern kann. Dann reist er – wie Sie glau­ben – in der Welt­ge­schich­te her­um und hält sich zur Zeit mit Mord­ab­sich­ten hier in Chi­ca­go auf. Mit an­de­ren Wor­ten, neh­men wir ein­mal an, daß Ih­re Theo­rie in al­len Punk­ten mit der Wirk­lich­keit über­ein­stimmt … Na und?«

»Was ›na und‹?« frag­te Sir Guy.

»Ge­nau das: na und?« ant­wor­te­te ich. »Wenn das al­les wahr sein soll­te – müß­te man es be­wei­sen. Das kann man kaum, wenn man in ei­ner schmie­ri­gen Knei­pe sitzt und ei­ne Gin­fla­sche vor sich hat. Die Chan­cen, daß sich Jack the Rip­per hier eben­falls auf­wär­men will und Sie ihn dann der Po­li­zei über­ge­ben kön­nen, sind sehr ge­ring. Bei die­ser Vor­stel­lung fällt mir ein, daß ich nicht die lei­ses­te Ah­nung ha­be, was Sie mit ihm an­stel­len wür­den, wenn Sie ihn wirk­lich fän­den.«

Sir Guy leer­te sein Glas. »Ich wür­de die­ses blu­ti­ge Schwein fest­neh­men«, stieß er her­vor. »Dann wür­de ich ihn zu­sam­men mit al­len Do­ku­men­ten und Be­wei­sen, die ich in lan­gen Jah­ren ge­sam­melt ha­be, der Po­li­zei über­ge­ben. Ich ha­be für die Nach­for­schun­gen ein Ver­mö­gen aus­ge­ge­ben. Glau­ben Sie mir: ein Ver­mö­gen! Ich bin über­zeugt da­von, daß durch sei­ne Ge­fan­gen­nah­me Hun­der­te von un­auf­ge­klär­ten Ver­bre­chen auf­ge­klärt wür­den.

Glau­ben Sie mir doch, daß ein ver­rück­tes Un­ge­heu­er heu­te noch frei her­um­läuft; ein zeit­lo­ses Un­ge­heu­er, das der Mond­göt­tin He­ka­te Men­schen­op­fer ent­ge­gen­bringt!«

In vi­no ve­ri­tas? Oder hat­te er ein­fach zu­viel Gin ge­trun­ken? Mir war es egal. Ich füll­te sein Glas wie­der und sann dar­über nach, was ich mit ihm ma­chen soll­te. Eins stand fest: Sir Guy Hol­lis war sturz­be­trun­ken.

Wäh­rend ich nach­dach­te, frag­te ich ihn: »Eins müs­sen Sie mir noch er­klä­ren. Wes­halb glau­ben Sie ei­gent­lich, daß Ih­nen Jack the Rip­per über den Weg läuft?«

»Er wird es! Ich weiß es!« mur­mel­te Sir Guy. »Ich bin ein See­len­for­scher.«

Das moch­te sein. Aber im Au­gen­blick war er nichts wei­ter als ein rühr­se­li­ger Be­trun­ke­ner, des­sen Ge­sicht im­mer mehr ver­fiel. Er sah sehr alt aus.

Ich wur­de wü­tend. Ich hat­te lang­sam von die­ser Ge­schich­te end­gül­tig die Na­se voll. Seit ei­ner Stun­de sa­ßen wir hier, und ich war ge­zwun­gen, für einen se­ni­len, sab­beln­den Idio­ten die Rol­le ei­ner Kran­ken­schwes­ter zu spie­len. Und das auch noch, ob­wohl er nicht ein­mal ein rich­ti­ger Pa­ti­ent von mir war!

»Jetzt langt es«, sag­te ich und streck­te die Hand aus, als Sir Guy er­neut nach der Fla­sche grei­fen woll­te. »Sie ha­ben weiß Gott ge­nug ge­trun­ken. Ich möch­te Ih­nen statt des­sen einen Vor­schlag ma­chen. Wir soll­ten uns ei­ne Ta­xe be­stel­len und hier ver­schwin­den. Es ist schon spät, und es sieht nicht so aus, als ob un­ser un­be­kann­ter Freund noch auf­tau­chen wür­de. Und mor­gen wür­de ich an Ih­rer Stel­le die gan­zen Do­ku­men­te und Pa­pie­re dem F.B.I. über­ge­ben. Wenn Sie die Leu­te dort von Ih­rer Idee über­zeu­gen kön­nen, wer­den sie nicht eher ru­hen, bis sie Ih­ren Mann ge­fun­den ha­ben.«

»Nein.« Sir Guy war so hals­star­rig wie al­le Be­trun­ke­nen. »Kei­ne Ta­xe.«

Nach ei­nem Blick auf die Uhr säg­te ich ein­dring­lich: »Wir wer­den aber auf al­le Fäl­le ge­hen. Es ist schon weit nach Mit­ter­nacht.«

Er seufz­te und zuck­te die Ach­seln. Dann er­hob er sich schwan­kend. Als er mit un­si­che­ren Schrit­ten auf die Tür zu­ging, zerr­te er sei­nen Re­vol­ver aus der Ta­sche.

»Ge­ben Sie mir das Ding«, zi­schel­te ich ihm zu. »So kön­nen Sie doch nicht durch die Stra­ße lau­fen.«

Ich nahm ihm den Re­vol­ver aus der Hand und ließ ihn in mei­ner Man­tel­ta­sche ver­schwin­den. Dann pack­te ich sei­nen rech­ten Arm und führ­te ihn an die fri­sche Luft. Der Ne­ger schau­te nicht auf, als wir gin­gen.

Wir stan­den auf der Stra­ße und fro­ren. Der Ne­bel war in­zwi­schen noch dich­ter ge­wor­den. Man konn­te kei­ne drei Schrit­te weit se­hen. Es war kalt, feucht und stock­fins­ter. Trotz des Ne­bels war der Wind ge­blie­ben. Er flüs­ter­te den Schat­ten hin­ter uns sei­ne Ge­heim­nis­se zu.

Die fri­sche Luft wirk­te auf Sir Guy ge­nau­so, wie ich es er­war­tet hat­te. Ei­ne Gin­fah­ne ver­trug sich nun ein­mal nicht gut mit Ne­bel. Er tor­kel­te ne­ben mir her, als ich ihn lang­sam durch die di­cke Sup­pe führ­te.

Sir Guy blick­te trotz sei­ner Be­trun­ken­heit an­ge­spannt nach al­len Sei­ten, als er­war­te er, daß ein We­sen aus dem Nichts auf­tau­chen wür­de.

Lan­ge konn­te ich mir das nicht schwei­gend an­se­hen.

»Sei­en Sie nicht kin­disch«, schnauz­te ich ihn an. »Sie und Ihr Jack the Rip­per! Sie ge­hen mit Ih­rem Hob­by ein biß­chen zu weit!«

»Hob­by?« Er wand­te mir sein Ge­sicht zu. Durch den Ne­bel hin­durch sah ich, wie ver­zerrt es war. »Sie nen­nen das ein Hob­by?«

»Wie soll­te ich es sonst nen­nen?« brumm­te ich. »Wenn es kein Hob­by ist, müß­ten Sie ei­ne Er­klä­rung da­für ha­ben, wes­halb Sie so sehr dar­an in­ter­es­siert sind, den ge­heim­nis­vol­len Mör­der zur Stre­cke zu brin­gen.«

Sein Blick war jetzt so starr, daß ich mich un­be­hag­lich fühl­te.

Sei­ne Stim­me sank zu ei­nem hei­se­ren Flüs­tern her­ab. »Eins der Mäd­chen … die 1888 in Lon­don … Jack the Rip­per zum … Op­fer fie­len … war mei­ne Mut­ter!«

»Was?«

»Mein Va­ter hat mich spä­ter an­er­kannt und mir sei­nen Na­men ge­ge­ben. Wir ha­ben uns ge­schwo­ren, un­ser Le­ben der Su­che nach Jack the Rip­per zu wid­men. Zu­erst hat sich mein Va­ter auf die Su­che ge­macht. Er starb 1926 in Hol­ly­wood – als er Jack the Rip­per auf die Spur ge­kom­men war. Es heißt, daß er bei ei­nem Kra­wall von ei­nem Un­be­kann­ten nie­der­ge­sto­chen wor­den sei. Aber ich weiß, wer der Un­be­kann­te war.

Ich ha­be dann sei­ne Su­che fort­ge­führt. Ich ha­be nur für die­se Auf­ga­be ge­lebt. Und ich wer­de nicht eher ru­hen, bis ich Jack the Rip­per ge­fun­den und ihn mit mei­nen ei­ge­nen Hän­den um­ge­bracht ha­be.

Er hat mei­ner Mut­ter und un­zäh­li­gen an­de­ren das Le­ben ge­nom­men, um sein ei­ge­nes teuf­li­sches Da­sein zu ver­län­gern. Er hat sich wie ein Vam­pir von dem Blut an­de­rer ge­mä­s­tet. Er ist heim­tückisch und teuf­lisch lis­tig. Aber ich wer­de nicht ru­hen, bis ich ihn ge­fun­den ha­be. Nie­mals!«

Ich glaub­te ihm. Er wür­de nie­mals auf­ge­ben. Er war jetzt al­les an­de­re als ein plap­pern­der Be­trun­ke­ner. Er war so fa­na­tisch, so ziel­be­wußt und so un­barm­her­zig wie Jack the Rip­per selbst.

Mor­gen wür­de er wie­der nüch­tern sein. Er wür­de die Su­che fort­set­zen. Viel­leicht wür­de er sei­ne Un­ter­la­gen wirk­lich dem F.B.I. über­ge­ben. Frü­her oder spä­ter wür­de sei­ne Be­harr­lich­keit zum Ziel füh­ren. Im Un­ter­be­wußt­sein hat­te ich von An­fang an ge­wußt, daß er ein Mo­tiv ha­ben müß­te.

»Wir wol­len wei­ter­ge­hen«, mur­mel­te ich und griff wie­der nach sei­nem Arm.

»Einen Mo­ment«, sag­te Sir Guy. »Ge­ben Sie mir bit­te mei­nen Re­vol­ver wie­der.« Er tau­mel­te leicht. »Ich füh­le mich mit ei­ner Waf­fe woh­ler.«

Er dräng­te mich in den tie­fen Schat­ten ei­ner Tor­ein­fahrt.

Ich ver­such­te, ihn bei­sei­te zu schie­ben, aber er war hart­nä­ckig.

»Ich möch­te den Re­vol­ver ha­ben, John«, mur­mel­te er.

»Al­so gut«, er­wi­der­te ich.

Ich griff in mei­ne Ta­sche und nahm die Hand wie­der her­aus.

»Aber das ist nicht mein Re­vol­ver«, stot­ter­te er. »Das ist ein Mes­ser.«

»Ich weiß.«

Ich über­wäl­tig­te ihn mü­he­los.

»John!« schrie er.

»Ver­ges­sen Sie den ›John‹«, flüs­ter­te ich und hob das Mes­ser. »Nen­nen Sie mich ein­fach … Jack.«