Der zuständige Geist

 

Mr. Ro­nald Ca­ven­dish schob den voll­be­la­de­nen Tee­wa­gen in das Eß­zim­mer. Er rück­te noch ein we­nig die Tel­ler und Be­ste­cke auf dem Tisch zu­recht, dann dreh­te er sich um und be­trach­te­te sich ein­ge­hend im Spie­gel.

Was er sah, miß­fiel ihm in kei­ner Wei­se. Er war – und sein Spie­gel­bild be­stä­tig­te es ihm – ein Gent­le­man der al­ten Schu­le. Ein Zy­ni­ker konn­te viel­leicht sa­gen, daß er wie ein Bil­der­buch-But­ler aus ei­nem Büh­nen­stück wirk­te, aber Mr. Ca­ven­dish hielt herz­lich we­nig von Zy­ni­kern.

Au­ßer­dem soll­te sein al­tes, ge­die­ge­nes Haus aus rot­brau­nem Sand­stein, die wuch­ti­gen Ma­ha­go­ni­mö­bel, das schwe­re Ta­fel­sil­ber, kurz­um, das of­fen­ba­re Vor­han­den­sein ei­nes be­acht­li­chen Bank­ver­mö­gens je­den Zy­ni­ker ei­nes Bes­se­ren be­leh­ren. Und das galt auch für zy­ni­sche Ver­wand­te!

Mr. Ca­ven­dish ver­zog sein Ge­sicht im Spie­gel zu ei­ner Gri­mas­se. Es war al­les an­de­re als ei­ne lie­bens­wür­di­ge Gri­mas­se, und Mr. Ca­ven­dish wünsch­te nur, daß sei­ne Ver­wand­ten sie se­hen könn­ten. Aber er konn­te sich ge­dul­den. Sie wür­den sie noch früh ge­nug am Eß­tisch zu se­hen be­kom­men.

Jetzt war es sechs Uhr. Al­les war vor­be­rei­tet. Die lie­ben Ver­wand­ten konn­ten kom­men. Er hat­te an al­les ge­dacht.

An al­les ge­dacht? Mr. Ca­ven­dish schlug sich mit der fla­chen Hand vor die Stirn und ging mit ei­li­gen Schrit­ten in den Sa­lon. Et­was hät­te er doch bei­na­he ver­ges­sen!

Er schlug den di­cken Tep­pich zu­rück, knie­te sich auf den blan­ken Fuß­bo­den und wisch­te mit sei­nem sei­de­nen Ta­schen­tuch die blau­en Krei­de­zei­chen fort. Nie­mals wür­de er sie die­se fünf­wink­li­ge Fi­gur se­hen las­sen.

»Das wär’s«, mur­mel­te er und er­hob sich et­was müh­sam. Er muß­te erst wie­der sei­ne Knie­ge­len­ke zu­recht­bie­gen, denn er war bald sech­zig Jah­re alt.

Dann riß er die Fens­ter auf, da­mit auch der letz­te schwa­che Hauch des Weih­rau­ches ab­zie­hen soll­te. Ir­gend je­mand könn­te mög­li­cher­wei­se den Ge­ruch er­ken­nen. O ja, er ging mit Rie­sen­schrit­ten auf die Sech­zig zu – oder die Sech­zig auf ihn, wie? Es wä­re viel­leicht kei­ne schlech­te Idee, sich ein­mal mit der Af­fä­re von die­sem Bur­schen – wie hieß er doch gleich? – ah ja, Faust zu be­schäf­ti­gen. Man konn­te nie ge­nug ler­nen. Viel­leicht soll­te er heu­te abend, nach dem Fa­mi­lienes­sen, ei­ne klei­ne Sit­zung ab­hal­ten und her­aus­fin­den –

Es läu­te­te.

Mr. Ca­ven­dish warf die Fens­ter zu, schloß sei­ne Man­schet­ten und ging ge­mäch­lich auf die Tür zu. Er konn­te ge­ra­de noch das Ge­sicht des ›lie­ben al­ten On­kel Ro­nald‹ auf­set­zen, ehe sie an ihm vor­bei in den Sa­lon stürm­ten.

Al­len vor­weg die fet­te Cla­ra mit ih­rem ein­fäl­ti­gen Lä­cheln. Ihr folg­te der ver­hut­zel­te klei­ne Ed­win, dann ka­men Har­ry mit sei­nem lä­cher­li­chen Ba­cken­bart und Dell mit ih­ren ver­färb­ten Haa­ren. Als letz­ter er­schi­en ein räu­di­ger Stra­ßen­kö­ter – das war na­tür­lich Jas­per. Er schnauf­te und wat­schel­te um Mr. Ca­ven­dish her­um, wo­bei er ei­ne gan­ze Sal­ve ab­ge­dro­sche­ner Phra­sen von Sta­pel ließ: »Hal­lo, Ro­nald … Du siehst präch­tig aus, Ro­nald … Wie in al­ten Zei­ten, Ro­nald … Schön, daß die gan­ze Fa­mi­lie mal wie­der un­ter ei­nem Dach ver­sam­melt ist, Ro­nald …«

Schließ­lich sa­ßen sie al­le, be­dien­ten sich mit Zi­ga­ret­ten und Zi­gar­ren und schlürf­ten Ko­gnak aus klei­nen Glä­sern. Ro­nald Ca­ven­dish schau­te auf die gan­ze rei­zen­de Ge­sell­schaft und brach­te so­gar ein Lä­cheln zu­stan­de, als Ed­win sein Glas hob und mur­mel­te: »Auf dei­ne Ge­sund­heit.«

Dann schlug er vor: »Wol­len wir hin­über zum Es­sen ge­hen? Ich ha­be al­les vor­be­rei­tet.«

Bei der Er­wäh­nung des Wor­tes ›Es­sen‹ stand Jas­per schon auf den Bei­nen. Ein gie­ri­ger Typ. Aber wa­ren sie nicht al­le gie­rig? frag­te sich Mr. Ca­ven­dish nach­denk­lich. Neh­men wir nur ein­mal Cla­ra. »Was hast du für ein wun­der­schö­nes Sil­ber­ser­vice, On­kel Ro­nald.« Das war Cla­ra. Ih­re ste­chen­den Au­gen, die aus den Fett­pols­tern lug­ten, wan­der­ten flink von ei­nem Ge­gen­stand zum an­de­ren. Man konn­te ihr an­se­hen, wie sie im Geist die Wer­te zu­sam­men­rech­ne­te.

Ed­win, ihr Mann, schnup­per­te an dem Ko­gnak. »Na­po­le­on oder Ar­ma­gnac, On­kel Ro­nald?« frag­te er. Als ob ich de­nen Na­po­le­on vor­set­zen wür­de, dach­te Mr. Ca­ven­dish be­lus­tigt. Ed­win, der den Un­ter­schied nicht kann­te, war be­gie­rig dar­auf, ihn ken­nen­zu­ler­nen. Er woll­te kein Geld, er woll­te Lu­xus.

Har­ry pfiff an­er­ken­nend durch die Zäh­ne. »Jun­ge, Jun­ge, du lebst nicht schlecht, On­kel«, sag­te er beim An­blick der üp­pi­gen Ta­fel. Sein Mund ver­zog sich zu ei­nem brei­ten Grin­sen. »Du hast wohl auf das rich­ti­ge Pferd ge­setzt, wie?« Das war Har­ry, des­sen Welt der Renn­platz war. Er jag­te dem Glück nach.

Und Dell. Mr. Ca­ven­dish be­trach­te­te ih­re eis­kal­ten Au­gen, in de­nen sich je­doch ge­wiß ein lei­den­schaft­li­cher Fun­ke ent­zün­den konn­te, und ih­re auf ju­gend­lich ge­trimm­te Fi­gur. Was sie woll­te, wuß­te er ge­nau. Und sie ver­schaff­te es sich wahr­schein­lich auch im­mer, wenn Har­ry auf dem Renn­platz war. In zehn Jah­ren wür­de sie ihr Geld be­stimmt für Gi­go­los – oder wie man die­se Her­ren heut­zu­ta­ge nen­nen moch­te – aus­ge­ben.

Heut­zu­ta­ge. Es war Jas­per, der das Wort ge­ra­de aus­ge­spro­chen hat­te, und Mr. Ca­ven­dish zwang sich zu­zu­hö­ren.

»Heut­zu­ta­ge setzt man sich sel­ten zu ei­nem Es­sen wie die­sem zu­sam­men.« Schnau­fen. »Ich weiß gar nicht, wie du das al­les be­werk­stel­ligst, Ro­nald.« Schnau­fen. »Seit sie­ben Jah­ren rackerst du dich nun schon in die­ser großen al­ten Scheu­ne ab. Du hast kei­ne Be­diens­te­ten und kei­nen, der nach dir sieht. Ich wünsch­te –« Schnau­fen »– ich wünsch­te, du wür­dest dich ent­schlie­ßen, in den Klub zu zie­hen …«

Na­tür­lich wünsch­te das Jas­per! Mr. Ca­ven­dish soll­te in den Klub zie­hen und Jas­per al­les in Bausch und Bo­gen über­ge­ben. Er wür­de Mr. Ca­ven­dish wie ein gü­ti­ger, wohl­wol­len­der Schwa­ger zur Sei­te ste­hen und für ihn den Ver­kauf des Hau­ses und des In­ven­tars vor­neh­men! Mr. Ca­ven­dish, der sich im­mer vor sich selbst da­mit brüs­te­te, daß er ger­ne be­reit war, dem Teu­fel sein Scherf­lein zu ge­ben, muß­te Jas­pers Un­ver­fro­ren­heit rück­halt­los be­wun­dern. Jas­per woll­te al­les!

In Ge­dan­ken ver­sun­ken nipp­te Mr. Ca­ven­dish an sei­ner war­men Milch und knab­ber­te an ei­ner tro­ckenen Toast­schei­be.

»Was denn, On­kel­chen, ist das Es­sen, das du für uns zu­be­rei­tet hast, zu schwer für dich?« frag­te Har­ry, oh­ne auf den war­nen­den Blick zu ach­ten, den ihm sei­ne Frau Dell zu­warf.

»Nur ein klei­nes Ge­schwür – meint der Dok­tor«, mur­mel­te Mr. Ca­ven­dish.

»Der Dok­tor?« frohlock­te Cla­ra. »Hat dich Dr. Bar­ton wie­der ein­mal un­ter­sucht? Was sagt er? Hof­fent­lich fehlt dir nichts Ernst­li­ches. Mit ei­nem Ge­schwür im Ma­gen ist nicht zu spa­ßen. Du weißt, wie oft die Ärz­te sa­gen, es sei nur ein harm­lo­ses Ge­schwür, und dann stellt sich her­aus, daß es doch –«

Ed­win räus­per­te sich ver­nehm­lich.

Er wuß­te, wie er sie ab­schal­ten konn­te, und er glaub­te, daß er es jetzt zur rech­ten Zeit ge­tan hät­te. »Ich bin si­cher, daß On­kel Ro­nald gut auf sich auf­paßt, mei­ne Lie­be. Wenn man sich die­sen Tisch an­sieht, kann man gar nicht glau­ben, daß er schon seit sie­ben Jah­ren Wit­wer ist.«

»Vie­len Dank«, sag­te Mr. Ca­ven­dish. »Wie wä­re es noch mit ei­nem Stück­chen Huhn? Es ist reich­lich vor­han­den.«

Jas­per lang­te kräf­tig zu. »Und noch et­was von der köst­li­chen So­ße, bit­te. Sie ist ein­fach ein Ge­dicht. Für einen al­ten Jung­ge­sel­len hast du dich selbst über­bo­ten … ob­wohl na­tür­lich der Kü­chen­chef vom Klub …«

»Warum hast du ei­gent­lich nicht wie­der ge­hei­ra­tet?« frag­te Dell in­ter­es­siert. »Die Frau­en sind doch hin­ter ei­nem Mann wie dir in Scha­ren her. Ich mei­ne – du bist doch noch recht gut bei­ein­an­der, und mit dei­nen vie­len Mo­ne­ten …«

Jetzt war es Har­ry, der sei­ne Frau mit den Au­gen hyp­no­ti­sie­ren woll­te. Aber Mr. Ca­ven­dish war nicht die Spur be­lei­digt.

»Du weißt sehr gut, warum ich nicht wie­der ge­hei­ra­tet ha­be, Dell«, sag­te er ru­hig. »Ich ha­be schon oft ge­nug ge­sagt, daß ich Grace im­mer noch dann bei mir ha­ben kann, wenn ich es will.«

Nun ja, das wä­re es. Mr. Ca­ven­dish hielt An­griff für die bes­te Ver­tei­di­gung. Er schau­te er­war­tungs­voll von ei­nem zum an­de­ren.

Jas­per war der ers­te, der un­ter dem Man­tel falscher Freund­lich­keit über die Bar­rie­re klet­tern woll­te. »Al­so wirk­lich, Ro­nald«, be­gann er. »Wir ma­chen uns al­le, die wir hier ver­sam­melt sind, ein we­nig Sor­gen um dich. Dei­ne krank­haf­te Ein­bil­dung, daß Grace im­mer noch bei dir ist, ist nicht nor­mal.«

»Ge­nau­so­we­nig wie dei­ne Über­heb­lich­keit«, mein­te Mr. Ca­ven­dish freund­lich und reich­te Jas­per zum drit­ten­mal die vor­züg­li­che So­ße. »Ich bil­de mir nichts ein, und schon gar nichts Krank­haf­tes. Schon seit Ur­be­ginn der Ge­schich­te hal­ten es in­tel­li­gen­te Men­schen für mög­lich, die Da­von­ge­gan­ge­nen zu­rück­zu­ru­fen. Man muß nur die rich­ti­ge For­mel ken­nen. Wenn ihr auch nur die lei­ses­te Ah­nung von der See­len­for­schung hät­tet, dann wür­det ihr ver­ste­hen, daß es nichts Un­ge­wöhn­li­ches ist, sich mit den Geis­tern der Ver­stor­be­nen in Ver­bin­dung zu set­zen.«

Cla­ra schob ih­re di­cke Un­ter­lip­pe vor. »Da habt ihr’s«, sag­te sie und schau­te tri­um­phie­rend in die Run­de. »Ich ha­be ja im­mer ge­sagt, daß On­kel Ro­nald über­haupt nichts da­für kann. Er wie­der­holt nur das, was ihm die­ses ver­rück­te Me­di­um, das er nach Gra­ces Tod auf­such­te, vor­ge­be­tet hat. Sie hat ihm die­sen gan­zen Un­sinn ein­ge­re­det.«

Ed­win räus­per­te sich wie­der laut und ver­nehm­lich.

Mr. Ca­ven­dish ser­vier­te lä­chelnd den Kaf­fee. »Es stimmt, daß ich nach Gra­ces Hin­schei­den zu ei­nem Me­di­um ge­gan­gen bin. Ihr wißt das al­le ganz ge­nau. Des­halb brau­che ich auch eu­rem Ge­dächt­nis nicht nach­zu­hel­fen und euch an das In­dia­ner­ge­heul zu er­in­nern, das ihr ver­an­stal­tet habt, als ihr da­von hör­tet. Aber ihr habt euch ganz un­nö­tig auf­ge­regt, denn schon nach ein paar Be­su­chen mach­te ich ei­ne höchst er­freu­li­che Ent­de­ckung. Ich fand her­aus, daß ich gar kein Me­di­um brauch­te, um mich mit den Geis­tern der To­ten in Ver­bin­dung zu set­zen. Seit die­sem Tag ma­che ich mei­ne Ver­su­che und Nach­for­schun­gen al­lei­ne.

Und ich wa­ge von mir zu be­haup­ten, daß ich wei­ter vor­ge­drun­gen bin als die meis­ten Me­di­en heut­zu­ta­ge.«

»Geis­ter!« Dell schau­der­te. »Ich has­se es, über sie zu re­den. Ver­steht mich recht – nicht, daß ich an solch dum­mes Zeug glau­be, aber …«

»Wenn du es tä­test, brauch­test du die Geis­ter we­der zu has­sen noch dich vor ih­nen zu fürch­ten«, ver­si­cher­te ihr Mr. Ca­ven­dish. »Sie sind, mit ge­wis­sen ge­ring­fü­gi­gen Ein­schrän­kun­gen, wie wir. Nimm zum Bei­spiel ein­mal Grace. Als ich sie zum letz­ten­mal sah, schi­en sie so wirk­lich wie du zu sein.«

»Sei ver­nünf­tig, Ro­nald«, sag­te Jas­per. »Du wirst uns doch wohl nicht weis­ma­chen wol­len, daß du dei­ne gan­ze Zeit da­mit ver­bringst, dich mit dem Geist dei­ner to­ten Frau zu un­ter­hal­ten.«

Ro­nald Ca­ven­dish schluck­te den letz­ten Bis­sen Toast hin­un­ter, nipp­te noch ein­mal an der Milch und zün­de­te dann die Ker­zen auf dem Tisch an.

Ihr fla­ckern­der Schein tauch­te die Ge­sich­ter der Run­de in ein mil­des Licht.

»Ich ha­be nichts der­glei­chen be­haup­tet«, sag­te Ro­nald Ca­ven­dish. »Es stimmt al­ler­dings, daß ich zu An­fang einen Groß­teil mei­ner Zeit mit Grace ver­bracht ha­be. Aber dann – ich schä­me mich, es ein­zu­ge­ste­hen – fing es an, mich zu lang­wei­len. Oder ge­nau­er ge­sagt: Sie fing an, mich zu lang­wei­len. Und ich frag­te mich, warum ich mich im­mer nur mit Grace be­schäf­ti­gen sol­le, wo mir doch so vie­le fas­zi­nie­ren­de Per­sön­lich­kei­ten zur Ver­fü­gung stan­den. Man darf schließ­lich nicht ver­ges­sen, daß un­se­re Ehe durch ih­ren Tod aus­ge­löscht wur­de; und dort, wo sie jetzt ist, gibt es den Be­griff ›Ehe‹ nicht. Nur zu eu­rer In­for­ma­ti­on: Ich ha­be Grace schon seit über vier Jah­ren nicht mehr ge­ru­fen.«

»Willst du da­mit sa­gen, daß du das Me­di­um-Spiel­chen auf­ge­ge­ben hast?« woll­te Har­ry wis­sen.

»Aber nein – ganz im Ge­gen­teil! In­zwi­schen ha­be ich ei­ne un­end­li­che Men­ge von Kon­tak­ten her­ge­stellt.« Mr. Ca­ven­dish lä­chel­te schwach. »Ich wünsch­te, ich könn­te mich so aus­drücken, daß ihr mich ver­steht. Wie soll ich sa­gen? Es ist, als wä­ren al­le Bi­blio­the­ken der Welt in mei­nen Fin­ger­spit­zen ver­eint, als be­sä­ße ich das größ­te Mu­se­um und die um­fang­reichs­te Schall­plat­ten­samm­lung … Viel­leicht kann ich es euch so er­klä­ren: Ihr habt doch den Flü­gel im Sa­lon ge­se­hen, nicht wahr? Oft ge­nie­ße ich die Mu­sik von Hän­del und Haydn – die mir die Kom­po­nis­ten sel­ber vor­spie­len.«

»Jetzt ist er völ­lig über­ge­schnappt«, mur­mel­te Dell, aber Mr. Ca­ven­dish hör­te ih­re Wor­te gar nicht.

»Wenn man sich vor­stellt, daß ich in der La­ge bin, die größ­ten Schat­ten der Welt­ge­schich­te her­bei­zu­ru­fen«, fuhr er fort. »Ich kann mich mit Sha­ke­s­pea­re, Ju­li­us Cä­sar und Na­po­le­on un­ter­hal­ten, wäh­rend Cho­pin am Flü­gel spielt.«

»Willst du da­mit sa­gen, daß die be­rühm­ten to­ten Kom­po­nis­ten hier­her kom­men und auf dei­nem Flü­gel her­um­häm­mern?« Har­ry war ge­gen sei­nen Wil­len hin­ge­ris­sen. »Sag ein­mal, wie ist das nun wirk­lich mit den Geis­tern? Stimmt es, daß sie in die Zu­kunft se­hen kön­nen? Ich mei­ne, wenn dich zum Bei­spiel ein Au­ßen­sei­ter bei dem mor­gi­gen Ren­nen in Bel­mont in­ter­es­sie­ren wür­de, glaubst du, daß dir ir­gend je­mand wie Mi­cha­el An­ge­lo – oder wie er heißt – einen Tip ge­ben könn­te?«

»Das könn­te schon sein«, ant­wor­te­te Mr. Ca­ven­dish und lä­chel­te, »ob­wohl ich mich noch nie für Ren­nen in­ter­es­siert ha­be.«

»Schluß da­mit!« Selbst in dem schwa­chen Ker­zen­schim­mer zeich­ne­ten sich die hek­ti­schen ro­ten Fle­cke auf Jas­pers Ge­sicht ab. »Mir wird auch schon ganz schwin­de­lig; aber das ist weiß Gott kein Wun­der! Du re­dest wie ein Wahn­sin­ni­ger, Ro­nald. In die­sem Fall bleibt uns kei­ne an­de­re Wahl, als dich auch wie einen sol­chen zu be­han­deln.«

»Man soll­te es nicht für mög­lich hal­ten: Er zi­tiert Na­po­le­ons Geist her­bei«, spöt­tel­te Cla­ra. »Ich möch­te sa­gen, er ist wirk­lich ver­rückt. Gra­ces Geist ist ihm nicht mehr gut ge­nug, sagt er. Ich wür­de mich nicht wun­dern, wenn er uns ein­re­den woll­te, daß er jetzt sei­ne Aben­de mit Cleo­pa­tra ver­bringt.«

»Ich kann dir ver­si­chern, man über­schätzt die­se Frau ge­wal­tig«, sag­te Mr. Ca­ven­dish mil­de. »Aber es kann sein, daß ich der Da­me un­recht tue. Wir ha­ben lei­der ge­wis­se Sprach­schwie­rig­kei­ten. Ob­wohl ich mei­ne Mei­nung über sie nicht nur nach Ge­sprä­chen mit ihr ge­bil­det ha­be.«

»Du tän­delst al­so mit den be­rühm­tes­ten Ba­bies der Ge­schich­te her­um, wie?« Dell wur­de plötz­lich mun­ter. »Das klingt ja sehr in­ter­essant. Über ei­ni­ge ha­be ich mir schon den Kopf zer­bro­chen und hät­te ger­ne mehr ge­wußt, als in den Bü­chern steht. Ich den­ke da zum Bei­spiel an Ma­da­me Pom­pa­dour und An­ne Bo­leyn.«

»Über sie möch­te ich lie­ber nicht re­den«, mein­te Mr. Ca­ven­dish mit leich­tem Schau­dern. »Denn als ich je­ne jun­ge Da­me rief, hat­te ich nicht be­dacht, daß sie ent­haup­tet wor­den ist. Sie er­schi­en dann auch prompt mit ih­rem Kopf un­ter dem Arm.«

Jas­per un­ter­brach Mr. Ca­ven­dis­hs Aus­füh­run­gen mit ei­nem ver­nehm­li­chen Rülp­ser, dann wand­te er sich an Ro­nald Ca­ven­dish mit je­nem Lä­cheln, das er im all­ge­mei­nen für Kin­der und In­va­li­den re­ser­vier­te.

»Ro­nald, du mußt uns jetzt ge­nau zu­hö­ren. Wir sind schließ­lich dei­ne Fa­mi­lie. Wir ha­ben Ge­duld mit dir ge­habt. Viel Ge­duld!« Um das Aus­maß an Ge­duld zu ver­an­schau­li­chen, warf er den Kopf in die Hö­he und schau­te in die Run­de, wo­bei er ei­ne ver­blüf­fen­de Ähn­lich­keit mit ei­nem fet­ten Gei­er hat­te, der auf ei­nem Ast über sei­ner Beu­te hockt.

»Wir wa­ren dei­nen ex­zen­tri­schen Ge­pflo­gen­hei­ten ge­gen­über mehr als to­le­rant«, fuhr Jas­per fort. »Aber Au­ßen­ste­hen­de wer­den das Gan­ze kaum so nach­sich­tig be­ur­tei­len. Was meinst du, was die Leu­te sa­gen wür­den, wenn sie es er­füh­ren?«

»Nichts«, mein­te Mr. Ca­ven­dish la­ko­nisch. »Es sei denn, du er­zählst ih­nen et­was.«

»Ich fürch­te, daß die Din­ge einen Stand er­reicht ha­ben, wo es un­ver­ant­wort­lich wä­re, län­ger zu schwei­gen. Du bist im­mer­hin für ein – äh – be­acht­li­ches Ver­mö­gen ver­ant­wort­lich. Soll­ten die Ban­ken und Mak­ler von dei­nen Spin­ne­rei­en Wind be­kom­men, wür­den sie ver­rückt spie­len.«

Jas­per war noch nie ein gu­ter Red­ner ge­we­sen, dach­te Mr. Ca­ven­dish, aber heu­te über­bot er sei­ne frü­he­ren An­spra­chen noch an Lan­ge­wei­le. Ed­win und Cla­ra schie­nen schon kurz vor dem Ein­schla­fen zu sein, und auch Har­ry war auf sei­nem Stuhl et­was zu­sam­men­ge­sun­ken und hör­te ge­wiß nichts. Nur Mr. Ca­ven­dish selbst hör­te selt­sa­mer­wei­se in­ter­es­siert zu.

»Auf was willst du hin­aus?« frag­te er plötz­lich barsch.

»Ver­ste­he mich recht, ich bin es nicht al­lein – es geht um uns al­le. Wir ha­ben uns vor dem Be­such bei dir zu­sam­men­ge­setzt und al­les durch­ge­spro­chen. Wir sind über­ein­stim­mend zu der An­sicht ge­kom­men, daß es das bes­te für dich wä­re, aus dem ak­ti­ven Ge­schäft aus­zu­stei­gen. Du wirst nicht jün­ger und bist viel­leicht durch dei­ne – äh – ex­zen­tri­schen An­ge­wohn­hei­ten über­be­an­sprucht. Für dich ist die Zeit ge­kom­men, dich zur Ru­he zu set­zen und dei­nen Le­bens­abend zu ge­nie­ßen. Ich wür­de vor­schla­gen, daß du dei­ne Ge­ne­ral­voll­macht auf je­mand an­ders über­trägst. Auf mich, zum Bei­spiel. Ich kann mü­he­los dei­ne In­ter­es­sen wei­ter­hin ver­tre­ten. Du ruhst dich aus und tust nur noch das, was dir Freu­de macht. Ich mei­ne das ernst, Ro­nald. Ich bin da­bei, dir ein fai­res An­ge­bot zu ma­chen. Über­gib dei­ne Voll­mach­ten und le­be so, wie es dir paßt. Von uns aus kannst du dann dei­ne Geis­ter vier­und­zwan­zig Stun­den am Tag her­bei­ru­fen. Wenn du dich al­ler­dings nicht zu die­sem Schritt ent­schlie­ßen kannst –«

Jas­per rülps­te er­neut und fuhr dann mit ei­nem dro­hen­den Un­ter­ton in der Stim­me fort: »– dann bleibt uns kei­ne an­de­re Wahl … Dann sind wir lei­der ge­zwun­gen, einen Psych­ia­ter ein­zu­schal­ten. Und was das be­deu­tet, ist dir ja wohl klar. Wenn ein Psych­ia­ter nur das hört, was wir heu­te ge­hört ha­ben, schreibt er im Handum­dre­hen die Über­wei­sung für ei­ne An­stalt aus. Ha­be ich nicht recht, Leu­te?«

Als er bei­fall­hei­schend in die Run­de blick­te, stell­te er fest, daß al­le mehr oder min­der am Ein­schlum­mern wa­ren. »Es ist hier im Zim­mer zu heiß«, mur­mel­te er. »Kannst du das Fens­ter öff­nen?«

»So­fort«, nick­te Mr. Ca­ven­dish.

Jas­per fum­mel­te an den Knöp­fen sei­ner Wes­te her­um. Er lä­chel­te ent­schul­di­gend. »Ich glau­be, die So­ße war zu schwer für mich … mein Arzt sagt auch im­mer …« Er gähn­te und rä­kel­te sich auf sei­nem Stuhl. Ehe ihn der Schlaf über­wäl­tig­te, brach­te er noch kräch­zend her­vor: »Wie lau­tet dei­ne Ant­wort?«

Mr. Ca­ven­dish er­hob sich. Er beug­te sich vor und sprach sehr laut, als wol­le er sei­ne Gäs­te auf­we­cken und si­cher sein, daß sie ihn ver­stan­den.

»Mei­ne Ant­wort dar­auf«, sag­te er, »ist nein. Nein und noch­mals nein! Kei­ne Voll­macht, kei­nen Psych­ia­ter, kein Ir­ren­haus! Hört ihr das, mei­ne lie­be Fa­mi­lie? Das war ein Ab­schied­ses­sen. Ich ha­be mein gan­zes Ver­mö­gen flüs­sig ge­macht und wer­de noch heu­te nacht nach Ti­bet flie­gen, um mein Stu­di­um am Ok­kul­tis­mus dort fort­zu­set­zen. Ja«, fuhr er fort, »das ist ein Ab­schied. Ein Ab­schied für lan­ge Zeit – aber ich se­he, daß ihr mich schon ver­las­sen habt.«

Das hat­ten sie in der Tat. Sie wa­ren auf ih­ren Stüh­len zu­sam­men­ge­sun­ken und er­weck­ten nicht mehr den Ein­druck von Schla­fen­den. Sie starr­ten mit gla­si­gen Au­gen auf die ab­ge­knab­ber­ten Kno­chen der Hühn­chen. Die gan­ze Fa­mi­lie war mau­se­tot.

Mr. Ca­ven­dish blick­te von ei­nem zum an­de­ren und schau­der­te leicht. Er be­te­te, daß kein Me­di­um je auf den un­glück­se­li­gen Ge­dan­ken kom­men mö­ge, sie zu er­we­cken.

Dann ging er um den Tisch her­um und schau­te auf die Uhr. Er stell­te fest, daß ihm nur noch ei­ne knap­pe Stun­de blieb, bis er auf dem Flug­platz sein muß­te. Er öff­ne­te ei­ne schma­le Sei­ten­tür und zerr­te einen prall­ge­füll­ten Kof­fer her­vor.

Das wä­re ge­schafft! Er war jetzt rei­se­fer­tig.

Dann trat er an den Tisch zu­rück und beug­te sich über die Ker­zen. »Aus das Licht«, sag­te er.

Dun­kel­heit um­gab Mr. Ca­ven­dish, aber er fürch­te­te sich nicht. Ei­ni­ge sei­ner bes­ten Freun­de wa­ren in der Fins­ter­nis. Un­ter die­sen Um­stän­den hat­te er schon ei­ni­ge sehr net­te Leu­te ge­trof­fen. Dell hat­te Ma­da­me Pom­pa­dour er­wähnt. Was das schon war! Als ob er nicht auch Lo­la Mon­tez, Jean­ne d’Arc und die schö­ne He­le­na ken­nen wür­de! Rei­zen­de Da­men!

Da­men. Das er­in­ner­te ihn an et­was. Er konn­te nicht weg­fah­ren, oh­ne sich von ei­nem be­son­de­ren Geist zu ver­ab­schie­den, dem zu­stän­di­gen Geist! Er ki­cher­te. Sie war wahr­lich der zu­stän­di­ge Geist für den heu­ti­gen Abend ge­we­sen. Ihr hat­te er das Ge­lin­gen sei­nes Pla­nes zu ver­dan­ken.

Es war an der Zeit, sich für die Hühn­chen und die Zu­be­rei­tung der köst­li­chen So­ße zu be­dan­ken. Viel­leicht han­tier­te sie noch in der Kü­che her­um.

Es war ein ge­nia­ler Ein­fall von ihm ge­we­sen, für das letz­te Es­sen ei­ne Ex­per­tin auf die­sem Ge­biet her­bei­zu­ru­fen.

Mr. Ca­ven­dish schlich zur Kü­che, öff­ne­te die Tür einen Spalt und flüs­ter­te in die Dun­kel­heit: »Vie­len Dank, Lu­cre­zia.«