Ihr sehr ergebener
Jack the Ripper
Ich schaute diesen Bilderbuch-Engländer an. Er schaute mich an.
»Sir Guy Hollis?« fragte ich.
»Ganz recht. Habe ich das Vergnügen, mit John Carmody, dem Psychiater, zu sprechen?«
Ich nickte. Meine Augen glitten über die Gestalt meines distinguierten Besuchers. Er war groß und hager, hatte strohblondes Haar und den traditionellen buschigen Schnurrbart. Selbstverständlich trug er einen Tweedanzug. Ich hatte ihn in Verdacht, daß er in seiner Westentasche ein Monokel verbarg, und fragte mich, ob er seinen Stockschirm im Vorzimmer gelassen hatte.
Aber vor allen Dingen fragte ich mich, was, zum Teufel, Sir Guy Hollis von der Britischen Botschaft veranlaßt haben könnte, einen völlig fremden Psychiater hier in Chicago aufzusuchen.
Es wurde mir auch nicht klar, als Sir Guy Hollis Platz genommen hatte. Er räusperte sich, sah sich nervös um und klopfte seine Pfeife an der Seite meines Schreibtisches aus.
»Mr. Carmody«, begann er dann hastig. »Haben Sie schon einmal etwas von – Jack the Ripper gehört?«
»Sie meinen den Mörder?«
»Ja, den Mörder. Das größte Ungeheuer aller Zeiten. Seine Taten stellten die von Dr. Crippen und Springheel-Jack in den Schatten. Jack the Ripper! Der ›rote Jack‹!«
»Ich habe von ihm gehört«, sagte ich.
»Kennen Sie seine Geschichte?«
»Sind Sie zu mir gekommen, Sir Guy«, brummte ich ärgerlich, »um mit mir über die berühmten Verbrechen der Vergangenheit zu tratschen?«
Er warf mir einen vernichtenden Blick zu und holte tief Luft.
»Das ist kein Tratsch«, stieß er hervor. »Das ist eine Sache auf Leben und Tod!«
In seine Augen trat ein Zug von Besessenheit.
Ich seufzte innerlich. Vielleicht war das sein Tick. Ich würde ihm also zuhören. Wir Psychiater werden schließlich dafür bezahlt, daß wir zuhören.
»Also gut«, nickte ich, »schießen Sie los.«
»London 1888«, begann er, und seine Gedanken schienen sich in der Vergangenheit zu verlieren. »Es ging vom Spätsommer bis zum frühen Herbst. Aus dem Nebel, aus dem Nichts tauchte Jack the Ripper auf. Ein Schatten mit einem Messer in der Hand; ein Schatten, der den Osten von London unsicher machte. Eine besondere Vorliebe hatte er für die schmutzigen Gassen in Whitechapel und Spitalfields. Keiner wußte, woher er kam. Aber er brachte den Tod. Den Tod mit dem Messer.
Sechsmal durchschnitt dieses Messer die Kehlen von Londoner Frauen und zerstückelte ihre Körper. Meist waren es Huren und leichte Mädchen, die ihm zum Opfer fielen. Am 7. August zerfleischte er die erste Frau. Als man sie fand, wies ihr Körper neununddreißig Stichwunden auf. Er war ein grausamer Mörder. Am 31. August mußte sein nächstes Opfer das Leben lassen. Die Presse wurde auf sein Treiben aufmerksam. Aber die Bewohner der Slums interessierten sich fast noch mehr für ihn.
Wer war dieser unbekannte Mörder, der unter ihnen leben mußte und in ihren Straßen zu mitternächtlicher Stunde wütete? Und was noch wichtiger war: Wann würde er das nächstemal zuschlagen?
Er tat es am 8. September. Scotland Yard arbeitete auf vollen Touren. Die Gerüchte vermehrten sich und verbreiteten sich mit rasender Geschwindigkeit. Es waren nicht so sehr die Morde selbst als die Grausamkeit, mit der sie ausgeführt wurden, die die Menschen beschäftigte.
Der Mörder benutzte sein Messer mit absoluter Perfektion. Er schnitt die Kehlen durch und trennte dann bei seinen toten Opfern gewisse Körperteile ab. Er suchte seine Opfer und den Zeitpunkt der Tat mit teuflischem Bedacht aus. Kein Mensch sah oder hörte etwas. Aber dann stolperten die Polizisten auf ihrer Runde über die zerstückelten menschlichen Überreste, die ein neues Werk von Jack the Ripper waren.
Wer war er? Was war er? Ein verrückter Chirurg? Ein Schlächter? Ein wahnsinniger Wissenschaftler? Ein Entlaufener aus dem Irrenhaus? Ein degenerierter Adliger? Ein Mitglied der Polizei?
Dann erschien in den Zeitungen ein kleiner Reim von einem unbekannten Verfasser.
Ich bin kein Schlächter und kein Mann der Gosse,
Kein Jude, Neger oder Kohlenschipper,
Ich bin nichts weiter als ein lieber Zeitgenosse.
Ihr sehr ergebener Jack the Ripper.
Mit dem Abdruck dieses Verses sollten die letzten Ereignisse bagatellisiert werden, aber die Wirkung auf die Leser war gerade umgekehrt. Die Menschen wurden nur noch verstörter.
Und am 30. September wurden zwei weitere Kehlen durchschnitten.«
Ich rutschte ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her und hatte das dringende Bedürfnis, den Redeschwall Sir Guys kurz zu unterbrechen.
»Sehr interessant«, murmelte ich, aber ich glaube, der Sarkasmus in meiner Stimme war nicht zu überhören.
Er zuckte leicht zusammen. Aber dann fuhr er unbeirrt mit seiner Erzählung fort.
»Danach herrschte in London für eine Weile Ruhe. Aber es war die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Wann würde der ›rote Jack‹ wieder zuschlagen? Der ganze Oktober verging, ohne daß etwas geschah. Aber die Angst war nicht von den Menschen gewichen. Jeder Schatten im Nebel konnte Jack the Ripper sein. Er konnte überall und zu jeder Zeit auf sein nächstes Opfer lauern. Der November kam und mit ihm der rauhe Wind. Londons Straßenmädchen zitterten. Aber sie zitterten nicht nur vor Kälte. Sie atmeten immer erleichtert auf, wenn der nächste Morgen anbrach.
9. November. Sie fanden sie in ihrem Zimmer. Sie lag sehr ruhig und ordentlich auf dem Fußboden ausgestreckt. Und neben ihren Körper hatte man ebenfalls mit pedantischer Ordentlichkeit ihren Kopf und ihr Herz gelegt. Jack the Ripper hatte sich selbst überboten.
Als dieser Mord bekannt wurde, erreichte die Panik ihren Höhepunkt. Aber die Panik war unnötig. Die Presse, die Polizei und die Bevölkerung warteten voller Entsetzen auf die nächste Bluttat – aber Jack the Ripper schlug nicht mehr zu.
Monate vergingen. Als ein Jahr um war, war zwar die Furcht von den Menschen gewichen, aber die Erinnerung blieb. Man sprach davon, daß sich Jack nach Amerika abgesetzt hätte. Andere wollten wissen, daß er Selbstmord begangen hat. Bis zum heutigen Tage wird über Jack gesprochen und geschrieben. Es gibt tausend Theorien, Vermutungen, Kommentare und Abhandlungen. Aber trotz allem weiß kein Mensch, wer Jack the Ripper war. Oder warum er mordete. Oder warum er aufgehört hat, zu morden.«
Sir Guy schwieg. Er erwartete offensichtlich eine Äußerung von mir.
»Sie haben die Geschichte gut erzählt«, sagte ich schließlich. »Wenn auch mit einem gewissen gefühlsmäßigen Vorurteil.«
»Ich habe mir alle Unterlagen beschafft«, sagte Sir Guy Hollis. »Und ich habe das ganze Material sorgfältig studiert.«
Ich stand auf und tat so, als müßte ich ein Gähnen unterdrücken. »Mir hat Ihre kleine Geschichte sehr gefallen, Sir Guy. Ich finde es sehr nett von Ihnen, daß Sie Ihre Pflichten bei der Britischen Botschaft vernachlässigt haben, um einen armen Psychiater mit Ihren Anekdoten zu erfreuen.«
Er warf mir einen raschen Seitenblick zu.
»Ich nehme an, Sie wollen wissen, weshalb mich diese Geschichte so sehr interessiert, nicht wahr?« fragte er, und seine Stimme klang etwas heiser.
»Ja, das möchte ich wirklich wissen. Wieso interessiert Sie das?«
»Weil«, erwiderte Sir Guy Hollis langsam und ließ jedes Wort auf der Zunge zergehen, »weil ich jetzt auf der Spur von Jack the Ripper bin. Ich glaube, daß er sich hier aufhält. Hier, in Chicago!«
Ich ließ mich auf den Stuhl fallen. »Sagen Sie das noch einmal«, stotterte ich.
»Jack the Ripper lebt! Hier in Chicago! Und ich werde ihn finden!«
»Moment – Moment mal«, sagte ich. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?«
Er lachte nicht. Er machte keinen Spaß.
»Wann, sagten Sie, haben die Morde stattgefunden?« fragte ich eindringlich.
»Von August bis November 1888.«
»1888? Da man mit Sicherheit annehmen kann, daß Jack the Ripper zum Zeitpunkt seiner Morde ein ausgewachsener Mann war, muß er längst tot sein. Menschenskind, selbst wenn er 1888 geboren wäre, müßte er heute fünfundsiebzig Jahre alt sein!«
Sir Guy Hollis Lippen kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln. »Müßte er? Könnte man nicht genauso sagen: müßte sie? Jack the Ripper kann doch auch eine Frau gewesen sein – oder nicht? Vielleicht waren es auch mehrere Personen –«
»Sir Guy«, sagte ich milde. »Sie haben gut daran getan, zu mir zu kommen. Es besteht kein Zweifel, daß Sie die Hilfe eines Psychiaters brauchen.«
»Wer weiß … Haben Sie das Gefühl, Mr. Carmody, daß ich verrückt bin?«
Ich schaute ihn an und zuckte die Achseln. Aber eine direkte Frage verlangte eine direkte Antwort.
»Offengestanden – nein.«
»Dann darf ich Ihnen vielleicht erklären, weshalb ich annehme, daß Jack the Ripper immer noch am Leben ist …«
»Also gut.«
»Ich beschäftige mich seit dreißig Jahren mit diesem Fall. Ich habe die Tatorte aufgesucht. Ich habe mich bei den maßgebenden Behörden informiert, und ich habe mich mit den Freunden und Bekannten der armen Mädchen, die umgebracht worden sind, unterhalten. Die ganze Nachbarschaft habe ich zusammengetrommelt. Das Material, das ich über Jack the Ripper zusammengetragen habe, dürfte absolut vollständig sein. Keine Theorie oder Ansicht konnte so verrückt sein, daß ich mich nicht mit ihr beschäftigt hätte.
Es ist klar, daß ich mir danach mein eigenes Bild über den Fall gemacht habe. Aber keine Bange – ich werde Sie nicht mit meinen Theorien und Schlußfolgerungen langweilen.
Abgesehen von dem Ripper-Fall interessiert mich jedes unaufgeklärte Verbrechen, jeder nicht geklärte Mordfall. Nennen Sie es ein Hobby oder einen Tick von mir. Wie dem auch sei, ich beschäftige mich seit Jahren mit der Kriminologie.
Ich könnte Ihnen meine Sammlung von Zeitungsausschnitten zeigen. Sie stammen aus den größten Städten der Welt. Shanghai, Kalkutta, San Francisco, Paris, Berlin, Madrid, Kairo, Mailand … um nur einige zu nennen.
Viele der unaufgeklärten Morde haben eines gemeinsam: Soweit es sich bei den Opfern um Frauen handelte, wurden sie mit durchschnittenen Kehlen aufgefunden. Ihre Körper waren grausam verstümmelt. Ich habe intensiv diese blutige Spur verfolgt. Sie führte von New York nach Westen, quer durch den ganzen Kontinent. Dann zum Pazifik, und von dort aus nach Afrika. Während des ersten Weltkrieges verlor sie sich in Europa, danach tauchte sie in Südamerika auf und führte 1930 wieder in die Vereinigten Staaten. Und hier läßt sie sich bis auf den heutigen Tag weiterverfolgen. Im ganzen sind es achtundsiebzig Morde. Jeder geschulte Kriminologe müßte sie für das Werk Jack the Rippers halten.
Erinnern Sie sich an die Schaudergeschichten aus Cleveland, die vor kurzem durch die ganze Presse gingen? Denen zufolge ein weiblicher Torso nach dem anderen aufgefunden wurde? Es war eine grauenhafte Mordserie. Danach folgten jetzt zwei Morde hier in Chicago. Und alle wiesen dieselbe Technik auf. Soll das vielleicht ein Zufall sein? Glauben Sie mir: All diese Morde gehen auf das Konto von Jack the Ripper!«
»Eine lückenlose Theorie«, sagte ich. »Ich will Ihre Beweise und Schlußfolgerungen nicht in Frage stellen, denn Sie sind der Kriminologe, während ich nur ein Psychiater bin. Aber es gibt etwas, was Sie mir noch erklären müssen. Nur eine Kleinigkeit – aber man sollte es doch nicht außer acht lassen …«
»Und das wäre?« fragte Sir Guy. »Wie sollte ein Mann von – sagen wir – fünfundneunzig Jahren in der Lage sein, diese Verbrechen zu begehen? Denn wenn wir davon ausgehen, daß Jack the Ripper 1888 zwanzig Jahre alt war, müßte er heute fünfundneunzig sein.«
Sir Guy Hollis schwieg.
Na also, dachte ich, damit hätten wir ihn wohl …
Aber weit gefehlt!
»Nehmen Sie einmal an, er ist nicht älter geworden«, flüsterte Sir Guy.
»Wie soll ich das nun wieder verstehen?«
»Können Sie sich nicht vorstellen, daß Jack the Ripper nicht älter geworden ist? Können Sie sich nicht vorstellen, daß er heute immer noch ein junger Mann ist?«
»Nun ja«, seufzte ich, »ich werde es mir einen Augenblick lang vorstellen. Danach werde ich die Schwester rufen und Ihnen eine Zwangsjacke anlegen lassen.«
»Ich meine es völlig ernst«, sagte Sir Guy bestimmt.
Ich nickte. »Sie meinen es alle völlig ernst. Das ist ja der Jammer. Sie sind alle überzeugt davon, die Stimmen zu hören und die Dämonen zu sehen. Aber sie gehören alle – ohne Ausnahme – in eine Anstalt.«
Das war grausam von mir, aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Er erhob sich und schaute mich fest an.
»Ich weiß selber, daß das eine verrückte Theorie ist«, sagte er.
»Aber vergessen Sie nicht, daß alle Theorien über Jack the Ripper verrückt sind. Die Begründungen, weshalb er ein Arzt oder ein Wahnsinniger oder eine Frau gewesen sein soll, sind fadenscheinig genug. Warum also sollte meine Theorie unglaubwürdiger sein als die anderen?«
Ich hob die Schultern. »Ganz einfach darum, weil die Menschen älter werden«, erwiderte ich. »Auch Ärzte, Verrückte und Frauen werden älter.«
»Und was ist mit Zauberern?«
»Zauberern?«
»Ja, Zauberer. Oder Hexenmeister, wenn Ihnen das besser gefällt, oder Wesen, die die Schwarze Magie ausüben.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Im Zusammenhang mit den Morden habe ich mich auch eingehend mit den Daten befaßt, an denen sie verübt wurden. Dabei habe ich festgestellt, daß sie einem gewissen Rhythmus unterworfen sind, einem Rhythmus, der im Zusammenhang mit dem Sonnen- und Mondsystem und den Sternbildern steht. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß die Morde eine astrologische Bedeutung haben.«
Dieser Mann war verrückt. Darüber konnte kein Zweifel bestehen. Aber ich hörte ihm weiter zu.
»Nehmen Sie einmal an, daß Jack the Ripper nicht nur aus Freude am Töten mordete. Vielleicht wollte er – ein Opfer darbringen …«
»Was für ein Opfer?«
Sir Guy zuckte die Achseln. »Man sagt, daß die dunklen Mächte dem eine Gunst erweisen, der ihnen ein Blutopfer darbringt. Und wenn das Blutopfer zur rechten Zeit – wenn der Mond und die Sterne in einem gewissen Verhältnis zueinander stehen – und mit der rechten Zeremonie dargebracht wird, gewähren die schwarzen Götter die Gnade der Jugend. Der ewigen Jugend.«
»Das ist doch dummes Zeug!«
»Nein. Das erklärt das Phänomen Jack the Ripper!«
Ich stand auf. »Das ist zweifellos die interessanteste Theorie, die ich je gehört habe«, sagte ich. »Aber können Sie mir erklären, weshalb Sie zu mir gekommen sind und mir die Geschichte erzählt haben, Sir Guy? Ich bin weder für Zauberkräfte zuständig noch bin ich ein Kriminologe. Ich bin ein praktizierender Psychiater. Ich wüßte nicht, was ich für Sie tun könnte –«
Sir Guy lächelte.
»Aber Ihr Interesse ist geweckt, nicht wahr?«
»Nun ja – schon – aber …«
»Ich wollte mich erst vergewissern, ob Sie interessiert sind, ehe ich Ihnen meinen Plan erzähle.«
»Und – was schwebt Ihnen vor?«
Sir Guy warf mir einen langen Blick zu, ehe er feierlich verkündete: »Mr. Carmody – Sie und ich werden Jack the Ripper fassen.«
So kam diese Geschichte ins Rollen.
Ich hielt es für notwendig, dieses erste Gespräch mit Sir Guy Hollis in allen Einzelheiten wiederzugeben. Wenn Ihnen auch manches langweilig vorgekommen sein mag, so trägt meine ausführliche Schilderung doch dazu bei, daß Sie sich ein genaues Bild von Sir Guys Charakter und seinen Ansichten machen können. Und im Hinblick auf das weitere Geschehen …
Aber das werden Sie selbst sehen.
Sir Guys Plan war sehr simpel.
Bei genauer Betrachtung war es noch gar kein fest umrissener Plan. Es war mehr ein Versuch aufs Geratewohl.
»Ich weiß, mit welchen Leuten Sie verkehren«, sagte er. »Ich habe mich vorher genau erkundigt. Und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich glaube, daß Sie der geeignete Mann für meine Zwecke sind. Ihr Bekanntenkreis besteht zum größten Teil aus Schriftstellern, Malern und Poeten, mit einem Wort: den sogenannten Intellektuellen. Die hundertzehnprozentigen Bohemiens.
Es würde zu weit führen, Ihnen das zu erklären, aber ich habe meine Gründe dafür, anzunehmen, daß Jack the Ripper Mitglied dieser Gesellschaftsklasse ist. Er hat sich entschlossen, die Rolle eines Exzentrikers zu spielen. Ich habe einfach das Gefühl, daß ich, wenn ich mich Ihnen anschließen darf und Sie mich bei diesen Leuten einführen, auf die Person, die ich suche, stoßen könnte.«
»Mir soll es recht sein«, sagte ich. »Aber wie wollen Sie Jack the Ripper herausfinden? Sie sagten doch selbst, er kann überall und jeder sein. Und Sie haben keine Ahnung, wie er aussieht. Er kann jung oder alt sein. Er kann jede Art von Beruf haben. Vielleicht ist es ein reicher Mann, ein armer Mann, ein Bettler, ein Dieb, ein Arzt, ein Rechtsanwalt – wie wollen Sie ihn erkennen?«
»Das wird sich herausstellen.« Sir Guy seufzte schwer. »Auf alle Fälle muß ich ihn finden. Und zwar sofort.«
»Warum diese Eile?«
Sir Guy seufzte wieder. »Weil er übermorgen wieder einen Mord begehen wird.«
»Sind Sie sicher?«
»Das ist genauso sicher wie das Sternbild, das in zwei Tagen am Himmel erscheinen wird. Ich sagte Ihnen ja schon, daß alle Morde mit einem gewissen astrologischen Rhythmus übereinstimmen. Es ist für einen Laien ein kompliziertes System, aber wenn man sich, so wie ich, jahrelang damit beschäftigt hat, kommt man dahinter. Und wenn ich mit meiner Vermutung recht habe, daß er Blutopfer darbringt, um seine Jugend zu erneuern, dann muß er einfach in zwei Tagen jemanden töten. Darum muß ich ihn irgendwie vorher finden.«
»Und wie stellen Sie sich meine Hilfe vor?«
»Führen Sie mich herum. Nehmen Sie mich zu Parties mit. Stellen Sie mich ihren Freunden vor.«
»Aber bei wem soll man anfangen? Abgesehen davon, daß meine Freunde das Exzentrische lieben, sind sie ganz normale Bürger.«
»Das gleiche trifft für Jack the Ripper zu. Ein ganz normaler Bürger. Mit Ausnahme gewisser Nächte …« In Sir Guys Augen trat wieder der abwesende Blick. »Dann verwandelt er sich in ein zeitloses, krankhaft veranlagtes Ungeheuer, das mit seinem Messer durch die Gassen schleicht, um unter einem gewissen Sternbild ein Menschenleben zu opfern.«
»Schon gut, schon gut«, beeilte ich mich zu sagen. »Sie können mich heute abend begleiten, Sir Guy. Ich würde sowieso zu irgendeiner Party gehen. Nach allem, was ich heute nachmittag von Ihnen zu hören bekommen habe, habe ich das dringende Bedürfnis, einige Drinks zu mir zu nehmen.«
Nach kurzem Überlegen entschloß ich mich für Lester Bastons Studio.
Als uns der Fahrstuhl surrend in das Dachgeschoß brachte, hielt ich es für zweckmäßig, Sir Guy zu warnen.
»Baston ist ein echter Spinner«, sagte ich eindringlich. »Und seine Gäste sind nicht viel anders. Man kann nie wissen, was ihnen plötzlich durch den Kopf schießt.« Ich zuckte die Achseln. »Sie wollten es so, Sir Guy, aber Sie müssen auf alles gefaßt sein.«
»Das bin ich auch«, erwiderte Sir Guy mit todernstem Gesicht. Er griff in seine Hosentasche und brachte einen Revolver zutage.
Ich schnappte nach Luft. »Was, zum Teufel –«, begann ich.
»Sie sehen, daß ich wirklich auf alles gefaßt bin.« Sir Guys Lächeln war ohne Humor.
»Aber, Mann Gottes, Sie können doch nicht mit einem geladenen Revolver in der Tasche auf einer Party herumrennen!«
»Keine Sorge! Ich werde keine Dummheiten machen!«
Ich nagte an meiner Unterlippe. Man konnte diesen Sir Guy Hollis wahrlich nicht als einen normalen Zeitgenossen bezeichnen.
Als wir den Fahrstuhl verlassen hatten und auf Bastons Wohnungstür zugingen, warf ich Sir Guy einen raschen Blick zu.
»Nebenbei gesagt«, murmelte ich, »wie wollen Sie eigentlich vorgestellt werden? Soll ich denen« ich deutete mit dem Daumen auf die Tür – »sagen, wer Sie sind und was Sie suchen?«
»Das ist mir egal. Aber wahrscheinlich ist es am gescheitesten, die Wahrheit zu sagen.«
»Aber würde dann nicht ›the Ripper‹, falls er oder sie durch ein Wunder anwesend sein sollte, Lunte riechen und sich völlig in das Schneckenhaus zurückziehen?«
»Ich glaube eher, daß die betreffende Person bei der Bemerkung, daß ich auf der Jagd nach Jack the Ripper bin, so verdattert ist, daß sie sich durch irgendeine Geste verrät.« Sir Guy blickte versonnen vor sich hin.
»Sie würden selbst einen ganz guten Psychiater abgeben«, meinte ich lächelnd. »Ihre Idee ist nicht schlecht. Aber ich muß Sie ernsthaft warnen. Das kann sehr leicht ins Auge gehen. Bedenken Sie, daß Sie eine Ansammlung von Wilden vorfinden werden.«
Aber Sir Guy lächelte nur.
»Ich bin vorbereitet«, verkündete er. »Ich habe mir einen kleinen Schlachtplan zurechtgelegt. Ich danke Ihnen für Ihre Warnung; aber ich möchte Sie ebenfalls warnen. Was immer ich auch tun werde, lassen Sie sich durch nichts aus der Fassung bringen!«
Das kann ja reizend werden, dachte ich, aber ich sagte nichts. Ich nickte lediglich und klingelte.
Baston riß die Tür auf und torkelte uns entgegen. Seine Augen waren so rot wie die Maraschino-Kirsche in seinem Cocktail. Er schwankte beachtlich, als sein Blick von meinem steifen Homburg zu Sir Guys Schnurrbart wanderte.
»Aha«, lallte er. »Hochwürden haben heute ein Walroß mitgebracht …«
Ich stellte Sir Guy vor.
Baston schlug sich vor die Brust und verneigte sich tief. »Herzlich willkommen! Welch Glanz in meiner Hütte …« Mit einer weit ausholenden Handbewegung forderte er uns auf, einzutreten. Er schob uns in sein verrückt eingerichtetes Wohnzimmer.
Ich schaute auf die Menge, die sich rastlos durch den Zigarettenqualm bewegte.
Die Zeit und demzufolge die Stimmung war schon sehr fortgeschritten. Jede Hand hielt ein Glas, und jedes Gesicht hatte einen hektischen roten Schimmer. In einer Ecke des Zimmers hämmerte jemand wild auf dem Klavier herum, aber die profanen Laute der Kartenspieler in einer anderen Ecke übertönten den Rhythmus von ›I love you – don’t you forget it‹.
Sir Guys Blick wanderte von einem zum anderen. Er sah, wie LaVerne Gonnister, die Lyrikerin, Hymie Kralik ein blaues Auge schlug. Er sah, wie Hymie Kralik daraufhin zu Boden ging und weinte, bis Dick Pool, der sich einen neuen Drink holen wollte, versehentlich auf seinen Magen trat.
Er hörte, wie die Artistin Nadia Vilinoff zu Johnny Odcutt sagte, daß seine Tätowierungen das Allerletzte wären, und er beobachtete, wie Johnny Odcutts Frau mit Barclay Melton unter den Tisch kroch.
Er hätte seine zoologischen Betrachtungen gewiß noch lange fortsetzen können, wenn sich Lester Baston nicht auf einmal mitten im Zimmer aufgebaut hätte und sich dadurch Gehör verschaffte, daß er eine Vase auf den Boden schmiß.
»Wir haben heute distinguierte Gäste in unserer Mitte«, grölte er und schwenkte sein halbvolles Glas in unsere Richtung. »Einen Pfarrer und ein Walroß. Das Walroß ist Sir Guy Hollis, ein Edelmann oder so etwas Ähnliches von der Britischen Botschaft. Hochwürden ist, wie wir alle wissen, unser geliebter John Carmody, der berühmte Erlöser von all unseren sexuellen Nöten.«
Er torkelte auf Sir Guy zu, packte ihn beim Arm und zog ihn in die Mitte des Zimmers. Einen Augenblick lang dachte ich, Sir Guy würde sich diese Behandlung verbitten, aber der rasche Blick, den er mir zuwarf, überzeugte mich von seinem Entschluß, mit den Wölfen zu heulen.
»Es ist bei uns Sitte«, quäkte Baston, »neue Gäste einem Kreuzverhör zu unterziehen. Bei unseren formellen Zusammenkünften legen wir auf diese kleine Formalität wert. Sind Sie bereit, Sir Guy Hollis, Fragen zu beantworten?«
Sir Guy grinste und nickte.
»So ist es recht«, grunzte Baston. »Freunde, ich übergebe euch dieses Bündel aus Großbritannien zum Kreuzverhör.«
Die Meute johlte und bestürmte Sir Guy mit Fragen. Ich wollte mir nichts entgehen lassen, aber in diesem Augenblick entdeckte mich Lydia Dare und zog mich mit sanfter Gewalt auf den Korridor. Dort verwickelte sie mich in eins der beliebten Liebling-ich-warte-seit-Tagen-auf-deinen-Anruf-Gespräche.
Als ich sie endlich wieder loswurde und ins Zimmer zurückkam, war das Frage-und-Antwort-Spiel in vollem Gange. So, wie sich die Meute verhielt, konnte ich annehmen, daß sich Sir Guy auf ihre Wellenlänge eingestellt hatte.
Aber dann stellte Baston eine Frage, die dem lärmenden Spiel eine ungeahnte Wendung gab.
»Und was – wenn ich mir die Frage erlauben darf – führt Sie heute in unsere Mitte? Welcher Mission haben wir Ihre werte Gegenwart zu verdanken?«
»Ich bin auf der Suche nach Jack the Ripper.«
Keiner lachte.
Vielleicht waren sie alle so betroffen, wie ich es heute nachmittag gewesen war. Ich schaute nachdenklich von einem zum anderen.
LaVerne Gonnister. Hymie Kralik. Harmlos. Dick Pool. Nadia Vilinoff. Johnny Odcutt und seine Frau. Barclay Melton. Lydia Dare. Einer war so harmlos wie der andere.
Aber warum lächelte Dick Pool so gezwungen? Und was hatte das scheue und dennoch so selbstbewußte Grinsen auf Barclay Meltons Gesicht zu bedeuten?
Aber ich versichere Ihnen, das war alles absurd. Ich sah nur auf einmal diese Leute in einem anderen Licht. Vielleicht schaute ich sie mir in meinem Leben zum erstenmal wirklich an. Was wußte ich schon von ihrem Leben? Im Grunde gar nichts. Ich kannte sie nur auf Parties; aber auch für sie bestand das Leben nicht nur aus Parties …
Wie viele von ihnen mochten ein Doppelleben führen? Wie viele möchten etwas zu verbergen haben?
Wer von ihnen könnte Hekate anbeten und der Mondgöttin Blutopfer darbringen?
Selbst Lester Baston könnte ein Doppelleben führen.
Einen kurzen Augenblick lang waren wir alle der gleichen Stimmung unterworfen. Jeder hatte tausend unausgesprochene Fragen in seinem Blick.
Sir Guy war sich der Situation, die er heraufbeschworen hatte, absolut bewußt, und er schien Gefallen daran zu finden.
Ich hätte etwas darum gegeben, zu wissen, was mit Sir Guy wirklich los war. Seine fixe Idee mit Jack the Ripper mußte doch einen Grund haben. Vielleicht hatte er auch Geheimnisse zu verbergen … Es war schließlich Baston, der die eigentümliche Stimmung zerriß. Er schlug Sir Guy kräftig auf die Schulter und legte seinen Arm um ihn. Dann setzte er zu einer pathetischen Rede an.
»Freunde, laßt euch sagen, daß das Walroß keinen Spaß macht. Unser Vetter aus Großbritannien ist wirklich dem geheimnisumwitterten Jack the Ripper auf der Spur. Ich denke doch, daß ihr alle schon von Jack the Ripper gehört habt. Wenn ich mich recht erinnere, war er zu seiner Zeit ein recht bekannter Halsabschneider …«
Er kicherte, ehe er fortfuhr: »Aus irgendeinem Grunde glaubt unser Walroß hier, daß Jack the Ripper noch am Leben ist und in diesen Tagen mit seinem Pfadfindermesser durch die Straßen Chicagos schlendert. Um genau zu sein –«, Baston legte eine bedeutungsvolle Pause ein, ehe er ein bühnenreifes Flüstern hervorstieß,«– um genau zu sein, hat er Gründe anzunehmen, daß sich Jack the Ripper heute – hier – in unserer Mitte aufhält!«
Das erwartete Kichern und Glucksen der Gäste blieb nicht aus. Baston schaute Lydia Dare bedeutungsvoll an. Dann deutete er mit dem Zeigefinger auf sie und sagte grinsend: »Du brauchst gar nicht so laut zu lachen. Wußtest du nicht, daß Jack the Ripper in Wirklichkeit auch eine Frau sein kann? So eine Art ›Jill the Ripper‹.«
»Soll das heißen, daß tatsächlich einer von uns verdächtigt wird?« kreischte LaVerne Gonnister und lächelte Sir Guy einfältig an. »Aber ist dieser Jack the Ripper nicht seit Ewigkeiten verschwunden? War das nicht so um 1888?«
»Aha!« grölte Baston. »Junge Dame, wie kommt es, daß du so gut Bescheid weißt? Das ist ja sehr verdächtig! Behalten Sie sie im Auge, Sir Guy – vielleicht ist sie nicht mehr ganz so jung, wie sie erscheint. Diese weiblichen Poeten haben meist eine dunkle Vergangenheit!«
Die Spannung war gewichen; die eigentümliche Stimmung war verflogen. Das Ganze war zu einem verrückten Partyscherz geworden.
Der Pianist fing wieder an, das Klavier zu bearbeiten, LaVerne Gonnister stieß Johnny Odcutt in die Rippen, und Lydia Dare ließ sich von Barclay Melton einen neuen Drink mixen.
Lester Baston nahm seinen Arm von Sir Guys Schultern und ließ ihn sinken. Dabei streifte er zufällig einen harten Gegenstand in Sir Guys Tasche.
»Wißt ihr was, Freunde«, schrie er. »Unser Walroß hat eine Kanone bei sich.«
Ehe es Sir Guy verhindern konnte, hatte der andere die Pistole aus seiner Tasche hervorgezogen.
Verrückte Freunde hin, verrückte Freunde her, ich hatte das Gefühl, daß das Ganze anfing, entschieden zu weit zu gehen. Aber als mir Sir Guy jetzt einen raschen Blick zuwarf, erinnerte ich mich an seine Worte, daß ich mich durch nichts aus der Fassung bringen lassen sollte.
Darum mischte ich mich auch nicht ein, als Baston jetzt eine echte Schnapsidee vorbrachte.
»Wir wollen unserem Freund, dem Walroß, eine faire Chance geben«, grölte er. »Sir Guy hat in seiner Mission den weiten Weg von England zu unserer Party nicht gescheut. Da keiner von euch bereit zu sein scheint, ein Geständnis abzulegen, würde ich vorschlagen, daß wir unserem Freund die Chance geben, die Wahrheit selbst herauszufinden, eine Chance, bei der es allerdings um ›alles oder nichts‹ geht.«
»Fabelhafte Idee«, grunzte Johnny Odcutt. »Aber kannst du dich nicht deutlicher ausdrücken?«
»Ich werde eine Minute lang das Licht ausmachen. Sir Guy kann hier mit seinem Revolver in der Hand stehenbleiben. Falls einer in diesem Raum Jack the Ripper sein sollte, kann er sich entweder aus dem Staube machen oder aber die Gelegenheit beim Schopfe fassen und – nun ja, seinen Verfolger mundtot machen. Ist das ein fairer Vorschlag?«
Dieser Vorschlag war vielleicht noch verrückter, als er im ersten Augenblick klang, aber er entsprach genau der Mentalität der Anwesenden. Sir Guys Proteste gingen in dem Stimmengewirr unter. Und ehe ich vortreten konnte, um ein paar passende Worte zu sagen, stand Lester Baston schon beim Lichtschalter.
»Und daß sich keiner von der Stelle rührt«, warnte er mit gespieltem Ernst. »Eine Minute lang werden wir im Dunkeln bleiben. Vielleicht wird uns ein Mörder dafür dankbar sein. Wählen Sie Ihre Partner, meine Damen und Herren.«
Das Licht erlosch.
Irgend jemand kicherte.
Ich hörte Schritte in der Dunkelheit.
Eine männliche Stimme murmelte etwas.
Eine Hand fuhr über mein Gesicht.
Meine Armbanduhr tickte aufreizend laut. Aber etwas war noch lauter; und das war das Pochen meines Herzens.
Es war absurd. Ich stand hier im Dunkeln zwischen einem Haufen angetrunkener Narren. Aber dennoch: Eine finstere Ahnung schien die Anwesenden zu befallen; ein ungeahntes Grauen erfüllte die Dunkelheit.
Jack the Ripper wählte für seine Streifzüge diese Dunkelheit. Und Jack the Ripper hatte ein Messer. Jack the Ripper hatte einen kranken Geist. Die Taten bewiesen seinen Wahnsinn.
Aber Jack the Ripper war tot.
Nach menschlichem Ermessen mußte sich sein Körper schon vor vielen, vielen Jahren in Staub verwandelt haben.
Aber die menschliche Logik und Vernunft lassen uns im Stich, wenn uns die Dunkelheit mit aller Macht zum Bewußtsein kommt; wenn wir ahnen, was die Dunkelheit alles verbergen kann. Wenn die Masken von den Gesichtern fallen und sich Gedanken und Absichten ins Herz einschleichen, die so finster wie die Dunkelheit selber sind …
Sir Guy Hollis schrie auf.
Dem Schrei folgte ein dumpfer Aufschlag.
Als Lester Baston das Licht angeschaltet hatte, schrien alle auf.
Sir Guy Hollis lag mitten im Zimmer auf dem Fußboden ausgestreckt. Seine Hand umklammerte immer noch den Revolver.
Ich schaute von einem zum anderen und staunte, wie verschieden die Ausdrucksfähigkeit der Menschen ist, wenn sie einem grauenhaften Geschehen gegenüberstehen.
Ich vermißte kein Gesicht in der Runde. Keiner war geflohen. Und Sir Guy Hollis lag am Boden …
LaVerne Gonnister jammerte und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
»Das wär’s!«
Sir Guy sprang auf und lächelte.
»Das war ein kleines Experiment, meine Freunde. Wenn sich Jack the Ripper unter Ihnen befunden hätte und gedacht hätte, ich sei ermordet worden, würde er sich, sobald das Licht anging, irgendwie verraten haben.
Ich bin jetzt von der Unschuld jedes einzelnen überzeugt. Ich habe mir nur einen kleinen Scherz erlaubt, meine Freunde.«
Baston glotzte Sir Guy an. Auch die anderen schauten nicht gerade geistreich drein.
»Wollen wir gehen, John?« wandte sich Sir Guy an mich. »Ich glaube, es ist spät geworden.«
Als wir gingen, sagte keiner ein Wort.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß an diesem Abend die Party noch sehr lustig geworden ist.
Ich hatte mich mit Sir Guy für den nächsten Abend an einer Straßenecke von South Halsted verabredet.
Nach den Ereignissen der letzten Nacht war ich so ziemlich auf alles vorbereitet. Sir Guy stand in einen dunklen Hauseingang gepreßt und erwartete mich bereits.
»Buh!« machte ich und sprang plötzlich auf ihn zu.
Er lächelte. Aber seine rasche Handbewegung verriet mir, daß er instinktiv zur Waffe gegriffen hatte.
»Wir wollen also jetzt das Phantom aufspüren, nicht wahr?« fragte ich mit leisem Lächeln.
»Ja«, nickte er. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie auf diese Verabredung eingegangen sind, ohne viel zu fragen. Das beweist mir, daß Sie Vertrauen zu meinem Unternehmen haben.« Er nahm meinen Arm und zog mich auf die Straße. Wir gingen langsam weiter.
»Es ist heute sehr neblig, John«, murmelte Sir Guy nach einer Weile. »Wie in London …«
Ich nickte.
»Für November ist es auch schon beachtlich kalt.«
Ich nickte wieder und schlug automatisch den Mantelkragen hoch.
»Seltsam«, murmelte Sir Guy versonnen. »November und Londoner Nebel. Die Zeit und der Schauplatz der Ripper-Morde.«
Ich grinste ihn durch die Dunkelheit an. »Aber darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß das hier Chicago und nicht London ist? Es ist außerdem nicht der November 1888. Wir schreiben das Jahr 1963.«
Sir Guy erwiderte mein Grinsen ohne Fröhlichkeit. »Ich bin da nicht so ganz sicher«, sagte er leise. »Schauen Sie sich doch nur einmal um. Die Gassen sind genauso eng und winklig und schmutzig wie in East End. Und ganz gewiß sind sie fünfundsiebzig Jahre alt, wenn nicht älter.«
»Aber wir sind nicht in East End, sondern im Negerviertel in der South Clark Street«, bemerkte ich trocken. »Und warum Sie mich in diese gottverlassene Gegend geschleift haben, ist mir immer noch nicht klar.«
»Es ist eine fixe Idee von mir«, gab Sir Guy zu. »Oder nennen Sie es eine Vorahnung, John. Ich möchte hier in dieser Gegend herumstreifen. Die Gassen hier gleichen denen, in denen sich Jack the Ripper herumtrieb und mordete, wie ein Ei dem anderen. Ich glaube darum, daß wir ihn hier finden werden. Er scheut das Licht. Er lauert seinen Opfern in der Dunkelheit auf.«
»Haben Sie deshalb wieder Ihren Revolver bei sich?« Meine Frage sollte sarkastisch klingen, aber meine Nervosität war nicht zu überhören. Sein ganzes Gerede, seine Besessenheit von seiner Version über Jack the Ripper gingen mir mehr auf die Nerven, als ich mir eingestehen wollte.
»Wir werden die Waffe vielleicht brauchen können«, verkündete Sir Guy mit ernster Stimme. »Heute ist immerhin die Nacht, in der er morden muß.«
Wir wanderten durch die nebligen, ausgestorbenen Gassen. Hin und wieder leuchtete eine schwache Lampe über einer finsteren Kneipe auf. Ansonsten gab es nur Dunkelheit und Schatten.
Wir arbeiteten uns schweigend und verbissen durch den dichten Nebel wie zwei kleine Würmer durch ein Leichentuch.
Als mir dieser Vergleich einfiel, zuckte ich zusammen. Diese Umgebung und die ganze Stimmung machten mir langsam auch zu schaffen. Wenn ich mich nicht zusammenriß, würde ich bald genauso spinnen wie Sir Guy.
Ich zupfte ungeduldig an seinem Mantelärmel. »Sie sehen doch selbst, daß in diesen Straßen keine Menschenseele ist«, sagte ich.
»Warten Sie ab. Er muß kommen, weil es ihn einfach hierhertreibt. Ich baue darauf, daß ihn diese Gassen magisch anziehen. Wenn er seine Opfer überwältigt hat, geschah es immer in den Slums.
Seine Vorliebe für den Schmutz ist eine seiner großen Schwächen. Darüber hinaus sind die Frauen, die er für seine Opferungen bevorzugt, in den Kaschemmen oder Kneipen der Elendsviertel leichter zu finden.«
Ich grinste. »Wie wäre es, wenn wir eine dieser Kaschemmen oder Kneipen aufsuchten?« schlug ich vor. »Mir ist kalt, und ich habe das dringende Bedürfnis, mich innerlich aufzuwärmen. Dieser verdammte Nebel geht einem durch Mark und Bein. Ihr Engländer seid da ja härter im Nehmen, aber mir ist warmer Mief lieber als kalter Ozon.«
Nach einigen hundert Metern schimmerte uns ein schwaches blaues Licht durch die weißen Nebelwolken entgegen, das sich beim Näherkommen als eine nackte Birne entpuppte, die über dem Eingang einer Kneipe baumelte.
»Ein Versuch kann nicht schaden«, meinte ich. »Mir klappern langsam die Zähne vor Kälte.«
»Wenn Sie vorgehen wollen«, sagte Sir Guy und trottete hinter mir her. Vor der Eingangstür blieb ich einen Augenblick stehen. »Worauf warten wir?« wollte Sir Guy wissen.
»Ich will erst einen kurzen Blick hineinwerfen«, erklärte ich ihm. »In dieser finsteren Gegend kann man nie wissen, wo man hineingerät, Sir Guy. Ich habe keine Lust, in einen Streit verwickelt zu werden. In einigen dieser Negerkneipen hat man etwas gegen weiße Gäste.«
»Gut, wenn man so etwas weiß«, murmelte Sir Guy.
Ich schaute durch die Tür. »Es scheint leer zu sein«, warf ich Sir Guy über die Schulter zu. »Wir werden es versuchen.«
Wir betraten einen düsteren, schmutzigen und übelriechenden Raum. Über der Theke flackerte ein schwaches Licht, dessen Schein jedoch nicht bis in die einzelnen Nischen zu dringen vermochte.
Hinter der Theke flegelte sich ein riesiger Neger, ein Koloß mit einem hervorspringenden Kinn und einem affenartigen Körper.
Er rührte sich nicht von der Stelle. Aber ich sah, daß sich seine Augen leicht verengten, und wußte, daß er uns bemerkt hatte und uns abschätzend betrachtete.
»’n Abend«, sagte ich.
Er schien sein Urteil über uns noch nicht abgeschlossen zu haben, denn er ließ sich mit der Antwort Zeit. Aber dann verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen, »’n Abend, die Herren. Was darf’s sein?«
»Gin«, sagte ich. »Zwei Glas Gin. Die Nacht ist kalt.«
»Das stimmt, Herr.«
Er schenkte ein, ich zahlte und trug die Gläser zu einer der Nischen. Wir leerten sie in einem Zuge. Der Alkohol rann angenehm wärmend durch unsere Kehlen.
Daraufhin ging ich zur Theke und kaufte die ganze Flasche. Während Sir Guy und ich uns jetzt selber einschenkten, ließ sich der gewaltige Neger hinter der Theke auf einen Stuhl fallen und döste vor sich hin. Ein halb offenes wachsames Auge ruhte allerdings ständig auf uns.
Die Uhr über der Theke tickte. Wir hörten draußen den Wind pfeifen. Er nahm rasch an Stärke zu und zerriß die dichte Nebelwolke in Schwaden. Aber Sir Guy und mir konnte er nichts anhaben. Wir saßen geborgen in unserer warmen Nische und tranken Gin.
Der Alkohol löste Sir Guys Zunge. Er redete unaufhörlich.
Zunächst einmal erzählte er mir all das, was ich schon langsam auswendig kannte. Er erzählte es so ausführlich, als hätte ich noch nie etwas davon gehört. So sind die armen Teufel eben, die von einer Idee besessen sind.
Ich hörte ihm geduldig zu. Ich schenkte ihm noch einen Gin ein. Und noch einen.
Aber der Redestrom brach nicht ab. Ganz im Gegenteil. Er steigerte sich immer mehr in dieses Thema hinein. Er äußerte sich lang und breit über rituelle Morde und über die unnatürliche Verlängerung des Lebens. Und natürlich wiederholte er pausenlos, daß er überzeugt wäre, daß sich Jack the Ripper heute nacht in diesen Gassen herumtreibe.
Es wäre besser gewesen, ihn nicht weiter anzuspornen, aber ich konnte es mir nicht verkneifen.
»Alles schön und gut«, sagte ich und konnte nicht verhindern, daß meine Stimme etwas ungeduldig klang. »Wenn wir einmal annehmen, daß Ihre Theorie stimmt wobei wir allerdings jede menschliche Vernunft außer acht lassen müssen –, aber nehmen wir einmal der Diskussion als solcher zuliebe an, daß Sie recht haben. Dann ist also Jack the Ripper der Mensch, der entdeckt hat, daß man sein Leben durch Blutopfer verlängern kann. Dann reist er – wie Sie glauben – in der Weltgeschichte herum und hält sich zur Zeit mit Mordabsichten hier in Chicago auf. Mit anderen Worten, nehmen wir einmal an, daß Ihre Theorie in allen Punkten mit der Wirklichkeit übereinstimmt … Na und?«
»Was ›na und‹?« fragte Sir Guy.
»Genau das: na und?« antwortete ich. »Wenn das alles wahr sein sollte – müßte man es beweisen. Das kann man kaum, wenn man in einer schmierigen Kneipe sitzt und eine Ginflasche vor sich hat. Die Chancen, daß sich Jack the Ripper hier ebenfalls aufwärmen will und Sie ihn dann der Polizei übergeben können, sind sehr gering. Bei dieser Vorstellung fällt mir ein, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, was Sie mit ihm anstellen würden, wenn Sie ihn wirklich fänden.«
Sir Guy leerte sein Glas. »Ich würde dieses blutige Schwein festnehmen«, stieß er hervor. »Dann würde ich ihn zusammen mit allen Dokumenten und Beweisen, die ich in langen Jahren gesammelt habe, der Polizei übergeben. Ich habe für die Nachforschungen ein Vermögen ausgegeben. Glauben Sie mir: ein Vermögen! Ich bin überzeugt davon, daß durch seine Gefangennahme Hunderte von unaufgeklärten Verbrechen aufgeklärt würden.
Glauben Sie mir doch, daß ein verrücktes Ungeheuer heute noch frei herumläuft; ein zeitloses Ungeheuer, das der Mondgöttin Hekate Menschenopfer entgegenbringt!«
In vino veritas? Oder hatte er einfach zuviel Gin getrunken? Mir war es egal. Ich füllte sein Glas wieder und sann darüber nach, was ich mit ihm machen sollte. Eins stand fest: Sir Guy Hollis war sturzbetrunken.
Während ich nachdachte, fragte ich ihn: »Eins müssen Sie mir noch erklären. Weshalb glauben Sie eigentlich, daß Ihnen Jack the Ripper über den Weg läuft?«
»Er wird es! Ich weiß es!« murmelte Sir Guy. »Ich bin ein Seelenforscher.«
Das mochte sein. Aber im Augenblick war er nichts weiter als ein rührseliger Betrunkener, dessen Gesicht immer mehr verfiel. Er sah sehr alt aus.
Ich wurde wütend. Ich hatte langsam von dieser Geschichte endgültig die Nase voll. Seit einer Stunde saßen wir hier, und ich war gezwungen, für einen senilen, sabbelnden Idioten die Rolle einer Krankenschwester zu spielen. Und das auch noch, obwohl er nicht einmal ein richtiger Patient von mir war!
»Jetzt langt es«, sagte ich und streckte die Hand aus, als Sir Guy erneut nach der Flasche greifen wollte. »Sie haben weiß Gott genug getrunken. Ich möchte Ihnen statt dessen einen Vorschlag machen. Wir sollten uns eine Taxe bestellen und hier verschwinden. Es ist schon spät, und es sieht nicht so aus, als ob unser unbekannter Freund noch auftauchen würde. Und morgen würde ich an Ihrer Stelle die ganzen Dokumente und Papiere dem F.B.I. übergeben. Wenn Sie die Leute dort von Ihrer Idee überzeugen können, werden sie nicht eher ruhen, bis sie Ihren Mann gefunden haben.«
»Nein.« Sir Guy war so halsstarrig wie alle Betrunkenen. »Keine Taxe.«
Nach einem Blick auf die Uhr sägte ich eindringlich: »Wir werden aber auf alle Fälle gehen. Es ist schon weit nach Mitternacht.«
Er seufzte und zuckte die Achseln. Dann erhob er sich schwankend. Als er mit unsicheren Schritten auf die Tür zuging, zerrte er seinen Revolver aus der Tasche.
»Geben Sie mir das Ding«, zischelte ich ihm zu. »So können Sie doch nicht durch die Straße laufen.«
Ich nahm ihm den Revolver aus der Hand und ließ ihn in meiner Manteltasche verschwinden. Dann packte ich seinen rechten Arm und führte ihn an die frische Luft. Der Neger schaute nicht auf, als wir gingen.
Wir standen auf der Straße und froren. Der Nebel war inzwischen noch dichter geworden. Man konnte keine drei Schritte weit sehen. Es war kalt, feucht und stockfinster. Trotz des Nebels war der Wind geblieben. Er flüsterte den Schatten hinter uns seine Geheimnisse zu.
Die frische Luft wirkte auf Sir Guy genauso, wie ich es erwartet hatte. Eine Ginfahne vertrug sich nun einmal nicht gut mit Nebel. Er torkelte neben mir her, als ich ihn langsam durch die dicke Suppe führte.
Sir Guy blickte trotz seiner Betrunkenheit angespannt nach allen Seiten, als erwarte er, daß ein Wesen aus dem Nichts auftauchen würde.
Lange konnte ich mir das nicht schweigend ansehen.
»Seien Sie nicht kindisch«, schnauzte ich ihn an. »Sie und Ihr Jack the Ripper! Sie gehen mit Ihrem Hobby ein bißchen zu weit!«
»Hobby?« Er wandte mir sein Gesicht zu. Durch den Nebel hindurch sah ich, wie verzerrt es war. »Sie nennen das ein Hobby?«
»Wie sollte ich es sonst nennen?« brummte ich. »Wenn es kein Hobby ist, müßten Sie eine Erklärung dafür haben, weshalb Sie so sehr daran interessiert sind, den geheimnisvollen Mörder zur Strecke zu bringen.«
Sein Blick war jetzt so starr, daß ich mich unbehaglich fühlte.
Seine Stimme sank zu einem heiseren Flüstern herab. »Eins der Mädchen … die 1888 in London … Jack the Ripper zum … Opfer fielen … war meine Mutter!«
»Was?«
»Mein Vater hat mich später anerkannt und mir seinen Namen gegeben. Wir haben uns geschworen, unser Leben der Suche nach Jack the Ripper zu widmen. Zuerst hat sich mein Vater auf die Suche gemacht. Er starb 1926 in Hollywood – als er Jack the Ripper auf die Spur gekommen war. Es heißt, daß er bei einem Krawall von einem Unbekannten niedergestochen worden sei. Aber ich weiß, wer der Unbekannte war.
Ich habe dann seine Suche fortgeführt. Ich habe nur für diese Aufgabe gelebt. Und ich werde nicht eher ruhen, bis ich Jack the Ripper gefunden und ihn mit meinen eigenen Händen umgebracht habe.
Er hat meiner Mutter und unzähligen anderen das Leben genommen, um sein eigenes teuflisches Dasein zu verlängern. Er hat sich wie ein Vampir von dem Blut anderer gemästet. Er ist heimtückisch und teuflisch listig. Aber ich werde nicht ruhen, bis ich ihn gefunden habe. Niemals!«
Ich glaubte ihm. Er würde niemals aufgeben. Er war jetzt alles andere als ein plappernder Betrunkener. Er war so fanatisch, so zielbewußt und so unbarmherzig wie Jack the Ripper selbst.
Morgen würde er wieder nüchtern sein. Er würde die Suche fortsetzen. Vielleicht würde er seine Unterlagen wirklich dem F.B.I. übergeben. Früher oder später würde seine Beharrlichkeit zum Ziel führen. Im Unterbewußtsein hatte ich von Anfang an gewußt, daß er ein Motiv haben müßte.
»Wir wollen weitergehen«, murmelte ich und griff wieder nach seinem Arm.
»Einen Moment«, sagte Sir Guy. »Geben Sie mir bitte meinen Revolver wieder.« Er taumelte leicht. »Ich fühle mich mit einer Waffe wohler.«
Er drängte mich in den tiefen Schatten einer Toreinfahrt.
Ich versuchte, ihn beiseite zu schieben, aber er war hartnäckig.
»Ich möchte den Revolver haben, John«, murmelte er.
»Also gut«, erwiderte ich.
Ich griff in meine Tasche und nahm die Hand wieder heraus.
»Aber das ist nicht mein Revolver«, stotterte er. »Das ist ein Messer.«
»Ich weiß.«
Ich überwältigte ihn mühelos.
»John!« schrie er.
»Vergessen Sie den ›John‹«, flüsterte ich und hob das Messer. »Nennen Sie mich einfach … Jack.«