Der zuständige Geist
Mr. Ronald Cavendish schob den vollbeladenen Teewagen in das Eßzimmer. Er rückte noch ein wenig die Teller und Bestecke auf dem Tisch zurecht, dann drehte er sich um und betrachtete sich eingehend im Spiegel.
Was er sah, mißfiel ihm in keiner Weise. Er war – und sein Spiegelbild bestätigte es ihm – ein Gentleman der alten Schule. Ein Zyniker konnte vielleicht sagen, daß er wie ein Bilderbuch-Butler aus einem Bühnenstück wirkte, aber Mr. Cavendish hielt herzlich wenig von Zynikern.
Außerdem sollte sein altes, gediegenes Haus aus rotbraunem Sandstein, die wuchtigen Mahagonimöbel, das schwere Tafelsilber, kurzum, das offenbare Vorhandensein eines beachtlichen Bankvermögens jeden Zyniker eines Besseren belehren. Und das galt auch für zynische Verwandte!
Mr. Cavendish verzog sein Gesicht im Spiegel zu einer Grimasse. Es war alles andere als eine liebenswürdige Grimasse, und Mr. Cavendish wünschte nur, daß seine Verwandten sie sehen könnten. Aber er konnte sich gedulden. Sie würden sie noch früh genug am Eßtisch zu sehen bekommen.
Jetzt war es sechs Uhr. Alles war vorbereitet. Die lieben Verwandten konnten kommen. Er hatte an alles gedacht.
An alles gedacht? Mr. Cavendish schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und ging mit eiligen Schritten in den Salon. Etwas hätte er doch beinahe vergessen!
Er schlug den dicken Teppich zurück, kniete sich auf den blanken Fußboden und wischte mit seinem seidenen Taschentuch die blauen Kreidezeichen fort. Niemals würde er sie diese fünfwinklige Figur sehen lassen.
»Das wär’s«, murmelte er und erhob sich etwas mühsam. Er mußte erst wieder seine Kniegelenke zurechtbiegen, denn er war bald sechzig Jahre alt.
Dann riß er die Fenster auf, damit auch der letzte schwache Hauch des Weihrauches abziehen sollte. Irgend jemand könnte möglicherweise den Geruch erkennen. O ja, er ging mit Riesenschritten auf die Sechzig zu – oder die Sechzig auf ihn, wie? Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, sich einmal mit der Affäre von diesem Burschen – wie hieß er doch gleich? – ah ja, Faust zu beschäftigen. Man konnte nie genug lernen. Vielleicht sollte er heute abend, nach dem Familienessen, eine kleine Sitzung abhalten und herausfinden –
Es läutete.
Mr. Cavendish warf die Fenster zu, schloß seine Manschetten und ging gemächlich auf die Tür zu. Er konnte gerade noch das Gesicht des ›lieben alten Onkel Ronald‹ aufsetzen, ehe sie an ihm vorbei in den Salon stürmten.
Allen vorweg die fette Clara mit ihrem einfältigen Lächeln. Ihr folgte der verhutzelte kleine Edwin, dann kamen Harry mit seinem lächerlichen Backenbart und Dell mit ihren verfärbten Haaren. Als letzter erschien ein räudiger Straßenköter – das war natürlich Jasper. Er schnaufte und watschelte um Mr. Cavendish herum, wobei er eine ganze Salve abgedroschener Phrasen von Stapel ließ: »Hallo, Ronald … Du siehst prächtig aus, Ronald … Wie in alten Zeiten, Ronald … Schön, daß die ganze Familie mal wieder unter einem Dach versammelt ist, Ronald …«
Schließlich saßen sie alle, bedienten sich mit Zigaretten und Zigarren und schlürften Kognak aus kleinen Gläsern. Ronald Cavendish schaute auf die ganze reizende Gesellschaft und brachte sogar ein Lächeln zustande, als Edwin sein Glas hob und murmelte: »Auf deine Gesundheit.«
Dann schlug er vor: »Wollen wir hinüber zum Essen gehen? Ich habe alles vorbereitet.«
Bei der Erwähnung des Wortes ›Essen‹ stand Jasper schon auf den Beinen. Ein gieriger Typ. Aber waren sie nicht alle gierig? fragte sich Mr. Cavendish nachdenklich. Nehmen wir nur einmal Clara. »Was hast du für ein wunderschönes Silberservice, Onkel Ronald.« Das war Clara. Ihre stechenden Augen, die aus den Fettpolstern lugten, wanderten flink von einem Gegenstand zum anderen. Man konnte ihr ansehen, wie sie im Geist die Werte zusammenrechnete.
Edwin, ihr Mann, schnupperte an dem Kognak. »Napoleon oder Armagnac, Onkel Ronald?« fragte er. Als ob ich denen Napoleon vorsetzen würde, dachte Mr. Cavendish belustigt. Edwin, der den Unterschied nicht kannte, war begierig darauf, ihn kennenzulernen. Er wollte kein Geld, er wollte Luxus.
Harry pfiff anerkennend durch die Zähne. »Junge, Junge, du lebst nicht schlecht, Onkel«, sagte er beim Anblick der üppigen Tafel. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Du hast wohl auf das richtige Pferd gesetzt, wie?« Das war Harry, dessen Welt der Rennplatz war. Er jagte dem Glück nach.
Und Dell. Mr. Cavendish betrachtete ihre eiskalten Augen, in denen sich jedoch gewiß ein leidenschaftlicher Funke entzünden konnte, und ihre auf jugendlich getrimmte Figur. Was sie wollte, wußte er genau. Und sie verschaffte es sich wahrscheinlich auch immer, wenn Harry auf dem Rennplatz war. In zehn Jahren würde sie ihr Geld bestimmt für Gigolos – oder wie man diese Herren heutzutage nennen mochte – ausgeben.
Heutzutage. Es war Jasper, der das Wort gerade ausgesprochen hatte, und Mr. Cavendish zwang sich zuzuhören.
»Heutzutage setzt man sich selten zu einem Essen wie diesem zusammen.« Schnaufen. »Ich weiß gar nicht, wie du das alles bewerkstelligst, Ronald.« Schnaufen. »Seit sieben Jahren rackerst du dich nun schon in dieser großen alten Scheune ab. Du hast keine Bediensteten und keinen, der nach dir sieht. Ich wünschte –« Schnaufen »– ich wünschte, du würdest dich entschließen, in den Klub zu ziehen …«
Natürlich wünschte das Jasper! Mr. Cavendish sollte in den Klub ziehen und Jasper alles in Bausch und Bogen übergeben. Er würde Mr. Cavendish wie ein gütiger, wohlwollender Schwager zur Seite stehen und für ihn den Verkauf des Hauses und des Inventars vornehmen! Mr. Cavendish, der sich immer vor sich selbst damit brüstete, daß er gerne bereit war, dem Teufel sein Scherflein zu geben, mußte Jaspers Unverfrorenheit rückhaltlos bewundern. Jasper wollte alles!
In Gedanken versunken nippte Mr. Cavendish an seiner warmen Milch und knabberte an einer trockenen Toastscheibe.
»Was denn, Onkelchen, ist das Essen, das du für uns zubereitet hast, zu schwer für dich?« fragte Harry, ohne auf den warnenden Blick zu achten, den ihm seine Frau Dell zuwarf.
»Nur ein kleines Geschwür – meint der Doktor«, murmelte Mr. Cavendish.
»Der Doktor?« frohlockte Clara. »Hat dich Dr. Barton wieder einmal untersucht? Was sagt er? Hoffentlich fehlt dir nichts Ernstliches. Mit einem Geschwür im Magen ist nicht zu spaßen. Du weißt, wie oft die Ärzte sagen, es sei nur ein harmloses Geschwür, und dann stellt sich heraus, daß es doch –«
Edwin räusperte sich vernehmlich.
Er wußte, wie er sie abschalten konnte, und er glaubte, daß er es jetzt zur rechten Zeit getan hätte. »Ich bin sicher, daß Onkel Ronald gut auf sich aufpaßt, meine Liebe. Wenn man sich diesen Tisch ansieht, kann man gar nicht glauben, daß er schon seit sieben Jahren Witwer ist.«
»Vielen Dank«, sagte Mr. Cavendish. »Wie wäre es noch mit einem Stückchen Huhn? Es ist reichlich vorhanden.«
Jasper langte kräftig zu. »Und noch etwas von der köstlichen Soße, bitte. Sie ist einfach ein Gedicht. Für einen alten Junggesellen hast du dich selbst überboten … obwohl natürlich der Küchenchef vom Klub …«
»Warum hast du eigentlich nicht wieder geheiratet?« fragte Dell interessiert. »Die Frauen sind doch hinter einem Mann wie dir in Scharen her. Ich meine – du bist doch noch recht gut beieinander, und mit deinen vielen Moneten …«
Jetzt war es Harry, der seine Frau mit den Augen hypnotisieren wollte. Aber Mr. Cavendish war nicht die Spur beleidigt.
»Du weißt sehr gut, warum ich nicht wieder geheiratet habe, Dell«, sagte er ruhig. »Ich habe schon oft genug gesagt, daß ich Grace immer noch dann bei mir haben kann, wenn ich es will.«
Nun ja, das wäre es. Mr. Cavendish hielt Angriff für die beste Verteidigung. Er schaute erwartungsvoll von einem zum anderen.
Jasper war der erste, der unter dem Mantel falscher Freundlichkeit über die Barriere klettern wollte. »Also wirklich, Ronald«, begann er. »Wir machen uns alle, die wir hier versammelt sind, ein wenig Sorgen um dich. Deine krankhafte Einbildung, daß Grace immer noch bei dir ist, ist nicht normal.«
»Genausowenig wie deine Überheblichkeit«, meinte Mr. Cavendish freundlich und reichte Jasper zum drittenmal die vorzügliche Soße. »Ich bilde mir nichts ein, und schon gar nichts Krankhaftes. Schon seit Urbeginn der Geschichte halten es intelligente Menschen für möglich, die Davongegangenen zurückzurufen. Man muß nur die richtige Formel kennen. Wenn ihr auch nur die leiseste Ahnung von der Seelenforschung hättet, dann würdet ihr verstehen, daß es nichts Ungewöhnliches ist, sich mit den Geistern der Verstorbenen in Verbindung zu setzen.«
Clara schob ihre dicke Unterlippe vor. »Da habt ihr’s«, sagte sie und schaute triumphierend in die Runde. »Ich habe ja immer gesagt, daß Onkel Ronald überhaupt nichts dafür kann. Er wiederholt nur das, was ihm dieses verrückte Medium, das er nach Graces Tod aufsuchte, vorgebetet hat. Sie hat ihm diesen ganzen Unsinn eingeredet.«
Edwin räusperte sich wieder laut und vernehmlich.
Mr. Cavendish servierte lächelnd den Kaffee. »Es stimmt, daß ich nach Graces Hinscheiden zu einem Medium gegangen bin. Ihr wißt das alle ganz genau. Deshalb brauche ich auch eurem Gedächtnis nicht nachzuhelfen und euch an das Indianergeheul zu erinnern, das ihr veranstaltet habt, als ihr davon hörtet. Aber ihr habt euch ganz unnötig aufgeregt, denn schon nach ein paar Besuchen machte ich eine höchst erfreuliche Entdeckung. Ich fand heraus, daß ich gar kein Medium brauchte, um mich mit den Geistern der Toten in Verbindung zu setzen. Seit diesem Tag mache ich meine Versuche und Nachforschungen alleine.
Und ich wage von mir zu behaupten, daß ich weiter vorgedrungen bin als die meisten Medien heutzutage.«
»Geister!« Dell schauderte. »Ich hasse es, über sie zu reden. Versteht mich recht – nicht, daß ich an solch dummes Zeug glaube, aber …«
»Wenn du es tätest, brauchtest du die Geister weder zu hassen noch dich vor ihnen zu fürchten«, versicherte ihr Mr. Cavendish. »Sie sind, mit gewissen geringfügigen Einschränkungen, wie wir. Nimm zum Beispiel einmal Grace. Als ich sie zum letztenmal sah, schien sie so wirklich wie du zu sein.«
»Sei vernünftig, Ronald«, sagte Jasper. »Du wirst uns doch wohl nicht weismachen wollen, daß du deine ganze Zeit damit verbringst, dich mit dem Geist deiner toten Frau zu unterhalten.«
Ronald Cavendish schluckte den letzten Bissen Toast hinunter, nippte noch einmal an der Milch und zündete dann die Kerzen auf dem Tisch an.
Ihr flackernder Schein tauchte die Gesichter der Runde in ein mildes Licht.
»Ich habe nichts dergleichen behauptet«, sagte Ronald Cavendish. »Es stimmt allerdings, daß ich zu Anfang einen Großteil meiner Zeit mit Grace verbracht habe. Aber dann – ich schäme mich, es einzugestehen – fing es an, mich zu langweilen. Oder genauer gesagt: Sie fing an, mich zu langweilen. Und ich fragte mich, warum ich mich immer nur mit Grace beschäftigen solle, wo mir doch so viele faszinierende Persönlichkeiten zur Verfügung standen. Man darf schließlich nicht vergessen, daß unsere Ehe durch ihren Tod ausgelöscht wurde; und dort, wo sie jetzt ist, gibt es den Begriff ›Ehe‹ nicht. Nur zu eurer Information: Ich habe Grace schon seit über vier Jahren nicht mehr gerufen.«
»Willst du damit sagen, daß du das Medium-Spielchen aufgegeben hast?« wollte Harry wissen.
»Aber nein – ganz im Gegenteil! Inzwischen habe ich eine unendliche Menge von Kontakten hergestellt.« Mr. Cavendish lächelte schwach. »Ich wünschte, ich könnte mich so ausdrücken, daß ihr mich versteht. Wie soll ich sagen? Es ist, als wären alle Bibliotheken der Welt in meinen Fingerspitzen vereint, als besäße ich das größte Museum und die umfangreichste Schallplattensammlung … Vielleicht kann ich es euch so erklären: Ihr habt doch den Flügel im Salon gesehen, nicht wahr? Oft genieße ich die Musik von Händel und Haydn – die mir die Komponisten selber vorspielen.«
»Jetzt ist er völlig übergeschnappt«, murmelte Dell, aber Mr. Cavendish hörte ihre Worte gar nicht.
»Wenn man sich vorstellt, daß ich in der Lage bin, die größten Schatten der Weltgeschichte herbeizurufen«, fuhr er fort. »Ich kann mich mit Shakespeare, Julius Cäsar und Napoleon unterhalten, während Chopin am Flügel spielt.«
»Willst du damit sagen, daß die berühmten toten Komponisten hierher kommen und auf deinem Flügel herumhämmern?« Harry war gegen seinen Willen hingerissen. »Sag einmal, wie ist das nun wirklich mit den Geistern? Stimmt es, daß sie in die Zukunft sehen können? Ich meine, wenn dich zum Beispiel ein Außenseiter bei dem morgigen Rennen in Belmont interessieren würde, glaubst du, daß dir irgend jemand wie Michael Angelo – oder wie er heißt – einen Tip geben könnte?«
»Das könnte schon sein«, antwortete Mr. Cavendish und lächelte, »obwohl ich mich noch nie für Rennen interessiert habe.«
»Schluß damit!« Selbst in dem schwachen Kerzenschimmer zeichneten sich die hektischen roten Flecke auf Jaspers Gesicht ab. »Mir wird auch schon ganz schwindelig; aber das ist weiß Gott kein Wunder! Du redest wie ein Wahnsinniger, Ronald. In diesem Fall bleibt uns keine andere Wahl, als dich auch wie einen solchen zu behandeln.«
»Man sollte es nicht für möglich halten: Er zitiert Napoleons Geist herbei«, spöttelte Clara. »Ich möchte sagen, er ist wirklich verrückt. Graces Geist ist ihm nicht mehr gut genug, sagt er. Ich würde mich nicht wundern, wenn er uns einreden wollte, daß er jetzt seine Abende mit Cleopatra verbringt.«
»Ich kann dir versichern, man überschätzt diese Frau gewaltig«, sagte Mr. Cavendish milde. »Aber es kann sein, daß ich der Dame unrecht tue. Wir haben leider gewisse Sprachschwierigkeiten. Obwohl ich meine Meinung über sie nicht nur nach Gesprächen mit ihr gebildet habe.«
»Du tändelst also mit den berühmtesten Babies der Geschichte herum, wie?« Dell wurde plötzlich munter. »Das klingt ja sehr interessant. Über einige habe ich mir schon den Kopf zerbrochen und hätte gerne mehr gewußt, als in den Büchern steht. Ich denke da zum Beispiel an Madame Pompadour und Anne Boleyn.«
»Über sie möchte ich lieber nicht reden«, meinte Mr. Cavendish mit leichtem Schaudern. »Denn als ich jene junge Dame rief, hatte ich nicht bedacht, daß sie enthauptet worden ist. Sie erschien dann auch prompt mit ihrem Kopf unter dem Arm.«
Jasper unterbrach Mr. Cavendishs Ausführungen mit einem vernehmlichen Rülpser, dann wandte er sich an Ronald Cavendish mit jenem Lächeln, das er im allgemeinen für Kinder und Invaliden reservierte.
»Ronald, du mußt uns jetzt genau zuhören. Wir sind schließlich deine Familie. Wir haben Geduld mit dir gehabt. Viel Geduld!« Um das Ausmaß an Geduld zu veranschaulichen, warf er den Kopf in die Höhe und schaute in die Runde, wobei er eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem fetten Geier hatte, der auf einem Ast über seiner Beute hockt.
»Wir waren deinen exzentrischen Gepflogenheiten gegenüber mehr als tolerant«, fuhr Jasper fort. »Aber Außenstehende werden das Ganze kaum so nachsichtig beurteilen. Was meinst du, was die Leute sagen würden, wenn sie es erführen?«
»Nichts«, meinte Mr. Cavendish lakonisch. »Es sei denn, du erzählst ihnen etwas.«
»Ich fürchte, daß die Dinge einen Stand erreicht haben, wo es unverantwortlich wäre, länger zu schweigen. Du bist immerhin für ein – äh – beachtliches Vermögen verantwortlich. Sollten die Banken und Makler von deinen Spinnereien Wind bekommen, würden sie verrückt spielen.«
Jasper war noch nie ein guter Redner gewesen, dachte Mr. Cavendish, aber heute überbot er seine früheren Ansprachen noch an Langeweile. Edwin und Clara schienen schon kurz vor dem Einschlafen zu sein, und auch Harry war auf seinem Stuhl etwas zusammengesunken und hörte gewiß nichts. Nur Mr. Cavendish selbst hörte seltsamerweise interessiert zu.
»Auf was willst du hinaus?« fragte er plötzlich barsch.
»Verstehe mich recht, ich bin es nicht allein – es geht um uns alle. Wir haben uns vor dem Besuch bei dir zusammengesetzt und alles durchgesprochen. Wir sind übereinstimmend zu der Ansicht gekommen, daß es das beste für dich wäre, aus dem aktiven Geschäft auszusteigen. Du wirst nicht jünger und bist vielleicht durch deine – äh – exzentrischen Angewohnheiten überbeansprucht. Für dich ist die Zeit gekommen, dich zur Ruhe zu setzen und deinen Lebensabend zu genießen. Ich würde vorschlagen, daß du deine Generalvollmacht auf jemand anders überträgst. Auf mich, zum Beispiel. Ich kann mühelos deine Interessen weiterhin vertreten. Du ruhst dich aus und tust nur noch das, was dir Freude macht. Ich meine das ernst, Ronald. Ich bin dabei, dir ein faires Angebot zu machen. Übergib deine Vollmachten und lebe so, wie es dir paßt. Von uns aus kannst du dann deine Geister vierundzwanzig Stunden am Tag herbeirufen. Wenn du dich allerdings nicht zu diesem Schritt entschließen kannst –«
Jasper rülpste erneut und fuhr dann mit einem drohenden Unterton in der Stimme fort: »– dann bleibt uns keine andere Wahl … Dann sind wir leider gezwungen, einen Psychiater einzuschalten. Und was das bedeutet, ist dir ja wohl klar. Wenn ein Psychiater nur das hört, was wir heute gehört haben, schreibt er im Handumdrehen die Überweisung für eine Anstalt aus. Habe ich nicht recht, Leute?«
Als er beifallheischend in die Runde blickte, stellte er fest, daß alle mehr oder minder am Einschlummern waren. »Es ist hier im Zimmer zu heiß«, murmelte er. »Kannst du das Fenster öffnen?«
»Sofort«, nickte Mr. Cavendish.
Jasper fummelte an den Knöpfen seiner Weste herum. Er lächelte entschuldigend. »Ich glaube, die Soße war zu schwer für mich … mein Arzt sagt auch immer …« Er gähnte und räkelte sich auf seinem Stuhl. Ehe ihn der Schlaf überwältigte, brachte er noch krächzend hervor: »Wie lautet deine Antwort?«
Mr. Cavendish erhob sich. Er beugte sich vor und sprach sehr laut, als wolle er seine Gäste aufwecken und sicher sein, daß sie ihn verstanden.
»Meine Antwort darauf«, sagte er, »ist nein. Nein und nochmals nein! Keine Vollmacht, keinen Psychiater, kein Irrenhaus! Hört ihr das, meine liebe Familie? Das war ein Abschiedsessen. Ich habe mein ganzes Vermögen flüssig gemacht und werde noch heute nacht nach Tibet fliegen, um mein Studium am Okkultismus dort fortzusetzen. Ja«, fuhr er fort, »das ist ein Abschied. Ein Abschied für lange Zeit – aber ich sehe, daß ihr mich schon verlassen habt.«
Das hatten sie in der Tat. Sie waren auf ihren Stühlen zusammengesunken und erweckten nicht mehr den Eindruck von Schlafenden. Sie starrten mit glasigen Augen auf die abgeknabberten Knochen der Hühnchen. Die ganze Familie war mausetot.
Mr. Cavendish blickte von einem zum anderen und schauderte leicht. Er betete, daß kein Medium je auf den unglückseligen Gedanken kommen möge, sie zu erwecken.
Dann ging er um den Tisch herum und schaute auf die Uhr. Er stellte fest, daß ihm nur noch eine knappe Stunde blieb, bis er auf dem Flugplatz sein mußte. Er öffnete eine schmale Seitentür und zerrte einen prallgefüllten Koffer hervor.
Das wäre geschafft! Er war jetzt reisefertig.
Dann trat er an den Tisch zurück und beugte sich über die Kerzen. »Aus das Licht«, sagte er.
Dunkelheit umgab Mr. Cavendish, aber er fürchtete sich nicht. Einige seiner besten Freunde waren in der Finsternis. Unter diesen Umständen hatte er schon einige sehr nette Leute getroffen. Dell hatte Madame Pompadour erwähnt. Was das schon war! Als ob er nicht auch Lola Montez, Jeanne d’Arc und die schöne Helena kennen würde! Reizende Damen!
Damen. Das erinnerte ihn an etwas. Er konnte nicht wegfahren, ohne sich von einem besonderen Geist zu verabschieden, dem zuständigen Geist! Er kicherte. Sie war wahrlich der zuständige Geist für den heutigen Abend gewesen. Ihr hatte er das Gelingen seines Planes zu verdanken.
Es war an der Zeit, sich für die Hühnchen und die Zubereitung der köstlichen Soße zu bedanken. Vielleicht hantierte sie noch in der Küche herum.
Es war ein genialer Einfall von ihm gewesen, für das letzte Essen eine Expertin auf diesem Gebiet herbeizurufen.
Mr. Cavendish schlich zur Küche, öffnete die Tür einen Spalt und flüsterte in die Dunkelheit: »Vielen Dank, Lucrezia.«