Henoch, der Eingeweihte
Der Anfang ist immer gleich.
Zuerst ist das Gefühl da.
Wissen Sie, wie das ist, wenn über Ihren Kopf kleine Füße laufen? Kleine Füße, die eilig hin und her und her und hin laufen?
So fängt es immer an.
Sie können nicht sehen, wer da umhermarschiert. Es ist ja immerhin oben auf Ihrem Kopf. Wenn Sie sich für gescheit halten, warten Sie auf eine günstige Gelegenheit und fahren sich mit einer raschen Handbewegung durch die Haare. Aber der kleine Spaziergänger ist auf der Hut. Auf diese Weise werden Sie ihn nie erwischen. Selbst wenn Sie beide Handflächen an Ihren Kopf pressen, gelingt es ihm immer, zu entwischen.
Er ist unheimlich fix.
Sie können ihn auch nicht einfach ignorieren. Wenn Sie seinen Fußtritten keine Beachtung schenken, geht er einen Schritt weiter. Er schlängelt sich über Ihren Nacken zum Ohr und beginnt zu flüstern. Sie können seinen kleinen kalten Körper fühlen, der sich fest gegen die Oberfläche Ihres Gehirns preßt. Seine Krallen müssen aus Samt sein, denn sie schmerzen bei der Berührung nicht. Später allerdings finden sie kleine Kratzer auf Ihrem Nacken, die bluten und bluten. Aber während er sich fortbewegt, fühlen Sie nichts weiter als die Gegenwart eines kleinen kalten Etwas, das sich an Ihren Körper preßt und flüstert.
Das ist der Moment, in dem Sie versuchen, gegen ihn anzukämpfen. Sie bemühen sich, nicht auf seine Einflüsterungen zu hören. Denn wenn Sie erst einmal zuhören, sind Sie verloren. Sie sind dann gezwungen, seine Befehle auszuführen.
Er ist ein böser Kerl! Und er ist sehr klug!
Er weiß genau, wie er sie einschüchtern und bedrohen kann, wenn Sie es wagen, ihm widerstehen zu wollen. Ich wage es seit langer Zeit kaum noch, denn ich habe dabei immer den kürzeren gezogen. Es ist besser, ihm gleich zuzuhören und ihm dann zu gehorchen.
Solange ich ihm zuhöre, scheinen die Dinge, die er mir ins Ohr flüstert, gar nicht einmal so schlimm zu sein. Seine Stimme klingt sanft und doch überzeugend, wenn er mich überredet. Er will mich in Versuchung bringen. Er verspricht mir den Himmel auf Erden.
Und er hält sein Versprechen auch. Alle Leute halten mich für arm, weil ich nie Geld habe und in dieser alten Hütte am Rande des Sumpfes lebe. Aber er versteht es, mich reich zu machen.
Wenn ich das tue, was er von mir verlangt, dann entführt er mich für ein paar Tage von meinem eigenen Ich. Wissen Sie, es gibt außerhalb dieser Welt andere Plätze; und an diesen Plätzen bin ich König.
Die Leute lachen mich aus und sagen, ich hätte keine Freunde; und die Mädchen im Ort nennen mich eine Vogelscheuche. Wenn sie alle wüßten, daß er mir manchmal – nachdem ich seine Befehle ausgeführt habe – Königinnen ins Bett legt!
Nichts weiter als Träume? Das glaube ich nicht. Es ist umgekehrt. Das andere Leben ist ein Traum, das Leben in der schäbigen Hütte am Rande des Sumpfes. Dort kommt mir nichts mehr wirklich vor.
Nicht einmal das Töten …
Ja, ich töte Menschen.
Das ist es, was Henoch von mir verlangt, müssen Sie wissen.
Das ist es, was er mir zuflüstert. Er fordert von mir, daß ich für ihn Menschen töte.
Ich mag das nicht. Ich sagte Ihnen, glaube ich, schon, daß ich zuerst dagegen angekämpft habe, nicht wahr? Aber jetzt habe ich nicht mehr die Kraft, zu kämpfen.
Er will, daß ich Menschen für ihn umbringe. Henoch. Das kleine Wesen, das oben auf meinem Kopf lebt. Ich kann ihn nicht sehen. Ich kann ihn nicht fangen. Ich kann ihn nur fühlen, ihn hören und ihm gehorchen.
Von Zeit zu Zeit läßt er mich ein paar Tage allein. Aber dann ist er plötzlich wieder da, und ich fühle, wie er über meinen Kopf krabbelt. Sein Flüstern dringt deutlich und eindringlich in meine Ohren. Er erzählt mir dann von jemandem, der durch den Sumpf kommen wird.
Ich habe keine Ahnung, woher er das alles weiß. Obwohl er die Betreffenden nicht gesehen haben kann, beschreibt er sie in aller Ausführlichkeit. Er sagt zum Beispiel:
»Ein Vagabund kommt die Aylesworthy Road herunter. Es ist ein kleiner, dicker Mann mit einer Glatze. Sein Name ist Mike. Er ist mit blauen Hosen und einem braunen Pullover bekleidet. In zehn Minuten, wenn die Sonne untergeht, wird er in den Sumpf abbiegen. Er wird sich unter dem großen Baum beim Schuttabladeplatz ausruhen.
Du versteckst dich am besten hinter dem Baum und wartest, bis er sich nach Holz zum Feuermachen umsieht. Dann weißt du, was du zu tun hast. Hole jetzt die Axt. Und beeile dich!«
Manchmal frage ich Henoch, was er mir dafür geben wird, aber meist vertraue ich ihm blind. Außerdem weiß ich, daß ich den Befehl ja sowieso ausführen muß. Also kann ich mich auch gleich ans Werk machen. Henoch irrt sich auch niemals, und er hält mir Schwierigkeiten vom Leibe.
Das heißt, das hat er immer getan – bis auf den letzten Fall.
Als ich eines Abends in meiner Hütte saß und gerade beim Abendbrot war, fing er an, mir von diesem Mädchen zu erzählen. »Sie wird dich besuchen«, flüsterte er. »Sie ist ein bildhübsches Mädchen. Sie ist klein und zierlich und hat sehr zarte Knochen.«
Zuerst dachte ich, daß Henoch von einer meiner Belohnungen sprach, aber dann stellte ich fest, daß er ein Wesen aus Fleisch und Blut meinte.
»Sie wird an deine Tür klopfen und dich bitten, ihr Auto wieder in Gang zu bringen. Sie wollte den Weg in die Stadt verkürzen und ist über, eine Nebenstraße gefahren. Dabei ist sie in den Sumpf geraten und hat eine Panne. Ein Reifen muß gewechselt werden.« Es war seltsam, Henoch über so etwas wie Autoreifen reden zu hören. Aber Henoch kannte sich damit aus. Es gibt nichts, was er nicht weiß oder nicht kann.
»Du wirst mit ihr gehen, wenn sie dich um Hilfe bittet. Du brauchst nichts mitzunehmen. Im Auto ist ein Schraubenschlüssel. Benutze den.«
Dieses Mal machte ich wieder den Versuch, mich zu wehren. »Ich will es nicht tun, ich will es nicht tun«, winselte ich.
Aber er lachte nur. Und dann sagte er mir, was er mit mir machen würde, wenn ich mich weigerte. Er sagte es mir wieder und wieder.
»Ist es nicht besser, ich tue es ihr an und nicht dir?« flüsterte Henoch. »Oder ist es dir lieber, wenn ich … ?«
»Nein, nein«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich mache es schon.«
Und ich tat es.
Nach fünf Minuten klopfte sie an meine Tür, und es war genauso, wie Henoch es mir zugeflüstert hatte. Sie war bildhübsch und hatte blonde Haare. Ich liebe blonde Haare. Als ich mit ihr in den Sumpf ging, war ich sehr froh, daß ich ihre blonden Haare nicht zerstören mußte. Ich ließ den Schraubenschlüssel auf ihr Genick niedersausen.
Henoch hatte mir alles genau vorgeschrieben.
Dann verscharrte ich ihren Körper im Triebsand. Henoch war bei mir und achtete darauf, daß ich die Fußspuren beseitigte.
Das Auto bereitete mir einiges Kopfzerbrechen, aber Henoch zeigte mir, wie ich es mit einem morschen Baumstumpf beschweren sollte. Ich war nicht so sicher, daß das Auto im Sumpf versinken würde. Aber es war so. Und es ging schneller, als ich geglaubt hatte.
Ich atmete erleichtert auf, als ich das Auto verschwinden sah, und warf den Schraubenschlüssel hinterher.
Dann befolgte ich Henochs Anweisung, nach Hause zu gehen.
Ich fühlte, wie ich wieder in meine andere Welt hinüberglitt.
Henoch hatte mir diesmal eine besondere Belohnung versprochen, und ich versank sofort in einen tiefen Schlaf. Ich spürte kaum noch, wie der Druck von meinem Kopf verschwand, denn Henoch verließ mich, um in den Sumpf zurückzueilen, wo ihn seine Belohnung erwartete …
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe. Aber es muß eine lange Zeit gewesen sein. Als ich langsam wieder zu mir kam, merkte ich, daß Henoch wieder bei mir war, und hatte gleichzeitig das dumpfe Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte.
Als ich das Hämmern an meiner Tür hörte, wurde ich mit einem Schlage völlig munter.
Ich saß erstarrt da und wartete, daß mir Henoch etwas zuflüstern würde, daß er mir sagen würde, was ich tun sollte.
Aber Henoch schlief jetzt. Er schlief immer – danach. Nichts konnte ihn während der nächsten Tage wecken, und während dieser Zeit war ich ein freier Mensch. Sonst genoß ich diese Freiheit. Aber heute nicht. Ich brauchte seine Hilfe.
Ich konnte nicht länger warten, denn das Hämmern wurde immer stärker und eindringlicher.
Ich stand auf und öffnete die Tür. Unser alter Sheriff Shelby stand vor mir.
»Komm mit, Seth«, sagte er. »Ich werde dich ins Gefängnis bringen.«
Ich sagte kein Wort. Seine stechenden schwarzen Augen schienen in jeden Winkel meiner armseligen Hütte zu dringen. Als er dann seinen Blick auf mich richtete, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Ich fürchtete mich.
Er konnte natürlich Henoch nicht sehen. Keiner kann ihn sehen. Aber Henoch war da; ich fühlte sein leichtes Gewicht auf meinem Kopf. Er hatte sich unter meinen Haaren zur Ruhe gebettet und schlief so friedlich wie ein Baby. »Emily Robbins Familie hat mir gesagt, daß Emily den Weg durch den Sumpf abkürzen wollte«, erklärte der Sheriff. »Wir konnten die Reifenspuren bis zu dem alten Triebsand verfolgen.«
Die Reifenspuren! Henoch hatte nicht an die Reifenspuren gedacht. Was sollte ich also sagen? Außerdem posaunte der Sheriff:
»Alles, was du sagst, kann gegen dich verwendet werden. Komm jetzt!«
Was blieb mir also anderes übrig, als mit ihm zu gehen?
Als wir zusammen in den Ort fuhren, wollten sich die Menschen auf das Auto stürzen. In der Menge waren auch viele Frauen, die den Männern zuschrien, daß sie mich ›fassen‹ sollten.
Doch Sheriff Shelby hielt die Meute zurück, und schließlich war ich heil im Gefängnis gelandet. Sie sperrten mich in die mittlere Zelle. Ich war ganz allein, denn die beiden anderen Zellen waren nicht besetzt. Ganz allein – bis auf Henoch. Aber der schlief wie ein Toter.
Gleich im Morgengrauen fuhr Sheriff Shelby mit einigen seiner Leute wieder fort. Ich schätze, daß er versuchen wollte, die Leiche aus dem Triebsand zu bergen. Ich wunderte mich, daß er nicht den Versuch machte, mich auszufragen.
Da war Charles Potter ganz anders. Der wollte alles wissen. Sheriff Shelby hatte ihm während seiner Abwesenheit die Aufsicht über das Gefängnis übergeben. Charles Potter brachte mir nach einer Weile das Frühstück und lungerte um meine Zelle herum. Er überschüttete mich mit Fragen. Ich schwieg. Ein Narr wie Charles Potter wäre der letzte Mensch, mit dem ich darüber reden würde. Er hielt mich für verrückt. Genauso wie die Meute, die vor dem Gefängnis grölte. Die meisten Leute in der Stadt hielten mich für verrückt. Wahrscheinlich wegen meiner Mutter und weil ich draußen ganz allein am Rande des Sumpfes hauste.
Was hätte ich Charles Potter auch schon sagen können? Wenn ich ihm von Henoch erzählte, würde er sowieso kein Wort glauben.
Also sagte ich nichts.
Ich hörte aber genau zu, als Charles Potter zu reden anfing.
Er berichtete über die Suche nach Emily Robbins und sagte, daß sich der Sheriff auch über die anderen Personen, die im Laufe der letzten Zeit verschwunden wären, Gedanken machte. Er prophezeite mir, daß es eine große Verhandlung geben würde, zu der der Staatsanwalt aus der Kreisstadt kommen würde. Außerdem hätte er gehört, daß man gleich einen Arzt zu mir schicken wollte.
Ich hatte dann auch kaum mein Frühstück beendet, als der Arzt schon eintrat. Charles Potter, der ihn vorfahren sah, hatte ihn hereingelassen. Er hatte Mühe, die Meute draußen zurückzuhalten, die mit dem Arzt zusammen ins Gefängnis dringen wollte. Ich schätze, die da draußen wollten mich lynchen.
Der Arzt war ein kleiner Mann und hatte einen dieser komischen Backenbärte. Nachdem er Charles Potter hinausgeschickt hatte, nahm er vor meiner Zellentür Platz und begann, mit mir zu reden.
Sein Name war Dr. Silversmith.
Bis zu diesem Augenblick war ich überhaupt noch nicht zu mir selbst gekommen. Es war alles so schnell gegangen, daß ich keine Möglichkeit gehabt hatte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Das Ganze kam mir wie der Teil eines Traumes vor. Der Sheriff und die Meute draußen, die mich lynchen wollten, das Gerede über einen großen Prozeß und die Leiche im Sumpf.
Das änderte sich aber irgendwie beim Anblick von Dr. Silversmith. Er war wirklich.
Er saß vor meiner Zellentür, schaute mich ruhig an und stellte Fragen. Zuerst einmal wollte er wissen, was mit meiner Mutter geschehen ist.
Er schien also eine ganze Menge über mich zu wissen. Und das machte mir das Sprechen leichter. Ehe ich so recht wußte, wie mir geschah, war ich schon dabei, ihm einiges aus meinem Leben zu berichten. Ich erzählte ihm, wie es war, als ich noch mit meiner Mutter zusammen in der Hütte wohnte, wie sie ihren Liebestrank herstellte und verkaufte, wie wir im Mondschein die Kräuter sammelten und wie ihr großer Tiegel aussah. Ich sagte, daß sie nachts das Haus alleine verlassen hätte und daß ich ihr seltsames Gemurmel aus der Ferne vernommen hätte.
Mehr wollte ich nicht sagen, aber er wußte sowieso Bescheid. Er wußte, daß sie meine Mutter eine Hexe genannt hatten. Er wußte sogar, wie sie gestorben war: daß Santo Dinorelli eines Abends vor der Tür gestanden und ihr sein Messer ins Herz gestoßen hatte, weil sie für seine Tochter den Liebestrank gebraut hatte, woraufhin die Tochter mit einem Fallensteller davongelaufen war. Er wußte auch, daß ich danach allein in der Hütte beim Sumpf lebte.
Aber er wußte nichts von Henoch. Henoch, der die ganze Zeit auf meinem Kopf war und jetzt schlief und sich den Teufel darum scherte, was mit mir passierte …
Aus irgendeinem Grund hatte ich das Verlangen, mit Dr. Silversmith über Henoch zu sprechen. Ich wollte ihm erklären, daß nicht ich es war, der dieses Mädchen getötet hatte. So kam es, daß ich Henoch erwähnte. Ich erzählte ihm von dem Handel, den meine Mutter in den Wäldern abgeschlossen hatte. Sie hatte mich dazu nicht mitgenommen – ich war damals erst zwölf Jahre alt gewesen –, aber sie hatte ein kleines Fläschchen mit meinem Blut bei sich.
Als sie zurückkam, hatte sie Henoch dabei. Sie sagte, er solle mir für alle Zeiten gehören, auf mich aufpassen und mir immer helfen. Ich erzählte das sehr vorsichtig und versuchte zu erklären, daß mich für das, was ich jetzt getan habe, keine Schuld trifft, weil ich seit dem Tode meiner Mutter immer auf Henoch hören muß.
O ja, Henoch hatte mich in den ganzen Jahren genauso beschützt, wie es sich meine Mutter vorgestellt hatte. Sie wußte, daß ich allein nicht fertig werden konnte.
Das alles erzählte ich Dr. Silversmith, weil ich ihn für einen weisen Mann hielt und glaubte, er würde es verstehen.
Aber das war ein Irrtum.
Ich merkte es, als sich Dr. Silversmith vorbeugte, mit der Hand über seinen Backenbart strich und unaufhörlich »ja, ja« murmelte. Seine Augen schauten mich durchdringend an. Sein Blick glich den Blicken der Meute vor dem Gefängnis. Es waren niederträchtige, gemeine Augen, Augen, denen man nicht trauen kann.
Dann stellte er eine Menge unsinnige Fragen an mich. Zuerst über Henoch – obwohl ich wußte, daß er nur vorgab, an Henoch zu glauben. Er fragte mich, wie ich Henoch hören könnte, wenn ich ihn doch nicht sehen konnte. Er fragte mich, ob ich auch jemals andere Stimmen gehört hätte und was ich gefühlt hätte, als ich Emily Robbins tötete, und ob ich – aber an diese Frage möchte ich gar nicht mehr denken. Auf alle Fälle redete er so zu mir, als ob er einen Verrückten vor sich hätte.
Er hatte mich die ganze Zeit zum Narren gehalten, als er so tat, als wüßte er nichts von Henoch. Das bewies er jetzt, als er sich erkundigte, wieviel andere Menschen ich schon getötet hätte. Und dann wollte er wissen, wo die Köpfe geblieben wären.
Aber er konnte mich nicht länger zum Narren halten.
Ich lachte ihm nur ins Gesicht und sagte kein einziges Wort mehr.
Er redete noch eine Weile eindringlich auf mich ein, aber dann gab er es auf. Er entfernte sich kopfschüttelnd. Ich lachte ihm nach, weil es ihm nicht gelungen war, das herauszufinden, was er wissen wollte. Er hätte gerne alle Geheimnisse meiner Mutter, meine Geheimnisse und Henochs Geheimnisse herausbekommen.
Aber er hatte es nicht geschafft, und ich lachte.
Dann streckte ich mich auf der harten Pritsche aus und schlief ein. Ich schlief fast den ganzen Nachmittag über.
Als ich schließlich die Augen aufschlug, stand ein anderer Mann vor meiner Zellentür. Er hatte ein fettes Gesicht, auf dem sich jetzt ein freundliches Grinsen ausbreitete, und gutmütige Augen.
»Hallo, Seth«, sagte er sehr freundlich, »haben Sie ein kleines Nickerchen gemacht?«
Ich fuhr mir mit der Hand über den Kopf. Ich konnte Henoch nicht fühlen, aber ich wußte, daß er da war und immer noch schlief. Er bewegte sich auch im Schlaf.
»Sie brauchen keinen Schreck zu bekommen«, sagte der Mann, »ich will Ihnen nichts antun.«
»Hat Sie dieser – Doktor geschickt?« fragte ich.
Der Mann lachte. »Aber nein«, sagte er. »Mein Name ist Cassidy. Edwin Cassidy. Ich bin der Staatsanwalt und habe den Auftrag, mich mit Ihnen zu beschäftigen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich zu Ihnen hereinkomme und mich setze?«
»Ich bin eingesperrt«, erwiderte ich.
»Daran soll es nicht liegen. Ich habe vom Sheriff die Schlüssel bekommen«, sagte Mr. Cassidy freundlich. Er zog die Schlüssel aus der Hosentasche und schloß meine Zelle auf. Dann kam er herein und nahm neben mir auf der Pritsche Platz.
»Haben Sie denn keine Angst?« fragte ich ihn. »Sie wissen doch, daß man annimmt, ich sei ein Mörder.«
»Nein, Seth«, lachte Mr. Cassidy, »ich fürchte mich nicht vor Ihnen. Ich weiß, daß Sie keiner Fliege etwas zuleide tun wollen.«
Ich zuckte nicht zusammen, als er mir die Hand auf die Schulter legte. Es war eine große, gute, sanfte Hand. An einem Finger hatte er einen großen Diamantring, der in der Sonne funkelte.
»Was macht Henoch?« fragte er. Ich sprang auf.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Mr. Cassidy. »Als ich diesen Dummkopf von Arzt auf der Straße getroffen habe, hat er mir davon erzählt. Er versteht das nicht mit Henoch, nicht wahr, Seth? Aber Sie und ich, wir beide wissen das besser.«
»Der Doktor denkt, daß ich verrückt bin«, flüsterte ich.
»Soll er. Aber unter uns gesagt, Seth, ist es natürlich auch zu Anfang sehr schwer, daran zu glauben. Aber etwas anderes: Ich bin gerade vom Sumpf zurückgekommen. Sheriff Shelby und einige seiner Leute sind immer noch draußen.
Sie haben gerade vor einer Weile Emily Robbins Leiche gefunden. Und noch ein paar andere Leichen. Die von einem dicken Mann, von einem kleinen Jungen und von irgendeinem Farbigen. Im Triebsand verwesen sie nicht so schnell, müssen Sie wissen.«
Als ich ihm einen raschen Blick zuwarf, sah ich, daß seine Augen immer noch lächelten. Da wußte ich, daß ich diesem Mann vertrauen konnte.
»Wenn sie weitersuchen, werden sie noch mehr Leichen finden, nicht wahr, Seth?«
Ich nickte.
»Aber ich hatte keine Veranlassung, länger draußen im Sumpf zu bleiben. Ich habe genug gesehen, um zu wissen, daß Sie die Wahrheit gesagt haben. Henoch muß Sie gezwungen haben, diese Dinge zu tun, nicht wahr, Seth?« Ich nickte wieder.
»Gut«, sagte Mr. Cassidy und drückte meine Schulter. »Sie sehen, daß wir beide uns gut verstehen. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe – was immer Sie mir auch erzählen werden.«
»Was wollen Sie denn wissen?«
»Oh, eine ganze Menge. Vor allen Dingen interessiert mich Henoch sehr. Wie viele Menschen sollten Sie denn bisher für ihn töten – ich meine – alles in allem?«
»Neun«, entgegnete ich.
»Und sind alle neun im Triebsand begraben?«
»Ja.«
»Kennen Sie ihre Namen?«
»Nur die wenigsten.« Ich nannte ihm die Namen, die ich kannte. »Häufig beschreibt mir Henoch den Betreffenden nur«, erklärte ich.
Mr. Cassidy kicherte und holte eine Zigarre aus seiner Tasche. Ich runzelte die Stirn.
»Sie mögen es nicht, wenn ich rauche, wie?«
»Nein – bitte – entschuldigen Sie. Meine Mutter hielt nichts vom Rauchen. Sie hat es mir nie erlaubt.«
Jetzt lachte Mr. Cassidy laut auf. Aber er steckte die Zigarre wieder weg und beugte sich vor.
»Sie können mir sehr behilflich sein, Seth«, flüsterte er. »Ich nehme an, daß Sie wissen, was ein Staatsanwalt zu tun hat.«
»Er ist so eine Art Rechtsanwalt bei Prozessen, nicht wahr?«
»Sehr richtig. Und man hat mich zu Ihrem Prozeß herbeordert. Nun kann ich mir vorstellen, daß es Ihnen nicht angenehm ist, sich vor all diese Leute zu stellen und ihnen zu erzählen – was passiert ist. Habe ich recht?«
»Ja, Mr. Cassidy.« Ich nickte eifrig. »Nicht vor diesen gemeinen Leuten hier in der Stadt. Sie hassen mich.«
»Dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen. Sie erzählen mir alles ganz genau, und ich spreche dann für sie. Das ist die einfachste Sache der Welt.«
Ich wünschte so sehr, daß mir Henoch helfen würde. Aber er schlief immer noch. So mußte ich selbst einen Entschluß fassen. Ich schaute Mr. Cassidy lange an.
»Ja«, sagte ich dann. »Ich werde Ihnen alles erzählen.«
Und ich erzählte ihm alles, was ich wußte.
Als ich mit meiner Geschichte zu Ende war, blickte er eine Weile schweigend vor sich hin, dann räusperte er sich.
»Noch eine letzte Frage, Seth. Wir haben im Sumpf einige Leichen gefunden. Emily Robbins Leiche und ein paar andere konnten wir identifizieren. Aber es wäre für uns einfacher, wenn wir noch etwas wüßten. Sie können mir das sicher sagen, Seth.
Wo sind alle die Köpfe?«
Mr. Cassidy kicherte nicht mehr. Und er hörte so interessiert zu, daß er gar keine Zeit mehr zum Kichern hatte.
Ich stand auf und wandte mich ab. »Ich kann Ihnen das nicht sagen«, murmelte ich, »ich weiß es selber nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Nein. Ich habe sie Henoch überlassen«, erklärte ich. »Verstehen Sie denn nicht – deshalb mußte ich doch die Menschen für ihn töten; weil er die Köpfe haben wollte.«
Mr. Cassidy schaute mich verblüfft an.
»Ich mußte immer die Köpfe abtrennen und sie an Ort und Stelle liegenlassen«, fuhr ich fort. »Die Leichen habe ich dann im Triebsand verscharrt und bin nach Hause gegangen. Henoch verhalf mir erst zu meinem Schlaf und belohnte mich. Dann ging er fort – er kehrte zu den Köpfen zurück. Genau das war es, was er wollte.«
»Warum wollte er die Köpfe, Seth?«
Ich erklärte es ihm und sprach dann weiter: »Schauen Sie, darum würde es Ihnen gar nichts nützen, wenn Sie die Köpfe fänden – Sie würden wahrscheinlich doch nichts mehr erkennen können.«
Mr. Cassidy richtete sich auf und seufzte. »Wie konnten Sie zulassen, daß Henoch solche abscheulichen Dinge tut?«
Ich zuckte die Achseln. »Mir blieb gar nichts anderes übrig. Sonst hätte er es mit mir so gemacht. Damit hat er mir immer gedroht, müssen Sie wissen. Er braucht die Köpfe, um existieren zu können. Also mußte ich ihm wohl oder übel gehorchen.«
Mr. Cassidy ließ mich nicht aus den Augen, als er in der Zelle hastig auf und ab ging, aber er sagte kein Wort. Er machte auf einmal einen sehr nervösen Eindruck. Als ich mich ihm näherte, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Sie werden das doch alles beim Prozeß erklären«, fragte ich, »nicht wahr? Ich meine – das mit Henoch – und überhaupt alles?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich werde bei der Verhandlung nichts von Henoch erwähnen, und Sie werden es auch nicht tun«, sagte Mr. Cassidy. »Kein Mensch soll überhaupt etwas von Henochs Existenz erfahren.«
»Aber warum nicht?« stammelte ich.
»Ich versuche doch, Ihnen zu helfen, Seth. Können Sie sich nicht vorstellen, was die Leute sagen werden, wenn wir etwas von Henoch erwähnen? Sie würden Sie bestimmt für verrückt erklären. Und das wollen Sie doch nicht, nicht wahr?«
»Nein, natürlich nicht. Aber was wollen Sie sonst tun? Wie wollen Sie mir helfen?«
Mr. Cassidy lächelte mich an.
»Ich bin sicher, daß Sie sich vor Henoch fürchten … entschuldigen Sie, ich habe laut gedacht … aber was halten Sie davon, wenn Sie Henoch mir geben würden?«
Ich schluckte.
»Ja. Ich meine es ernst. Was halten Sie davon, wenn Sie mir Henoch überlassen? Gleich, jetzt!
Lassen Sie mich während der Verhandlung auf ihn aufpassen. Dann würde er Ihnen nicht gehören, und Sie brauchten auch nichts von ihm zu erwähnen. Außerdem glaube ich, daß er auch nicht damit einverstanden wäre, wenn die Leute wüßten, was er treibt.«
»Da mögen Sie recht haben«, murmelte ich. »Henoch würde es mir sehr übelnehmen und böse auf mich sein. Er ist ein Geheimnis – wissen Sie. Aber ich mag Ihnen Henoch nicht geben, ohne ihn vorher zu fragen – und er schläft jetzt.«
»Er schläft?«
»O ja. Mitten auf meinem Kopf. Sie können ihn nur nicht sehen.« Mr. Cassidy schaute auf meinen Kopf und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Oh – ich könnte ihm alles erklären, wenn er aufwacht«, schlug er dann, wieder ernst werdend, vor. »Wenn er erfährt, daß es zu Ihrem Besten geschehen ist, wird er sich sicher über diese Lösung freuen.«
»Ja – das kann schon so sein.« Ich atmete erleichtert auf. Dann fiel mir etwas ein. »Aber Sie müssen mir versprechen, gut auf ihn aufzupassen, Mr. Cassidy.«
»Aber natürlich.«
»Und Sie werden ihm alles geben, was er verlangt? Alles, was er braucht?«
»Selbstverständlich«, versprach Mr. Cassidy.
»Und Sie werden keiner Menschenseele etwas davon sagen?«
»Keiner Menschenseele.«
»Sie müssen sich aber darüber klar sein, was mit Ihnen geschieht, wenn Sie sich Henochs Befehlen widersetzen«, warnte ich Mr. Cassidy. »Er würde sich dann das, was er braucht, von Ihnen – mit Gewalt nehmen.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Seth.«
Ich stand mindestens eine Minute lang regungslos da, denn ich spürte auf einmal, daß sich etwas auf mein Ohr zu bewegte.
»Henoch«, flüsterte ich, »kannst du mich hören?«
Er hörte mich.
Ich erklärte ihm ausführlich, weshalb ich ihn für einige Zeit Mr. Cassidy geben wollte. Henoch sagte dazu kein Wort.
Und Mr. Cassidy sagte auch kein Wort. Er saß nur da und grinste. Ich kann mir vorstellen, daß es reichlich seltsam wirkte, wie ich da auf ein – Nichts einredete.
»Geh zu Mr. Cassidy, Henoch«, flüsterte ich eindringlich. »Geh zu ihm. Gleich jetzt!«
Und Henoch ging.
Sein leichtes Gewicht verschwand von meinem Kopf. Das war alles. Aber ich wußte, daß er gegangen war.
»Spüren Sie Henoch, Mr. Cassidy?« fragte ich.
»Was? O ja – gewiß, gewiß«, brummte Mr. Cassidy und erhob sich.
»Passen Sie gut auf Henoch auf«, bat ich eindringlich.
»Aber sicher.«
»Sie dürfen Ihren Hut nicht aufsetzen«, stotterte ich. »Henoch kann keine Hüte leiden.«
»Oh – entschuldigen Sie – daran habe ich nicht gedacht. Aber nun, Seth, möchte ich mich für heute von Ihnen verabschieden. Sie waren mir eine große Hilfe. Und von jetzt ab können wir Henoch einfach vergessen – ich meine, wir brauchen ihn anderen Leuten gegenüber nicht zu erwähnen.
Ich werde bald wiederkommen und Sie über alles, was mit dem Prozeß zusammenhängt, auf dem laufenden halten. Und was diesen Dr. Silversmith angeht: der rennt sicher herum und erzählt allen Leuten, daß Sie verrückt sind. Jetzt, wo Henoch bei mir ist, ist es vielleicht das beste, Sie streiten einfach alles ab, was Sie Dr. Silversmith gesagt haben.«
Das leuchtete mir ein. Mr. Cassidy war wirklich ein feiner Bursche. »Ich werde alles tun, was Sie für richtig halten, Mr. Cassidy. Aber trotzdem möchte ich es Ihnen noch einmal sagen: Behandeln Sie Henoch gut, und er wird Sie gut behandeln.«
Mr. Cassidy schüttelte mir zum Abschied die Hand, und dann verließ er mich – und mit ihm Henoch. Die Müdigkeit überwältigte mich wieder. Vielleicht lag es daran, weil die Spannung von mir gewichen war oder aber an dem seltsamen Gefühl, das ich hatte – das Bewußtsein, daß Henoch fort war.
Wie dem auch sein mochte, ich fiel in einen tiefen Schlaf. Es war schon dunkel, als ich wieder aufwachte. Charles Potter trommelte gegen meine Zellentür und brachte mir das Abendbrot.
Als ich ihn freundlich begrüßte, zuckte er zusammen und trat einen Schritt zurück.
»Mörder!« kreischte er. »Sie haben inzwischen neun Leichen aus dem Sumpf gezogen. Du wahnsinniges Ungeheuer, du –«
»Aber Charles«, sagte ich betrübt, »ich habe Sie für einen Freund gehalten.«
»Blöder Hund! Ich gehe gleich weg und lasse dich hier allein eingesperrt. Der Sheriff wird dafür sorgen, daß keiner eindringt, um dich zu lynchen. Wenn du mich fragst, ist das reine Zeitverschwendung!«
Dann schaltete Charles alle Lampen aus und ging. Ich hörte noch, wie er die Vordertür verschloß, und dann war ich ganz allein im Gefängnis.
Ganz allein! Es war ein seltsames Gefühl, zum erstenmal seit vielen Jahren allein zu sein. Ganz allein – ohne Henoch.
Ich strich mit der Hand über meinen Kopf. Ich kam mir einsam und verlassen vor.
Der Mond schien in meine Zelle. Ich stand auf und schaute durch die Gitterstäbe hindurch auf die verlassene Straße. Henoch hat schon immer den Mond geliebt. Der Mondschein machte ihn lebendig. Er machte ihn ruhelos und gierig. Ich fragte mich, wie er sich jetzt bei Mr. Cassidy fühlen mochte.
Ich mußte eine ganze Weile in Gedanken versunken an dem vergitterten Fenster gestanden haben. Ich hörte, daß jemand an dem Türschloß herumfummelte, und drehte mich langsam um. Ich merkte, daß meine Beine eingeschlafen waren.
Dann wurde die Tür aufgestoßen, und Mr. Cassidy taumelte herein. »Nehmen Sie ihn mir wieder ab!« brüllte er. »Nehmen Sie ihn um Gottes willen zurück!«
»Aber was ist denn los?« fragte ich.
»Henoch – dieses Ding von Ihnen – ich dachte natürlich, daß Sie verrückt sind – aber vielleicht bin ich der Verrückte – nehmen Sie ihn mir wieder ab!«
»Aber warum denn, Mr. Cassidy? Ich habe Ihnen doch vorher gesagt, wie Henoch ist.«
»Er trampelt mir auf dem Kopf herum. Ich kann ihn genau spüren. Und ich kann ihn hören. Ich verstehe genau die Dinge, die er mir ins Ohr flüstert!«
»Aber ich habe Ihnen das doch alles erklärt, Mr. Cassidy. Henoch will jetzt etwas von Ihnen, nicht wahr? Und Sie wissen auch ganz genau, was. Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Sie müssen es ihm geben. Sie haben es versprochen!«
»Das kann ich nicht«, jammerte Mr. Cassidy. »Und ich werde nicht für ihn töten. Er kann mich nicht zum Mörder …«
»Er kann. Und er wird es.«
Mr. Cassidys Hände umklammerten die Gitterstäbe der Zellentür. »Seth«, flehte er, »Sie müssen mir helfen! Rufen Sie Henoch zu sich. Nehmen Sie ihn zurück. Beeilen Sie sich! Schnell!«
»Also schön, Mr. Cassidy«, murmelte ich.
Ich rief Henoch.
Er antwortete nicht.
Ich rief noch einmal.
Schweigen.
Mr. Cassidy begann zu weinen. Das versetzte mir einen Schock, und ich bekam so etwas wie Mitleid mit ihm. Er verstand eben doch nicht. Ich weiß genau, wie es ist, wenn Henoch auf seine Art flüstert. Erst schmeichelt er, dann bittet er, dann fordert er – und dann droht er.
»Es wäre besser für Sie, wenn Sie ihm gehorchten«, sagte ich zu Mr. Cassidy. »Hat er Ihnen gesagt, wen Sie töten sollen?«
Mr. Cassidy schien überhaupt nicht zu hören, was ich sagte. Er weinte nur ununterbrochen. Dann holte er die Gefängnisschlüssel hervor und öffnete die Zelle, die neben meiner lag. Er trat ein und verschloß die Zelle von innen.
»Ich will es nicht«, schluchzte er. »Ich will es nicht! Ich will es nicht …«
»Was wollen Sie nicht?« fragte ich.
»Ich will Dr. Silversmith nicht in seinem Hotelzimmer umbringen und Henoch den Kopf geben. Ich werde hier in der Zelle bleiben! Hier bin ich sicher! Oh, du Ungeheuer, du – du Teufel –«
Er ließ sich stöhnend fallen. Ich sah ihn durch die Gitterstäbe, die unsere Zellen trennten. Er saß gekrümmt auf dem Fußboden und zerrte an seinen Haaren.
»Sie müssen es einfach tun!« schrie ich. »Sonst tut Ihnen Henoch etwas an! Bitte! Mr. Cassidy – bitte! Beeilen Sie sich!«
Ein Stöhnen entrang sich Mr. Cassidys Brust. Dann wurde er ohnmächtig.
Ich nahm jedenfalls an, daß er ohnmächtig wurde, denn er sagte nichts mehr und bewegte sich auch nicht mehr.
Ich rief seinen Namen, aber er antwortete nicht.
Was sollte ich da machen? Ich saß in einer dunklen Ecke meiner Zelle und starrte in das Mondlicht, das Mondlicht, das Henoch immer wild machte.
Dann fing Mr. Cassidy an zu schreien. Nicht laut. Es kam tief und gurgelnd aus seiner Kehle. Er rührte sich überhaupt nicht. Er schrie nur immer.
Henoch mußte sich jetzt das von ihm nehmen, was er haben wollte. Was hatte es für einen Sinn, hinzuschauen? Ich konnte Henoch nicht mehr aufhalten. Aber ich hatte Mr. Cassidy gewarnt.
Ich saß erstarrt in meiner Ecke und preßte die Hände gegen die Ohren, bis alles vorbei war.
Dann schaute ich wieder auf. Mr. Cassidys Körper lag immer noch gekrümmt an den Gitterstäben.
Es war kein Laut zu hören.
Doch nein – das stimmte nicht! Es war etwas zu hören!
Ein Schnurren. Ein leises, weit entferntes Schnurren. Henoch schnurrte immer, wenn er eine Mahlzeit zu sich genommen hatte. Dann hörte ich ein seltsames und doch vertrautes Scharren. Ich wußte, daß es von Henochs Klauen herrührte. Er pflegte freudig zu hüpfen und umherzutollen, wenn er satt war.
Das Schnurren und Scharren drang direkt aus dem Inneren von Mr. Cassidys Kopf.
Es konnte also kein Zweifel bestehen, daß es wirklich Henoch war. Und er war jetzt glücklich.
Ich war auch glücklich.
Ich langte mit der Hand durch die Gitterstäbe und zerrte die Gefängnisschlüssel aus Mr. Cassidys Tasche. Ich öffnete meine Zellentür und war wieder frei.
Da Mr. Cassidy davongegangen war, hatte ich auch keine Veranlassung, hier länger zu bleiben.
Und Henoch würde auch nicht bleiben wollen.
Ich rief ihn.
»Hierher, Henoch!«
Das war das erste und einzige Mal, daß ich irgendwie etwas von Henoch zu sehen bekam. Ich sah eine Art weißen Strich, der aufblitzend aus dem großen roten Loch hervorschoß, das er in Mr. Cassidys Hinterkopf gefressen hatte.
Dann fühlte ich, wie das federleichte, kalte, schlaffe Gewicht wieder auf meinem eigenen Kopf landete.
Und ich wußte, daß Henoch heimgekommen war.
Ich ging langsam den Korridor entlang und öffnete die äußere Gefängnistür. Henochs kleine Füße trippelten dicht über meinem Gehirn.
Wir gingen zusammen in die Nacht hinein. Der Mond schien, alles war ruhig, und ich konnte Henochs zufriedenes, stillvergnügtes Kichern an meinem Ohr hören.