Henoch, der Eingeweihte

 

Der An­fang ist im­mer gleich.

Zu­erst ist das Ge­fühl da.

Wis­sen Sie, wie das ist, wenn über Ih­ren Kopf klei­ne Fü­ße lau­fen? Klei­ne Fü­ße, die ei­lig hin und her und her und hin lau­fen?

So fängt es im­mer an.

Sie kön­nen nicht se­hen, wer da um­her­mar­schiert. Es ist ja im­mer­hin oben auf Ih­rem Kopf. Wenn Sie sich für ge­scheit hal­ten, war­ten Sie auf ei­ne güns­ti­ge Ge­le­gen­heit und fah­ren sich mit ei­ner ra­schen Hand­be­we­gung durch die Haa­re. Aber der klei­ne Spa­zier­gän­ger ist auf der Hut. Auf die­se Wei­se wer­den Sie ihn nie er­wi­schen. Selbst wenn Sie bei­de Hand­flä­chen an Ih­ren Kopf pres­sen, ge­lingt es ihm im­mer, zu ent­wi­schen.

Er ist un­heim­lich fix.

Sie kön­nen ihn auch nicht ein­fach igno­rie­ren. Wenn Sie sei­nen Fuß­trit­ten kei­ne Be­ach­tung schen­ken, geht er einen Schritt wei­ter. Er schlän­gelt sich über Ih­ren Nacken zum Ohr und be­ginnt zu flüs­tern. Sie kön­nen sei­nen klei­nen kal­ten Kör­per füh­len, der sich fest ge­gen die Ober­flä­che Ih­res Ge­hirns preßt. Sei­ne Kral­len müs­sen aus Samt sein, denn sie schmer­zen bei der Be­rüh­rung nicht. Spä­ter al­ler­dings fin­den sie klei­ne Krat­zer auf Ih­rem Nacken, die blu­ten und blu­ten. Aber wäh­rend er sich fort­be­wegt, füh­len Sie nichts wei­ter als die Ge­gen­wart ei­nes klei­nen kal­ten Et­was, das sich an Ih­ren Kör­per preßt und flüs­tert.

Das ist der Mo­ment, in dem Sie ver­su­chen, ge­gen ihn anzu­kämp­fen. Sie be­mü­hen sich, nicht auf sei­ne Ein­flüs­te­rungen zu hö­ren. Denn wenn Sie erst ein­mal zu­hö­ren, sind Sie ver­lo­ren. Sie sind dann ge­zwun­gen, sei­ne Be­feh­le aus­zu­füh­ren.

Er ist ein bö­ser Kerl! Und er ist sehr klug!

Er weiß ge­nau, wie er sie ein­schüch­tern und be­dro­hen kann, wenn Sie es wa­gen, ihm wi­der­ste­hen zu wol­len. Ich wa­ge es seit lan­ger Zeit kaum noch, denn ich ha­be da­bei im­mer den kür­ze­ren ge­zo­gen. Es ist bes­ser, ihm gleich zu­zu­hö­ren und ihm dann zu ge­hor­chen.

So­lan­ge ich ihm zu­hö­re, schei­nen die Din­ge, die er mir ins Ohr flüs­tert, gar nicht ein­mal so schlimm zu sein. Sei­ne Stim­me klingt sanft und doch über­zeu­gend, wenn er mich über­re­det. Er will mich in Ver­su­chung brin­gen. Er ver­spricht mir den Him­mel auf Er­den.

Und er hält sein Ver­spre­chen auch. Al­le Leu­te hal­ten mich für arm, weil ich nie Geld ha­be und in die­ser al­ten Hüt­te am Ran­de des Sump­fes le­be. Aber er ver­steht es, mich reich zu ma­chen.

Wenn ich das tue, was er von mir ver­langt, dann ent­führt er mich für ein paar Ta­ge von mei­nem ei­ge­nen Ich. Wis­sen Sie, es gibt au­ßer­halb die­ser Welt an­de­re Plät­ze; und an die­sen Plät­zen bin ich Kö­nig.

Die Leu­te la­chen mich aus und sa­gen, ich hät­te kei­ne Freun­de; und die Mäd­chen im Ort nen­nen mich ei­ne Vo­gel­scheu­che. Wenn sie al­le wüß­ten, daß er mir manch­mal – nach­dem ich sei­ne Be­feh­le aus­ge­führt ha­be – Kö­ni­gin­nen ins Bett legt!

Nichts wei­ter als Träu­me? Das glau­be ich nicht. Es ist um­ge­kehrt. Das an­de­re Le­ben ist ein Traum, das Le­ben in der schä­bi­gen Hüt­te am Ran­de des Sump­fes. Dort kommt mir nichts mehr wirk­lich vor.

Nicht ein­mal das Tö­ten …

Ja, ich tö­te Men­schen.

Das ist es, was He­noch von mir ver­langt, müs­sen Sie wis­sen.

Das ist es, was er mir zu­flüs­tert. Er for­dert von mir, daß ich für ihn Men­schen tö­te.

Ich mag das nicht. Ich sag­te Ih­nen, glau­be ich, schon, daß ich zu­erst da­ge­gen an­ge­kämpft ha­be, nicht wahr? Aber jetzt ha­be ich nicht mehr die Kraft, zu kämp­fen.

Er will, daß ich Men­schen für ihn um­brin­ge. He­noch. Das klei­ne We­sen, das oben auf mei­nem Kopf lebt. Ich kann ihn nicht se­hen. Ich kann ihn nicht fan­gen. Ich kann ihn nur füh­len, ihn hö­ren und ihm ge­hor­chen.

Von Zeit zu Zeit läßt er mich ein paar Ta­ge al­lein. Aber dann ist er plötz­lich wie­der da, und ich füh­le, wie er über mei­nen Kopf krab­belt. Sein Flüs­tern dringt deut­lich und ein­dring­lich in mei­ne Oh­ren. Er er­zählt mir dann von je­man­dem, der durch den Sumpf kom­men wird.

Ich ha­be kei­ne Ah­nung, wo­her er das al­les weiß. Ob­wohl er die Be­tref­fen­den nicht ge­se­hen ha­ben kann, be­schreibt er sie in al­ler Aus­führ­lich­keit. Er sagt zum Bei­spiel:

»Ein Va­ga­bund kommt die Ay­les­wor­thy Road her­un­ter. Es ist ein klei­ner, di­cker Mann mit ei­ner Glat­ze. Sein Na­me ist Mi­ke. Er ist mit blau­en Ho­sen und ei­nem brau­nen Pull­over be­klei­det. In zehn Mi­nu­ten, wenn die Son­ne un­ter­geht, wird er in den Sumpf ab­bie­gen. Er wird sich un­ter dem großen Baum beim Schuttabla­de­platz aus­ru­hen.

Du ver­steckst dich am bes­ten hin­ter dem Baum und war­test, bis er sich nach Holz zum Feu­er­ma­chen um­sieht. Dann weißt du, was du zu tun hast. Ho­le jetzt die Axt. Und be­ei­le dich!«

Manch­mal fra­ge ich He­noch, was er mir da­für ge­ben wird, aber meist ver­traue ich ihm blind. Au­ßer­dem weiß ich, daß ich den Be­fehl ja so­wie­so aus­füh­ren muß. Al­so kann ich mich auch gleich ans Werk ma­chen. He­noch irrt sich auch nie­mals, und er hält mir Schwie­rig­kei­ten vom Lei­be.

Das heißt, das hat er im­mer ge­tan – bis auf den letz­ten Fall.

Als ich ei­nes Abends in mei­ner Hüt­te saß und ge­ra­de beim Abend­brot war, fing er an, mir von die­sem Mäd­chen zu er­zäh­len. »Sie wird dich be­su­chen«, flüs­ter­te er. »Sie ist ein bild­hüb­sches Mäd­chen. Sie ist klein und zier­lich und hat sehr zar­te Kno­chen.«

Zu­erst dach­te ich, daß He­noch von ei­ner mei­ner Be­loh­nun­gen sprach, aber dann stell­te ich fest, daß er ein We­sen aus Fleisch und Blut mein­te.

»Sie wird an dei­ne Tür klop­fen und dich bit­ten, ihr Au­to wie­der in Gang zu brin­gen. Sie woll­te den Weg in die Stadt ver­kür­zen und ist über, ei­ne Ne­ben­stra­ße ge­fah­ren. Da­bei ist sie in den Sumpf ge­ra­ten und hat ei­ne Pan­ne. Ein Rei­fen muß ge­wech­selt wer­den.« Es war selt­sam, He­noch über so et­was wie Au­to­rei­fen re­den zu hö­ren. Aber He­noch kann­te sich da­mit aus. Es gibt nichts, was er nicht weiß oder nicht kann.

»Du wirst mit ihr ge­hen, wenn sie dich um Hil­fe bit­tet. Du brauchst nichts mit­zu­neh­men. Im Au­to ist ein Schrau­ben­schlüs­sel. Be­nut­ze den.«

Die­ses Mal mach­te ich wie­der den Ver­such, mich zu wehren. »Ich will es nicht tun, ich will es nicht tun«, win­sel­te ich.

Aber er lach­te nur. Und dann sag­te er mir, was er mit mir ma­chen wür­de, wenn ich mich wei­ger­te. Er sag­te es mir wie­der und wie­der.

»Ist es nicht bes­ser, ich tue es ihr an und nicht dir?« flüs­ter­te He­noch. »Oder ist es dir lie­ber, wenn ich … ?«

»Nein, nein«, be­eil­te ich mich zu sa­gen. »Ich ma­che es schon.«

Und ich tat es.

Nach fünf Mi­nu­ten klopf­te sie an mei­ne Tür, und es war ge­nau­so, wie He­noch es mir zu­ge­flüs­tert hat­te. Sie war bild­hübsch und hat­te blon­de Haa­re. Ich lie­be blon­de Haa­re. Als ich mit ihr in den Sumpf ging, war ich sehr froh, daß ich ih­re blon­den Haa­re nicht zer­stö­ren muß­te. Ich ließ den Schrau­ben­schlüs­sel auf ihr Ge­nick nie­der­sau­sen.

He­noch hat­te mir al­les ge­nau vor­ge­schrie­ben.

Dann ver­scharr­te ich ih­ren Kör­per im Trieb­sand. He­noch war bei mir und ach­te­te dar­auf, daß ich die Fuß­spu­ren be­sei­tig­te.

Das Au­to be­rei­te­te mir ei­ni­ges Kopf­zer­bre­chen, aber He­noch zeig­te mir, wie ich es mit ei­nem mor­schen Baum­stumpf be­schwe­ren soll­te. Ich war nicht so si­cher, daß das Au­to im Sumpf ver­sin­ken wür­de. Aber es war so. Und es ging schnel­ler, als ich ge­glaubt hat­te.

Ich at­me­te er­leich­tert auf, als ich das Au­to ver­schwin­den sah, und warf den Schrau­ben­schlüs­sel hin­ter­her.

Dann be­folg­te ich He­nochs An­wei­sung, nach Hau­se zu ge­hen.

Ich fühl­te, wie ich wie­der in mei­ne an­de­re Welt hin­über­g­litt.

He­noch hat­te mir dies­mal ei­ne be­son­de­re Be­loh­nung ver­spro­chen, und ich ver­sank so­fort in einen tie­fen Schlaf. Ich spür­te kaum noch, wie der Druck von mei­nem Kopf ver­schwand, denn He­noch ver­ließ mich, um in den Sumpf zu­rück­zu­ei­len, wo ihn sei­ne Be­loh­nung er­war­te­te …

Ich ha­be kei­ne Ah­nung, wie lan­ge ich ge­schla­fen ha­be. Aber es muß ei­ne lan­ge Zeit ge­we­sen sein. Als ich lang­sam wie­der zu mir kam, merk­te ich, daß He­noch wie­der bei mir war, und hat­te gleich­zei­tig das dump­fe Ge­fühl, daß ir­gend et­was nicht stimm­te.

Als ich das Häm­mern an mei­ner Tür hör­te, wur­de ich mit ei­nem Schla­ge völ­lig mun­ter.

Ich saß er­starrt da und war­te­te, daß mir He­noch et­was zu­flüs­tern wür­de, daß er mir sa­gen wür­de, was ich tun soll­te.

Aber He­noch schlief jetzt. Er schlief im­mer – da­nach. Nichts konn­te ihn wäh­rend der nächs­ten Ta­ge we­cken, und wäh­rend die­ser Zeit war ich ein frei­er Mensch. Sonst ge­noß ich die­se Frei­heit. Aber heu­te nicht. Ich brauch­te sei­ne Hil­fe.

Ich konn­te nicht län­ger war­ten, denn das Häm­mern wur­de im­mer stär­ker und ein­dring­li­cher.

Ich stand auf und öff­ne­te die Tür. Un­ser al­ter She­riff Shel­by stand vor mir.

»Komm mit, Seth«, sag­te er. »Ich wer­de dich ins Ge­fäng­nis brin­gen.«

Ich sag­te kein Wort. Sei­ne ste­chen­den schwar­zen Au­gen schie­nen in je­den Win­kel mei­ner arm­se­li­gen Hüt­te zu drin­gen. Als er dann sei­nen Blick auf mich rich­te­te, wä­re ich am liebs­ten im Erd­bo­den ver­sun­ken. Ich fürch­te­te mich.

Er konn­te na­tür­lich He­noch nicht se­hen. Kei­ner kann ihn se­hen. Aber He­noch war da; ich fühl­te sein leich­tes Ge­wicht auf mei­nem Kopf. Er hat­te sich un­ter mei­nen Haa­ren zur Ru­he ge­bet­tet und schlief so fried­lich wie ein Ba­by. »Emi­ly Rob­bins Fa­mi­lie hat mir ge­sagt, daß Emi­ly den Weg durch den Sumpf ab­kür­zen woll­te«, er­klär­te der She­riff. »Wir konn­ten die Rei­fen­spu­ren bis zu dem al­ten Trieb­sand ver­fol­gen.«

Die Rei­fen­spu­ren! He­noch hat­te nicht an die Rei­fen­spu­ren ge­dacht. Was soll­te ich al­so sa­gen? Au­ßer­dem po­saun­te der She­riff:

»Al­les, was du sagst, kann ge­gen dich ver­wen­det wer­den. Komm jetzt!«

Was blieb mir al­so an­de­res üb­rig, als mit ihm zu ge­hen?

Als wir zu­sam­men in den Ort fuh­ren, woll­ten sich die Men­schen auf das Au­to stür­zen. In der Men­ge wa­ren auch vie­le Frau­en, die den Män­nern zu­schri­en, daß sie mich ›fas­sen‹ soll­ten.

Doch She­riff Shel­by hielt die Meu­te zu­rück, und schließ­lich war ich heil im Ge­fäng­nis ge­lan­det. Sie sperr­ten mich in die mitt­le­re Zel­le. Ich war ganz al­lein, denn die bei­den an­de­ren Zel­len wa­ren nicht be­setzt. Ganz al­lein – bis auf He­noch. Aber der schlief wie ein To­ter.

Gleich im Mor­gen­grau­en fuhr She­riff Shel­by mit ei­ni­gen sei­ner Leu­te wie­der fort. Ich schät­ze, daß er ver­su­chen woll­te, die Lei­che aus dem Trieb­sand zu ber­gen. Ich wun­der­te mich, daß er nicht den Ver­such mach­te, mich aus­zu­fra­gen.

Da war Charles Pot­ter ganz an­ders. Der woll­te al­les wis­sen. She­riff Shel­by hat­te ihm wäh­rend sei­ner Ab­we­sen­heit die Auf­sicht über das Ge­fäng­nis über­ge­ben. Charles Pot­ter brach­te mir nach ei­ner Wei­le das Früh­stück und lun­ger­te um mei­ne Zel­le her­um. Er über­schüt­te­te mich mit Fra­gen. Ich schwieg. Ein Narr wie Charles Pot­ter wä­re der letz­te Mensch, mit dem ich dar­über re­den wür­de. Er hielt mich für ver­rückt. Ge­nau­so wie die Meu­te, die vor dem Ge­fäng­nis gröl­te. Die meis­ten Leu­te in der Stadt hiel­ten mich für ver­rückt. Wahr­schein­lich we­gen mei­ner Mut­ter und weil ich drau­ßen ganz al­lein am Ran­de des Sump­fes haus­te.

Was hät­te ich Charles Pot­ter auch schon sa­gen kön­nen? Wenn ich ihm von He­noch er­zähl­te, wür­de er so­wie­so kein Wort glau­ben.

Al­so sag­te ich nichts.

Ich hör­te aber ge­nau zu, als Charles Pot­ter zu re­den an­fing.

Er be­rich­te­te über die Su­che nach Emi­ly Rob­bins und sag­te, daß sich der She­riff auch über die an­de­ren Per­so­nen, die im Lau­fe der letz­ten Zeit ver­schwun­den wä­ren, Ge­dan­ken mach­te. Er pro­phe­zei­te mir, daß es ei­ne große Ver­hand­lung ge­ben wür­de, zu der der Staats­an­walt aus der Kreis­stadt kom­men wür­de. Au­ßer­dem hät­te er ge­hört, daß man gleich einen Arzt zu mir schi­cken woll­te.

Ich hat­te dann auch kaum mein Früh­stück be­en­det, als der Arzt schon ein­trat. Charles Pot­ter, der ihn vor­fah­ren sah, hat­te ihn her­ein­ge­las­sen. Er hat­te Mü­he, die Meu­te drau­ßen zu­rück­zu­hal­ten, die mit dem Arzt zu­sam­men ins Ge­fäng­nis drin­gen woll­te. Ich schät­ze, die da drau­ßen woll­ten mich lyn­chen.

Der Arzt war ein klei­ner Mann und hat­te einen die­ser ko­mi­schen Ba­cken­bär­te. Nach­dem er Charles Pot­ter hin­aus­ge­schickt hat­te, nahm er vor mei­ner Zel­len­tür Platz und be­gann, mit mir zu re­den.

Sein Na­me war Dr. Sil­vers­mith.

Bis zu die­sem Au­gen­blick war ich über­haupt noch nicht zu mir selbst ge­kom­men. Es war al­les so schnell ge­gan­gen, daß ich kei­ne Mög­lich­keit ge­habt hat­te, einen kla­ren Ge­dan­ken zu fas­sen.

Das Gan­ze kam mir wie der Teil ei­nes Trau­mes vor. Der She­riff und die Meu­te drau­ßen, die mich lyn­chen woll­ten, das Ge­re­de über einen großen Pro­zeß und die Lei­che im Sumpf.

Das än­der­te sich aber ir­gend­wie beim An­blick von Dr. Sil­vers­mith. Er war wirk­lich.

Er saß vor mei­ner Zel­len­tür, schau­te mich ru­hig an und stell­te Fra­gen. Zu­erst ein­mal woll­te er wis­sen, was mit mei­ner Mut­ter ge­sche­hen ist.

Er schi­en al­so ei­ne gan­ze Men­ge über mich zu wis­sen. Und das mach­te mir das Spre­chen leich­ter. Ehe ich so recht wuß­te, wie mir ge­sch­ah, war ich schon da­bei, ihm ei­ni­ges aus mei­nem Le­ben zu be­rich­ten. Ich er­zähl­te ihm, wie es war, als ich noch mit mei­ner Mut­ter zu­sam­men in der Hüt­te wohn­te, wie sie ih­ren Lie­bes­trank her­stell­te und ver­kauf­te, wie wir im Mond­schein die Kräu­ter sam­mel­ten und wie ihr großer Tie­gel aus­sah. Ich sag­te, daß sie nachts das Haus al­lei­ne ver­las­sen hät­te und daß ich ihr selt­sa­mes Ge­mur­mel aus der Fer­ne ver­nom­men hät­te.

Mehr woll­te ich nicht sa­gen, aber er wuß­te so­wie­so Be­scheid. Er wuß­te, daß sie mei­ne Mut­ter ei­ne He­xe ge­nannt hat­ten. Er wuß­te so­gar, wie sie ge­stor­ben war: daß San­to Di­no­rel­li ei­nes Abends vor der Tür ge­stan­den und ihr sein Mes­ser ins Herz ge­sto­ßen hat­te, weil sie für sei­ne Toch­ter den Lie­bes­trank ge­braut hat­te, wor­auf­hin die Toch­ter mit ei­nem Fal­len­stel­ler da­von­ge­lau­fen war. Er wuß­te auch, daß ich da­nach al­lein in der Hüt­te beim Sumpf leb­te.

Aber er wuß­te nichts von He­noch. He­noch, der die gan­ze Zeit auf mei­nem Kopf war und jetzt schlief und sich den Teu­fel dar­um scher­te, was mit mir pas­sier­te …

Aus ir­gend­ei­nem Grund hat­te ich das Ver­lan­gen, mit Dr. Sil­vers­mith über He­noch zu spre­chen. Ich woll­te ihm er­klä­ren, daß nicht ich es war, der die­ses Mäd­chen ge­tö­tet hat­te. So kam es, daß ich He­noch er­wähn­te. Ich er­zähl­te ihm von dem Han­del, den mei­ne Mut­ter in den Wäl­dern ab­ge­schlos­sen hat­te. Sie hat­te mich da­zu nicht mit­ge­nom­men – ich war da­mals erst zwölf Jah­re alt ge­we­sen –, aber sie hat­te ein klei­nes Fläsch­chen mit mei­nem Blut bei sich.

Als sie zu­rück­kam, hat­te sie He­noch da­bei. Sie sag­te, er sol­le mir für al­le Zei­ten ge­hö­ren, auf mich auf­pas­sen und mir im­mer hel­fen. Ich er­zähl­te das sehr vor­sich­tig und ver­such­te zu er­klä­ren, daß mich für das, was ich jetzt ge­tan ha­be, kei­ne Schuld trifft, weil ich seit dem To­de mei­ner Mut­ter im­mer auf He­noch hö­ren muß.

O ja, He­noch hat­te mich in den gan­zen Jah­ren ge­nau­so be­schützt, wie es sich mei­ne Mut­ter vor­ge­stellt hat­te. Sie wuß­te, daß ich al­lein nicht fer­tig wer­den konn­te.

Das al­les er­zähl­te ich Dr. Sil­vers­mith, weil ich ihn für einen wei­sen Mann hielt und glaub­te, er wür­de es ver­ste­hen.

Aber das war ein Irr­tum.

Ich merk­te es, als sich Dr. Sil­vers­mith vor­beug­te, mit der Hand über sei­nen Ba­cken­bart strich und un­auf­hör­lich »ja, ja« mur­mel­te. Sei­ne Au­gen schau­ten mich durch­drin­gend an. Sein Blick glich den Bli­cken der Meu­te vor dem Ge­fäng­nis. Es wa­ren nie­der­träch­ti­ge, ge­mei­ne Au­gen, Au­gen, de­nen man nicht trau­en kann.

Dann stell­te er ei­ne Men­ge un­sin­ni­ge Fra­gen an mich. Zu­erst über He­noch – ob­wohl ich wuß­te, daß er nur vor­gab, an He­noch zu glau­ben. Er frag­te mich, wie ich He­noch hö­ren könn­te, wenn ich ihn doch nicht se­hen konn­te. Er frag­te mich, ob ich auch je­mals an­de­re Stim­men ge­hört hät­te und was ich ge­fühlt hät­te, als ich Emi­ly Rob­bins tö­te­te, und ob ich – aber an die­se Fra­ge möch­te ich gar nicht mehr den­ken. Auf al­le Fäl­le re­de­te er so zu mir, als ob er einen Ver­rück­ten vor sich hät­te.

Er hat­te mich die gan­ze Zeit zum Nar­ren ge­hal­ten, als er so tat, als wüß­te er nichts von He­noch. Das be­wies er jetzt, als er sich er­kun­dig­te, wie­viel an­de­re Men­schen ich schon ge­tö­tet hät­te. Und dann woll­te er wis­sen, wo die Köp­fe ge­blie­ben wä­ren.

Aber er konn­te mich nicht län­ger zum Nar­ren hal­ten.

Ich lach­te ihm nur ins Ge­sicht und sag­te kein ein­zi­ges Wort mehr.

Er re­de­te noch ei­ne Wei­le ein­dring­lich auf mich ein, aber dann gab er es auf. Er ent­fern­te sich kopf­schüt­telnd. Ich lach­te ihm nach, weil es ihm nicht ge­lun­gen war, das her­aus­zu­fin­den, was er wis­sen woll­te. Er hät­te ger­ne al­le Ge­heim­nis­se mei­ner Mut­ter, mei­ne Ge­heim­nis­se und He­nochs Ge­heim­nis­se her­aus­be­kom­men.

Aber er hat­te es nicht ge­schafft, und ich lach­te.

Dann streck­te ich mich auf der har­ten Prit­sche aus und schlief ein. Ich schlief fast den gan­zen Nach­mit­tag über.

Als ich schließ­lich die Au­gen auf­schlug, stand ein an­de­rer Mann vor mei­ner Zel­len­tür. Er hat­te ein fet­tes Ge­sicht, auf dem sich jetzt ein freund­li­ches Grin­sen aus­brei­te­te, und gut­mü­ti­ge Au­gen.

»Hal­lo, Seth«, sag­te er sehr freund­lich, »ha­ben Sie ein klei­nes Nicker­chen ge­macht?«

Ich fuhr mir mit der Hand über den Kopf. Ich konn­te He­noch nicht füh­len, aber ich wuß­te, daß er da war und im­mer noch schlief. Er be­weg­te sich auch im Schlaf.

»Sie brau­chen kei­nen Schreck zu be­kom­men«, sag­te der Mann, »ich will Ih­nen nichts an­tun.«

»Hat Sie die­ser – Dok­tor ge­schickt?« frag­te ich.

Der Mann lach­te. »Aber nein«, sag­te er. »Mein Na­me ist Cas­si­dy. Ed­win Cas­si­dy. Ich bin der Staats­an­walt und ha­be den Auf­trag, mich mit Ih­nen zu be­schäf­ti­gen. Ha­ben Sie et­was da­ge­gen, wenn ich zu Ih­nen her­ein­kom­me und mich set­ze?«

»Ich bin ein­ge­sperrt«, er­wi­der­te ich.

»Dar­an soll es nicht lie­gen. Ich ha­be vom She­riff die Schlüs­sel be­kom­men«, sag­te Mr. Cas­si­dy freund­lich. Er zog die Schlüs­sel aus der Ho­sen­ta­sche und schloß mei­ne Zel­le auf. Dann kam er her­ein und nahm ne­ben mir auf der Prit­sche Platz.

»Ha­ben Sie denn kei­ne Angst?« frag­te ich ihn. »Sie wis­sen doch, daß man an­nimmt, ich sei ein Mör­der.«

»Nein, Seth«, lach­te Mr. Cas­si­dy, »ich fürch­te mich nicht vor Ih­nen. Ich weiß, daß Sie kei­ner Flie­ge et­was zu­lei­de tun wol­len.«

Ich zuck­te nicht zu­sam­men, als er mir die Hand auf die Schul­ter leg­te. Es war ei­ne große, gu­te, sanf­te Hand. An ei­nem Fin­ger hat­te er einen großen Dia­mant­ring, der in der Son­ne fun­kel­te.

»Was macht He­noch?« frag­te er. Ich sprang auf.

»Das ist schon in Ord­nung«, sag­te Mr. Cas­si­dy. »Als ich die­sen Dumm­kopf von Arzt auf der Stra­ße ge­trof­fen ha­be, hat er mir da­von er­zählt. Er ver­steht das nicht mit He­noch, nicht wahr, Seth? Aber Sie und ich, wir bei­de wis­sen das bes­ser.«

»Der Dok­tor denkt, daß ich ver­rückt bin«, flüs­ter­te ich.

»Soll er. Aber un­ter uns ge­sagt, Seth, ist es na­tür­lich auch zu An­fang sehr schwer, dar­an zu glau­ben. Aber et­was an­de­res: Ich bin ge­ra­de vom Sumpf zu­rück­ge­kom­men. She­riff Shel­by und ei­ni­ge sei­ner Leu­te sind im­mer noch drau­ßen.

Sie ha­ben ge­ra­de vor ei­ner Wei­le Emi­ly Rob­bins Lei­che ge­fun­den. Und noch ein paar an­de­re Lei­chen. Die von ei­nem di­cken Mann, von ei­nem klei­nen Jun­gen und von ir­gend­ei­nem Far­bi­gen. Im Trieb­sand ver­we­sen sie nicht so schnell, müs­sen Sie wis­sen.«

Als ich ihm einen ra­schen Blick zu­warf, sah ich, daß sei­ne Au­gen im­mer noch lä­chel­ten. Da wuß­te ich, daß ich die­sem Mann ver­trau­en konn­te.

»Wenn sie wei­ter­su­chen, wer­den sie noch mehr Lei­chen fin­den, nicht wahr, Seth?«

Ich nick­te.

»Aber ich hat­te kei­ne Ver­an­las­sung, län­ger drau­ßen im Sumpf zu blei­ben. Ich ha­be ge­nug ge­se­hen, um zu wis­sen, daß Sie die Wahr­heit ge­sagt ha­ben. He­noch muß Sie ge­zwun­gen ha­ben, die­se Din­ge zu tun, nicht wahr, Seth?« Ich nick­te wie­der.

»Gut«, sag­te Mr. Cas­si­dy und drück­te mei­ne Schul­ter. »Sie se­hen, daß wir bei­de uns gut ver­ste­hen. Ich ma­che Ih­nen kei­ne Vor­wür­fe – was im­mer Sie mir auch er­zäh­len wer­den.«

»Was wol­len Sie denn wis­sen?«

»Oh, ei­ne gan­ze Men­ge. Vor al­len Din­gen in­ter­es­siert mich He­noch sehr. Wie vie­le Men­schen soll­ten Sie denn bis­her für ihn tö­ten – ich mei­ne – al­les in al­lem?«

»Neun«, ent­geg­ne­te ich.

»Und sind al­le neun im Trieb­sand be­gra­ben?«

»Ja.«

»Ken­nen Sie ih­re Na­men?«

»Nur die we­nigs­ten.« Ich nann­te ihm die Na­men, die ich kann­te. »Häu­fig be­schreibt mir He­noch den Be­tref­fen­den nur«, er­klär­te ich.

Mr. Cas­si­dy ki­cher­te und hol­te ei­ne Zi­gar­re aus sei­ner Ta­sche. Ich run­zel­te die Stirn.

»Sie mö­gen es nicht, wenn ich rau­che, wie?«

»Nein – bit­te – ent­schul­di­gen Sie. Mei­ne Mut­ter hielt nichts vom Rau­chen. Sie hat es mir nie er­laubt.«

Jetzt lach­te Mr. Cas­si­dy laut auf. Aber er steck­te die Zi­gar­re wie­der weg und beug­te sich vor.

»Sie kön­nen mir sehr be­hilf­lich sein, Seth«, flüs­ter­te er. »Ich neh­me an, daß Sie wis­sen, was ein Staats­an­walt zu tun hat.«

»Er ist so ei­ne Art Rechts­an­walt bei Pro­zes­sen, nicht wahr?«

»Sehr rich­tig. Und man hat mich zu Ih­rem Pro­zeß her­be­or­dert. Nun kann ich mir vor­stel­len, daß es Ih­nen nicht an­ge­nehm ist, sich vor all die­se Leu­te zu stel­len und ih­nen zu er­zäh­len – was pas­siert ist. Ha­be ich recht?«

»Ja, Mr. Cas­si­dy.« Ich nick­te eif­rig. »Nicht vor die­sen ge­mei­nen Leu­ten hier in der Stadt. Sie has­sen mich.«

»Dann will ich Ih­nen einen Vor­schlag ma­chen. Sie er­zäh­len mir al­les ganz ge­nau, und ich spre­che dann für sie. Das ist die ein­fachs­te Sa­che der Welt.«

Ich wünsch­te so sehr, daß mir He­noch hel­fen wür­de. Aber er schlief im­mer noch. So muß­te ich selbst einen Ent­schluß fas­sen. Ich schau­te Mr. Cas­si­dy lan­ge an.

»Ja«, sag­te ich dann. »Ich wer­de Ih­nen al­les er­zäh­len.«

Und ich er­zähl­te ihm al­les, was ich wuß­te.

Als ich mit mei­ner Ge­schich­te zu En­de war, blick­te er ei­ne Wei­le schwei­gend vor sich hin, dann räus­per­te er sich.

»Noch ei­ne letz­te Fra­ge, Seth. Wir ha­ben im Sumpf ei­ni­ge Lei­chen ge­fun­den. Emi­ly Rob­bins Lei­che und ein paar an­de­re konn­ten wir iden­ti­fi­zie­ren. Aber es wä­re für uns ein­fa­cher, wenn wir noch et­was wüß­ten. Sie kön­nen mir das si­cher sa­gen, Seth.

Wo sind al­le die Köp­fe?«

Mr. Cas­si­dy ki­cher­te nicht mehr. Und er hör­te so in­ter­es­siert zu, daß er gar kei­ne Zeit mehr zum Ki­chern hat­te.

Ich stand auf und wand­te mich ab. »Ich kann Ih­nen das nicht sa­gen«, mur­mel­te ich, »ich weiß es sel­ber nicht.«

»Sie wis­sen es nicht?«

»Nein. Ich ha­be sie He­noch über­las­sen«, er­klär­te ich. »Ver­ste­hen Sie denn nicht – des­halb muß­te ich doch die Men­schen für ihn tö­ten; weil er die Köp­fe ha­ben woll­te.«

Mr. Cas­si­dy schau­te mich ver­blüfft an.

»Ich muß­te im­mer die Köp­fe ab­tren­nen und sie an Ort und Stel­le lie­gen­las­sen«, fuhr ich fort. »Die Lei­chen ha­be ich dann im Trieb­sand ver­scharrt und bin nach Hau­se ge­gan­gen. He­noch ver­half mir erst zu mei­nem Schlaf und be­lohn­te mich. Dann ging er fort – er kehr­te zu den Köp­fen zu­rück. Ge­nau das war es, was er woll­te.«

»Warum woll­te er die Köp­fe, Seth?«

Ich er­klär­te es ihm und sprach dann wei­ter: »Schau­en Sie, dar­um wür­de es Ih­nen gar nichts nüt­zen, wenn Sie die Köp­fe fän­den – Sie wür­den wahr­schein­lich doch nichts mehr er­ken­nen kön­nen.«

Mr. Cas­si­dy rich­te­te sich auf und seufz­te. »Wie konn­ten Sie zu­las­sen, daß He­noch sol­che ab­scheu­li­chen Din­ge tut?«

Ich zuck­te die Ach­seln. »Mir blieb gar nichts an­de­res üb­rig. Sonst hät­te er es mit mir so ge­macht. Da­mit hat er mir im­mer ge­droht, müs­sen Sie wis­sen. Er braucht die Köp­fe, um exis­tie­ren zu kön­nen. Al­so muß­te ich ihm wohl oder übel ge­hor­chen.«

Mr. Cas­si­dy ließ mich nicht aus den Au­gen, als er in der Zel­le has­tig auf und ab ging, aber er sag­te kein Wort. Er mach­te auf ein­mal einen sehr ner­vö­sen Ein­druck. Als ich mich ihm nä­her­te, trat er un­will­kür­lich einen Schritt zu­rück.

»Sie wer­den das doch al­les beim Pro­zeß er­klä­ren«, frag­te ich, »nicht wahr? Ich mei­ne – das mit He­noch – und über­haupt al­les?«

Er schüt­tel­te den Kopf.

»Ich wer­de bei der Ver­hand­lung nichts von He­noch er­wäh­nen, und Sie wer­den es auch nicht tun«, sag­te Mr. Cas­si­dy. »Kein Mensch soll über­haupt et­was von He­nochs Exis­tenz er­fah­ren.«

»Aber warum nicht?« stam­mel­te ich.

»Ich ver­su­che doch, Ih­nen zu hel­fen, Seth. Kön­nen Sie sich nicht vor­stel­len, was die Leu­te sa­gen wer­den, wenn wir et­was von He­noch er­wäh­nen? Sie wür­den Sie be­stimmt für ver­rückt er­klä­ren. Und das wol­len Sie doch nicht, nicht wahr?«

»Nein, na­tür­lich nicht. Aber was wol­len Sie sonst tun? Wie wol­len Sie mir hel­fen?«

Mr. Cas­si­dy lä­chel­te mich an.

»Ich bin si­cher, daß Sie sich vor He­noch fürch­ten … ent­schul­di­gen Sie, ich ha­be laut ge­dacht … aber was hal­ten Sie da­von, wenn Sie He­noch mir ge­ben wür­den?«

Ich schluck­te.

»Ja. Ich mei­ne es ernst. Was hal­ten Sie da­von, wenn Sie mir He­noch über­las­sen? Gleich, jetzt!

Las­sen Sie mich wäh­rend der Ver­hand­lung auf ihn auf­pas­sen. Dann wür­de er Ih­nen nicht ge­hö­ren, und Sie brauch­ten auch nichts von ihm zu er­wäh­nen. Au­ßer­dem glau­be ich, daß er auch nicht da­mit ein­ver­stan­den wä­re, wenn die Leu­te wüß­ten, was er treibt.«

»Da mö­gen Sie recht ha­ben«, mur­mel­te ich. »He­noch wür­de es mir sehr übel­neh­men und bö­se auf mich sein. Er ist ein Ge­heim­nis – wis­sen Sie. Aber ich mag Ih­nen He­noch nicht ge­ben, oh­ne ihn vor­her zu fra­gen – und er schläft jetzt.«

»Er schläft?«

»O ja. Mit­ten auf mei­nem Kopf. Sie kön­nen ihn nur nicht se­hen.« Mr. Cas­si­dy schau­te auf mei­nen Kopf und konn­te ein Schmun­zeln nicht un­ter­drücken.

»Oh – ich könn­te ihm al­les er­klä­ren, wenn er auf­wacht«, schlug er dann, wie­der ernst wer­dend, vor. »Wenn er er­fährt, daß es zu Ih­rem Bes­ten ge­sche­hen ist, wird er sich si­cher über die­se Lö­sung freu­en.«

»Ja – das kann schon so sein.« Ich at­me­te er­leich­tert auf. Dann fiel mir et­was ein. »Aber Sie müs­sen mir ver­spre­chen, gut auf ihn auf­zu­pas­sen, Mr. Cas­si­dy.«

»Aber na­tür­lich.«

»Und Sie wer­den ihm al­les ge­ben, was er ver­langt? Al­les, was er braucht?«

»Selbst­ver­ständ­lich«, ver­sprach Mr. Cas­si­dy.

»Und Sie wer­den kei­ner Men­schen­see­le et­was da­von sa­gen?«

»Kei­ner Men­schen­see­le.«

»Sie müs­sen sich aber dar­über klar sein, was mit Ih­nen ge­schieht, wenn Sie sich He­nochs Be­feh­len wi­der­set­zen«, warn­te ich Mr. Cas­si­dy. »Er wür­de sich dann das, was er braucht, von Ih­nen – mit Ge­walt neh­men.«

»Ma­chen Sie sich dar­über kei­ne Ge­dan­ken, Seth.«

Ich stand min­des­tens ei­ne Mi­nu­te lang re­gungs­los da, denn ich spür­te auf ein­mal, daß sich et­was auf mein Ohr zu be­weg­te.

»He­noch«, flüs­ter­te ich, »kannst du mich hö­ren?«

Er hör­te mich.

Ich er­klär­te ihm aus­führ­lich, wes­halb ich ihn für ei­ni­ge Zeit Mr. Cas­si­dy ge­ben woll­te. He­noch sag­te da­zu kein Wort.

Und Mr. Cas­si­dy sag­te auch kein Wort. Er saß nur da und grins­te. Ich kann mir vor­stel­len, daß es reich­lich selt­sam wirk­te, wie ich da auf ein – Nichts ein­re­de­te.

»Geh zu Mr. Cas­si­dy, He­noch«, flüs­ter­te ich ein­dring­lich. »Geh zu ihm. Gleich jetzt!«

Und He­noch ging.

Sein leich­tes Ge­wicht ver­schwand von mei­nem Kopf. Das war al­les. Aber ich wuß­te, daß er ge­gan­gen war.

»Spü­ren Sie He­noch, Mr. Cas­si­dy?« frag­te ich.

»Was? O ja – ge­wiß, ge­wiß«, brumm­te Mr. Cas­si­dy und er­hob sich.

»Pas­sen Sie gut auf He­noch auf«, bat ich ein­dring­lich.

»Aber si­cher.«

»Sie dür­fen Ih­ren Hut nicht auf­set­zen«, stot­ter­te ich. »He­noch kann kei­ne Hü­te lei­den.«

»Oh – ent­schul­di­gen Sie – dar­an ha­be ich nicht ge­dacht. Aber nun, Seth, möch­te ich mich für heu­te von Ih­nen ver­ab­schie­den. Sie wa­ren mir ei­ne große Hil­fe. Und von jetzt ab kön­nen wir He­noch ein­fach ver­ges­sen – ich mei­ne, wir brau­chen ihn an­de­ren Leu­ten ge­gen­über nicht zu er­wäh­nen.

Ich wer­de bald wie­der­kom­men und Sie über al­les, was mit dem Pro­zeß zu­sam­men­hängt, auf dem lau­fen­den hal­ten. Und was die­sen Dr. Sil­vers­mith an­geht: der rennt si­cher her­um und er­zählt al­len Leu­ten, daß Sie ver­rückt sind. Jetzt, wo He­noch bei mir ist, ist es viel­leicht das bes­te, Sie strei­ten ein­fach al­les ab, was Sie Dr. Sil­vers­mith ge­sagt ha­ben.«

Das leuch­te­te mir ein. Mr. Cas­si­dy war wirk­lich ein fei­ner Bur­sche. »Ich wer­de al­les tun, was Sie für rich­tig hal­ten, Mr. Cas­si­dy. Aber trotz­dem möch­te ich es Ih­nen noch ein­mal sa­gen: Be­han­deln Sie He­noch gut, und er wird Sie gut be­han­deln.«

Mr. Cas­si­dy schüt­tel­te mir zum Ab­schied die Hand, und dann ver­ließ er mich – und mit ihm He­noch. Die Mü­dig­keit über­wäl­tig­te mich wie­der. Viel­leicht lag es dar­an, weil die Span­nung von mir ge­wi­chen war oder aber an dem selt­sa­men Ge­fühl, das ich hat­te – das Be­wußt­sein, daß He­noch fort war.

Wie dem auch sein moch­te, ich fiel in einen tie­fen Schlaf. Es war schon dun­kel, als ich wie­der auf­wach­te. Charles Pot­ter trom­mel­te ge­gen mei­ne Zel­len­tür und brach­te mir das Abend­brot.

Als ich ihn freund­lich be­grüß­te, zuck­te er zu­sam­men und trat einen Schritt zu­rück.

»Mör­der!« kreisch­te er. »Sie ha­ben in­zwi­schen neun Lei­chen aus dem Sumpf ge­zo­gen. Du wahn­sin­ni­ges Un­ge­heu­er, du –«

»Aber Charles«, sag­te ich be­trübt, »ich ha­be Sie für einen Freund ge­hal­ten.«

»Blö­der Hund! Ich ge­he gleich weg und las­se dich hier al­lein ein­ge­sperrt. Der She­riff wird da­für sor­gen, daß kei­ner ein­dringt, um dich zu lyn­chen. Wenn du mich fragst, ist das rei­ne Zeit­ver­schwen­dung!«

Dann schal­te­te Charles al­le Lam­pen aus und ging. Ich hör­te noch, wie er die Vor­der­tür ver­schloß, und dann war ich ganz al­lein im Ge­fäng­nis.

Ganz al­lein! Es war ein selt­sa­mes Ge­fühl, zum ers­ten­mal seit vie­len Jah­ren al­lein zu sein. Ganz al­lein – oh­ne He­noch.

Ich strich mit der Hand über mei­nen Kopf. Ich kam mir ein­sam und ver­las­sen vor.

Der Mond schi­en in mei­ne Zel­le. Ich stand auf und schau­te durch die Git­ter­stä­be hin­durch auf die ver­las­se­ne Stra­ße. He­noch hat schon im­mer den Mond ge­liebt. Der Mond­schein mach­te ihn le­ben­dig. Er mach­te ihn ru­he­los und gie­rig. Ich frag­te mich, wie er sich jetzt bei Mr. Cas­si­dy füh­len moch­te.

Ich muß­te ei­ne gan­ze Wei­le in Ge­dan­ken ver­sun­ken an dem ver­git­ter­ten Fens­ter ge­stan­den ha­ben. Ich hör­te, daß je­mand an dem Tür­schloß her­um­fum­mel­te, und dreh­te mich lang­sam um. Ich merk­te, daß mei­ne Bei­ne ein­ge­schla­fen wa­ren.

Dann wur­de die Tür auf­ge­sto­ßen, und Mr. Cas­si­dy tau­mel­te her­ein. »Neh­men Sie ihn mir wie­der ab!« brüll­te er. »Neh­men Sie ihn um Got­tes wil­len zu­rück!«

»Aber was ist denn los?« frag­te ich.

»He­noch – die­ses Ding von Ih­nen – ich dach­te na­tür­lich, daß Sie ver­rückt sind – aber viel­leicht bin ich der Ver­rück­te – neh­men Sie ihn mir wie­der ab!«

»Aber warum denn, Mr. Cas­si­dy? Ich ha­be Ih­nen doch vor­her ge­sagt, wie He­noch ist.«

»Er tram­pelt mir auf dem Kopf her­um. Ich kann ihn ge­nau spü­ren. Und ich kann ihn hö­ren. Ich ver­ste­he ge­nau die Din­ge, die er mir ins Ohr flüs­tert!«

»Aber ich ha­be Ih­nen das doch al­les er­klärt, Mr. Cas­si­dy. He­noch will jetzt et­was von Ih­nen, nicht wahr? Und Sie wis­sen auch ganz ge­nau, was. Ich weiß gar nicht, was Sie wol­len. Sie müs­sen es ihm ge­ben. Sie ha­ben es ver­spro­chen!«

»Das kann ich nicht«, jam­mer­te Mr. Cas­si­dy. »Und ich wer­de nicht für ihn tö­ten. Er kann mich nicht zum Mör­der …«

»Er kann. Und er wird es.«

Mr. Cas­si­dys Hän­de um­klam­mer­ten die Git­ter­stä­be der Zel­len­tür. »Seth«, fleh­te er, »Sie müs­sen mir hel­fen! Ru­fen Sie He­noch zu sich. Neh­men Sie ihn zu­rück. Be­ei­len Sie sich! Schnell!«

»Al­so schön, Mr. Cas­si­dy«, mur­mel­te ich.

Ich rief He­noch.

Er ant­wor­te­te nicht.

Ich rief noch ein­mal.

Schwei­gen.

Mr. Cas­si­dy be­gann zu wei­nen. Das ver­setz­te mir einen Schock, und ich be­kam so et­was wie Mit­leid mit ihm. Er ver­stand eben doch nicht. Ich weiß ge­nau, wie es ist, wenn He­noch auf sei­ne Art flüs­tert. Erst schmei­chelt er, dann bit­tet er, dann for­dert er – und dann droht er.

»Es wä­re bes­ser für Sie, wenn Sie ihm ge­horch­ten«, sag­te ich zu Mr. Cas­si­dy. »Hat er Ih­nen ge­sagt, wen Sie tö­ten sol­len?«

Mr. Cas­si­dy schi­en über­haupt nicht zu hö­ren, was ich sag­te. Er wein­te nur un­un­ter­bro­chen. Dann hol­te er die Ge­fäng­nis­schlüs­sel her­vor und öff­ne­te die Zel­le, die ne­ben mei­ner lag. Er trat ein und ver­schloß die Zel­le von in­nen.

»Ich will es nicht«, schluchz­te er. »Ich will es nicht! Ich will es nicht …«

»Was wol­len Sie nicht?« frag­te ich.

»Ich will Dr. Sil­vers­mith nicht in sei­nem Ho­tel­zim­mer um­brin­gen und He­noch den Kopf ge­ben. Ich wer­de hier in der Zel­le blei­ben! Hier bin ich si­cher! Oh, du Un­ge­heu­er, du – du Teu­fel –«

Er ließ sich stöh­nend fal­len. Ich sah ihn durch die Git­ter­stä­be, die un­se­re Zel­len trenn­ten. Er saß ge­krümmt auf dem Fuß­bo­den und zerr­te an sei­nen Haa­ren.

»Sie müs­sen es ein­fach tun!« schrie ich. »Sonst tut Ih­nen He­noch et­was an! Bit­te! Mr. Cas­si­dy – bit­te! Be­ei­len Sie sich!«

Ein Stöh­nen ent­rang sich Mr. Cas­si­dys Brust. Dann wur­de er ohn­mäch­tig.

Ich nahm je­den­falls an, daß er ohn­mäch­tig wur­de, denn er sag­te nichts mehr und be­weg­te sich auch nicht mehr.

Ich rief sei­nen Na­men, aber er ant­wor­te­te nicht.

Was soll­te ich da ma­chen? Ich saß in ei­ner dunklen Ecke mei­ner Zel­le und starr­te in das Mond­licht, das Mond­licht, das He­noch im­mer wild mach­te.

Dann fing Mr. Cas­si­dy an zu schrei­en. Nicht laut. Es kam tief und gur­gelnd aus sei­ner Keh­le. Er rühr­te sich über­haupt nicht. Er schrie nur im­mer.

He­noch muß­te sich jetzt das von ihm neh­men, was er ha­ben woll­te. Was hat­te es für einen Sinn, hin­zu­schau­en? Ich konn­te He­noch nicht mehr auf­hal­ten. Aber ich hat­te Mr. Cas­si­dy ge­warnt.

Ich saß er­starrt in mei­ner Ecke und preß­te die Hän­de ge­gen die Oh­ren, bis al­les vor­bei war.

Dann schau­te ich wie­der auf. Mr. Cas­si­dys Kör­per lag im­mer noch ge­krümmt an den Git­ter­stä­ben.

Es war kein Laut zu hö­ren.

Doch nein – das stimm­te nicht! Es war et­was zu hö­ren!

Ein Schnur­ren. Ein lei­ses, weit ent­fern­tes Schnur­ren. He­noch schnurr­te im­mer, wenn er ei­ne Mahl­zeit zu sich ge­nom­men hat­te. Dann hör­te ich ein selt­sa­mes und doch ver­trau­tes Schar­ren. Ich wuß­te, daß es von He­nochs Klau­en her­rühr­te. Er pfleg­te freu­dig zu hüp­fen und um­her­zu­tol­len, wenn er satt war.

Das Schnur­ren und Schar­ren drang di­rekt aus dem In­ne­ren von Mr. Cas­si­dys Kopf.

Es konn­te al­so kein Zwei­fel be­ste­hen, daß es wirk­lich He­noch war. Und er war jetzt glück­lich.

Ich war auch glück­lich.

Ich lang­te mit der Hand durch die Git­ter­stä­be und zerr­te die Ge­fäng­nis­schlüs­sel aus Mr. Cas­si­dys Ta­sche. Ich öff­ne­te mei­ne Zel­len­tür und war wie­der frei.

Da Mr. Cas­si­dy da­von­ge­gan­gen war, hat­te ich auch kei­ne Ver­an­las­sung, hier län­ger zu blei­ben.

Und He­noch wür­de auch nicht blei­ben wol­len.

Ich rief ihn.

»Hier­her, He­noch!«

Das war das ers­te und ein­zi­ge Mal, daß ich ir­gend­wie et­was von He­noch zu se­hen be­kam. Ich sah ei­ne Art wei­ßen Strich, der auf­blit­zend aus dem großen ro­ten Loch her­vor­schoß, das er in Mr. Cas­si­dys Hin­ter­kopf ge­fres­sen hat­te.

Dann fühl­te ich, wie das fe­der­leich­te, kal­te, schlaf­fe Ge­wicht wie­der auf mei­nem ei­ge­nen Kopf lan­de­te.

Und ich wuß­te, daß He­noch heim­ge­kom­men war.

Ich ging lang­sam den Kor­ri­dor ent­lang und öff­ne­te die äu­ße­re Ge­fäng­nis­tür. He­nochs klei­ne Fü­ße trip­pel­ten dicht über mei­nem Ge­hirn.

Wir gin­gen zu­sam­men in die Nacht hin­ein. Der Mond schi­en, al­les war ru­hig, und ich konn­te He­nochs zu­frie­de­nes, still­ver­gnüg­tes Ki­chern an mei­nem Ohr hö­ren.