Mr. Steinway

 

Als ich Leo zum ers­ten­mal sah, dach­te ich, daß er tot wä­re.

Sei­ne Haa­re wa­ren so schwarz und sei­ne Haut war so weiß. In mei­nem gan­zen Le­ben ha­be ich noch kei­ne Hän­de ge­se­hen, die so durch­sich­tig und dürr wa­ren. Sie la­gen auf sei­ner Brust ge­fal­tet und ver­bar­gen den Rhyth­mus sei­nes Herz­schla­ges.

Ir­gend et­was stieß mich ab. Ir­gend et­was, was ich schwer in Wor­te fas­sen kann. Ich glau­be, es lag an sei­nem Ge­sicht. Es drück­te ei­ne Lee­re aus, die mich er­schau­dern ließ. Sein Ge­sicht glich ei­ner To­ten­mas­ke, die man zu spät ge­macht hat­te, denn es fehl­te je­de Spur ei­ner Per­sön­lich­keit. Mich frös­tel­te, als ich auf ihn hin­un­ter­schau­te, und ich zog in­stink­tiv den Man­tel fes­ter um mich. Nach ei­nem letz­ten kur­z­en Blick wand­te ich mich ab und woll­te ge­hen.

Aber in die­sem Au­gen­blick öff­ne­te er die Au­gen, und ich ver­lieb­te mich un­s­terb­lich in ihn.

Er rich­te­te sich auf, schwang sei­ne Bei­ne von dem rie­si­gen So­fa, grins­te mich an und er­hob sich. Ich glau­be we­nigs­tens, daß er das tat. Denn das ein­zi­ge, was ich mit Be­wußt­sein in mich auf­nahm, war der Blick sei­ner brau­nen, war­men Au­gen, der durch mich hin­durch­ging und sich mit Macht in mein Herz bohr­te.

Ich weiß ge­nau, wie das klingt und was Sie den­ken. Aber ich bin kein Schul­mäd­chen und ich füh­re kein Ta­ge­buch, und es ist vie­le, vie­le Jah­re her, seit­dem ich mich zum letz­ten­mal Hals über Kopf ver­liebt ha­be. Und ich war ab­so­lut si­cher, daß ich seit ei­ni­ger Zeit über die­sen ver­rück­ten Din­gen ste­he.

Aber – als er die Au­gen öff­ne­te, spür­te ich die Lie­be auf den ers­ten Blick.

Har­ry stell­te mich jetzt vor.

»… Do­ro­thy En­di­cott. Sie hat Sie in der letz­ten Wo­che in De­troit spie­len hö­ren und woll­te Sie ger­ne ken­nen­ler­nen. Do­ro­thy – das ist Leo Win­ston.«

Er war ziem­lich groß. Er mach­te ei­ne Art Ver­beu­gung; oder bes­ser ge­sagt, er neig­te leicht sei­nen Kopf, oh­ne da­bei den Blick von mir zu wen­den. Ich weiß wirk­lich nicht, was er sag­te. Wahr­schein­lich »An­ge­nehm« oder »Ich bin ent­zückt« oder »Es freut mich, Sie ken­nen­zu­ler­nen.« Das war auch un­wich­tig. Es war sein Blick, der mich fas­zi­nier­te.

Ich mach­te al­les falsch, was man nur falsch ma­chen kann. Ich lief rot an. Ich ki­cher­te. Ich sag­te, wie sehr ich sein Spiel be­wun­de­re. Ich wie­der­hol­te mich und kam ins Stot­tern, als ich es be­merk­te.

Nur eins mach­te ich rich­tig. Ich er­wi­der­te sei­nen Blick. Wäh­rend Har­ry wort­reich er­klär­te, daß wir zu­fäl­lig vor­bei­ge­kom­men wä­ren und gar nicht die Ab­sicht ge­habt hät­ten, ihn zu stö­ren, aber doch her­ein­ge­kom­men wä­ren, weil die Tür of­fen­stand, schau­te ich ihn un­ver­wandt an. Und Har­ry re­de­te pau­sen­los wei­ter. Daß er Leo dar­an er­in­nern woll­te, den Flü­gel mor­gen recht­zei­tig zum Kon­zert­saal schaf­fen zu las­sen und daß, nach den letz­ten Be­rich­ten, der Kar­ten­vor­ver­kauf sehr er­folg­reich wä­re. Und jetzt müß­te er, Har­ry, sich dar­um küm­mern, daß die An­kün­di­gun­gen für das mor­gi­ge Kon­zert in den Zei­tun­gen auch rich­tig pla­ciert wür­den, al­so –

»Schön. Aber für Sie, Miss En­di­cott, be­steht doch kein Grund zur Ei­le, nicht wahr?«

Ich muß­te zu­ge­ben, daß für mich ab­so­lut kein Grund zur Ei­le be­stand.

Als Har­ry ab­schwirr­te, zwin­ker­te er mir un­merk­lich zu. Ich blieb und un­ter­hielt mich mit Leo Win­ston.

Ich ha­be kei­ne Ah­nung mehr, über was wir uns un­ter­hal­ten ha­ben. Ich glau­be, daß nur Ro­man­fi­gu­ren in der La­ge sind, auch die längs­ten Un­ter­hal­tun­gen wört­lich wie­der­zu­ge­ben. Und für mei­ne Be­grif­fe ist es ein Wun­der, daß die­sen Per­so­nen da­bei nicht der kleins­te gram­ma­ti­ka­li­sche Feh­ler un­ter­läuft.

Aber ir­gend­wie er­fuhr ich aus die­sem Ge­spräch, daß er ei­gent­lich Leo Wein­stein hieß … daß er ein­und­drei­ßig Jah­re alt war … daß er le­dig war … daß er Siam­kat­zen lieb­te … daß er sich beim Ski­lau­fen ein­mal das Bein ge­bro­chen hat­te … und daß er einen sehr tro­ckenen Man­hat­tan-Cock­tail moch­te.

Nach­dem ich ihm al­les von mir er­zählt hat­te, oder zu­min­dest fast al­les – aber ich bin si­cher, daß er den Rest in mei­nen Au­gen ge­le­sen hat –, frag­te er mich, ob ich Mr. Stein­way ken­nen­ler­nen wol­le. Na­tür­lich woll­te ich das. Leo Win­ston öff­ne­te die Schie­be­tür zu ei­nem an­de­ren Zim­mer.

Mr. Stein­way be­herrsch­te die­sen Raum. Er war schwarz und auf Hoch­glanz po­liert, und er lä­chel­te mir mit sei­nen achtun­dacht­zig Zäh­nen ent­ge­gen und hieß mich will­kom­men.

»Möch­ten Sie, daß Mr. Stein­way et­was für Sie spielt?« frag­te Leo. Ich nick­te. Die Wär­me, die mich durch­ström­te, hat­te nichts mit den zwei Man­hat­tan, die ich ge­trun­ken hat­te, zu tun. Sie war durch die For­mu­lie­rung sei­ner Fra­ge in mir ent­stan­den. Nur ein­mal in mei­nem Le­ben hat­te ich ein ähn­li­ches Ge­fühl ge­habt. Da­mals war ich drei­zehn, und Bill Pren­ti­ce – in den ich ver­schos­sen war – hat­te mich ge­fragt, ob ich zu­se­hen wol­le, wenn er mit ei­nem Kopf­sprung vom Fünf­me­ter­turm ins Was­ser springt.

Leo nahm Platz und tät­schel­te Mr. Stein­ways Pe­dal so, wie ich manch­mal mei­ne Kat­ze Ang­kor tät­sche­le. Und sie spiel­ten für mich. Sie spiel­ten ›Ap­pas­sio­na­ta‹ aus dem ›Feu­er­vo­gel‹ und et­was fremd­ar­tig An­mu­ten­des von Pro­ko­fieff und da­nach ein paar Sa­chen von den bei­den Schot­ten Cy­ril und Ray­mond. Ich glau­be, daß Leo sei­ne Viel­sei­tig­keit de­mons­trie­ren woll­te; aber viel­leicht war es auch Mr. Stein­ways Idee. Wie dem auch sei, mir ge­fiel al­les. Und ich drück­te es vol­ler Be­geis­te­rung aus.

»Ich bin sehr glück­lich, daß Sie Mr. Stein­way schät­zen«, sag­te Leo. »Er ist, wie je­der in mei­ner Fa­mi­lie, sehr sen­si­bel. Und er ist ein Mit­glied mei­ner Fa­mi­lie. Er ge­hört seit fast elf Jah­ren zu mir. Mei­ne Mut­ter hat ihn mir ge­schenkt, als ich mei­nen ers­ten Kon­zertabend in der Car­ne­gie Hall hat­te .«

Leo stand auf. Er war mir sehr na­he, denn ich hat­te seit der ›Ap­pas­sio­na­ta‹ ne­ben ihm ge­ses­sen. Des­halb konn­te ich auch so ge­nau sei­ne Au­gen se­hen, als er jetzt den schwar­zen De­ckel über Mr. Stein­ways Zäh­ne klapp­te und sag­te: »Ru­he dich ein we­nig aus, bis sie kom­men und dich ho­len.«

»Was ist los?« frag­te ich. »Ist Mr. Stein­way krank?«

»Kei­ne Spur – er war sel­ten so gut in Form.« Leo strahl­te. Wie hat­te ich ihn auch nur einen Au­gen­blick lang für tot hal­ten kön­nen, ihn, des­sen Vi­ta­li­tät mich mit­riß?

»Mr. Stein­way be­gibt sich heu­te in die Kon­zert­hal­le«, er­klär­te Leo und schau­te mir in die Au­gen. »Dort hat er mor­gen ei­ne Ver­ab­re­dung mit mir und wird mit mir spie­len. Da­bei fällt mir et­was ein: Wer­den Sie kom­men?«

Die ein­zi­ge Ant­wort dar­auf wä­re »dum­me Fra­ge« ge­we­sen, aber ich hielt sie zu­rück. An­sons­ten fiel mir die Zu­rück­hal­tung bei Leo schwer. Be­son­ders, wenn er mich so an­schau­te wie jetzt. In sei­nen Au­gen stand ein un­aus­ge­spro­che­nes Ver­lan­gen, und sei­ne schma­len, lan­gen Hän­de, die die Tas­ten so zart ge­strei­chelt hat­ten, konn­ten auch so zart –

Ich den­ke, daß ich mich klar ge­nug aus­ge­drückt ha­be.

Am nächs­ten Abend hät­te mir je­der mein Glück vom Ge­sicht ab­le­sen kön­nen. Nach dem Kon­zert gin­gen wir aus. Nur wir vier: Har­ry und sei­ne Frau, Leo und ich. Und spä­ter gab es nur noch Leo und mich – bei Ker­zen­schein in sei­nem Ap­par­te­ment. Die Schie­be­tür zum an­de­ren Raum stand of­fen. Al­les wirk­te et­was kahl und öde, weil Mr. Stein­way nicht an sei­nem ge­wohn­ten Platz stand.

Wir be­trach­te­ten schwei­gend die Ster­ne über dem Cen­tral Park und schau­ten uns in die Au­gen, in de­nen sich der fla­ckern­de Glanz der Ker­zen wi­der­spie­gel­te. Was wir dach­ten und sag­ten und ta­ten, ist nicht für an­de­re Oh­ren oder Au­gen be­stimmt.

Nach­dem wir am nächs­ten Tag die Kri­ti­ken ge­le­sen hat­ten, gin­gen wir im Park spa­zie­ren. Leo muß­te war­ten, bis sie Mr. Stein­way zu­rück­brach­ten. Mir war das sehr recht, denn es war herr­lich, durch den Park zu schlen­dern. Je­dem muß­te es so ge­hen, der im Mai durch den Cen­tral Park spa­zier­te. Das fri­sche Grün an den Bäu­men, der Son­nen­schein, ein La­chen aus der Fer­ne und die laue Luft muß­ten die Her­zen öff­nen.

Nichts konn­te die­se Stim­mung stö­ren.

Nichts?

Leo schau­te auf sei­ne Arm­band­uhr. »Er müß­te jetzt schon un­ter­wegs sein«, sag­te er und stand von der Bank auf. »Ich soll­te wirk­lich zu Hau­se sein, wenn er kommt. Mr. Stein­way ist zwar groß, aber er ist auch sehr emp­find­lich.«

Ich griff nach sei­ner Hand. »Gut, dann wol­len wir ge­hen«, sag­te ich.

Er run­zel­te die Stirn. Er kam mir et­was fremd vor, denn ich hat­te ihn noch nie die Stirn run­zeln se­hen. »Es ist vielleicht bes­ser, wenn du nicht mit­kommst, Do­ro­thy. Ich mei­neweil der Trans­port über die Trep­pen so lan­ge dau­ert. Und au­ßer­dem muß ich üben. Ver­giß nicht, daß ich nächs­ten Frei­tag einen Abend in Bo­ston ge­be; und das be­deu­tet täg­lich vier Stun­den Trai­ning. Mr. Stein­way und ich müs­sen für das nächs­te Pro­gramm in Form sein. Wir ge­ben ein Ra­vel-Kon­zert, und Mr. Stein­way ist von Ra­vel nicht sehr be­geistert. Uns bleibt auch nicht so sehr viel Zeit, denn Mr. Stein­way wird sich schon Mitt­woch mor­gen auf den Weg ma­chen.«

»Soll das hei­ßen, daß du mit Mr. Stein­way auch auf Rei­sen gehst?«

»Aber na­tür­lich. Wo ich hin­ge­he, wird er auch hin­ge­hen. Seit Mut­ter ihn mir ge­schenkt hat, ha­be ich nie auf ei­nem an­de­ren In­stru­ment ge­spielt. Wenn ich es tä­te, wür­de ich mich da­bei nicht wohl­füh­len. Au­ßer­dem bin ich si­cher, daß es Mr. Stein­way das Herz bre­chen wür­de.«

Mr. Stein­ways Herz

Es sah ganz so aus, als hät­te ich einen Ri­va­len. Bei die­sem Ge­dan­ken muß­te ich la­chen, und Leo stimm­te in mein La­chen ein. Dann be­gab er sich zu sei­ner Ar­beit, und ich ging in mei­ne Woh­nung. Ich woll­te schla­fen. Viel­leicht wür­de ich auch träu­men …

Um fünf Uhr nach­mit­tags rief ich bei ihm an, aber er mel­de­te sich nicht. Ich ver­such­te ei­ne hal­be Stun­de lang ihn zu er­rei­chen, dann se­gel­te ich auf ei­ner ro­sa­ro­ten Wol­ke zu sei­nem Ap­par­te­ment. Leo muß­te von sei­ner Mut­ter, die ein ›of­fe­nes Haus‹ ge­führt hat­te, die An­ge­wohn­heit über­nom­men ha­ben, nie­mals die Tür zu ver­schlie­ßen. Ich nutz­te die­sen Um­stand na­tür­lich aus und schlich auf Ze­hen­spit­zen in die Woh­nung, um Leo zu über­ra­schen. Ich sah ihn in Ge­dan­ken am Flü­gel sit­zen. Ich stell­te mir vor, wie ver­tieft er in sei­ne Ar­beit war.

Aber nichts der­glei­chen. Mr. Stein­way schwieg, und die Ver­bin­dungs­tür war ge­schlos­sen. Da­für wur­de ich gleich im Vor­raum über­rascht.

Leo war wie­der tot.

Er lag auf der rie­si­gen Couch. Sei­ne Bläs­se schim­mer­te durch das Däm­mer­licht. Sei­ne Au­gen wa­ren ge­schlos­sen, sei­ne Oh­ren wa­ren ge­schlos­sen, und auch sein Herz schi­en ver­schlos­sen zu sein, bis ich mich über ihn beug­te und mei­ne war­men Lip­pen auf sei­nen kal­ten Mund preß­te.

»Do­ro­thy!«

»Spielst du wie­der Dorn­rös­chen?« frag­te ich lä­chelnd und fuhr ihm mit der Hand durch die Haa­re. »Was ist, Lieb­ling? Hat dich das Üben er­mü­det? Ich kann dir kei­nen Vor­wurf ma­chen, be­son­ders, wenn man be­denkt –«

Es war im Zim­mer noch nicht so dun­kel, daß mir sein Stirn­run­zeln ent­ge­hen konn­te.

»Ha­be ich dich – er­schreckt?« Die­ser Satz konn­te aus dem Dreh­buch zu ei­nem Kitsch­film stam­men; aber die gan­ze Si­tua­ti­on hat­te mit ei­ner Schnul­ze Ähn­lich­keit. Der be­rühm­te, be­gab­te jun­ge Pia­nist, der zwi­schen Lie­be und Kar­rie­re hin- und her­ge­ris­sen wur­de, der von ei­nem jun­gen Ding in sei­nem Stre­ben nach künst­le­ri­scher Vollen­dung ab­ge­lenkt wur­de … Er run­zel­te die Stirn, er­hob sich und leg­te sei­ne Hän­de auf mei­ne Schul­tern. Die Ka­me­ra fuhr dicht her­an, und er sag­te in Groß­auf­nah­me:

»Do­ro­thy, ich muß mit dir re­den.« Aha, dach­te ich, al­so hat­te ich recht. Jetzt muß­te es kom­men; die be­rühm­te An­spra­che, daß die Kunst an ers­ter Stel­le steht, daß sich Ar­beit und Lie­be nicht ver­tra­gen – und daß dar­an auch die ver­gan­ge­ne Nacht nichts ge­än­dert hät­te. Ich schob die Un­ter­lip­pe vor. Un­ter ge­wis­sen Um­stän­den kann ich einen recht hüb­schen Schmoll­mund ma­chen. Aber ich schwieg und war auf das vor­be­rei­tet, was er sa­gen wür­de.

Er sag­te: »Was weißt du über die Son­nen­wis­sen­schaft, Do­ro­thy?«

Ich riß die Au­gen auf und stot­ter­te ver­dutzt: »Da­von ha­be ich noch nie et­was ge­hört.«

»Das ist auch kein Wun­der. Denn die­ser Zweig der Psy­cho­lo­gie hat sich bis heu­te noch nicht rich­tig durch­ge­setzt. Aber man soll­te ihn nicht un­ter­schät­zen. Denn wenn man sich erst ein­mal mit die­ser Ma­te­rie be­schäf­tigt, kann man sich den lo­gi­schen Schluß­fol­ge­run­gen nicht ent­zie­hen. Aber ich glau­be, ich soll­te dir das Gan­ze von An­fang an ge­nau er­klä­ren, da­mit du es ver­stehst.«

Und er er­klär­te mir es ge­nau. Ich be­müh­te mich ernst­haft, ihn zu ver­ste­hen. Aber nach­dem er wohl ei­ne Stun­de lang ge­re­det ha­ben moch­te, hat­te ich im End­ef­fekt recht we­nig be­grif­fen.

Auf al­le Fäl­le schi­en sich schon sei­ne Mut­ter leb­haft für die Son­nen­wis­sen­schaft in­ter­es­siert zu ha­ben. Und um mit die­ser Wis­sen­schaft ver­traut zu wer­den, muß­te man of­fen­sicht­lich in ei­ne Art Me­di­ta­ti­on ver­sin­ken, die mit ge­wis­sen Yo­ga-Übun­gen Ähn­lich­keit hat­te. Sei­ne Mut­ter hat­te ein Jahr vor ih­rem To­de da­mit an­ge­fan­gen. Und nun ex­pe­ri­men­tier­te Leo seit vier Jah­ren al­lei­ne an die­ser Ge­schich­te her­um. Man konn­te dem Kern­punkt die­ser Leh­re nur im Tran­ce­zu­stand nä­her­kom­men. Der Er­folg hing von der ei­ge­nen Kon­zen­tra­ti­on ab. Aber wenn ich Leo recht ver­stan­den ha­be, müß­te es ei­ne mü­he­lo­se, schwe­re­lo­se Kon­zen­tra­ti­on sein, die dem In­nern ent­springt und nach und nach ein ›ab­so­lu­tes Selbst­be­wußt­sein‹ schafft.

Nach die­ser Son­nen­wis­sen­schaft soll­te es mög­lich sein, daß man sich sei­nes ei­ge­nen Kör­pers so be­wußt wird, daß man sich mit den Or­ga­nen, den Zel­len, dem Blut, den Kno­chen und Seh­nen di­rekt in Ver­bin­dung set­zen kann. Denn al­les, bis hin­un­ter zu den kleins­ten Mo­le­kü­len, be­sitzt ei­ne ei­ge­ne Schwin­gungs­fre­quenz und ist so­mit le­ben­dig.

Leo wid­me­te sich vier Stun­den am Tag Mr. Stein­way und be­schäf­tig­te sich min­des­tens zwei wei­te­re Stun­den mit der Son­nen­wis­sen­schaft und dem ›ab­so­lu­ten Selbst­be­wußt­sein‹. Die­ses Sys­tem hät­te bei ihm schon Wun­der ge­wirkt, was sich auch bei sei­nem Spie­len be­merk­bar ma­chen wür­de. Denn Ent­span­nung, Er­neue­rung und Ru­he wä­re der Weis­heit letz­ter Schluß. Aber dar­über wür­de er mir ein an­de­res Mal er­zäh­len.

Und wie ich dar­über däch­te?

Of­fen­ge­stan­den hat­te ich über­haupt noch nicht dar­über nach­ge­dacht. Ich hat­te wie je­der an­de­re zwar schon von Te­le­pa­thie, über­na­tür­li­chen Sin­nes­wahr­neh­mun­gen und der­glei­chen ge­hört, aber mich herz­lich we­nig da­für in­ter­es­siert. Ich ha­be die­se Din­ge im­mer mit den Witz­blatt­zeich­nun­gen von ge­wis­sen Psych­ia­tern, Schar­la­ta­nen und al­ten Frau­en, die in Glas­ku­geln star­ren, in Ver­bin­dung ge­bracht.

Es war et­was ganz an­de­res, Leo dar­über spre­chen zu hö­ren, die Kraft sei­ner Über­zeu­gung zu spü­ren. Er war fel­sen­fest da­von über­zeugt, daß die­se Me­di­ta­ti­on das ein­zi­ge war, was ihn seit dem To­de sei­ner Mut­ter am Le­ben er­hal­ten hat­te.

Na­tür­lich sag­te ich ihm, daß ich al­les ver­ste­hen und ihm nie­mals in die­se Din­ge drein­re­den wür­de und daß ich nichts wei­ter wol­le, als im­mer dann für ihn da zu sein, wenn er mich brau­che. Zu die­sem Zeit­punkt war ich von mei­nen ei­ge­nen Wor­ten sehr über­zeugt.

Ich war auch dann noch über­zeugt, als ich ihn in den Ta­gen vor dem Bo­sto­ner Kon­zert im­mer nur et­wa ei­ne Stun­de täg­lich sah.

Dann flog ich nach Bo­ston, um das Kon­zert zu hö­ren. Leo war hin­rei­ßend. Wir fuh­ren zu­sam­men zu­rück. Und es gab kei­ne Son­nen­wis­sen­schaft und kei­nen Mr. Stein­way. Es gab nichts – au­ßer uns bei­den.

Bis zum Sonn­tag. Dann wa­ren wir zu dritt. Mr. Stein­way kam zu­rück.

Ich ver­zog mich in mei­ne ei­ge­ne Woh­nung, aber nach dem Mit­tages­sen eil­te ich zu ihm zu­rück. Der Cen­tral Park schim­mer­te im Son­nen­licht, und der Glanz fand in mei­nem Her­zen einen Wi­der­hall. Das än­der­te sich schlag­ar­tig, als ich sei­ne Woh­nung be­trat. Ich hör­te, wie Mr. Stein­way ächz­te und knurr­te und groll­te und stöhn­te. Ich ras­te zu Leo, und Mr. Stein­way ver­stumm­te.

Leo run­zel­te die Stirn. Ich schi­en ein be­son­de­res Ta­lent zu ent­wi­ckeln, im­mer im un­ge­eig­nets­ten Mo­ment zu er­schei­nen.

»Ich hat­te dich jetzt noch nicht er­war­tet«, sag­te Leo ver­stimmt, »ich war ge­ra­de da­bei, et­was Neu­es zu ent­wi­ckeln.«

»Das ha­be ich ge­hört. Was soll es wer­den, wenn es fer­tig ist?«

»Das ist im Au­gen­blick un­wich­tig. Woll­test du heu­te nach­mit­tag aus­ge­hen?« Er sag­te es in ei­nem Ton­fall, als wür­de er mein neu­es Kleid und mei­ne neu­en Schu­he, die ich mir ge­kauft hat­te, um ihn zu über­ra­schen, gar nicht be­mer­ken. »Nein. Aber glaub mir, ich woll­te nicht stö­ren. Spiel nur wei­ter.«

Leo schüt­tel­te den Kopf. Er starr­te auf Mr. Stein­way.

»Stört es dich, wenn ich bei dei­nen Pro­ben da­bei bin?«

Leo schau­te nicht auf.

»Ich kann ja ge­hen«, mur­mel­te ich. »Bit­te ver­steh mich recht«, sag­te er. »Es liegt nicht an mir – aber ich glau­be, daß sich Mr. Stein­way noch nicht so rich­tig an dich ge­wöhnt hat.«

Ich hol­te tief Luft. Das hät­te nicht kom­men dür­fen. Das war zu­viel. »Mo­ment mal«, sag­te ich kühl, so­weit ei­ne Ex­plo­si­on kühl sein kann, »was ist nun wie­der los? Hat das et­was mit dei­ner Son­nen­wis­sen­schaft zu tun? Soll ich dar­aus schlie­ßen, daß du in Mr. Stein­way ein le­ben­di­ges We­sen siehst? Ich ge­be zu, daß ich nicht über­mä­ßig klug bin und ei­ni­gen dei­ner Ge­fühls­re­gun­gen nicht un­be­dingt fol­gen kann. Viel­leicht ist es mir des­halb bis jetzt ent­gan­gen, daß Mr. Stein­way ei­ne ei­ge­ne Per­sön­lich­keit be­sitzt. Ich ha­be ihn ei­gent­lich doch im­mer mehr oder we­ni­ger für einen Flü­gel ge­hal­ten. Nach dei­nen Wor­ten müß­te ich an­fan­gen, sei­ne Pe­da­le mit mei­nen Bei­nen zu ver­glei­chen.«

»Do­ro­thy, bit­te. …«

»Nichts ›Do­ro­thy, bit­te‹! Aber kei­ne Ban­ge: Do­ro­thy wird in Ge­gen­wart dei­nes per­so­ni­fi­zier­ten Alp­traums, oder was im­mer es sein mag, kein Wort mehr spre­chen. Bist du nun zu­frie­den? Da sich Mr. Stein­way noch nicht so recht an mich ge­wöhnt hat, kannst du ihm sa­gen, daß er mich …«

Ir­gend­wie brach­te es Leo fer­tig, mich aus der Woh­nung in den Son­nen­schein des Cen­tral Parks und in sei­ne Ar­me zu brin­gen. Ich be­ru­hig­te mich. Sei­ne Stim­me war sanft, und die Vö­gel zwit­scher­ten. Ich fühl­te mich wohl und woll­te al­les an­de­re ver­ges­sen.

Leos Stim­me war auch dann noch sanft, als er sag­te: »… du bist der Wahr­heit sehr na­he­ge­kom­men, Lieb­ling. Ich weiß, daß es für je­den, der sich nicht mit die­ser Ma­te­rie be­schäf­tigt hat, sehr schwer ist, es zu ver­ste­hen. Aber Mr. Stein­way ist in ge­wis­ser Wei­se wirk­lich le­ben­dig. Ich kann mich mit ihm ver­stän­di­gen, und er kann es mit mir.«

»Soll das hei­ßen, daß du dich mit ihm un­ter­hältst und daß er sich mit dir un­ter­hält

Ich glaub­te lang­sam, den Ver­stand zu ver­lie­ren, und hat­te das drin­gen­de Be­dürf­nis, in die Wirk­lich­keit zu­rück­zu­keh­ren. Ich at­me­te er­leich­tert auf, denn sein La­chen brach­te mich in die Wirk­lich­keit zu­rück. Sei­ne Wor­te hin­wie­der­um wa­ren nicht so sehr be­ru­hi­gend.

»Ich kann mich na­tür­lich nicht im üb­li­chen Sin­ne mit ihm un­ter­hal­ten. Die Ver­stän­di­gung ge­schieht über ei­ne be­stimm­te Schwin­gungs­fre­quenz. Ich ha­be dir das Sys­tem schon im Prin­zip zu er­klä­ren ver­sucht, Lieb­ling. Ich möch­te nicht, daß du mich für einen Schul­meis­ter hältst, aber das Gan­ze ist wirk­lich ei­ne Wis­sen­schaft und kei­ne ver­spon­ne­ne Idee.

Hast du dir je über­legt, aus wie­viel ver­schie­de­nen Ma­te­ria­li­en ein Flü­gel zu­sam­men­ge­setzt ist? Nein? Zum Bau ei­nes solch emp­find­li­chen In­stru­men­tes sind Hun­der­te von Ein­zel­tei­len er­for­der­lich. Wenn man sich die­se Tat­sa­che ein­mal ver­ge­gen­wär­tigt, könn­te man einen Flü­gel auch als einen ›Mu­si­kro­bo­ter‹ be­zeich­nen. Zu­erst ein­mal braucht man Dut­zen­de von ver­schie­de­nen Höl­zern, die im Al­ter sehr un­ter­schied­lich sein müs­sen. Die­se wer­den mit Filz, Häu­ten, Lack, Me­tall, El­fen­bein und vie­len an­de­ren Din­gen ver­ar­bei­tet, wo­bei je­der ein­zel­ne Ge­gen­stand ei­ne be­stimm­te Schwin­gungs­fre­quenz be­sitzt. Das Gan­ze bil­det dann ei­ne zu­sam­men­ge­faß­te ei­ge­ne Schwin­gungs­fre­quenz, die man er­füh­len muß, um sich mit ihm ver­traut ma­chen zu kön­nen.«

Mir schwirr­te all­mäh­lich der Kopf. Aber ich be­müh­te mich krampf­haft, Leos Aus­füh­run­gen zu fol­gen, um viel­leicht doch ir­gend­wo einen Sinn in dem Gan­zen zu ent­de­cken. Ich woll­te zu ger­ne glau­ben, ganz ein­fach, weil Leo dar­an glaub­te.

»Es ist ein Jam­mer«, fuhr Leo fort, »daß sich so we­nig Men­schen mit die­ser Wis­sen­schaft be­schäf­ti­gen. Sie wer­den nie er­fah­ren, wie le­ben­dig un­se­re Um­ge­bung ist. Sie sind so bor­niert, daß sie bei den so­ge­nann­ten ›leb­lo­sen Din­gen‹ ei­ne In­tel­li­genz für un­mög­lich hal­ten.

Ich aber ha­be im Zu­sam­men­hang mit der Son­nen­wis­sen­schaft viel ge­lernt. Ich bin in der glück­li­chen La­ge, mich mit die­sen ›leb­lo­sen Din­gen‹ in Ver­bin­dung set­zen zu kön­nen. Wun­dert es dich, daß ich mich ganz be­son­ders auf Mr. Stein­way, der mit mei­nem Le­ben so eng ver­bun­den ist, kon­zen­triert ha­be? Es war nicht leicht, aber es ist mir ge­lun­gen, mit Mr. Stein­way in Ver­bin­dung zu tre­ten. Und ich kann dir ver­si­chern, daß die­se Ver­stän­di­gung nicht ein­sei­tig ist.« Leo re­de­te na­tür­lich viel mehr, und er ge­brauch­te an­de­re For­mu­lie­run­gen. Aber ich be­griff den Sinn sei­ner Wor­te. Und im sel­ben Au­gen­blick wur­de mir klar, daß mit Leo ir­gend et­was nicht stimm­te.

»Es läßt sich nicht leug­nen«, hör­te ich ihn sa­gen, »aber Mr. Stein­way hat wirk­lich ei­ne ei­ge­ne Per­sön­lich­keit. Und die­se Per­sön­lich­keit stei­gert sich, je mehr ich in der La­ge bin, mich mit ihm in Ver­bin­dung zu set­zen. Wenn ich übe, übt Mr. Stein­way. Wenn ich spie­le, spielt Mr. Stein­way. Im ge­wis­sen Sin­ne ist es Mr. Stein­way, der ei­gent­lich spielt. Ich brin­ge nur den Me­cha­nis­mus in Gang. Ich weiß, Do­ro­thy, daß es dir un­glaub­wür­dig er­scheint, wenn ich dir sa­ge, daß sich Mr. Stein­way wei­gert, ge­wis­se Stücke zu spie­len. Aber ich ma­che kei­nen Spaß. Es gibt auch ei­ni­ge Kon­zert­sä­le, die er nicht lei­den kann. Er ist ein sen­si­bler Künst­ler, aber glau­be mir, er ist ein großer Künst­ler! Ich er­ken­ne sein Ta­lent ge­nau­so an, wie ich mich sei­nen Aver­sio­nen beu­ge.

Laß mir Zeit, Lieb­ling – bis ich ihm dei­ne Exis­tenz und dei­ne Rol­le in mei­nem Le­ben ver­mit­telt ha­be. Ich wer­de mich über sei­ne Ei­fer­sucht hin­weg­set­zen; aber kannst du letz­ten En­des sei­ne Ei­fer­sucht nicht ver­ste­hen? War­te, bis ich ihm über die Schwin­gungs­fre­quenz al­les ge­nau er­klärt ha­be. Und hal­te mich bit­te nicht für ver­rückt, Lieb­ling. Glau­be mir, ich lei­de nicht an Hal­lu­zi­na­tio­nen.«

Ich stand ruck­ar­tig auf. »Al­so gut, Leo, ich will dir glau­ben. Aber al­les wei­te­re liegt bei dir. Ich will dich nicht eher wie­der­se­hen bis – bis du ei­ni­ges ge­klärt hast.«

Mei­ne ho­hen Ab­sät­ze klap­per­ten ei­lig über den mit Stein­plat­ten be­leg­ten Weg. Er mach­te kei­ne An­stal­ten, mir zu fol­gen. Ei­ne dunkle Wol­ke ver­deck­te die Son­ne. Ich zog die Schul­tern hoch und frös­tel­te plötz­lich.

Ich ging schnur­stracks zu Har­ry. Er war im­mer­hin Leos Ma­na­ger und soll­te ei­gent­lich Be­scheid wis­sen. Aber ich merk­te sehr rasch, daß Har­ry über­haupt nichts wuß­te. Des­halb ver­stumm­te ich auch ab­rupt, um nicht zu­viel zu sa­gen. Nach Har­rys An­sicht war Leo ab­so­lut nor­mal.

»Es sei denn, du denkst an die Ge­schich­te mit sei­ner Mut­ter«, mein­te Har­ry nach ei­ni­gem Nach­den­ken. »Der Tod der al­ten Da­me hat ihn ganz schön mit­ge­nom­men. Du weißt, wie die Müt­ter von Stars sind. Sie hat jah­re­lang die Re­kla­me­trom­mel für ih­ren Sohn ge­rührt und al­le un­an­ge­neh­men Din­ge von ihm fern­ge­hal­ten – ne­ben­bei ge­sagt, die an­ge­neh­men auch, denn Leo ge­hör­te nur ihr al­lein. Und als sie dann plötz­lich starb, war Leo ei­ne Zeit­lang völ­lig am Bo­den zer­stört. Aber er hat sich längst wie­der ge­fan­gen. Leo ist ein groß­ar­ti­ger Künst­ler, und er ist im­mer mehr im Kom­men.«

So­viel er­fuhr ich von Har­ry. Es war weiß Gott nicht viel. Oder doch?

Es war im­mer­hin so viel, daß ich auf mei­nem Nach­hau­se­weg dar­über nach­dach­te. Da gab es al­so den klei­nen Leo Wein­stein, das Wun­der­kind, und sei­ne Mut­ter, die in an­be­te­te. Sie hat­te ihn ge­hegt und ge­pflegt, sie hat­te ihn von al­len Ab­len­kun­gen fern­ge­hal­ten und dar­auf ge­ach­tet, daß er üb­te und sich wei­ter­bil­de­te. Sie hat­te sich um al­les ge­küm­mert und al­le We­ge so für ihn ge­eb­net, daß er völ­lig ab­hän­gig von ihr wur­de. Und als dann der bra­ve Kna­be sei­nen ers­ten Kon­zertabend gab, hat­te sie ihm Mr. Stein­way ge­schenkt.

Na­tür­lich war für Leo die Welt zu­sam­men­ge­stürzt, als sei­ne Mut­ter starb. Es ge­hör­te nicht viel da­zu, um sich das vor­zu­stel­len. Aber er be­gann in dem Au­gen­blick wie­der auf­zu­le­ben, als er sich an das Ge­schenk sei­ner Mut­ter klam­mer­te. Mr. Stein­way war in der Tat mehr als nur ein Flü­gel. Aber auf an­de­re Art, als Leo es mir weis­zu­ma­chen ver­such­te. Mr. Stein­way nahm den Platz sei­ner Mut­ter ein. Und sei­ne Per­sön­lich­keit hat­te we­ni­ger mit Schwin­gungs­fre­quen­zen als mit ei­nem Ödi­pus­kom­plex zu tun.

Ich sah jetzt al­les in ei­nem an­de­ren Licht. Wenn Leo auf der Couch lag und den Ein­druck ei­nes To­ten er­weck­te, dann kehr­te er in sei­ner Phan­ta­sie in den Schoß sei­ner Mut­ter zu­rück. Und sei­ne ›Ver­stän­di­gungs­mög­lich­kei­ten‹ mit leb­lo­sen Din­gen war nichts wei­ter als der Ver­such, mit sei­ner Mut­ter auch über das Grab hin­aus in Ver­bin­dung zu blei­ben.

So war es. So muß­te es ganz ein­fach sein. Aber wie soll­te ich ge­gen die­sen Zu­stand an­kämp­fen? Ob die un­sicht­ba­ren Strän­ge nun von sei­ner Mut­ter oder von Mr. Stein­way aus­gin­gen – sie bil­de­ten auf al­le Fäl­le einen gor­di­schen Kno­ten, den ich kaum zu lö­sen ver­moch­te.

Als ich mei­ne Woh­nung er­reich­te, hat­te ich mich auch zu ei­nem Ent­schluß durch­ge­run­gen. Ich muß­te Leo aus mei­nem Le­ben strei­chen. Es sei denn …

Er er­war­te­te mich vor der Woh­nungs­tür.

Es ist so ein­fach, lo­gisch zu den­ken und nüch­tern die Kon­se­quen­zen zu zie­hen – wenn man al­lein ist. Aber dann nimmt einen je­mand in sei­ne Ar­me, und man fühlt, daß man dort­hin ge­hört; und dann ver­spricht ei­nem die­ser Je­mand, daß al­les ganz an­ders wer­den wird, daß er sich ab so­fort än­dern wird, weil er einen liebt und nicht oh­ne einen le­ben kann. Wo bleibt die Lo­gik und Nüch­tern­heit, wenn die Däm­me­rung her­ein­bricht und spä­ter die Ster­ne fun­kelnd am nächt­li­chen Him­mel ste­hen?

Ich muß jetzt sehr ge­nau wer­den. Es ist wich­tig, daß ich mich ge­nau an die Tat­sa­chen hal­te. Ich will Ih­nen be­rich­ten, was am nächs­ten Nach­mit­tag ge­sch­ah, als ich zu ihm in sei­ne Woh­nung ging.

Die Tür war, wie im­mer, un­ver­schlos­sen, und ich hat­te ir­gend­wie das Ge­fühl, nach Hau­se zu kom­men. Ich hat­te die­ses Ge­fühl, bis ich sah, daß die Schie­be­tür zu dem an­de­ren Raum ge­schlos­sen war, bis ich auf die Tür zu­ging, bis ich die Mu­sik hör­te … Leo und Mr. Stein­way spiel­ten wie­der.

Wenn ich sa­ge, daß ich die Mu­sik hör­te, so stimmt das nicht ganz. Ge­nau­so­we­nig wie man den schril­len Angst­schrei ei­nes Men­schen als Spra­che be­zeich­nen wür­de. Wie soll ich mich aus­drücken? Die Tö­ne, die vom Flü­gel her ka­men, muß­ten mit den Lau­ten Ähn­lich­keit ha­ben, die Leo als Schwin­gun­gen be­zeich­ne­te. Mit ei­nem­mal glaub­te ich Leo zu ver­ste­hen.

Ich hör­te das Trom­pe­ten der Ele­fan­ten, ich hör­te das Äch­zen der Zwei­ge im Nacht­wind, das Split­tern ge­fäll­ter Bäu­me, das Zi­schen glü­hen­den Me­talls und wie­der das Trom­pe­ten der Ele­fan­ten. Es wa­ren kei­ne Ge­räusche im ei­gent­li­chen Sin­ne. Es wa­ren – Schwin­gun­gen. Die to­te Ma­te­rie war nicht mehr tot. Mr. Stein­way leb­te.

Als ich die Tür auf­s­tieß, ver­ebb­ten plötz­lich die Ge­räusche. Mr. Stein­way schwieg. Und er war al­lein.

Ja­wohl, er war al­lein. Ich täusch­te mich nicht.

Und Leo saß in der äu­ßers­ten Ecke des Zim­mers. Er hock­te zu­sam­men­ge­sun­ken auf ei­nem Stuhl und hat­te wie­der sei­ne To­ten­mas­ke auf­ge­setzt.

Er konn­te un­mög­lich in die­sem Au­gen­blick auf­ge­hört ha­ben zu spie­len und durch das Zim­mer ge­rast sein, um auf dem Stuhl zu­sam­men­zu­sin­ken. Und noch viel we­ni­ger konn­te er das Al­le­gro kom­po­niert ha­ben, das Mr. Stein­way ge­spielt hat­te.

Ich rüt­tel­te Leo wach und sank in sei­ne Ar­me. Ich er­zähl­te ihm schluch­zend, was ich ge­ra­de ge­hört hat­te. Aber er zuck­te nur die Ach­seln und mur­mel­te: »So et­was kann vor­kom­men. Jetzt hast du es we­nigs­tens ein­mal selbst er­lebt. Glaubst du nun, daß Mr. Stein­way exis­tiert, daß er sich be­merk­bar ma­chen kann, daß er kein leb­lo­ses Ding, son­dern ei­ne ei­ge­ne Per­sön­lich­keit ist? Ich ha­be dir doch ge­sagt, daß es ei­ne Ver­stän­di­gung auf Ge­gen­sei­tig­keit ist. Er kann mei­ne Kräf­te an­zap­fen, um sich sel­ber stark zu ma­chen. Wenn ich mich ge­hen­las­se, über­nimmt er mei­ne Funk­ti­on. Hast du es eben nicht selbst er­lebt?«

Das hat­te ich. Ich ver­such­te, mei­ne Furcht zu un­ter­drücken und mei­ner Stim­me Fes­tig­keit zu ver­lei­hen. »Komm mit mir in das an­de­re Zim­mer«, sag­te ich. »Jetzt. So­fort. Be­ei­le dich und stel­le kei­ne Fra­gen.«

Ich woll­te kei­ne Fra­gen hö­ren, weil ich ihm nicht ein­ge­ste­hen woll­te, daß ich mich fürch­te­te, in Mr. Stein­ways Ge­gen­wart zu spre­chen. Denn Mr. Stein­way konn­te hö­ren; und er war ei­fer­süch­tig.

Mr. Stein­way soll­te nicht hö­ren, wie ich zu Leo sag­te: »Du mußt ihn los­wer­den. Es ist mir völ­lig gleich­gül­tig, ob er le­ben­dig ist oder ob wir bei­de ver­rückt sind. Wich­tig ist nur, daß du ihn los­wirst. Und zwar so­fort. Geh von ihm fort. Laßt uns zu­sam­men da­von­lau­fen.«

Er nick­te. Aber da­mit gab ich mich nicht zu­frie­den.

»Hör mir ge­nau zu, Leo«, sag­te ich ein­dring­lich. »Ich fra­ge dich nur ein­mal, und du mußt dich gleich ent­schei­den. Willst du Mr. Stein­way jetzt, heu­te noch, ver­las­sen und mit mir ge­hen? Ich mei­ne es ernst. Pa­cke das Nö­tigs­te in einen Kof­fer und sei in ei­ner hal­b­en Stun­de in mei­ner Woh­nung. Ich wer­de Har­ry an­ru­fen und ihm ir­gend et­was er­zäh­len. Das ist al­les nicht so wich­tig. Wich­tig ist, daß wir von hier fort­kom­men. Ich füh­le ge­nau, daß wir kei­ne Zeit zu ver­lie­ren ha­ben.«

Als mich Leo an­schau­te, nahm sein Ge­sicht wie­der den to­ten Aus­druck an. Ich hol­te tief Luft und war­te­te dar­auf, daß hin­ter mir wie­der das schreck­li­che Tö­nen ein­set­zen wür­de. Aber nichts der­glei­chen ge­sch­ah, und als ich Leo zwang, mir in die Au­gen zu bli­cken, kehr­te in sein Ge­sicht die Far­be zu­rück, und er lä­chel­te mich an. Als ich er­leich­tert auf­at­me­te, sag­te er:

»Ich bin in zwan­zig Mi­nu­ten bei dir. Mit mei­nem Ge­päck.«

Al­les wür­de in Ord­nung kom­men! Ich ging ei­lig die Trep­pen hin­un­ter. Und al­les war in Ord­nung. Es war auch noch in Ord­nung, als ich auf die Stra­ße kam. Aber dann hör­te ich auf ein­mal die Schwin­gun­gen mei­ner ho­hen Ab­sät­ze. Mir wur­de das Ge­räusch, das die Rä­der auf dem Pflas­ter mach­ten, be­wußt und das Sin­gen der Te­le­fon­dräh­te im Wind. Das Kli­cken der Ver­kehrs­am­peln dröhn­te in mei­nen Oh­ren. Ich er­faß­te die Ge­räusche un­ter den Ge­räuschen. Die Stim­me der Stadt häm­mer­te auf mich ein. Ich spür­te die Qual des As­phalts, die Me­lan­cho­lie des Be­tons und die Pein des zer­split­ter­ten Hol­zes. Die ein­zel­nen Ma­te­ria­li­en, aus de­nen mei­ne Klei­dungs­stücke her­ge­stellt wa­ren, stöhn­ten und jam­mer­ten und er­füll­ten mich mit Ent­set­zen. Al­les um mich her­um wog­te und war vol­ler Schwin­gun­gen.

Nichts sah an­ders als vor­her aus, aber al­les hat­te sich ver­än­dert. Denn die Welt war le­ben­dig ge­wor­den. Gleich­zei­tig mit die­ser Er­kennt­nis wur­de mir auch der un­ge­heu­re Le­bens­kampf be­wußt, den die ein­zel­nen Ma­te­ri­en aus­foch­ten.

Mei­ne Schrit­te wa­ren le­ben­dig ge­wor­den. Das Trep­pen­ge­län­der war ei­ne end­los lan­ge brau­ne Schlan­ge. Es tat dem Schlüs­sel weh, im Schloß um­ge­dreht zu wer­den. Als ich den Kof­fer auf das Bett warf, schri­en die Sprung­fe­dern ent­rüs­tet auf, und die Klei­der stöhn­ten, als ich sie in den pro­tes­tie­ren­den Kof­fer warf. Der Spie­gel schim­mer­te sil­bern vor Qual, und der Lip­pen­stift schrie, als er von mei­nen Lip­pen zer­quetscht wur­de. Ich wür­de nie, nie wie­der et­was es­sen kön­nen. Denn was wür­de erst dann pas­sie­ren!

Aber ich zwang mich, al­les zu tun, was nö­tig war. Als ich auf mei­ne Uhr blick­te, ver­such­te ich nur das Ti­cken zu hö­ren und nicht das Quiet­schen der Schrau­ben und das Mur­ren des Me­talls.

Die zwan­zig Mi­nu­ten muß­ten ver­ge­hen!

Aber ich stell­te fest, daß be­reits vier­zig Mi­nu­ten ver­gan­gen wa­ren. Und ich hat­te noch nicht ein­mal Har­ry an­ge­ru­fen. Der schwar­ze Hö­rer und die fest­ge­na­gel­ten Te­le­fon­dräh­te am Bo­den ver­ur­sach­ten mir Übel­keit.

Leo müß­te längst hier sein!

Der Ge­dan­ke, wie­der über die Stra­ße zu ge­hen, war kaum zu er­tra­gen. Aber die Angst um Leo war stär­ker als die Furcht vor der Stra­ße.

Ich be­gab mich al­so wie­der in die schäu­men­de Sym­pho­nie, wo al­le Ge­räusche Schwin­gun­gen wa­ren und al­le Schwin­gun­gen leb­ten. Als ich in Leos Woh­nung trat, war al­les dun­kel.

Al­les war dun­kel bis auf Mr. Stein­ways Zäh­ne, die wie Stoß­zäh­ne ei­nes Ele­fan­ten aus ei­nem Wald von Eben­holz und Teak schim­mer­ten. Es war un­mög­lich, daß Leo Mr. Stein­way von dem hin­te­ren Zim­mer in den vor­de­ren Raum ge­scho­ben hat­te. Au­ßer­dem haß­te Leo Cho­pin. Er wür­de nicht im Dun­keln sit­zen und den Trau­er­marsch spie­len …

Auf Mr. Stein­ways Zäh­nen hat­ten sich klei­ne Trop­fen ge­bil­det, die eben­falls glit­zer­ten. Und Mr. Stein­ways schwe­re Fü­ße wa­ren feucht. Ich konn­te die­se Fü­ße im­mer deut­li­cher se­hen, denn Mr. Stein­way roll­te und rum­pel­te lang­sam, aber un­auf­hör­lich durch den Raum auf mich zu. Er spiel­te und spiel­te da­bei und woll­te mir sa­gen: ›Mach die Au­gen auf und schau, schau, schau.‹ Und ich sah Leo auf dem Bo­den. Er war tot. Wirk­lich tot. Al­le Macht war jetzt in Mr. Stein­way ver­eint. Die Macht zu spie­len, die Macht zu le­ben, die Macht zu tö­ten …

Ja, es ist wahr. Ich ha­be nach den Streich­höl­zern ge­grif­fen und den Schwe­fel be­freit. Ich ha­be das Feu­er an­ge­zün­det, da­mit das Knis­tern al­le Schwin­gun­gen aus­lö­schen soll­te. Es war ei­ne Er­leich­te­rung und Wohl­tat zu se­hen, wie Mr. Stein­way sei­ne achtun­dacht­zig Zäh­ne fletsch­te, und zu hö­ren, wie er nach ei­nem letz­ten brül­len­den Auf­schrei ver­stumm­te. Ich ge­ste­he, daß ich das Feu­er an­ge­zün­det ha­be. Ich ge­ste­he, daß ich Mr. Stein­way ge­tö­tet ha­be.

Aber Leo ha­be ich nicht ge­tö­tet! Warum fra­gen Sie nicht sie? Sie sind zwar ver­brannt, aber sie wis­sen es. Fra­gen Sie die Couch. Fra­gen Sie den Tep­pich. Fra­gen Sie die Bil­der an den Wän­den. Sie ha­ben ge­se­hen, was pas­siert ist. Sie wis­sen, daß mich kei­ne Schuld trifft.

Sie kön­nen sie be­fra­gen. Sie brau­chen nichts wei­ter als in der La­ge zu sein, sich mit Schwin­gun­gen in Ver­bin­dung zu set­zen, mit ih­nen Kon­takt auf­zu­neh­men. Neh­men Sie mich nur als Bei­spiel. Ich kann al­les hö­ren, was sie hier in die­sem Raum sa­gen. Ich ver­ste­he die Fens­ter und die Wän­de und die Tü­ren und die Rie­gel.

Mehr ha­be ich nicht zu sa­gen. Wenn Sie mir nicht glau­ben, wenn Sie mir nicht hel­fen wol­len, dann las­sen Sie mich bes­ser al­lein. Dann las­sen Sie mich hier in Ru­he sit­zen und lau­schen.

Auf die Fens­ter, auf die Wän­de, auf die Tü­ren, auf die Rie­gel …